Die Bar unter dem Meer

benni2Esiste una lingua senza metafora, un pranzo senza relever, un diavolo senza le zanne?“, frägt sich der Protagonist in „Il piú grande cuoco di Francia“ („Die Bar unter dem Meer”), einer Episode aus der Kurzgeschichtensammlung „Il bar sotto il mare“, die durch den roten Faden, einer Bar am Meeresgrund zusammengehalten wird und die Stefano Bennis Sprachwitz und kreativen Erfindungsreichtum zum Vergnügen der Leser exemplarisch darstellt. Ein Teufel ohne Stoßzähne (un diavolo senza le zanne), ob es das wirklich gibt? „Bar Sport“ war Stefano Bennis Erstling, der in 1977 in Italien bekannt machte. Eigentlich wäre er ja gerne Fußballer geworden, aber in seinem Debüt gelingt es ihm, einen würdigen Ersatz dafür zu finden. „Bar Sport duemilla“ knüpfte nochmals – 1997 – an seinen Romanerstling an und mit „Il bar sotto il mare“, dem vorliegenden bei Reclam auf Italienisch erschienen Werk setztee er seine Bar-Triologie 1987 fort. Alle zehn Jahre als ein „Bar“-Roman? Natürlich schreibt Benni dazwischen auch eine Vielzahl an Artikel, Kolumnen und Theatermonologe oder Filmdrehbücher für italienische Zeitungen wie Il manifesto, L’Espresso, La Repubbblica, etc und insgesamt weitere 20 Romane.

Die Bar unter dem Meer

Die „Bar“ an und für sich bezeichnet Benni als „luogo della narrazione“, also als Ort der Erzählung und nicht der Platz, wo man einen Espresso am banco schlürft. Denn in der Bar erzählen sich die Menschen von ihrem Leben und Benni ist ein guter Zuhörer, der das, was er dort aufschnappt, mit einer Vielzahl anderer literarischer Einflüsse vermengt, ohne dies auch nur im Mindesten zu verhehlen, denn Benni ist ein Vielleser und bevor er schreibt verschlingt er gleich mehrere Bücher, wie Ulrike Zanatta im Nachwort aufschlussreich erzählt: „Prima di iniziare un romanzo, passo un paio di mesi a leggere: è una ginnastica che mette in moto l’onnipotenza della fantasia e l’umilità della scrittura“. Die „Bar“ habe etwas unheimlich Egalitäres: hier begegnen sich Alt und Jung, Arm und Reich, Schön und Schiach. Aber in der Bar sind sie alle gleich. Aber manche von ihnen sprechen mit einer drastisch-vulgären Sprache, wie etwa der Capitano Charlemont in „Matu-Maloa“, der sich „una bella sega nel buco del culo del signore“. Andere drücken sich gewählter aus, wie Oleron in „Oleron“: „Nel palpito dell’agonia è la vita più sacra“: beim Herzschlag des Todeskampfes ist das Leben am Heiligsten.

23 Gäste: 1000e Geschichten

Il bar sotto il mare“ bedient sich eines simpel genialen dramaturgischen Tricks: die einzelnen Kapitel werden von unterschiedlichen Personen erzählt und so ensteht ein Kaleidoskop von Geschichten, die unsystematisch zusammengestellt ist und wo die Heterogenität der Erzählungen durch den Schauplatz „Bar unter dem Meer“ zusammengehalten wird. Die 23 Gäste auf dem Grunde des Meeres „fabulieren und persiflieren nach Herzenslust“, wie Zanatta es treffend beschreibt: „Die Geschichten sind so unterschiedlich wie ihre Erzähler und führen den Leser auf eine Reise durch verschiedene Genres und Epochen der Literatur.“ Man spürt den Einfluss von Edgar Allen Poe („Oleron“, „Il piú grande cuoco di Francia“) ebenso wie den von Agatha Christie oder in „California Crawl“ eine Parodie des amerikanischen Minimalismus, so Zanatta, aber auch den russischen Symbolismus wie in „Nastassia“.

Ein extravagantes Leservergnügen voller Wortwitz und Charme und man kann die Bar unter dem Meer auch lesen wie ein Literaturrätsel, was zusätzlich noch sehr viel Spaß macht.

Stefano Benni
Il bar sotto il mare
Ital. Hrsg.: Zanatta, Ulrike
349 S.
Reclam
ISBN: 978-3-15-019764-6

 


Genre: Humor und Satire, Kurzgeschichten und Erzählungen, Roman
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Romy Schneider – Film für Film

romyRomy Schneider Film für Film: 63 Filme hat die im Alter von nur 44 Jahren verstorbene Romy Schneider in ihrem kurzen Leben gedreht. Die Liste der berühmten Regisseure (Luchino Visconti, Orson Welles, Andrzej Zulawski und immer wieder Claude Sautet, u.v.a.m.) mit denen sie zusammengearbeitet hat ist lang, auch die ihrer Filmpartner und berühmten Kollegen, obwohl sie wohl am liebsten mit Alain Delon gedreht hat. Der vorliegende prächtige Bildband zeichnet die Karriere der Femme fatale Film für Film noch und kann so wie ein Lexikon benutzt werden für Filmfreaks und Romy-Fans ebenso wie für einfache Cineasten. Isabelle Giordano zeichnet in ihren Film-Rezensionen, die reich illustriert sind, ein intimes Porträt der Schauspielerin und des Menschen Romy Schneider. Vor allem soll aber eine selbstbewusste Frau gezeigt werden, die zum Symbol ihrer Zeit wurde, denn sie prägte nicht nur das Bild von Generationen, sondern wurde auch zum Vorbild für die heranwachsende neue Generation von Frauen.

Chronologie Romy Schneider Film für Film

Chronologisch nach den Jahrzehnten ihres Wirkens geordnet beginnt die Zusammenstellung mit einem Film aus den Fünfzigern „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ und endet mit „Der Spaziergängerin von Sans-Souci“, ihrem letzten Film. Dazwischen liegen weitere 61 Filme, die sich mit unterschiedlichen Thematiken beschäftigen. Von den „Mädchenjahren einer Königin“ einmal abgesehen, stammt auch der verstörende Thriller „Nur die Sonne war Zeuge“ noch aus diesem ersten Jahrzehnt von Romys Schaffen. Spätestens ab den Sechzigern habe Romy Schneider die moderne Frau verkörpert, schreibt Giordano, die „sich befreien und ihr Schicksal selbst bestimmen wollten“. Ihre Persönlichkeit stehe für „eine Epoche, eine Generation und, noch tiefer reichend, für eine leidenschaftliche Suche nach Freiheit, einen Durst nach Anspruch und Perfektion“, so die Herausgeberin. Giordano sieht in ihr eine moderne Antigone, die wie einst die griechische Heldin laut und deutlich betone „Ich will alles!“

Romy und Alain am Pool

Der erste Film von Romy, der in den Sechzigern gedreht wurde, war „Die Sendung der Lysistrata“, allerdings fürs Fernsehen und nicht fürs große Kino. Aber „Lysistrata“ ist ein sehr politischer Film mit einem politischen Inhalt, geht es doch darum, dass sich die Frauen ihren Männern verweigern, um den Krieg zu verhindern. Der „Sexstreik“ steht somit am Beginn der Filmkarriere Romys in den wilden Sechzigern, in denen sie am Ende mit Alain Delon an einem Swimmingpool liegt und der Liebe frönt. „La piscine“ – so der Originaltitel von „Der Swimmingpool“ kam 1968 heraus und zeigt Romy in „voller sonnengebräunter und strahlender Schönheit“ zusammen mit Alain Delon in „katzenhafter Anschmigesamkteit (…) auf dem Höhepunkt ihrer Kunst und ihrer Verführungskraft“. Neugierige erfahren übrigens auch wo genau in Frankreich sich der Swimmingpool mit der dazugehörigen Villa befinden. Die einzigartige Atmosphäre des Films verdankt er wohl auch dem wirklichen Leben: Romy und Alain hatten ihre Beziehung schon hinter sich und wurden nun – durch die Drehareiten – zu echten Freunden. Aber das erotische Knistern zwischen den beiden ist vielleich gerade darauf zurückzuführen und – dass Romy schon Mutter geworden war.

Ein schöner Bildband mit einmaligen Szenen- und Standfotos, interessanten Geschichten zu den Dreharbeiten und viel Details über Romy. Die Journalistin und Kinoexpertin Isabelle Giordano zeichnet eine reich bebilderte Filmographie und ein intimes Portrait der großen Darstellerin, Bild für Bild von den Anfängen als Tochter des deutschen Vorzeige-Schauspielerpaars Magda Schneider und Wolf Albach-Retty über ihre ersten filmischen Ausflüge nach Frankreich (mit Alain Delon) und die Jahre der Hollywood-Produktionen bis zum Image der Grande Dame des französischen Films der 1970er Jahre und ihrem tragischen Ende in Paris.

Isabelle Giordano (Hg.)
Romy Schneider Film für Film
2017, Schirmer/Mosel, 256 Seiten,
206 Abbildungen in Farbe und Schwarzweiß.
Format: 24,5 x 28,5 cm, gebunden.
Deutsche Ausgabe.


Genre: Biographien, Biographien, Briefe, Dokumentation, Erinnerungen, Fotografie, Frauenliteratur, Kulturgeschichte, Memoiren, Reportagen
Illustrated by schirmer/mosel

Bonjour Tristesse

9783550081385_coverMit 18 Jahren veröffentlichte die Autorin die Erzählung “Bonjour, tristesse”, die auch heute, 50 Jahre später, für das Selbstbestimmungsrecht der Frau steht. Das Klima in den 50ern war gezeichnet von einer Gesellschaft, die die Frauen hasste, schreibt Sibylle Berg in ihrem lesenswerten Nachwort zu vorliegender Neuübersetzung. Obwohl Frauen zwei Drittel der Gesellschaft ausmachten, mussten Frauen die Erlaubnis des Ehemannes einholen, um arbeiten gehen zu dürfen, und dann auch nur als „Dazuverdienerin“. Emotional, passiv und sozial sollten sie sein, die Männer dafür leistungsorientiert, durchsetzungsfähig und aktiv, so Berg. Sagans Protagonistin, Cécile, war in diesem gesellschaftlichen Klima „ein progressiv-feministischer Beitrag zu einem Wandel des Frauenbildes“. „Bonjour tristesse ist eine Reminiszenz an eine Zeit des Aufbruchs“, schreibt Berg, „als man von einer besseren Zukunft träumte“.

Vom Pochen des eigenen Blutes

Ausgehend von einem Gedicht Paul Éluards mit demselben Titel, beschreibt die junge, 18-jährige Protagonistin Cécile das Leben mit ihrem Vater Raymond. Sie beschreibt die „Tristesse“ als über die Wehmut und das Bedauern, die Reue hinausgehendes Gefühl, das sie umschließe wie Seide, „zermürbend und weich, und mich trennt von den anderen“. Ähnlich wie ihr Vater erlebt auch Cécile unterschiedliche Liebesabenteuer, als sie ihre Lust erstmals entdeckt: „Bis heute weiß ich nicht, ob sich hinter dieser Lust an der Eroberung ein Übermaß an Vitalität verbirgt, oder ob es das Verlangen ist, Einfluss auszuüben, oder aber das verstohlene, uneingestandene Bedürfnis nach Selbstbestätigung, nach Bestärkung“, denkt sich Cécile über ihre Abenteuer und Sagan beschreibt ihr Leben mit wunderbaren sprachlichen Bildern. Da sind einmal „die Sandkörner zwischen meiner haut und meiner Bluse“, die sie vor dem „zärtlichen Ansturm des Schlafes“ schützten oder das Herz ihres Liebhabers Cyril, „das im Takt der Wellen schlug, die sich auf dem Sand brachen (…) ich hörte das Meeresrauschen nicht mehr, aber in meinen Ohren das schnelle, fortgesetzte Pochen meine eigenen Blutes“.

Bonjour, tristesse: Intrige und Lust

Im zweiten Teil des Romans verändert sich die Konstellation, denn ihr Vater will heiraten und Cécile fühlt sich von der neuen verdrängt und so spinnt sie ihre Intrige mit einer alten Liebhaberin ihres Vaters, um wieder zu ihrem Recht, die einzige für Raymond zu sein, zu können. Denn alle Liebhaberinnen ihres Vaters waren bisher vorübergehend, nur sie, Cécile, blieb immer bei ihm. Plötzlich ahnt Cécile „diesen ganzen herrlichen Mechanismus der menschlichen Reflexe, diese Macht des Wortes“, sie ahnt sie im Moment der Intrige und sieht darin – auch wenn sie diese Erfahrung auf dem Weg der Lüge machen musste – ihre eigene Zukunft: „Eines Tages würde ich jemanden leidenschaftlich lieben, und ich würde auf diese (Hervorhebung JW) Weise einen Weg zu ihm suchen, behutsam, mit Zartheit und zitternder Hand…“. Ein Manifest der Intrige als letzte Waffe der Frau zu ihrem Recht zu kommen? Heutige Feministinnen wären mit Francoise Sagans Romandebüt wohl weniger zufrieden, denn alle Frauen kreisen immer um Raymond. Auch Cécile. Aber damals begann mit diesem Roman die Befreiung. So die Legende.

Francoise Sagan
Bonjour Tristesse
Aus dem Französischen übersetzt von Rainer Moritz
Mit einem Nachwort von Sibylle Berg
Ullstein Verlag, Internationale Literatur Literarische Wiederentdeckung
Hardcover mit Schutzumschlag, 176 Seiten
ISBN-13 9783550081385


Genre: Erfahrungen, Erinnerungen, Frauenliteratur, Liebesroman, Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Das Frausein in den Sechzigern

ferrante3Sich zu entscheiden, heißt jemandem wehtun“. Lena befindet sich in einem außergewöhnlichen Transformationsprozess, ganz so wie die bewegten Siebziger Jahre um sie herum. Es wird viel demonstriert und diskutiert und die Frauen werden sich ihrer unterdrückten Rolle im Patriarchat bewusst. Aber nicht nur die Arbeiter befinden sich im Ausstand, auch Studenten kommen zu ihren Prüfungen mit einer geladenen Pistole, um ein besseres Prüfungsergebnis zu erzielen. So ergeht es zumindest Pietro, dem Ehemann Lenas, der an der Hochschule in Florenz als Professor arbeitet. Der dritte Teil der Neapolitanischen Saga hat es in sich: privat und politisch.

Frausein unter Freundinnen

Mit dem Vorwurf konfrontiert „Liebesgeschichtchen“ zu schreiben räumt Lena in „Die Geschichte der getrennten Wege“ endgültig auf, denn sie zeigt sich zunehmend politisiert und wird sich ihrer Rolle als Frau in der Gesellschaft bewusst. Ihr zweiter Roman, den Lena während ihrer Ehe und zwei Schwangerschaften zu schreiben versucht, entpuppt sich zwar als Flopp, dafür thematisiert sie im dritten Buch ihr Frausein und die Rolle der Frauen in der (italienischen) Nachkriegsgesellschaft und davor: „Die Reduzierung meiner Person auf eine gedeckte Tafel für den sexuellen Appetit des Mannes, auf ein gut gekochtes Gericht, damit ihm das Wasser im Mund zusammenläuft.“ Und dennoch unterwirft sie sich der klassischen Stutenbissigkeit als sie ihrer Konkurrentin, Eleonara, der Frau ihrer Jugendliebe Nino, begegnet und misst sich mit ihr, um nicht gerade schöne Worte über sie finden. Aber das beruht bekanntlich auf Gegenseitigkeit.

Sprache der Klasse

Schöne sprachliche Bilder wie „Ich legte den Hörer auf, als hätte ich mich an ihm verbrannt“ oder „Mein Kopf war ein Tränenquell wie der des rasenden Rolands“ wechseln sich mit Überlegungen zur eigenen Sprachfindung ab. Denn der „Rione“ – das Viertel Neapels in dem Lena geboren wurde – nötigte ihr immer wieder dann seine Sprache auf, wenn sie nervös und unzufrieden war und das beeinflusste auch ihr Denken, obwohl sie längt in die höheren Sphären der Gesellschaft aufgestiegen ist und in Florenz lebt, mit einem hochangesehenen Ehemann, zwei Kindern und den Ariostas, einer einflussreichen Familie, im Hintergrund. Reife bestehe darin, denkt sich Lena, sich nicht zu sehr aufzuregen und die Wende zu akzeptieren, die das Leben nehme, „einen Weg zwischen der Praxis des Alltags und theoretischem Erkenntnissen einzuschlagen, zu lernen, sich anzusehen, sich zu erkennen, während man auf große Veränderungen wartete“. Mit einem gekonnt arrangierten Cliffhanger leitet Elena Ferrante zum vierten Teil der Neapolitanischen Erfolgssaga über, der aber auf Deutsch bei Suhrkamp erst am 5. Februar 2018 – mit dem Titel „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ – erscheinen wird. Man(n) kann es gar nicht mehr erwarten.

Elena Ferrante
Die Geschichte der getrennten Wege – Band 3 der Neapolitanischen Saga (Erwachsenenjahre)
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
D: 24,00 € /A: 24,70 € /CH: 34,50 sFr
2017, gebunden, 540 Seiten
ISBN: 978-3-518-42575-6


Genre: Belletristik, Biographien, Briefe, Emanzipation, Erfahrungen, Erinnerungen, Feminismus, Frauenliteratur, Gesellschaftsroman, Memoiren
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Paläo-Art: Urzeittiere und Pulp-Dinos im Großformat

paleoart_ju_d_3d_03421_1707131052_id_1128674Palaeo-Art: Das dreidimensionale Strukturencover lässt einen Dinosaurier ertasten, dessen Maul geradezu vor Blut trieft und Appetit auf noch mehr Urzeitgeschichte macht. Gleich die ersten Seiten hinter dem Hardcover-Cover sind ausklappbar und erreichen beinahe die Spannweite eines Urzeitvogels. Paläo-Art, das ist Geschichte in einem neuen Format erzählt, großformatig, bunt und spannend oder wie es Walter Ford im Vorwort nennt: „Das ist schon verwirrend, aber Paläo-Kunst ist keine Höhlenmalerei, das wäre paläolithische Kunst.“, letztere wäre tatsächlich schon „steinalt“, Paläo-Kunst hingegen ist gerade einmal 100 Jahre alt, wie auch der junge Walter Ford einst beim Spielen schmerzlich feststellen musste.

Palaeo-Art: Archiv der Illusionen

Die Paläo-Kunst ist eine zeitgenössiche Kunstform, die 1830 in England begann und die prähistorische Vergangenheit anhand von Knochen- und Skelettfunden rekonstruierte, um sich so ein Bild von der Altsteinzeit zu machen. Paläo-Künstler rekonstruierten dabei aber nicht nur die Urtiere, sondern ach die entsprechenden Landschaften. So wie sich die Menschen mit der Erfindung der Dampfmaschine vermehrt Gedanken über eine mögliche Zukunft machten, so konstruierten sie auch ihre prähistorische Vergangenheit mit Bildern von Tieren und Pflanzen, die zuvor noch nie ein menschliches Auge erblickt hatte. Walter Ford suchte also jemanden, der sich mit den künstlerischen Aspekten der Urzeit auseinandersetzte und fand Zoë Lescaze, die schon „riesige Wandbilder in Moskauer Museen, strahlende Ölgemälde in dunklen Lagerräumen in Tschechien und feine Aquarelle in Schubladen britischer Archive“ aufgestöbert hatte, noch bevor er von dieser Publikation zu träumen gewagt hatte.

Wahrheit: Kind ihrer Zeit

Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit liegt nun in einer einzigartigen Publikation des TASCHEN Verlages vor, die wieder einmal alle Grenzen sprengt. „Dieses Buch strotzt vor Darstellungen, die in der hitzigen Aufregung überraschender Entdeckungen entstanden. (…) Es ist wie eine doppelte Zeitmaschine aus einem Science Fiction Comic, den ich als Kind geliebt hätte“ und als Erwachsener erst richtig zu schätzen weiß, möchte man hinzufügen. Anhand von Werken aus der Zeit von 1830 bis 1990 zeichnet die vorliegende Publikation die wundersame Geschichte der Paläo-Kunst nach und zeigt dass die Wahrheit immer auch ein Kind ihrer Zeit ist, denn viele Darstellungen sind dem jeweiligen Zeitgeist angepasst und sagen wohl genau so viel oder sogar mehr über ihre Zeit aus, wie über die Zeit des Abgebildeten. Dinosaurier im Stile des Fauvismus, vom Japonismus oder vom Jugendstil beeinflusst, viktorianische und sowjetrussische Urzeittiere ebenso wie Pulp-Dinos, albtraumhafte Monster oder majestätische Titanen. Ein Essay von Zoë Lescaze sowie eine Vielzahl beeindruckender Abbildungen und Illustrationen sowie vier Ausklappseiten im Riesenformat überzeugen nicht nur Paläo-Fans, sondern auch zeitgenössische Kunstkritiker.

Zoë Lescaze/Walton Ford

Paläo-Art: Darstellungen der Urgeschichte
Hardcover mit 4 Ausklappseiten, 28 x 37,4 cm, 292 Seiten
Ausgaben in Deutsch/ Englisch/ Französisch/ Spanisch
2017, TASCHEN
ISBN 978-3-8365-6584-4
75.-€

 


Genre: Dokumentation, Dystopie, Kulturgeschichte
Illustrated by Taschen Köln

Die Korrespondenzen Rimbauds erstmals auf Deutsch

Enid-Starkie+Das-Leben-des-Arthur-RimbaudIm Oktober erscheinen bei Matthes & Seitz die Korrespondenzen des Dichters und Weltreisenden Arthur Rimbaud erstmals auf Deutsch. Rimbauds vollständige Korrespondenz, sämtliche zu Lebzeiten gedruckten Werke (auf Grundlage der Handschriften neu übersetzt) sowie alle zeitgenössischen Rezensionen liegen mit Jean-Jacques Lefrère (Hg.) monumentaler Rimbaud-Edition (2500 Seiten!) nun erstmals auch in der deutschen Übersetzung vor. Zeit, auf sein Leben, Leiden und Sterben zurückzublicken. Eine Vorschau.

Korrespondenz: Ich=Anderer

Car Je est un autre“ (deutsch: „Denn: Ich ist ein anderer“). Auf der Höhe seiner dichterischen Fähigkeiten entsagte Rimbaud der Literatur und begab sich auf eine wilde Reise, erst durch Europa, dann nach Afrika. Auf das Schreiben seiner Hauptwerke „Illuminations“ und „Une saison en enfer“ (Eine Zeit in der Hölle) folgten einige Jahre der Ausschweifung mit Paul Verlaine in Paris, London und Brüssel, wo dieser ihn sogar anschoß. Danach begab sich Rimbaud beinahe in die vollkommene Askese, bereiste als Landstreicher Europa (in Wien wurde im Rausch von einem Fiakerfahrer beraubt), um schließlich als Kaffeeexporteur, Waffenhändler und Sklaventreiber an der Somaliküste und in Äthiopien zu enden. Zurück kam er nur mehr mit einem Fuß und starb zuletzt doch in der Stadt, die er am meisten hasste: seiner Heimatstadt Charleville-Mézières. Er hatte es geschafft: er war wirklich ein anderer geworden.

Entregelung aller Sinne

L’homme aux semelles de vent“ (Der Mensch mit den Sohlen aus Wind), wie ihn Verlaine nannte, hatte ein „warmes und leidenschaftliches Herz, das schließlich in der eigenen Glut ausbrannte“, so Enid Starkie, die 30 Jahre lang an ihrer Biographie zu Rimbaud gearbeitet hat. Rimbaud floh von seinem engen Elternhaus nach Paris, wo gerade die Commune versuchte, ein neues Gesellschaftsmodell zu verwirklichen, aber mit Hilfe der Deutschen niedergewalzt wurde. 20.000 deutsche Soldaten hatten Paris damals, 1871, besetzt. Das zweite Kaiserreich war geprägt von der Rekonstruktion und auch die Künstler waren nach wie vor von Baudelaire und den Parnassiens beeinflusst, die das traditionelle Schönheitsidel pflegten. „Man kann sich denken, dass Rimbauds Vénus Anadyomène `belle hideusement d’un ulcère à l’anus nicht gerade nach ihrem Geschmack war“, bemerkt Starkie sarkastisch. Bei öffentlichen Lesungen soll Rimbaud seine Aufmerksamkeit mit Grunzlauten kundgetan haben und auch sonst durch rüpelhaftes Benehmen aufgefallen sein. Die Abneigung der Pariser Bohème gegen ihn ging sogar noch weiter: Auf dem berühmten Bild von Fantin-Latours „Le Coin de Table“ auf dem auch Rimbaud zu sehen ist, verweigerte sich einer der Vertreter der literarischen Bohème abgebildet zu werden, weil er nicht mit dem Strolch Rimbaud auf einem Bild sein wollte. Statt dem Dichter Albert Mérat steht dort nun eine Vase mit Blumen. Später hatten Verlaine und Rimbaud sogar eine Persiflage auf Mérat veröffentlicht die sich „Le Sonnet du Trou du Cul“ nannte. Statt sich in den Pariser literarischen Zirkel zu integrieren, machte sich Rimbaud nun an die „long et raisonné dérèglement de tous les sens“: die Entregelung aller Sinne.

Leben bis zum letzten Blutstropfen

rimbaud1Enid Starkie zeichnet akribisch die unterschiedlichen Lebensstationen des enfant terrible Arthur Rimbaud nach. Sie zitiert seine wichtigsten Gedichte – die vom Verlag dankenswerterweise zweisprachig abgedruckt wurden – und beschreibt die zentralen Lebensstationen Rimbauds, dessen Gedichte nach seinem Ableben als die eines Thaumaturgen bezeichnet werden könnten. Denn viele nachgeborene Dichter fühlten sich in der Tradition dieses „Wundertäters“ und Alchemisten der Worte und wären ohne seine Leuchtkraft wohl nie „geboren“ worden. „Rimbaud verdanke ich, menschlich gesprochen, die Rückkehr zu meinem Glauben“ soll Paul Claudel über ihn gesagt haben. Arthur Rimbaud lebte sein Leben bis zum letzten Blutstropfen und schaffte es seine eigenen Ansprüche zu erfüllen, auch wenn er letztlich als Mensch scheiterte. „Nous savons donner notre vie tout entière tous le jours“ (Wir müssen uns dem Leben jeden Tag voll und ganz hingeben). Vielleicht musste er an sich selbst verglühen, wie Starkie in obigem Zitat andeutet, da er die Fackel einem Prometheus gleich für uns Nachgeborene vom Himmel geholt hat. Besonders beeindruckend sind auch die Passagen von Enid Starkie in denen sie seine Zeit in Abessinien beschreibt. Man darf also gespannt sein, was die nun vom Matthes & Seitz auf Deutsch herausgegebenen Korrespondenzen für den Forschungsstand bedeuten werden.

 

Enid Starkie
Das Leben des Arthur Rimbaud
Neu heraugegeben von Susanne Wäckerle
Matthes & Seitz
1990, 571 Seiten
Deutsch, teilweise Französisch
ISBN-13: 978-3882217650
15,3 x 4,5 x 22,8 cm

Arthur RimbaudJean-Jacques Lefrère (Hg.)
Korrespondenz
Aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von Tim Trzaskalik
2500 Seiten, Gebunden
Originaltitel: Correspondance de Rimbaud (Französisch)
Übersetzung: Tim Trzaskalik
ISBN: 978-3-95757-013-0
Preis: 98,00 €

Ein Notizbuch: viel weißes Papier zu Semesterbeginn

Notizbuch um Notizbuch: Für viele Studentinnen und Studenten beginnt bald wieder die Universität und anders als bei den Schülerinnen und Schülern bekommen diese keine Schultüten, um den Beginn des Ausbildungsjahres zu versüßen. Aber dafür gibt es Kalender und Notizbücher, die nicht nur praktischen Gesichtspunkten, sondern auch Ansprüche an Design und Charme befriedigen können. Die bekanntesten dieser Art sind natürlich die kleinen schwarzen von moleskine, die anscheinend schon von Vincent Van Gogh bis Pablo Picasso, von Ernest Hemingway bis Bruce Chatwin. benutzt wurden und so auf eine lange Tradition zurückblicken können. Aber längst gibt es auch originelle neue Ideen, die designtechnisches keine Wünsche offen lassen. Wir haben uns etwas umgeschaut und stellen neue Varianten des beliebten „immer dabei“-Buches hier vor.

Diogenes: Klassiker in Rot

Das Notizbuch des Diogenes Verlags ist in Zusammenarbeit mit Hieronymus, einem der exklusivsten Schreibwarenhersteller der Schweiz, entstanden. Das Diogenes Notizbuch gibt es in drei Größen – small, medium, large und lässt in Sachen Beweglichkeit, Schlankheit, Papierqualität und einfachem Heraustrennen der Seiten keine Wünsche offen. Diogenes Notes sind fadengeheftet, in Leinen gebunden.

Reclam Universal Notizbuch in allen Farben

“Ich werd nie mehr so rein und so dumm sein wie weißes Papier”, heißt es in notiz3einem Song der deutschen Band Element of Crime. Am Anfang steht damit also die Überlegung, ob man lieber blanko oder kariert wählt. Das Universal-Notizbuch von Reclam gibt es in beiden Varianten und dazu sogar noch einen Bleistift geschenkt. „Record your ideas“ steht avantgardistisch auf dem Kartoncover (Schutzfunktion) zum Notizbuch und tatsächlich hat es auch sein einen Preis damit gewonnen: den red dot design award. Das Reclam-Notizbuch ist gelb und sieht damit genauso aus wie die unzähligen Klassiker der Reihe im praktischen Taschenformat. „Jede Notiz ein Klassiker“ steht auf der Rückseite des eigentlichen Notizbuch-Covers und so steht dann den eigenen Ideen nichts mehr im Wege. Keine lästigen Daten-, Wetter- oder Geburtstagseintragungen mehr, wie bei anderen Notizbüchern, sondern einfach nur das unbeschriebene weiße Papier, Raum für Gedanken, die vielleicht bald die Welt oder zumindest die eigene Fantasie beflügeln können. Weißes Papier: egal ob blanko oder kariert, seit neuestem auch im Schuber in allen Farben der Reclam Publikationen erhältlich.

Suhrkamp Literatur als Notizbuch

Quasi nackt – also ohne schützenden Karton und Bleistift – kommt das notiz1Notizbuch des Suhrkamp Verlages daher, dafür trägt es aber den hochtrabenden Titel eines Literaturklassikers, der bei Suhrkamp 1988 erschienen ist, darauf. „Chronik der laufenden Ereignisse“, das Buch von Peter Handke wird hier zitiert und das Notizbuch sieht genauso aus wie ein Taschenbuch von Suhrkamp, denn in glänzenden Lettern steht der Titel groß auf der Vorderseite. „Schreiben geht nicht ohne Glanz“, ein Zitat von Peter Handke schmückt wiederum den Buchrücken in schillernden blauen Lettern auf schwarzem Grund. Es gibt aber auch andere Ausführungen, etwa “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” von Marcel Proust. Das Notizbuch des Suhrkamp Verlages ist vom Format her etwas größer als das Universal-Notizbuch von Reclam, aber immer noch handlich genug, dass es im Notfall in einer Gesäßtasche einer Jeans Platz hat. Das Notizbuch von Suhrkamp bietet genug Platz für Eintragungen, die durch nichts eingeengt werden, einzelne Seiten ließen sich auch herausreißen ohne Spuren zu hinterlassen, sollte man einmal einem Kollegen ein Blatt Papier borgen müssen. Aber würde das gerne tun? Zu schön ist der Anblick dieser hohen Literatur, die noch geschrieben werden muss. notiz4Als Verbesserungsvorschlag könnte man noch anführen, dass es cool wäre, wenn die Umschlagseiten einklappbar wären, um schneller zu der jeweiligen aktuellen Seite zu gelangen. Es sei dann man schreibt immer auf der ersten Seite, weil man an die Kollegen zu viele leere Seiten verteilt hat. Ist das so gedacht? Egal, auf jeden Fall ein Schmuckstück in jeder Handtasche oder Hosentasche.

Retro und Vintage: das Insel Notizbuch

Zuletzt sei noch auf das Notizbuch der Insel-Bücherei hingewiesen, das es in verschiedenen Farbdesigns gibt und etwas Retro- und Vintagemäßig daherkommen. Sie unterscheiden sich nicht nur durch ihr größeres Format von anderen Notizbüchern, sondern auch durch ihr hartes Karton-Cover, das sowohl innen wie außen in unterschiedlichen Farben designt ist. Der Vorteil ist damit aber auch sein einziger Nachteil, denn es ist weder knick- noch faltbar und außerdem viel zu schön dafür. notiz2Das altmodische Design macht es zu einem wirklichen Designklassiker, dessen Schönheit an ein altes Schulheft erinnert, einer Zeit also, in der man selbst noch Schultüten bekam und die Süßigkeiten noch nicht so bitter schmeckten, sondern einen mit ihrem orientalischen Zauber aus Zucker und Honig einlullten, bereit für die Welt da draußen. Einen schönen Schul- resp. Unibeginn wünscht die Redaktion.

Diogenes Notes
Small (8.5 x 12.5 cm)
Medium (10.5 x 15.5 cm) und
Large (12.8 x 18.8 cm)
144 Seiten
€ (D) 15.00* / sFr 20.00* / € (A) 15.00*

Universal-Notizbuch
Record your ideal
Blanko oder kariert, mit Bleistift
In allen Farben der Universal-Bibliothek
Design: Blum, Wolfgang
Je 128 S., blanko, original UB-Papier mit integriertem Bleistift im Schuber
Format inkl. Schuber: 10,5 x 14,9 cm
ISBN: 9783159003023
5.-€

Chronik der laufenden Ereignisse
Notizbuch
Suhrkamp
Taschenbuch
160 Seiten
ISBN: 9783518467596
4,2.-€

Notizbuch
Insel-Bücherei
ISBN: 9783458177142
8.-€

Zum 150. Todestag von Charles Baudelaire

baudelaire

Charles Baudelaire in Neuübersetzung bei dtv

Charles Baudelaire (1821-1867), der dieses Jahr am 31. August seinen 150. Todestag hatte, gehört mit seinen „Fleur du Mal“ (1857/1868) zu den herausragendsten Lyrikern der Moderne und war nicht nur einem Arthur Rimbaud, sondern auch vielen anderen Dichtern aufgrund seiner poetischen Formensprache ein großes Vorbild. Jean-Paul Sartre widmete ihm im Jahre `78, – quasi 100 Jahre nach Baudelaires Tod – einen beachtenswerten Essay, der allerdings auch viel über Sartres Existenzphilosophie verrät: „Die freie Wahl seiner selbst, die ein Mensch trifft, ist absolut identisch mit dem, was man sein Schicksal nennt.“ Ist dem wirklich so?

Ödipäische Mutterliebe

Eine in Mauritius abgebrochene Seereise nach Indien, sein Ehe mit der Mulattin Jeanne Duval und die Tatsache, dass er das Vermögen seines verstorbenen Vaters verprasste, sind einige der Stationen seines Lebensweges, die ihn unter die Vormundschaft des Notars Ancelle brachten. Natürlich trug auch sein liederlicher Lebenswandel, der Umgang mit Prostituierten und die Feindschaft zu seinem Stiefvater General J. Aupick sowie die Infizierung mit Syphilis zu seinem Leiden bei, von dem ihn einzig seine Poesie retten konnte. „Er war ein ewig Minderjähriger, ein gealterter Jüngling, und lebte in Wut und Hass, aber unter der wachsamen und beruhigenden Aufsicht anderer“, schreibt Sartre über Baudelaire. Der poète maudit habe zwar Zeit seines Lebens die Einsamkeit gesucht, die anderen aber gebraucht um seine Alterität unter Beweis zu stellen. „Dieser Einsame“, schreibt Sartre, „hatte Angst vor der Einsamkeit: nie geht er ohne Begleitung aus. Er sehnt sich nach einem Heim. Nach Familienleben“ und dennoch wollte er ein Genie sein. Genie war für ihn, die absichtlich wiedergefundene Kindheit, „und er brauchte die Anderen, um seine Alterität immer wieder aufs neue zu beweisen, denn er konnte nicht einsam sein, nicht wirklich“, so Sartre. Baudelaire habe stets „in Anbetung seiner Mutter“ gelebt und von ihm stammt auch der Satz: „Ich lebte immer in Dir. Du gehörtest mir ganz allein. Du warst Idol und Kamerad in einem.“, der aus einem Brief an seine Mutter stammt. Auch wenn er die zweite Heirat seiner Mutter nie verwinden konnte – denn wer einen Sohn wie ihn habe, brauche nie mehr zu heiraten. Die Vorwürfe an seine Mutter könnten einer Krankheit, die von Pierre Janet als Psychasthenie bezeichnet wird, verschuldet sein, denn Baudelaire sah die Welt wie durch ein Lorgnon, wie Sartre spitz bemerkt. „Unsereinem genügt es, einen Baum oder ein Haus zu sehen: in ihre Betrachtung versunken, vergessen wir uns selbst. Baudelaire ist ein Mensch, der sich nie vergisst. Er beobachtet sich beim Sehen. Er beobachtet sich, wie er sich beim Sehen beobachtet.“ Die Gegenstände selbst hätten für ihn keinen Wert, sie waren nur ein Vorwand, ein Abglanz oder eine Projektionsfläche und hatten nur die eine Aufgabe, ihm, während er sie sah, Gelegenheit zur Selbstbetrachtung zu geben, so Sartre. Zwischen den Gegenständen und ihm herrschte Transluzenz, „vergleichbar dem Zittern der heißen Luft im Sommer“.

Der existentialistische Mensch

978-3-499-14225-3

Bei Rowohlt: 1978 erschienen

Der von Sartre auch als Heautontimorumenos (=jemand, der sich selbst bestraft) bezeichnete Baudelaire wollte seiner eigenen Luzidität stets ein Schnippchen schlagen, damit ihn dies dann überhaupt zum Handeln befähige, denn die härteste und längste Strafe Baudelaires sei zweifellos die Luzidität seines Geistes gewesen, da er seinen fast krankhaften Reflexionszwang stets als Peitsche benutzt habe, so Sartre. Baudelaire sei nicht Zustand, „er ist Interferenz zweier konträrer Bewegungen, die beide zentrifugal sind und von denen die eine in die Höhe, die andere in die Tiefe strebt. (…) Er beugt sich über diese Freiheit und es schwindelt ihm vor diesem Abgrund. (…) Baudelaire: der Mensch, der sich als Abgrund empfindet.“ Baudelaire ist der Mensch, der sich sehen wollte, als sei er ein anderer. Sein Leben sei aber nichts anderes, als „die Geschichte dieses Scheiterns“. Und so wird Baudelaires Leben zum Vehikel für Sartres Existenzphilosophie: „Er begriff, dass die Freiheit unausweichlich zu absoluter Einsamkeit und letzter Verantwortung führt.“

Suizid oder die Äquivalenz des Todes

So wie Sartre Baudelaire interpretiert und analysiert bleibt er am Ende nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch allein. „F**,“ so Sartre, „das heißt danach streben, in einen anderen einzudringen; der Künstler hingegen geht niemals aus sich selbst heraus.“ Und in diesem Sinne interpretiert Sartre auch Baudelaires „Impotenz, Frigidität, Sterilität“: „Sogar im Coitus blieb er ein Einsamer, ein Onanist, denn im Grunde bereitete nur seine Sünde ihm Genuss“. Eine Phantomsünde, wie Sartre ergänzt, denn nichts lasse die Freiheit und Einsamkeit besser spüren. Für das Liebesspiel habe er sich sogar Handschuhe angezogen haben, schreibt Sartre. Jede seiner Handlungen sei das symbolische Äquivalent des Todes gewesen, den er sich nicht zu geben vermochte, da er ihn ja überleben müsste, um die Früchte desselben genießen zu können. „Frigidität, Impotenz, Sterilität, Mangel an Hingabe, an Hilfsbereitschaft, Sünde: lauter Äquivalente des Selbstmords. Sich bejahen bedeutet für Baudelaire ja sich als reine untätige Wesenheit setzen, also eigentlich als Gedächtnis. Und sich verneinen bedeutet: ein für allemal nichts anderes sein wollen als die unabänderliche Kette seiner Erinnerungen.“

Der Duft der Vergangenheit

Die Modulation eines seiner großen Grundthemen, der Vergangenheit, bringt Baudelaire auch zu einer aufschlussreichen Verquickung derselben mit der geistigen Potenz von Düften, wie wir gleich sehen werden. „Il est de forts parfum pour qui toute matière/Est poreuse. On dirait qu`ils pénètrent le verre.(Es gibt Düfte, so stark, dass alle Materie/Für sie porös ist. Man könnte meinen, sie durchdringen das Glas.) Wie die Schizophrenen und Melancholiker rechtfertigte Baudelaire seine Unfähigkeit zu handeln, indem er sich dem Schon-Erlebten, dem Schon-Getanen, dem Unabänderlichen zuwendete. Er habe die Wahl getroffen, so Sartre, diese bewusste Vergangenheit zu sein. Aus der Gegenwart hingegen habe er eine verkleinerte Vergangenheit gemacht, um ihre Realität besser leugnen zu können. „Wert hat allein die Vergangenheit, weil die Vergangenheit ist. Und wenn die Gegenwart manchmal einen Schein von Schönheit und Güte zeigt, so nur darum, weil sie ihn der Vergangenheit entlieh wie der Mond sein Licht der Sonne.“, schreibt Sartre. Damit verbunden sei eben auch Baudelaires Vorliebe für Düfte gewesen, denn der Duft bedauere stets, dass er vorhanden sei und dieses Bedauern atmen wir gleichsam gleichzeitig mit ihm ein: „Mainte fleur épanche à regret/son parfum doux comme un secret/Dans les solitudes profondes (Manche Blume verströmt Bedauern/Ihren Duft so süß wie ein Geheimnis,/In den tiefen Einsamkeiten)“ heißt es bei Baudelaire. Düfte seien Körper und zugleich so etwas wie die Negation des Körpers. Diese geistige Inbesitznahme habe Baudelaire auch bei den Frauen geliebt, die er eher „einatmete“ als körperlich liebte. Außerdem hätten Düfte „noch jene besondere Fähigkeit, sich rückhaltlos hinzugeben und trotzdem ein unerreichbares Jenseits zu evozieren“, so Sartre, denn Baudelaire liebte auch die Geheimnisse, „die ein ständiges Jenseitiges manifestierten“. Für seine Freunde und Verwandten sei er dadurch nicht mehr nur auf das beschränkt gewesen, was er tatsächlich war: ein Onanist. Für Baudelaire hatte nur die Vergangenheit Tiefe. Sie versehe und präge alles mit der dritten Dimension zitiert Sartre Charles de Bos’ Interpretation. „Sie ist, da sie unabänderlich ist und nichts als ein Gegenstand passiver Kontemplation. Zugleich aber ist sie abwesend, unerreichbar und wunderbar verwelkt. Sie besitzt „Geist“ und sei viel weiter fort als Indien oder China und doch sie nichts so nahe wie sie: sie ist das Sein jenseits de Seins. Und gerade Düfte würden sie evozieren: „Charme profond, magique, dont nous grise/Dans le présent le passé restauré. (Tiefer magischer Zauber durch den uns berauscht/In der Gegenwart die widerstandene Vergangenheit)“ zitiert Sartre Baudelaire’s Gedicht „Un Fantome“.

Baudelaire: Krebsgang in die Zukunft

Bereits mit 25 Jahren habe er begonnen im „Krebsgang voranzuschreiten“: er hatte einen Großteil seines Vermögens bereits vergeudet, den größten Teil seiner Gedichte geschrieben, sich das venerische Leiden zugezogen, das Verhältnis zu seinen Eltern eine endgültige Form gegeben, die Frau getroffen „die wie Blei auf jeder Stunde seines Lebens lastet“ und so sei ihm nichts anders mehr übrig geblieben, als sich selbst zu überleben, so Sartre. „Später wiederholt er sich nur noch.“ Und wenn er verzweifelt war, klammerte er sich immer an dieselben Hoffnungen. Nur im Jahre 48 sei er kurz in Aufruhr geraten, aber es sei keine ehrliches Interesse an der Revolution gewesen, sondern er wünschte sich nur, dass das Haus des General Aupick, seines Stiefvaters, in Brand gesteckt werde. „Dann versank er rasch wieder in seinen grämlichen Grübeleien über eine auf der Stelle tretende Gesellschaft“, so Sartre. Er entwickelte sich nicht. Er löste sich auf.

Ich werde sterben ohne aus meinem Leben etwas gemacht zu haben.“ Schmerz sagte er, sei Adel, Unglück die kostbarste Eigenschaft einer Seele, denn Baudelaire habe den Glücklichen verachtet, da er die Spannung verloren habe, gefallen sei, Glück unmoralisch sei. Der Schmerz half ihm, so zu tun, als sei er nicht von dieser Welt, schreibt Sartre.

Jean-Paul Sartre
Baudelaire. Ein Essay
Original 1963 Éditions Gallimard Paris
1978 Rowohlt Verlag 124 Seiten
ISBN: 978-3-499-14225-3
128 Seiten

Charles Baudelaire, Claude Pichois, Friedhelm Kemp
Die Blumen des Bösen Les Fleurs du Mal
Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp
Vollständige zweisprachige Ausgabe
EUR 12,90 € [DE], EUR 13,30 € [A]
dtv Literatur
520 Seiten, ISBN 978-3-423-12349-5

Irgendwas ist immer

Tucholsky: Humor mit fünf Sinnen

Tucho2„Besser ein Anzug nach Maß als eine Gesinnung von der Stange“, schreibt der Mann, der Zeit seines Lebens wohl nie in einen Anzug gepasst hätte: Kurt Tucholsky. Den einen war er zu links, den anderen zu konservativ und doch hat „Tucho“ – ein Pseudonym mit dem er gerne seine Briefe unterschrieb – sie alle zum Lachen gebracht. Der „kleine Berliner, der mit seiner Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte“ (Erich Kästner) war nicht nur ein begnadeter Feuilletonist, sondern auch Schriftsteller und Kabarettist. Niemals analysierte er die Welt als Parteigänger einer bestimmten politischen Richtung, sondern immer als Mensch und zwar als Mensch mit „allen fünf Sinnen“, wie auch der Herausgeber, Günter Stolzenberger, im Nachwort betont. Seine Lyrik ist zutiefst humanistisch, denn seine Themen greifen aus dem Alltagsleben und egal ob er über politische Schandtaten oder defekte Wasserhähne schreibe, immer habe er es mit dem Augenmaß der einfachen Menschen getan, die ihn auch verstanden und sogar seine Chanson und Lieder sangen.

Animation zum Denken

Das Leben und Leiden der einfachen Menschen sei stets im Fokus seines Engagements gestanden und durch stilistische Meisterschaft habe er es mittels seines federleichten Humors auch erträglicher gemacht, wer in seinem Werke wühle, so Stolzenberger, der gehe in den Wald in einem guten Pilzjahr: „Man hat nicht nur die Freude des Findens sondern kehrt auch noch mit vollem Korb zurück.“ Und so hat sich zu dem einen Büchlein, das sich seinen Lebensweisheiten widmet, auch gleich ein zweites gesellt, das mehr seine Lieder, Chansons und Schmonzetten beinhaltet. Zwischen 1907 und 1932 hat Kurt Tucholsky unter den unterschiedlichsten Pseudonymen insgesamt 2500 Artikel, Feuilletons und Reiseberichte, 800 Gedichte, Stellungnahmen zum Zeitgeschehen, zwei Liebesromane und ein Reisebuch veröffentlicht. Da ihm Bücher „zu langsam“ waren bevorzugte er es zeit seines Lebens Woche für Woche eine ganze Reihe Zeitungen und Zeitzschriften mit seinen Texten zu bombardieren, darunter Die Weltbühne, Vorwärts, das Berliner Tageblatt und viele andere mehr. Theobald Tiger – so eines seiner Pseudonyme – habe die Massenkultur mit ihren eigenen Mitteln bekämpft, denn er nutzte die Form der Unterhaltung, „um es klammheimlich oder offen zum Denken zu animieren“, so der Herausgeber.

Tucho1

Tucholskys gestossne Seufzer

Peter Panter – auch das ein Pseudonym – blieb auch als Dichter Journalist, denn zu genau und treffend sind seine Beschreibungen und Analysen des alltäglichen Lebens in der Weimarer Republik. Der als Schüler ausgerechnet in Deutsch sitzen gebliebene legte sein Abitur ab, um wenig später ein juristisches Studium in Bestzeit abzuschließen. Seine ersten Texte werden ausgerechnet von einer Zeitschrift namens „Ulk“ veröffentlicht, aber auch Pan, März und Simplicissimus drucken seine Glossen und Gedichte. Als Ignaz Wrobel oder Kaspar Hauser schreibt er Satire und wird nach Ableisten seines Militärdienstes auch bald politisiert, denn schließlich erlebte er auch den Ersten Weltkrieg und kannte die Verheerungen die der Krieg in einem Land und seiner Bevölkerung hinterlässt. Sein kurzes Tete a Tete mit der USPD und deren Zeitung Freiheit mögen ihm manche Demokraten übel nehmen, aber Tucholsky blieb doch stets Kabarettist. 1924 wird er sogar Korrespondent in Paris und pendelt zwischen den beiden Hauptstädten in denen er jeweils eine Geliebte und eine Ehefrau hat. „Golf“, schreibt Tucholsky an einer Stelle, „ist ein verdorbener Spaziergang“, aber man könne einen Hintern schminken, wie man wolle, es werde nie ein ordentliches Gesicht daraus. „Mensch, wenn du so lang wärst wie de dumm bist, könntste aus der Dachrinne saufen“. Diese und weitere Lebensweisheiten können sie in den beiden Sammlungen von Günter Stolzenberger „Dürfen darf man alles“ und „Irgendwas ist immer“, erschienen als Hardcover-Taschenbuch bei dtv nachlesen. Und zu guter letzt noch ein „gestossner Seufzer“ aus dem Tucholsky-Gedicht „Ein gestossner Seufzer“, das sich wunderbar als Motto für einen langen Ausgehabend eignet: „Trink aus der Nachbarin Champagnerglas!/Bleib schuldig Miete, Liebe, Arzt und Glas!/Bezahl den Apfel – friß die Ananas!/Wer also handelt bringts zu was.“

Günter Stolzenberger (Hrsg.)
Kurt Tucholsky
Dürfen darf man alles. Lebensweisheiten
EUR 9,90 € [DE], EUR 10,20 € [A]
dtv Literatur
Herausgegeben von Günter Stolzenberger
176 Seiten, ISBN 978-3-423-14011-9

Günter Stolzenberger (Hrsg.)
Kurt Tucholsky
Irgendwas ist immer. Lebensweisheiten
EUR 12,00 € [DE], EUR 12,40 € [A]
dtv Literatur
Originalausgabe, 208 Seiten, ISBN 978-3-423-28119-5
7. April 2017

 


Genre: Aphorismen, Lyrik
Illustrated by dtv München

The Drop – Bargeld

 

the-dropDennis Lehane schreibt gerne Krimis über schwarze Schafe, doch der Protagonist des vorliegenden Mafia-Thrillers, der Barkeeper Bob Saginowski, wirkt beinahe harmlos im Vergleich zu den anderen Personen, die dieses Buch bevölkern. „Seine“ Kneipe – da wo er arbeitet – ist eine „Drop“-Kneipe, das bedeutet, dass Mafiageld dort gesammelt und zwischengelagert wird, bis „jemand“ kommt und es abholt. Wer wäre so dumm und würde eine solche Kneipe überfallen? Der sichere Tod wartete auf ihn. Als Cousin Marv, Sully, Donnie, Paul, Stevie, Sean und Jimmy dort zusammensitzen, um auf das 10-jährige Verschwinden von Richie „Glory Days“ Whelan anzustoßen, geschieht jedoch genau das: zwei Maskierte holen sich die Tageslosung, aber nicht den „drop“. Zufall? Absicht? Oder Training Day?

Erfolg ohne Vergangenheit

Der schüchterne Bob kramt einen verletzten Pitbull aus einer Müllkippe vor dem Haus von Nadia und so entsteht auch eine Liebesgeschichte, die sich durch einen knallharten Mafiathriller zieht wie Marillenmarmelade durch eine Sachertorte: „Er spürte eine plötzliche Rückkehr dessen, was er empfunden hatte, als er den Hund aus der Mülltonne gezogen hatte – etwas, das er mit Nadia verschwunden geglaubt hatte. Verbundenheit.“ Dennis Lehane verbindet die Geschichte der beiden unterschiedlichen Charaktere auf eine geschickte Weise, denn stets steckt der Schlüssel zur Gegenwart in der Vergangenheit seiner Figuren. Und die ist oft sehr dunkel: „Ein erfolgreicher Mann konnte seine Vergangenheit verbergen, aber ein erfolgloser Mann verbrachte den Rest seines Lebens damit, nicht in seiner zu ersaufen.“

Katze im Hals

Die „Via Dolorosa“ des Anti-Helden Bob Saginowski zieht sich durch East Buckingham, ein Viertel Bostons, in dem sich früher ein Gefängnis befand, selbst die Straßen erinnerten noch daran: Pen’ Park, Justice Lane, Probation Avenue und die älteste Kneipe im Viertel namens „Zum Galgen“. Wer hier lebt, den kann auch der Polizist Evandro Manolo Torres, dem „eine Glocke im Herz regelmäßig die Stunde schlägt“ (Anspielung auf eine Roman Hemingways) nicht mehr erschrecken. Denn auch wenn Torres Saginowski immer dicht auf den Fersen ist, kommt er ihm doch nie nahe genug. Drastische Bilder wie „er blickte mich mit den stumpfen Augen eines Maulwurfs an“ oder „mein Hals fühlst sich an, wie wenn ne verdammte Katze reingefallen ist und jetzt versucht, sich mit den Krallen hochzuarbeiten“ wechseln sich ab mit brutalen Gewaltszenen oder Worten wie diesen, die die Freundin Evandros an ihn richtet: „Du siehst nur dne Teil von mir, der wie du aussieht. Was nicht mein bester Teil ist, Evandro.“

Bürger im Käfig

Wir befreien uns nicht aus unseren Käfigen“ sagt Bob an einer Stelle zu Nadia, weil er genau weiß, dass die Bewohner von East Buckingham zwar nicht in einem Gefängnis leben, das Gefängnis aber in sich tragen. „Eines morgens rollte man im Bett auf die andere Seite und sah eine völlig neue Welt.“, heißt es am Ende eines packenden Leseabenteuers, also genau das, was einem beim Lesen von Dennis Lehane auch passieren kann.

Dennis Lehane
The Drop – Bargeld
Diogenes, 2014, 224 Seiten
ISBN 978-3-257-60451-1
€ (D) 17.99 / sFr 23.00* / € (A) 17.99


Genre: Kriminalliteratur, Kriminalromane, Romane, Thriller
Illustrated by Diogenes Zürich

Prinz Eisenherz: Der Schatz

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Prinz Eisenherz Werkausgabe 91

 

„…und Deine Verbündeten vor der Küste müssen abziehen, sobald sie kein Trinkwasser mehr haben“, grinst der Widersacher von Prinz Eisenherz ihm hämisch ins Gesicht. Der Pirat Strakonus bringt Eisenherz gleich zu Beginn dieses Abenteuers in eine ordentliche Bredouille, denn der Prinz muss sich zwischen der Befreiung seines Sohnes Nathan und der Befreiung von Aleta und ihren Töchtern entscheiden. Doch dann bekommt Prinz Eisenherz unverhofft Schützenhilfe von einer Inselbewohnerin. Die Wahnsinnige Thanaa, die stets von einem schwarzen Panther und einem Leoparden begleitet wird, hasst die Piraten, vor allem aber wegen ihrem Sklavenhandel, den sie als Freie abgrundtief verurteilt.

Aletas besänftigende Umarmung

Ein Zweikampf zwischen Strakonus und Eisenherz endet mit der Gnade des letzteren, denn Thanaa hält ihn davor zurück, noch mehr Rache an Strakonus zu nehmen, es hat ja schon genug Tote gegeben. Aber „Wenn es etwas gibt, das Eisenherz’ Kampfeslust besänftigen kann, dann ist es Aletas Umarmung. Ihre Ankunft hat Strakonus gerettet.“, eigentlich. Die überlebenden Piraten werden mit einem harten aber gerechten Urteilsspruch konfrontiert: entweder auf der Insel zu bleiben oder zu helfen die Schiffswracks zu reparieren und zu den Nebelinseln aufzubrechen, um dort ihr eigentliches Urteil zu erwarten. Wer sich erinnert wie dort mit Piraten umgegangen wurde, als Aleta und Eisenherz noch nicht verheiratet waren, dem wird bange um das Schicksal der Verurteilten. Aber haben sie denn ein anderes Schicksal verdient, nachdem was sie Eisenherz’ Familie alles angetan haben? Natürlich beugen sich alle, nur Strakonus schmiedet weiterhin Rachepläne für seine erneute Meuterei auf den Schiffen Skjalddis und Calypso.

Prinz Eisenherz’ Tochter auf der Flucht

yeates2Aber auch in dieser Folge der Abenteuer des unsterblichen Helden von Hal Foster muss Eisenherz wieder eine Menge familiäre Probleme bewältigen oder zumindest zu ihrer Lösung beitragen. Als Valeta, seine Tochter, sich bei ihm über Karen, seine andere Tochter, beschwert, greift der Vater beherzt in die Liebesabenteuer seiner Zwillinge ein und spielt dabei den Amor mit dem Liebespfeil. Auch Bukota ist bei diesem Abenteuer wieder mit dabei und als sich auf dem Marktplatz die Händler über seine alte Heimat Ab’Saba und seine Königin Makeda unterhalten wird er hellhörig und die alte Sehnsucht flammt wieder auf. Doch dann schlittert sein Sohn Nathan unversehens in ein anderes Abenteuer, das mit dem seltsamen Artefakt etwas zu tun hat, das Guryan Sur umklammert wie einen Schatz. Ein fremder einäugiger Zauberer taucht auf und behauptet etwas über den verschwundenen Ehemann Karens, Prester John, zu wissen und prompt wird die Familie Eisenherz wieder durch eine anderes Abenteuer auseinander gerissen, ganz so, wie es ihm einst in jungen Jahren die Hexe Hobbit prophezeit hatte: „Du wirst aller Herren Länder sehen, Reiche untergehen und auferstehen sehen, aber Zufriedenheit, das wirst du nie erreichen.“ Wird Eisenherz seine verschollene Tochter und das Artefakt wiederfinden? Wird Karen wirklich zu ihrem Ehemann geleitet? Band 92 ist bereits in Vorbereitung!

Thomas Yeates
Prinz Eisenherz Band 91: Der Schatz
Originalseiten 4053 bis 4098
Aus dem Amerikanischen von Wolfgang J. Fuchs
2017, Carlsen Comics, 48 Seiten
ISBN: 978-3-551-71604-0
12,40.-

 


Genre: Comics, Fantasy, Kulturgeschichte
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Meine geniale Freundin

Meine geniale Freundin von Elena Ferrante

Elena Ferrante: Neapolitanisches Epos Band 1

 

“Meine geniale Freundin” ist die Geschichte der Kindheit zweier Freundinnen, die in Neapel aufwachsen und sie wird von Elena Ferrante im Original teilweise in dem Dialekt erzählt, aus dem sie geboren wurde. „L’ammore nun te fa mangia’/te fa suffri’ te fa’ pensa“, heißt es zum Beispiel in einem neapolitanischen Volkslied namens „Lazzarella“, das auch in dem vorliegenden Roman eine große Rolle spielt: die Liebe füttert dich nicht, sie macht dich nur leiden und nachdenken.  Als „Lazzaroni“ wiederum werden die armen Bewohner Neapels bezeichnet und auch die Maestra Oliviero (Lehrerin) der Ich-Erzählerin des Romans verwendet eine ähnliche Bezeichnung für die Bewohner des Viertels in dem sie aufwächst: Plebs. „Was der Plebs war,“ – sinniert Lenuccia am Ende des aufsehenerregenden ersten Teils der neapolitanischen Familiensaga – „der Pöbel, erkannte ich in jenem Augenblick und viel klarer als damals, vor Jahren, als die Oliviero mich danach gefragt hatte. Der Pöbel, das wir waren wir.“ Aber die Lazzaroni Neapels waren es auch, die den Aufstand gegen die Obrigkeit während der Parthenopäischen Republik anzettelten. Später entwickelte sich aus ihren Reihen allerdings auch die Camorra, von der in vorliegender Erzählung immer nur indirekt gesprochen wird.

Elena Ferrante: „piano, pianissimo, intimo, dolce“

Der erste Teil der Familiensaga über die Cerullos und Grecos schildert die Kindheit der beiden „besten Freundinnen“ Raffaella genannt Lina und Elena genannt Lenuccia oder Lenú. Das Aufwachsen in einem eher popularen Viertel Neapels ist voller Hingabe zu Details geschildert und zeigt auch die Brüche auf, die die italienische Gesellschaft auch heute noch durchziehen: ein Mangel an Vergangenheitsbewältigung. Eigentlich spielt der Roman nach dem Krieg, aber er ist wohl ebenso zeitlos wie allgemeingültig, wenn man an die schweren Hürden denkt, die junge Frauen in Italien auch heute noch zu nehmen haben: Bildung ist in diesem volkstümlichen Rione (ital.: für Viertel) der Stadt am Vesuv verpönt, besonders für Mädchen, die ohnehin nur zum Heiraten geboren werden, so die allgemeine Ansicht und auch die der Eltern der beiden Freundinnen. So muss Lina Cerullo alsbald ihrem Bruder und Vater in der Schusterwerkstatt helfen, obwohl sie für die Schule eigentlich viel talentierter als Lenuccia (ein vezzeggiativo für Elena) wäre. Aber mit viel Fleiß schafft letztere es beinahe bis zum Abitur, bis der erste Teil der Neapolitanischen Familiensaga mit der Hochzeit von Lina jäh abbricht. Denn auch Heirat ist eine Möglichkeit der Armut zu entkommen und wie es aussieht, die viel einträglichere Methode, um zu Reichtum und einem besseren Leben für sich und die ganze Familie zu kommen. Aber für Lenuccia sieht es weniger rosig aus: „Bei ihnen (die Bewohner des Viertels, JW) konnte ich nichts von dem anwenden, was ich Tag für Tag lernte, ich musste mich zurücknehmen, mich gewissermaßen herabsetzen.“

An Ferragosto wird alles anders

Lenuccia muss nicht nur gegen ihre Mutter ankämpfen, die sie lieber arbeiten sehen würde, sondern auch gegen die Verlogenheit der Nachkriegsgesellschaft und die Bewohner ihres Viertels, die nichts von Bildung halten. Auch nach dem Krieg geht es vor allem jenen besser, die sich während des Krieges auf Seiten der Schwarzhemden hielten. Ein solcher ist Don Achille Carracci, der von dem Tischler Alfredo Peluso wohl aufgrund einer alten Fehde getötet wird und Lenuccia verliebt sich ausgerechnet in seinen Sohn Pasquale. Aber noch schlimmer ist, dass Lina den Sohn von Don Achille, Stefano, heiraten wird. Und auch wenn er sehr reich ist, klebt ein stinkender Geruch an seinem Geld. Doch auch Nino Sarratore, der Sohn des dichtenden Eisenbahners, wirkt sehr anziehend auf Lenuccia. Von beiden Jungs – Pasquale und Nino – lernt sie ein politisches Bewusstsein, das alsbald den ganzen Rione durcheinanderwirbelt. Ein groß angelegtes Epos über zwei Freundinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und das gut inszeniert und pointiert zu einer spannenden Kulmination auf einer Hochzeit führt. Gekonnt geschrieben und spannend erzählt von der Schauspielerin Eva Mattes. Wer von den beiden – Lina oder Lenuccia – nun die geniale Freundin des Titels ist, wird aber hier aber nicht verraten.

Meine geniale Freundin
Band 1 der Neapolitanischen Saga: Kindheit und frühe Jugend
Die Neapolitanische Saga (1)
Ungekürzte Lesung mit Eva Mattes
Hörverlag Buch erschienen bei Suhrkamp
€ 22,99 [D]* inkl. MwSt.
Hörbuch MP3-CD
ISBN: 978-3-8445-2352-2
Der Hörverlag/Random House


Genre: Belletristik, Biographien, Dokumentation, Erinnerungen, Frauenliteratur, Kulturgeschichte, Liebesroman, Memoiren, Roman
Illustrated by Hoerverlag, Random House UK

Alexander McQueen – Unseen

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Robert Fairer war lange Zeit Fotograf für die Vogue und öffnet in der vorliegenden Prachtpublikation des Schirmer/Mosel Verlages sein Privatarchiv, eines der wohl bestgehüteten Geheimnisse der Modebranche. Der Designer Alexander McQueen steht als weltbekannter Designer etwa für „Plato’s Atlantis“. Das Vorwort von Sally Singer, Creative Digital Director von Vogue, erzählt die Geschichte der legendären Shows des Star-Designers als Gesamtkunstwerk. In ihrem Narrativ spielt die rasante technische Entwicklung eine große Rolle, ohne die vieles auch in der Modewelt nicht möglich geworden wäre. Modeschauen seien früher hauptsächlich private Angelegenheiten gewesen, heute gäbe es instagram, twitter, snaps, pins, live streams, apps oder sogar Insta-Images.

McQueen: Atlantis für Modebewusste

Das vorliegende Buch sei ein „hinreißendes Protokoll einer untergegangen Welt“, das sich atemberaubend, aufregend und anmutig schön betrachten lasse. Der britische Fotograf Robert Fairer hat in beinahe zwanzig Jahren bis zu 100 Modenschauen pro Saison fotografiert und davon zehn Jahre exklusiv für die amerikanische Vogue. Für den Designer Alexander McQueen (1969-2010) hat er viele Aufträge übernommen, angefangen bei dessen ersten düster-morbiden Laufsteg-Inszenierungen in London in den 1990er Jahren bis zur letzten Kollektion „Plato’s Atlantis“.

Edles Tuch, schöner Sch(r)ein

Der allein schon durch sein Cover durchaus als opulent zu bezeichnende Bildband „Alexander McQueen – Unseen“ ist als deutsche Ausgabe bei Schirmer/Mosel erschienen und zeigt in 376 Fotografien von Robert Fairer was Mode alles kann. Federn, Metall, vergoldete Tiergerippe, mit Swarovski-Eiern bestückte Vogelnester oder auch alte Getränkedosen wurden von McQueen für seine phantasievolle Kreationen instrumentalisiert. Auf turmhohen Plateausohlen schickte er seine Modells durchs Wasser wateten oder er ließ einen Roboter ein Model in weißem Kleid mit Farbe besprühen.

Stil und Mode für Voyeure und Flaneure

Die Essays von Sally Singer (Vogue) und Claire Wilcox (Victoria & Albert Museum) machen das vorliegende Buch „Alexander McQueen – Unseen“ auch zu einem Insiderbericht über die Modewelt und verstehen sich ebenfalls als eine opulente Hommage an eine untergegangene, äußerst elitäre Welt auf der einen und an die einzigartige Schönheit von McQueens Kreationen auf der anderen Seite. Ein ganz besonderes Buch für alle Mode-Aficionados, Fashion Week-Interessierte und auch ein bisschen für Voyeure und Flaneure.


Genre: Biographien, Fotografie, Mode
Illustrated by schirmer/mosel

Brigitte Bardot

bardot_081956 hatte die Bardot schon 18 Filme gedreht und mit „Und immer lockt das Weib“ von Roger Vadim, der vor genau 60 Jahren in die Kinos kam, schon damals Kinogeschichte geschrieben und sich zur Ikone der Weiblichkeit nicht nur stilisiert, sondern auch inszeniert. Die 1934 Geborene hat das vorliegende Buch des renommierten schirmer/mosel Verlages sogar mitgestaltet und mit den schönsten Photographien aus ihrem Privatarchiv ergänzt. Das Vorwort hat sie ebenso beigesteuert wie ein exklusives Interview, das nur in der vorliegenden Publikation ungekürzt erhältlich ist.

Die Schöne und das Biest

Angefangen hatte sie als Mannequin und Tänzerin, später wurde sie zur Schauspielerin und Fotomodell einer bestimmten Epoche, die seither immer wieder mit ihr assoziiert wird, da sich gerade heute wieder Menschen nach dieser sorglosen Zeit sehnen: die Sechziger. Als Ehefrau von Gunter Sachs, dem Playboy und Industriellensohn, wuchs sie damals auch dem deutschen Publikum ans Herz, obwohl ihr „typisch“ französischer Schmollmund, ihr Pfirsichteint und ihre Samthaut und ihre Figur sie ohnehin schon zum erklärten Liebling des Wirtschaftswundermannes machte. 90-50-89 waren die Maße die damals die Welt aus den Angeln heben konnte und ihr auch von ihren Kollegen viel Lob und Bewunderung einbrachten. Francoise Arnoul, Mylène Demongeot, Marisa Berenson oder Pamela Anderson kommen in diesem Buch ebenso zu Wort wie die Ikone selbst. 189 Abbildungen auf 256 Seiten erzählen die Geschichte einer ganzen Epoche, die in Mode-, Film-, Foto- und Stil eindeutig französisch war.
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Stilikone mit Sauerkrautfrisur

„Et Dieu créa la femme“ machte aus der BB „die“ Bardot und das obwohl sie auch heute noch beteuert, nichts anderes als sich selbst gespielt zu haben oder gewesen zu sein. Sie habe sich nie einem Stil oder einem Trend untergeordnet oder etwas getan, um modisch zu sein. Als natürliche Frau stellt sie sich auch heute noch gerne Frau, die eben einfach nur so sei, „wie Gott sie schuf“. Was für die Bardot damals ganz natürlich erschien führte etwa in den Vereinigten Staaten zu Vorführungsverboten, da man Farbige „um ihr Blut nicht zu sehr zu erhitzen und Vorfällen vorzubeugen“ von Kinos, die den Film zeigten, ausschloß. Im Interview zeigt sich BB allerdings nicht besonders gesprächig und antwortet zumeist in kurzen Hauptsätzen. Ihre „Sauerkraut“-Frisur mag besonders in Frankreich anstößig gewirkt haben, und auch ihr Auftritt im Regierungspalast Élysée in Hosen war revolutionär. Im Laufe des Gesprächs wird Bardot immer gesprächiger und zeigt, dass sie niemand anderer ist, als die, die sie eben nicht vorgibt zu sein. Das Geheimnis der Bardot wird hier schon verraten: sie habe das Gesicht einer kleine Katze und das war perfekt für die Leinwand, so der französische Philosoph Edgar Morin.

Bardot: Traumfrau vieler Philosophen

Ihr Stil ist die Noblesse, die Unschuld, schreibt Anne Vernon, der Sex-Appeal sei Marlene Dietrich, der Glamour Ava Gardnbardot_cover_fuller, ihr „Oomph“ Jane Russell und der Pepp Marilyn Monroe, meint Georges Baumes, Chefredakteur von Cinémonde. Mit letzterer hatte sie nur ihre ursprüngliche Haarfarbe gemein. „Brigitte Bardot“, die Publikation, ist eine Hymne an die Frau. Selbst Jean Cocteau streckte die Waffen vor ihr und bezeichnete sie als etwas „Göttliches“, Woody Allen sah in ihr „die schönste Frau der Welt“ – für immer! Henry-Jean Servat zeigt in seiner Publikation mehr als nur 189 Abbildungen, er zeigt auch, wie die Welt die Bardot damals empfand.

Henry-Jean Servat
Brigitte Bardot
schirmer/mosel Verlag
189 Abbildungen, 256 Seiten


Genre: Mode
Illustrated by schirmer/mosel

1766-2016: 250 Jahre Prater Kino Welt

prater2016 feierte der Wiener Prater sein 250-jähriges Jubiläum, nachdem Kaiser Joseph II. die ehemals kaiserlichen Jagdgründe öffentlich zugänglich gemacht hatte. 2005 – zum fünfzigjährigen Bestehen des Filmarchivs Austria – erschien die vorliegende Publikation mit dem Titel “Prater Kino Welt”, die sich mit dem Prater als Mythos und Heimat von Illusionen beschäftigt. Eine DVD, die auch heute noch erhältlich ist, sowie eine Ausstellung und ein Festival beim Riesenrad begleiteten das Jubiläum und feierten u.a. auch die ersten Filmvorführungen überhaupt die in eben diesem Prater erstmals Ende des 19. Jahrhunderts stattfanden. Der Prater ist seit damals ein Raum zur Assimilierung der Moderne in dem Hochschau- oder Achterbahnen, Schiffs- und Aeroplankarusselle oder das Prater Hochhaus Hotel Mysteriös und Kaiserpanoramen ausgestellt wurden. Auch Reisen in fremde Welten wurden dort angeboten, etwa nach Venedig, Japan oder Afrika. Aber auch die literarische Repräsentation des Praters von Stifter, Salten und Zweig wird in vorliegender Publikation Rechnung getragen, sowohl in visueller als auch klanglich-auditiver aber sexueller Konnotation und Dimension.

Krystall-Kino und Milieu im Prater

Attraktionen wie Panoramen, Dioramen, Laterna-Magica-Vorführungen, Schnellfotografen oder Panoptiken und „Kunstkabinette“ und schließlich auch die Cinematagraphie hielten in dem Vergnügungsviertel am Wiener Stadtrand Einzug und begeisterten einerseits ein aristokratisches andererseits auch proletarisches Publikum. Der Prater wurde so schon sehr früh zu einer Begegnungsstätte unterschiedlichster Schichten und Klassen und das noch bevor es überhaupt so etwas wie eine bürgerliche Gesellschaft gab. 1904/05 gab es eine Art Gründerzeitstimmung im Prater, schreiben die beiden Herausgeber in ihrem Einleitungsessay zu vorliegendem Bilderbuch, das mit interessanten wissenschaftlichen Texten versehen auch zu einer Art intellektueller Lektüre der Vergangenheit wird. 1904 bis 1914 sei der Prater ein zentraler Ort des Kinos gewesen, in dem das „Krystall-Kino“ oder „Stiller“-Kino, das „Schaaf-Kino“ und andere Filmpaläste mit bis zu 700 Sitzplätzen ihre Heimat fanden. Einen Vergleich mit dem Lunapark Coney Island/New York unternehmen Siegfried Mattl und Schwarz, wenn sie die „verdrängte Natur wird durch groteske Mimesis zum Spektakel“ die beiden Vergnügungsparks beschreiben: „Die Nacht wird zum effektreich übersteigerten Tag“. Möglich machte dies allein die gerade erfundene Elektrizität. Dem Kaiser gefiel’s, denn ihm gehörte bis 1918 das ganze Gelände, das bei Kriegsende an die Stadt überschrieben wurde.

„Organlust“ mit Buffalo Bill im Prater

Die „Organlust“ bestand im Prater im Wandel der körperlichen Bewegung hin zum Auge und den Sinnen, denn die „kinästhetische Wende“ presste die Schaulustigen in ihre Sitze und machte aus dem „roller coaster“ des Körpers jenen des Gemüts. „Die Zuschauer wurden – im Kino – zwar physisch ruhig gestellt, ihre Sinne aber zugleich rasant mobilisiert“, wie die beiden sinngemäß schreiben. „Der Prater ist nicht das Delirium einer Welt der Simulcren, die konsumiert werden kann, sondern exaltiertes Schauspiel der Massen, die sich vor allem an der eigenen Fertigkeit zur Travestie erfreuen“, schließen Mattl/Schwarz ihren Beitrag ab. Ein anderes interessantes Phänomen wird von Ursula Storch angesprochen, die die Geburtsstunde des Wien Tourismus in einer Reise in den Prater versetzt. Anders als heute reisten aber die Wiener selbst in die nahegelegene Welt in den Praterauen, in der minutiös eben diese Welt repliziert wurde, deren Besuch sich damals nur Aristokraten leisten konnten. Reiseersatz und Reiseillusion sei der Prater damals gewesen und die erste elektrische Grottenbahn Europas zeigte die Wüste, den Nordpol, die Niagara-Falls und den Dogenpalast in Venedig. Buffalo Bill war 1906 mit 300 Reitern zu Gast und zeigte den Wilden Westen „wie er wirklich war“, obwohl es ihn so nie gegeben hatte. „Da man die ganze Welt an einem Punkt zusammenführt, erspart der Besuch der Weltausstellung die Weltreise“, sprach’s Werner Hofmann rund hundert Jahre später aus. Eindrucksvolle Fotografien zeigen etwa die Adria-Ausstellung und die Jagd-Ausstellung auf dem Gelände des Praters in den Zehner-Jahren des vorigen Jahrhunderts und beweisen, welch gigantischer Aufwand hier betrieben wurde.

Prater: “Venedig in Wien” oder „Merry-Go-Round“

Die Sonderausstellung „Venedig in Wien“ hatte Repliken der Cá d’Oro, des Palazzo Dario, der Porta del Arsenale des Palazzo Priuli und Desdemona lebensgroß nachgebaut und einen ein Kilometer langen Gondelkanal mit 40 Gondolieri und 25 Gondeln. Oskar Marmore hatte es 1895 erbauen lassen, aber schon 1901 war es wieder verschwunden. Der Prater war damals das Las Vegas von Wien. Auch dort begegnen sich unterschiedliche Klassen und überwinden den Klassengegensatz wie etwa in dem aus dem Jahre 1923 stammenden Film „Merry-Go-Round“. Alexandra Seibel schreibt in ihrem Essay, wie „die rückwärtsgewandte Utopie“ Alt Wiens in Los Angeles für den Film eigens aufgebaut wurde und Wien als „Exportplatz für Sentimentalität“ diente. Der „wohltemperierte Genuss von Sex and Romance“ sollte klassenüberwindend und versöhnlich wirken, nachdem der Weltkrieg als melancholische Anekdote die beiden unterschiedlichen Liebenden wieder zusammenführt. Das Karussell des Praters wird in der amerikanischen Produktion zur Propaganda für die American Middle Class und eine Gesellschaftsform, die sich als sehr viel prosperierender und vielversprechender erweisen sollte als die des alten Kontinents Europa.

Christian Dewald/Werner Michael Schwarz (Hg.)
Prater Kino Welt. Der Wiener Prater und die Geschichte des Kinos
Filmarchiv Austria


Genre: Biographien, Dokumentation, Erinnerungen, Kino, Kinogeschichte, Kurzgeschichten und Erzählungen, Memoiren, Sachbuch