Eine Weise von Liebe und Tod

Rainer Maria Rilkes lyrisch-expressionistische Erzählung „Die Weise von Liebe und Tod des Cornet Christoph Rilke“ aus dem Jahre 1899 diente dem Wortkünstler Horst A. Bruno, der im Netz auch als Brunopolik bekannt ist, als Vorlage für seine experimentelle Wort-Collage.

Brunopolik verdichtet Rilkes Erzählung, bei der es um ein kriegerisches Thema aus dem siebzehnten Jahrhundert (Soldaten marschieren gegen die nach Europa einfallenden Türken) zu einem Sprach-Objekt in Haiku-Metrik. Haiku gelten als die kürzeste Gedichtform der Welt. Horst A. Bruno sieht sich damit in Traditionsfolge von Dada-Künstler Kurt Schwitters bis hin zu Vertretern der mit Namen wie Allan Ginsberg („Howl“) verbundenen Beat Generation.

Interessant bei der vorliegenden Arbeit ist, dass Brunopolik sich dem klassischen japanischen Haiku verschrieben hat. Diese strenge Form besteht aus jeweils drei Wortgruppen von 5 – 7 – 5 Silben. Mit seiner Entscheidung für jeweils 17 Silben setzt sich der Haiku-Poet bewusst von modernistischen deutschsprachigen Poeten ab, die mit weniger als 17 Silben auskommen wollen, weil deutsche Silben mehr Informationsgehalt transportieren können als japanische Lauteinheiten.

Wer Freude an offenen Texten hat, die sich erst im Erleben und Fühlen des Lesers vervollständigen, findet mit dieser Wortcollage ein anschauliches Beispiel über die Möglichkeit, bewusst mit Sprache zu gestalten.


Genre: Lyrik
Illustrated by Kindle Edition

Shadowmarch 4 • Das Herz

Im vierten und letzten Band der Tetralogie »Shadowmarch« bringt Tad Williams sein Desaster-Epos vom Aufstieg, Fall und Untergang mächtiger Reiche zu voller Blüte. Die Geschichte gipfelt in einem gewaltigen Krieg, den keiner gewinnen kann und der selbst ärgste Feinde zu Verbündeten macht. Quar und Funderlinge schließen sich zusammen gegen den wahnsinnigen Autarchen Sulepis, Gottkönig des Großreiches Xis, der in der Mitsommernacht mit dem Blut von König Olin dunkle Götter erwecken will, die voller Zorn auf alles Lebende sind. Weiterlesen


Genre: Fantasy
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Mumpelmonster

Eine hübsche Idee: Roland Brückner baut sein “Mumpelmonster”-Buch wie ein Computerspiel auf. Auf jeder Seite kann der (kindliche) Leser entscheiden, was der kleine grüne Mumpel als nächstes tun soll.

Soll Mumpel beispielsweise einen von ihm erfundenen Helm bei den Wildschweinen im Stadtpark ausprobieren (dann geht es auf Textblock 8 weiter) oder in einem Selbstversuch beim Schaukeln? (Punkt 54) Andererseits könnte Mumpel die ganze Sache Papa erzählen, der das Mini-Monster dafür lobt. (In diesem Fall geht es mit Punkt 41 weiter). Ein buntes Herumnavigieren durch das liebevoll illustrierte Buch inspiriert die Phantasie der Kinder und fordert ihnen Entscheidungen ab. So erklärt sich der Untertitel “Das Entscheide-Dich-Buch”.

Zum Buch habe ich mir die kostenlose iPad-App “Mumpelmonster” geladen. Diese gibt in optischer Hinsicht wesentlich mehr her als das Buch: 45 animierte Figuren sind abgebildet von Flammenlilli über Kritzelcarsten, Puzzlekopf, Tanzwahl und Trötenmumie bis zur Zuckelsusi. Die App lässt ahnen, welche Chancen sich dem Kinderbuch im E-Book-Bereich bereits heute eröffnen. Denn eigentlich hätte das komplette Werk als interaktives Elektrobuch produziert werden können.


Genre: Kinder- und Jugendbuch
Illustrated by Zitty Berlin

Herbert Wernicke. Regisseur, Bühnenbildner, Kostümbildner

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An den am 16. April 2002 mit 56 Jahren früh verstorbenen Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner Herbert Wernicke und das von ihm geschaffene eigene Welttheater erinnert ein üppiger Bildband aus dem Schweizer Schwabe-Verlag. Für Wernicke-Fans unter den Opernfreunden ist die mit 350 Abbildungen reich geschmückte Gesamtwürdigung des Lebenswerks ein Muss.

Wernickes Werk ist ebenso Teil der Salzburger Festspielgeschichte wie er an den Opernhäusern von Frankfurt bis Madrid eindrückliche Spuren hinterließ. Schwerpunkt seiner Arbeit war Basel. Sein Verständnis von Bühnenbild war eine Raumidee, in der sich die Handlung organisch entwickeln kann. Es ging ihm dabei nicht um die pure Bebilderung eines Raumes beziehungsweise um Dekoration als um ein weitgehend ebenso abstrahiertes wie komplexes Gesamtbild.

Herbert Wernicke fühlte sich künstlerisch dem Barock und damit der Vorstellung der Bühne als Allegorisierung von Wirklichkeit verpflichtet. Die Malerei spielte in seinen Arbeiten stets eine deutliche Rolle. Stark setzte er auch auf tragende Symbole im Bühnenbild. Mehrfach tauchte in seinen Inszenierungen ein Flügel auf. Das Tasteninstrument steht als Gleichnis für das Kunstverständnis des aufgeklärten Bürgertums, das den schönen Künsten in seinem Denken weiten Raum gibt und sie hegt und pflegt. Kunst wird als befreiender Moment gefeiert, der vom Dunkel der realen Welt abhebt und sich gleichzeitig ausdrücklich vom kunstfeindlichen Kleinbürgertum distanziert.

Seinem Verständnis von Bühne als Gesamtkunstwerk entsprach seine Arbeitsteilung: Wernicke war Regisseur, Bühnenbildner, Beleuchter und Kostümbildner in einem. Um sich herum scharte er nach dem Werkstattprinzip Assistenten und Mitarbeiter, denen die Umsetzung seiner Entwürfe oblag. So schuf er ein ihm eigenes Bühnenuniversum, in das er die Sänger begleitete. Kritiker nannten dies „Wernickes Welttheater“.

Als Beispiel für seine Kunst sei die Inszenierung von Wagners Tetralogie „Ring des Nibelungen“ zitiert. Die Szenographie bestand aus einem festen Bühnenbild für alle vier Teile: Der Bühnenraum wird beherrscht von einem fensterartigen Mauerdurchbruch, der den Blick auf ein faszinierendes Alpenpanorama freigibt. Hoch oben thront Walhall, die von den Riesen Fasolt und Fafner im Auftrag Wotans erbaute Götterburg. Allein durch die unterschiedliche Beleuchtung erscheint der Hintergrund mal erhaben prunkvoll, mal dekadent luxuriös, mal morbid und dem Untergang geweiht. Im Vordergrund agieren die Sänger.

Der vorliegende Bildband bietet neben 13 Aufsätzen, die kundig versuchen, sich der Regiewelt Wernickes anzunähern, einen eindrucksvollen Teil vom Werden einer Inszenierung. Anschaulich lässt sich der Weg einer Oper von einer Raumidee über Zeichnungen, Entwürfe, Modelle und Kostümbilder bis zu Proben und zur Aufführung nachvollziehen. Wernicke selbst beschrieb diesen Prozess wie folgt: „Es ist wie bei jedem Stück, das erstmals aus so einem Urschwamm entsteht, eine Forschungsaufgabe: dahinterzukommen, was gemeint sein könnte, und das mit der eigenen Welt in Verbindung zu bringen, um durch Träume, Visionen oder auch etwas, was man im Alltäglichen sieht, eine Materialsammlung im Kopf zu veranstalten. Daraus entstehen dann manchmal Bilder und manchmal nicht.“

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Oper
Illustrated by Schwabe Basel

Bomb it, Miss.Tic!

MissTic Paris, St. Germain
“Les actes gratuits ont ils un prix?” etwa: “Haben kostenfreie Handlungen/Akte einen Preis?” _ Typische Graffiti-Schablone von Miss.Tic in St. Germain, Paris. Foto: ©Ruprecht Frieling

Wer die Arbeiten des Londoner Graffiti-Künstler Banksy kennt und schätzt, der wird bei einem Paris-Bummel sicherlich auch schon auf Arbeiten von Miss.Tic gestoßen sein. Die Künstlerin mit dem doppelbödigen Namen besprüht Mauern und Häuserwände mit schwarz-roten Schablonen und verbindet bevorzugt klischeehafte Frauenbilder und poetische Wortspiele.

Die plakativen Arbeiten von Miss.Tic sind von rauer Herzlichkeit und sprühen ein Lokalkolorit, das durchaus als „Pariser Charme“ bezeichnet werden kann. Ihre Frauenbilder entstammen Frauenzeitschriften, die sie verfremdet. Sie selbst sagt dazu: „Ich entwerfe aus ihnen ein bestimmtes Image der Frau, nicht um es zu bewerben, sondern um es zu befragen. Ich unterziehe weibliche Positionen einer Art Inventur. Welche Haltung wählen wir, um zu existieren?“

Miss.Tic bezieht als Künstlerin und als Frau in der Stadt und in der kreativen Welt Stellung. Kreieren heißt für die 1956 in Paris geborene Graffiti-Poetin, Widerstand zu leisten. Sie meint, allem widerstanden zu haben, „nur manchmal der Liebe nicht und niemals dem Humor.“

Die Tochter eines Tunesiers und einer Normannin verlor im Alter von zehn Jahren ihre Mutter durch einen Autounfall. Früh floh sie aus dem derart zerstörten Elternhaus und trieb sich in den Cafés und Cabarets von St. Germain und St. Michel herum. Im „Georges“ in der Rue de Canettes und im „Bâteau ivre“ in der Rue Contrescarpe rezitierte sie Gedichte von Jules Supervielle, René Char, Jean Cocteau und Jacques Prévert. Die Wirklichkeit um sie herum zerfetzte ihr romantisches Bild von St. Germain: Sie traf auf versoffene Genies und Künstler, die sich maßlos überschätzten.

Mit einem Freund verließ sie 1980 Frankreich und zog nach Los Angeles. Dort kamen gerade Hip-Hop und Street Art auf. Im Zuge der Bewegung entstanden bemalte Häuserwände, die schon aus der mexikanischen Revolutionskunst bekannt waren. 1983 kehrte Miss.Tic wieder nach Paris zurück. In jeder Zeit verließen die ersten Künstler ihre Ateliers, übermalten Werbeplakate, bemalten Bauzäune und Wände. 1985 trat sie selbst mit Schablonenbildern in Erscheinung. Im 14. Arrondissement sprühte sie ihre ersten Wortbilder auf Häuserwände. Sie verband von Anfang an ihre Motive mit Textzeile und Signatur.

Miss.Tic erklärt sich weder politisch noch will sie Feministin sein. Sie hat ihre eigene Sicht auf die Dinge. Ihre Arbeiten wurden mal von links, mal von rechts angegriffen, bisweilen sogar von Hardcorefeministinnen, denen ihre Arbeiten zu glamourös und sexy sind, übersprüht und überklebt. Lakonisch sagt sie dazu: „Es ist nicht die Rolle des Künstlers, von allen geliebt zu werden“. Bewusst überlässt sie die Interpretation ihrer Arbeiten auch dem Betrachter und hat keine Lust, irgendetwas zu erklären, zumal ihre Graffiti oft in direktem Bezug zur Umgebung steht.

1999 wurde die Künstlerin in einem Aufsehen erregenden Prozess wegen Sachbeschädigung zu 22.000 Franc Strafe verurteilt. Ausgerechnet dieser Prozess verschaffte ihr einen Karrieresprung. Sie wurde vom Status einer Straffälligen, die mit der Spraydose (französisch: la bombe) hantierte, zu einer anerkannten Künstlerin befördert, deren Genehmigungsgesuche seitdem akzeptiert werden. So sind ihre Arbeiten heute weniger als nächtliche Überraschungsangriffe à la Banksy zu sehen sondern als geplante Kunstaktionen im öffentlichen Raum, die viele Kunstfreunde nach Paris lockt.

Jorinde Reznikoff und KP Flügel haben Miss.Tic in einem wundervollen kleinen Büchlein zu Wort kommen lassen, das in der Edition Nautilus erschienen ist. Wer sich ausführlicher mit der Pariser Graffiti-Künstlerin befassen möchte, der wird mit diesem autobiographisch angelegten schlanken Werk ausgezeichnet bedient.

Diskussion dieser Rezension im KunstBlog


Genre: Kunst, Musik und Literatur
Illustrated by Edition Nautilus Hamburg

Der Hypnotiseur

Unter dem Pseudonym Lars Kepler hat das Autorenduo Alexandra und Alexander Ahndoril ihr Krimidebüt gegeben. Das Resultat? Zumindest der Titel wirkt spannend und vielversprechend.

Erik Maria Bark, Experte für Traumata-Behandlungen, der seinen Beruf aus guten Gründen nicht mehr ausüben möchte, wird zu einem bewusstlosen Jungen gerufen. Der 15jährige ist schwer verletzt und soll Zeuge eines brutalen Doppelmordes gewesen sein, bei dem nahezu seine gesamte Familie ausgelöscht wurde. Unter Hypnose gesteht der Junge, selbst der Täter gewesen zu sein. Er entflieht aus dem Krankenhaus und hinterlässt eine grausige Blutspur. In der Nacht darauf wird Barks Sohn Benjamin entführt. Der ist Bluter und dringend auf Medikamente angewiesen, um zu überleben. Barks Frau Simone bittet ihren Vater Kenneth, einen Kripomann im Ruhestand, um Hilfe. Auch Erik geht auf die Suche und erinnert sich dabei an eine frühere Patientin, die ihn attackierte und mit dem Geschehen in Verbindung steht …

Lars Kepler schreiben trocken und schildern emotionslos sachlich. Mit distanzierter Kühle, bisweilen hölzern und seltsam stimmungslos schildern sie das Geschehen. Hinzu kommen wiederholte Wechsel der Erzählperspektive, die der Lektüre Spannung nimmt.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Andre Zeiten, andre Drachen

Als treuer Harry-Potter-Leser ist mir das spannende Thema Drachen ebenso geläufig wie durch Richard Wagners Oper „Der Ring des Nibelungen“, in dem sich ein allzu gieriger Riese in einen zänkischen Drachen verwandelt, der schließlich getötet wird. Dass es auch eine wissenschaftliche Drachenforschung gibt, habe ich erst durch die Lektüre dieses faszinierenden Führers durch die Kulturgeschichte der Drachen erfahren. Autor Wolfgang Schwerdt ist ein solcher Forscher, ein Dracologe, der es versteht, seinen Leser auf den Rücken eines feuerspeienden Ungeheuers zu locken und mit ihm die Jahrtausende zu durchbrausen.

Die Reise beginnt bei uralten Mythen und Legenden, die Drachen furchterregend darstellen und von ihrem besonderen Appetit auf Jungfrauen erzählen. Sie führt von den Babylonieren über die Welt der Griechen, die Drachen als Abkömmlinge der Götter verehrten, hin zu den mittelalterlichen Heldensagen vom Drachen Fafnir (vom dem Richard Wagner musikalisch erzählt) und vom Leviathan. Die Entdeckung der Erde und das damit verbundene Interesse an exotischen Tieren (erwähnt sei nur der Komodo-Waran, dem Douglas Adams seine Reportage „Die Letzten ihrer Art“ widmete) bescherte den Drachen auch in der Neuzeit ein starkes Interesse des Publikums, das durch die zeitgenössische Fantasyliteratur phantasievoll beflügelt wird.

„Andre Zeiten – Andre Drachen“ ist alles andere als eine staubtrockene Abhandlung versunkener Kulturgeschichte. Es handelt sich um ein leicht geschriebenes Werk, das auf eine erfrischend unakademische Art rund zehntausend Jahre Kulturgeschichte Europas und Vorderasiens klammert.


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Vergangenheitsverlag Berlin

Ein perfekter Freund

Journalist Fabio Rossi erwacht in einem Krankenhaus. Er trägt einen schweren Kopfverband und wurde offensichtlich brutal niedergeschlagen. Durch die Verletzung ist der Faden der Erinnerung an die letzten Wochen vor dem Unfall abgerissen, und so erkennt er auch die junge Frau nicht, die an seinem Bett sitzt und ihn küsst. Er kann sich schlicht an nichts mehr erinnern. Weiterlesen


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Diogenes Zürich

Die dunkle Seite des Mondes

Urs Blank hat mehr erreicht, als er sich zu Beginn seines Jurastudiums hätte träumen lassen. In einer Schweizer Wirtschaftskanzlei ist er innerhalb kurzer Zeit zu einem hoch bezahlten Staranwalt aufgestiegen. Seine Klienten sind steinreiche Männer mit erheblicher Macht, die sie skrupellos zu mehren wissen, und der auf Fusionsverhandlungen spezialisierte Advokat hilft Ihnen dabei. Doch irgendetwas stimmt nicht mit dem smarten Volljuristen. Es schimmert eine dunkle Seite in ihm auf, und er muss sich bisweilen stark zurückhalten, um seine Gesprächspartner nicht zu ohrfeigen oder in den Arsch zu treten. Weiterlesen


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Diogenes Zürich

Einfach Kompliziert

Zeit seines Lebens misstraute Schriftsteller Thomas Bernhard dem Theaterbetrieb und seinen Akteuren. Ließ er sich aber von dem Einfühlungsvermögen eines Regisseurs überzeugen, dann entstand – wie bei Claus Peymann – eine intellektuelle Lebenspartnerschaft. Ähnlich hielt es Bernhard mit Schauspielern, so sie ihn denn faszinierten.

„Ritter, Dene, Voss“ heißt eines der Bernhard-Stücke, die bereits die Namen der drei Schauspieler (Ilse Ritter, Kirsten Dene und Gert Voss) im Titel tragen und daraus quasi eine Verpflichtung ableitet, die entsprechenden Mimen auch zu besetzen. Thomas Bernhard schneiderte auch dem großen Bernhard Minetti ein Porträt des Künstlers als alter Mann auf den Leib und komponierte einen ähnlich sprachgewaltigen Monolog für Gert Voss, der unter dem Titel „Einfach kompliziert“ Theatergeschichte geschrieben hat.

In „Einfach kompliziert“ monologisiert ein Schauspieler (Gert Voss) über seinen größten persönlichen Erfolg in Shakespeares Drama „König Edward III.“ am Wiener Burgtheater. Inzwischen ist der Mime völlig heruntergekommen. Er haust in einem schäbigen Domizil, in dem die Mäuse auf dem Tisch tanzen. Als letzter Überlebende seiner Familie, auch seine Frau ist inzwischen verstorben, hasst er neben den Mäusen, die er mit Hingabe verfolgt und tötet, auch alle anderen Lebewesen um ihn herum: das Mausvolk, das es zu vergiften gilt.

Seit Jahren hat der Protagonist seine Klause nicht mehr verlassen und sich zwischen Selbstmitleid, Hass und Altersdepression zunehmend zu einem Sonderling entwickelt. Er beantwortet seit 13 Jahren keine Briefe mehr, hat das Telefon abgemeldet und studiert dennoch täglich die Stellenangebote einer Abonnementszeitung. Von seinem Erfolg als Edward III. ist ihm die billige Theaterkrone geblieben, die er in einer Truhe verwahrt und sich jeden zweiten Dienstag im Monat aufs Haupt drückt.

Höhepunkt des Werks in drei den Tageszeiten folgenden Szenen ist der Besuch eines neunjährigen Mädchens, Katharina, die ihm Milch bringt. Sie ist der einzige Mensch, den er zu sich lässt, mit dem er spricht. Ihr gesteht er, Milch zu hassen, diese wegzuschütten, und sie lediglich zu bestellen, um das Mädchen zu sehen. „Schauspieler sind wie Kinder, deshalb vertragen wir uns so gut,“ sagt er ihr und bittet sie zugleich, allen Leuten zu sagen, „der berühmte Schauspieler in der Hanssachsstrasse liebt Milch, und er trinkt Milch, er existiert nur, weil er jeden Tag Milch trinkt.“

Die maßgeschneiderte Textkomposition von Thomas Bernhard, deren beklemmende Wirkung sich optimal von Gert Voss, inszeniert von Claus Peymann, auf der Bühne darstellt, ist (so verrät es schon der Titel) ebenso einfach wie kompliziert. Ihr fehlt vielleicht der in vielen Texten des österreichischen Autors aufscheinende Bernhardsche Humor und auch dessen ätzende Gesellschafts- und Kulturkritik. Es handelt sich vielmehr um einen gedanklichen Sturzbach über das Altwerden, das Altwerden eines Schauspielers im Besonderen, über den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Miteinander, über Wahn und Wahnsinn, und der Text bekommt eine zusätzliche philosophische Note in der Auseinandersetzung mit Thesen des „Urphilosophen“ Schopenhauer, die gelegentlich aufscheinen.


Genre: Theater
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Small World

Small World. Konrad Langs Welt schrumpft und wird immer kleiner. Er vergisst seine Brieftasche im Kühlschrank, er verirrt sich im Dickicht der realen Welt, und eines Tages übergießt er feuchtes Kaminholz mit Benzin, um es leichter entzünden zu können. Das hat er zwar schon öfter gemacht, doch diesmal liegt das Holz noch neben dem Kamin, und die luxuriöse Ferienvilla seiner Chefin und Gönnerin Elvira Senn auf Korfu wird bald darauf zum Raub der Flammen. Nun ist es nicht mehr zu verbergen: Konrad Lang hat Alzheimer, und die Krankheit schreitet mit erschreckender Geschwindigkeit voran. Weiterlesen


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Diogenes Zürich

In hora mortis

Wild wächst die Blume meines Zorns
und jeder sieht den Dorn
der in den Himmel sticht
dass Blut aus meiner Sonne tropft
es wächst die Blume meiner Bitternis
aus diesem Gras
das meine Füße wäscht
mein Brot
o Herr
die eitle Blume
die im Rad der Nacht erstickt
die Blume meines Weizens Herr
die Blume meiner Seele
Gott verachte mich
ich bin von dieser Blume krank
die rot im Hirn mir blüht
über mein Leid.

Zum Frühwerk von Thomas Bernhard zählen rund 400 Gedichte. Sein Gedichtzyklus „In hora mortis“ („In der Stunde des Todes“) erschien erstmals 1958 und war der zweite Lyrikband, der von dem österreichischen Schriftsteller veröffentlicht wurde.

Der Titel ist dem „Ave Maria“ entlehnt und beschwört die Todesstunde eines Sterbenden. In Form eines direkt an Gott („Oh, Herr!“) gerichteten Stoßgebetes beschreibt der Dichter die Qualen, die er angesichts des Wartens auf seine Todesstunde empfindet. Thomas Bernhard stand aufgrund schwerer Lungenprobleme wiederholt auf der Schwelle des Todes und beschäftigte sich wohl auch deshalb immer wieder mit dem Thema Sterben.

Der Text beginnt mit der durchaus noch festen Klage „Wild wächst die Blume meines Zorn …“, um dann abzuklingen und in Traurigkeit zu verbrennen: „Ich bin vor Frost schon müd´ und traurig, weil mein Tag verglüht.“

Der Tod und die Relativierung aller anderen Werte angesichts dessen steter Nähe und Bedrohung ist eines der wichtigsten Motive des Zyklus. „Wo ist, was ich nicht mehr bin? – Die Zeit ist ausgelöscht“ schreibt der Dichter und stammelt schließlich am Ende des Textes: „zerschnitten ach zerschnitten ach zerschnitten ach ach ach mein Ach.“ Zerschnitten wird die Wahrnehmung der Außenwelt und des eigenen Ich. Der Tod erwischt alle, und keiner entkommt.

Deutlich klingt in dem Gebet auch die katholische Prägung Bernhards durch, wenn er mehrfach den Wunsch zu beten äußert und Gott als seinen Herrn preist. Später sagte er sich von der Amtskirche los und erklärte sie als eine der Hauptschuldigen für die Verkrüppelung des Individuums.


Genre: Lyrik
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Große Kannibalenschau

Kannibalenschau? – Große Kannibalenschau?  Ein derartiger Buchtitel weckt Erwartungen. Schließlich entspricht es den Tatsachen, dass noch bis 1940 exotisch aussehende Menschen von anderen Kontinenten durch deutsche Lande tourten und in Tierparks und Zoologischen Gärten ausgestellt wurden. Sie mussten teilweise sogar rohes Fleisch essen, um als Kannibalen durchzugehen. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Periplaneta Berlin

Wortklaubereien

Journalisten, die sich mit einem Spezialgebiet befassen und wie Satelliten um ein definiertes Thema kreisen, haben es mitunter schwer, die richtigen Worte zu finden, um ihren Lesern abwechslungsreiche Kost zu bieten. Mario Scheuermann, der seit vier Jahrzehnten Gastrokritiker ist, kann davon ein Lied singen. Um sich selbst sprachlich zu beflügeln, hat der ausgewiesene Weinkenner begonnen, Wörter, Formulierungen und ganze Sätze aus dem Großraum Essen und Trinken zu sammeln. Dieser Eichhörnchenvorrat an Stichworten, die ihm ins Auge stachen, soll ihn auch in harten Wintern nähren.

In Scheuermanns Sammlung von Kuriositäten, versunkenen Wörtern und semantischen Kleinodien hört der geneigte Leser von Schluckspechten, Topfguckern und Etikettentrinkern. Er erfährt, dass eine Serviergöttin wie die indische Gottheit Shiva acht Arme benötigt, um ihrem Namen gerecht zu werden. Er wird in die Welt der Kellner und Oberkellner, der Waggonbutler, Zuträger und Marköre entführt. Erinnerungen an versunkene Begriffe wie Maggie-Ménage, Gulasch-Kommunismus und Gabelfrühstück werden geweckt. Der „Kalte Hund“ trifft auf den „Restaurant-Bären“ und die „Blaue Hilde“. Es ist ein kulinarisches Kunterbunt der Sprache, das in dem Büchlein aufeinander prallt.

Das für den täglichen Gebrauch bestimmte Werkstattbuch des Journalisten dokumentiert die früheste Bezeichnung des Begriffs Sommelier aus einem am 23. November 1928 erschienenen Artikel von Kurt Tucholsky ebenso wie die erstmalige Veröffentlichung des Begriffs Studentenfutter. Letzteres erwähnt Rumohr in seinem „Geist der Kochkunst“ anno 1832 als eine „Schleckerei deutscher Gymnasiasten und Burschen“.

Scheuermanns Wortklaubereien zergehen auf der Zunge und entfalten ihr volles Bukett langsam aber nachhaltig. Die gesammelten Sprachhäppchen machen Appetit auf mehr. Nur eine Frage lässt Scheuermann offen: welchen Wein er zur Lektüre der gesammelten Bonmots am abendlichen Kaminfeuer empfiehlt.


Genre: Sprache
Illustrated by Eisenhut Hagen