Heimkehr

morrison-1Vom moralischen Potenzial der Literatur

Mit «Heimkehr» hat die afroamerikanische Schriftstellerin Toni Morrison einen Zyklus fortgesetzt, der mit dem Roman «Jazz» begann. Dabei steht die Situation der farbigen Bevölkerung der USA zu verschiedenen Zeiten im Mittelpunkt, hier ist es der Rassismus der frühen Fünfzigerjahre. «Hätte Amerika eine Nationalschriftstellerin, so wäre es Toni Morrison» hat die New York Times über die Nobelpreisträgerin von 1993 geschrieben. Eine derartige Wertung kann nur qualitativ interpretiert werden, widmet sich die streitbare Autorin in ihrem Werk doch ausschließlich dem unterprivilegierten farbigen Teil der amerikanischen Bevölkerung, leiht also nur einer Minderheit ihre Stimme, nicht dem gesamten Volke. «Es wird niemand meine Literatur verstehen, der nicht versteht, aus welch anderem Humus sie wuchs als die Literatur der John Updike oder Saul Bellow», hat sie im Interview mit dem kürzlich verstorbenen Fritz J. Raddatz gesagt. Und ebenso eindeutig ist der feministische Blickwinkel, aus dem heraus sie schreibt, die Männer kommen allesamt schlecht weg in ihren Geschichten, so auch in ihrem vorliegenden neuen Roman.

Frank kehrt traumatisiert aus dem Koreakrieg zurück, in dem er seine zwei Kumpels verloren hat. Er stürzt ab, versinkt in Alkohol-Exzessen, trennt sich von seiner Freundin und landet in der geschlossenen Psychiatrie, ohne sich recht erinnern zu können, was ihn dort hingebracht hat. Weil er schlimme Nachrichten über seine innig geliebte Schwester erhalten hat, die im Sterben läge, bricht er aus von dort, will schnell zu ihr. Auf seiner Flucht erlebt er die Solidarität vieler Menschen, die ihm selbstlos weiterhelfen. Er findet Cee in schlimmem Zustand vor, ein dilettantischer Gynäkologe hatte in Narkose medizinische Experimente an ihr vorgenommen. Es sind die schwarzen Frauen ihres Heimatdorfes, die sie wieder aufpäppeln mit allerlei Heilkünsten jenseits der Schulmedizin. Diese starken Frauen, allesamt Analphabetinnen, sind die Stütze der kleinen Gemeinde, sie sind es, die heilen, die für Essen und Kleidung sorgen, den eigenen Garten bestellen, ihre Tiere füttern, Feldarbeit leisten, die bösen Geister fernhalten. Und die bei alledem noch singen, sich die alten Geschichten erzählen, dem Leben zugetan sind trotz aller Fährnisse und Widrigkeiten.

Es mangelt nicht an Grausamkeiten in diesem Roman, auf dem Kriegsveteranen lastet die Erinnerung an den grausamen Mord, den er in Korea an einem kleinen Mädchen verübt hat. Ein Trauma schon im Kindesalter war für die bei ihrer lieblosen Großmutter aufgewachsenen Geschwister, wie sie unfreiwillig Zeugen wurden, als ein Schwarzer heimlich auf einer Pferdekoppel verscharrt wurde. Frank findet heraus, dass es sich damals um das Opfer eines grauenhaften Kampfes gehandelt habe, zu dem zwei Farbige, Vater und Sohn, von einem weißen Mob gezwungen wurden, einem Hahnenkampf ähnlich, bei dem einer von Beiden in jedem Fall sterben musste. Ganz untypisch für Toni Morrison endet ihre Geschichte jedoch versöhnlich, um nicht zu sagen kitschig, Frank überwindet seine Psychosen, findet in seiner Fürsorge für Cee wieder Halt und Lebenssinn.

Abwechselnd auktorial und personal aus der Perspektive Franks erzählt, zuweilen sogar durch innere Monologe, in denen er die Autorin selbst anspricht, vermittelt der Roman das Bild eines zutiefst traumatisierten Mannes, dem gleichwohl seine Menschlichkeit erhalten geblieben ist. In schnörkelloser Sprache, mit ungekünstelten Dialogen und in diversen Rückblenden wird in dem schmalen Band das Bild einer typischen Südstaaten-Gesellschaft auf dem Lande gezeichnet. Zeitlich ist das Geschehen im Vorfeld der Rassenkämpfe angesiedelt, die diese Zuständen bis zum heutigen Tage allenfalls abmildern, nicht aber wirklich beseitigen konnten – als Stichwort sein nur Ferguson genannt, derzeit Thema in allen Medien. Gerade in Hinblick darauf ist «Heimkehr» ein überzeugender Beweis für das moralische Potenzial der Literatur.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek

Die Stimmen von Marrakesch

canetti-1Scheherezade

Der in Bulgarien geborene Schriftsteller deutscher Sprache Elias Canetti wurde 1981 für sein umfangreiches Gesamtwerk mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. Neben seinem großen theoretischen Hauptwerk, der soziologischen Studie «Masse und Macht», neben einigen Dramen und einem breit angelegten, autobiografischen Zyklus spielt die Epik darin eher eine Nebenrolle, sieht man von seinem ersten und einzigen Roman «Die Blendung» ab – von dem er sich im Alter dann auch noch distanziert hat. Und so ist denn der schmale Band «Die Stimmen von Marrakesch» mit einer losen Sammlung von Eindrücken während einer Reise, die ihn 1954 im Tross eines Filmteams nach Marokko führte, eines der wenigen Zeugnisse seines erzählerischen Talents. Er hat seine Impressionen von dieser Reise lange danach, aus dem Gedächtnis, zu Papier gebracht, das daraus entstandene Buch erschien erst vierzehn Jahre später.

Die erste Geschichte, wie könnte es anders sein, trägt den Titel «Begegnung mit Kamelen», diese Wüstenschiffe sind ja geradezu ein Symbol für den Orient. «Dreimal kam ich mit Kamelen in Berührung, und es endete jedes Mal auf tragische Weise» lautet der erste Satz des Buches. Der Autor durchstreift die Suks, bewundert die Handwerker und das traditionelle Ritual des Feilschens, sieht tagtäglich das unsägliche Elend der allgegenwärtigen Bettler. Er geniest nach dem lärmenden Treiben in den Gassen die Stille der Häuser mit ihren Innenhöfen und das diskrete Refugium der Dächer mit ihrer streng zu beachtenden, nachbarlichen Privatsphäre. Aus sephardischer Familie stammend besucht Canetti natürlich auch die Mellah, das Judenviertel von Marrakesch, und er entdeckt schließlich dort den jüdischen Friedhof. Die Zumutung des Todes und ihre Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen gehörte zu den Hauptinteressen seiner Forschungen, er thematisiert es auch hier, indem er exemplarisch und sehr subtil die geheimen Gefühle eines Besuchers dort beschreibt: «Sein eigener Zustand erscheint ihm beneidenswert. Auf den Grabsteinen liest er die Namen von Leuten; jeden einzelnen von ihnen hat er überlebt. Ohne dass er es sich gesteht, ist ihm ein wenig so zumute, als hätte er jeden von ihnen im Zweikampf besiegt. […] Auf welchem Schlachtfeld der Welt bleibt er als einziger übrig? Aufrecht steht er mitten unter ihnen, die alle liegen».

In einer Welt voller Analphabeten sind «Erzähler und Schreiber», wie eine der 14 Geschichten betitelt ist, wichtige Figuren der marokkanischen Gesellschaft jener Zeit. Als Schriftsteller begegnet Canetti hier der Urform des Erzählens und vergleicht sich damit: «Ihre Sprache war ihnen so wichtig wie mir meine. Worte waren ihre Nahrung und sie ließen sich von niemand dazu verführen, sie gegen eine bessere Nahrung zu vertauschen». Er bedauert, sich der Schrift und dem Papier zugewandt zu haben. «Unter den Menschen unserer Zonen, die der Literatur leben, habe ich mich selten wohl gefühlt. Ich habe sie verachtet, weil ich etwas an mir selbst verachte, ich glaube, dieses Etwas ist das Papier. Hier fand ich mich plötzlich unter Dichtern, zu denen ich aufsehen konnte, weil es nie ein Wort von ihnen zu lesen gab». Er trifft in einer französischen Bar mit dem durchaus passenden Namen «Scheherezade» verschiedene Ausländer, lernt durch Zufall eine arabische Familie kennen, wird mit der unübersehbaren Lust eines Esels konfrontiert, nur beim Thema Frauen bietet Marrakesch dem Schwerenöter sehr wenig Erzählbares.

In seinen literarischen Miniaturen beeindruckt Canetti mit einer geradezu orientalischen Erzählkunst, die Geräusche, Gerüche, Gefühle erlebbar macht, auch wenn hier in Aufbau und Sprache von großer Literatur wirklich nicht die Rede sein kann. Bei vielen seiner Leser ruft er damit allenfalls Fernweh hervor, bei anderen womöglich Lust auf literarische Entdeckungen im Werk dieses hoch prämierten, aber wenig gelesenen Autors mit Geheimtipp-Status.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Die Frau auf der Treppe

schlink-1Reine Inhaltsliteratur

Bernhard Schlinks neuer Roman «Die Frau auf der Treppe» hat schnell Bestsellerstatus erreicht, ob er allerdings an seinen großen Erfolg «Der Vorleser» anknüpfen kann, bleibt abzuwarten. Denn dessen origineller Geschichte, die sich einst so trefflich zur Verfilmung eignete, steht hier nichts Vergleichbares gegenüber, nur der Titel des Romans wirkt geheimnisvoll und macht neugierig. Aber reicht das aus, einen Roman lesenswert zu machen, nicht nur reiner Zeitvertreib zu sein? Mitnichten, wird erkennen, wer den kurzen Roman gelesen hat, zum Lesegenuss gehört eben mehr als nur ein verheißungsvolles Sujet. Sprachliche Eleganz zum Beispiel, ein raffiniert aufgebauter Plot, eigene Reflexionen anregende Gedanken oder Geschehnisse, den Horizont erweiternd, den Leser inspirierend und bereichernd, literarische Imagination mithin. Von all dem kann hier nicht die Rede sein!

Vordergründig geht es um ein Gemälde, das sich im Titel dieses Romans widerspiegelt, wobei Gerhard Richters «Ema – Akt auf einer Treppe» dem Autor erklärtermaßen als Inspiration gedient hat. Irene, die nackte Frau auf diesem Bild, wird von drei Männern umworben, ihrem verlassenen Ehemann, der das Bild gekauft hat, dem derzeitigen Liebhaber, der es gemalt hat, und einem Rechtsanwalt, der den Maler vertritt beim erbitterten Streit um die Wahrnehmung seiner Rechte an dem Gemälde. Der verliebte Anwalt hilft Irene beim Diebstahl des Gemäldes, sie verschwindet damit spurlos, seine Hoffnungen auf ein gemeinsames Leben mit ihr bleiben unerfüllt. Vierzig Jahre später entdeckt er das Bild in einer Galerie in Australien und findet auch Irene wieder, die illegal in der Einsamkeit eines Naturschutzgebietes versteckt lebt und an einem Pankreaskarzinom im Endstadium leidet. Auch der Eigentümer des Bildes und der Maler tauchen schon bald dort auf, in einer Art Showdown wird nochmals ergebnislos um das Bild gestritten. Irene hat es der Galerie geschenkt, sie endet durch Selbstmord, nachdem sie mit dem Anwalt einem Buschbrand entkommen ist.

Schlinks drei männliche Hauptfiguren sind grotesk überzeichnete, egoistische Erfolgsmenschen. Der Ich-Erzähler, als Spießer im Luxus lebend, mit juristischer Bilderbuchkarriere und wenig bilderbuchartigem Familienleben, erfährt in der vor Klischees geradezu strotzenden Geschichte zuletzt eine an naive Bibelgeschichten erinnernde Läuterung. Der Maler ist zur höchstbezahlten Nummer Eins der Kunstwelt aufgestiegen, der Eigentümer des Gemäldes schwimmt als erfolgreicher Unternehmer ebenfalls im Geld. In einer Diskussion mit dem Maler über die politischen Bedrohungen der Zeit lässt ihn der Autor sagen: «Sie machen sich Sorgen wegen der Armen? Solange der Fernseher läuft und Bier auf dem Tisch steht, sind sie keine Bedrohung, und dafür langt es allemal». Es wimmelt von derartigen Plattitüden, die der Autor aber erkennbar ernst zu meinen scheint, eine Denkweise, die in diesem Kitschroman häufig vorkommt, ohne dass sich Anzeichen einer satirischen Überzeichnung dieser schablonenhaft gestalteten Figuren finden. Die übrigens allesamt ziemlich blass bleiben und weit davon entfernt sind, Empathie beim Leser zu wecken.

Sprachlich uninspiriert, mit einfachster Syntax und massentauglich begrenztem Wortschatz, wurde hier ein banaler Plot konstruiert, der sich allenfalls als Strandlektüre eignet. Die Leser werden darin vieles wiederfinden, was sie am Stammtisch schon ganz ähnlich gehört haben, der Autor übt sich als Möchtegern-Philosoph. Der sonst so geschwätzige Plot lässt vieles offen, Irenes kriminelle Taten zum Beispiel, deretwegen sie steckbrieflich gesucht wird, und über ihre Tochter erfahren wir ebenfalls nichts. Reiner Inhaltsliteratur, wie sie Schlinks Werke darstellen, verzeiht man derartige Konstruktionsfehler nicht. Und literarisch kompensieren lassen sich solche Mängel in einem Schundroman auch nicht, womit denn?

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Drei Erzählungen

flaubert-1Wahrlich an Magie grenzend

«Trois Contes» lautet der Originaltitel von Gustave Flauberts Trilogie von Geschichten, geschrieben in einer spezifischen, zwischen Roman und Novelle angesiedelten Erzählform der französischen Literatur. Musikfreunde dürften den Begriff «Conte» aus dem Titel von Jaques Offenbachs einziger Oper «Les Contes d’Hoffmann» schon kennen. In der deutschen Übersetzung nennt man sie «Drei Erzählungen» oder auch «Drei Geschichten», deren Titel «Ein schlichtes Herz», «Die Legende von Sankt Julian dem Gastfreien» und «Herodias» lauten. Zusammen bilden sie ein Triptychon aus Moderne, mittelalterlicher Legende und biblischer Antike, gemeinsames Motiv ist das illusionäre Glück der Idealsucher. Man könnte die Texte daher mit einigem Recht auch als melancholische Märchen bezeichnen. Diese einzelnen Erzählungen, in denen jeweils eine Figur markant im Mittelpunkt steht, hat der Autor nach Vorabdruck in einigen Zeitschriften zu einem «lustigen Bändchen» gebündelt, welches dann 1877 mit überraschend großem Erfolg veröffentlicht wurde, in Deutschland hingegen erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wirklich reüssierte. Überraschend deshalb, weil die Texte einigen Zündstoff enthielten für die Leserschaft jener Zeit.

Da ist zunächst die brave Hausmagd, «Ein schlichtes Herz», wie der Titel schon sagt, deren Stellung gleich im ersten Satz verdeutlicht wird: «Ein halbes Jahrhundert lang beneideten die Bürgersfrauen von Pont-l’Evéque Madame Aubain um ihre Magd Félicité». Ironisch führt Flaubert in dieser absichtsvoll grob übertriebenen, rührseligen Geschichte die Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts vor, entlarvt die ständische Ordnung des damaligen Frankreichs in ihrer Ungerechtigkeit, die gesellschaftlichen Konventionen in ihrer Verlogenheit. Es folgt die bis ins Lächerliche übersteigerte Legende von «Sankt Julian» als mittelalterliche Idealsuche, mit ebenso kläglichem Ausgang übrigens. In seiner subversiven Ironie lässt Flaubert nichts mehr übrig vom heroischen Habitus seines auch hier wohl sehr bewusst ziemlich grotesk dargestellten, ritterlichen Helden. Damit konterkariert er natürlich unübersehbar auch die falschen Identifikationsmuster seiner gutgläubigen zeitgenössischen Leserschaft. Ins Biblische schließlich entführt uns die Geschichte von «Herodias», in der Flaubert listig das altbekannte Salome-Thema aufgreift, womit er bis an die Wurzeln der abendländischen Kultur vordringt, dem Christentum also als dessen moralischer Grundlage. Auch hier wird ironisch der vergleichsweise betulichen Welt der Bibel eine äußerst drastische Schilderung von Geschehnissen gegenübergestellt, die wohl manches in anderem Lichte erscheinen lassen dürfte und damit auch hier die hehren Ideale zweifelnd hinterfragt.

Gustave Flauberts Bedeutung für die moderne Literatur kann man wohl nicht hoch genug einschätzen. Ihn zu lesen heißt zu erkennen, was literarische Schönheit, innere Werte und wirkmächtiger Stil bedeuten, welch erzählerische Kraft doch in seiner Dichtung steckt. Sein markanter, ganz persönlicher Erzählstil stützt sich auf eine Beschreibungskunst, die zum Beispiel in wenigen Sätzen einen Raum, eine Ortschaft, eine ganze Landschaft so umfassend darstellt, dass der Leser sie zu kennen glaubt, sich quasi zu Hause fühlt in der geschilderten Szenerie. Als Beispiel sei auch Salomes Tanz vor Herodes im Festsaal genannt, dessen gekonnte Beschreibung einen knisternden erotischen Zauber erzeugt, dem man sich kaum entziehen kann. In den hier vorliegenden drei biografischen Erzählungen sind jedenfalls alle charakteristischen Elemente dieser spezifischen Dichtkunst enthalten.

Auch heutige Leser werden, trotz des zeitlichen Abstandes und mit inzwischen ja komplett veränderten gesellschaftlichen und moralischen Imaginationsmustern, aus der Lektüre einen gewissen Nutzen ziehen können. Wichtiger noch ist aber der pure Lesespaß, den Flauberts Erzählkunst bei sprachsensiblen Lesern zu erzeugen vermag, weil sie wahrlich an Magie grenzt. Nicht auszudenken, wenn es einen zeitgenössischen Autor gäbe, der so schreiben könnte!

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Holzinger

Die Germanistin

duncker-1

Prix Goncourt für Paul Michel

Wenn ein Roman den Titel «Die Germanistin» trägt, lockt das sicherlich so manchen literarisch Wissbegierigen als Leser an, gerade auch weil man die in Jamaika gebürtige Autorin gar nicht kennt, bei mir war es jedenfalls so. Man wird außerdem vom Klappentext in der Vermutung bestätigt, dass Literatur eine gewichtige Rolle spielt in einem Debütroman, den immerhin eine Literatur-Wissenschaftlerin geschrieben hat, die heute an der Universität von Manchester lehrt. Bei diesen Zutaten darf man neugierig sein!

Ich-Erzähler der Geschichte ist ein namenlos bleibender, äußerst farblos wirkender Student, der eine Doktorarbeit über den charismatischen französischen Schriftsteller und Philosophen Paul Michel schreiben will. Seine ebenfalls an einer Promotion über Friedrich Schiller arbeitende, knabenhaft aussehende und merkwürdig spröde und launisch wirkende Freundin animiert ihn, den schon jahrelang in der Psychiatrie weggeschlossenen Schriftsteller zu suchen, sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen, nicht nur dessen Werke allein als Studienobjekt heranzuziehen. Diese Werke hat Patricia Duncker im Anhang des Buches listig als Curriculum Vitae in Kurzform den Lebens- und Werkdaten des Philosophen Michel Foucault gegenübergestellt. Damit hat sie offenbar viele Leser in die Irre geführt, wie man verschiedenen Rezensionen entnehmen kann, denn Paul Michel ist, im Gegensatz zu Foucault, eine fiktive Figur der Autorin. Einer seiner Romane, «La Maison d’Eté», soll 1976 sogar den Prix Goncourt erhalten haben, behauptet sie verschmitzt.

In vier nach den Handlungsorten «Cambridge», «Paris», «Clermont» und «Der Midi» betitelten Abschnitten wird in dem rasant geschriebenen, nie langweiligen Roman eine raffiniert konstruierte, abenteuerliche Geschichte erzählt, die immer wieder überraschende Wendungen nimmt und furios endet. Dieser Plot ist durchaus gewitzt erdacht und sprachlich gekonnt umgesetzt obendrein, auch die Protagonisten sind allesamt stimmig und liebevoll beschrieben. Der schwule Vater der Titel gebenden «Germanistin» zum Beispiel arbeitet bei der englischen Nationalbank und wird im Roman kurzerhand nur «Die Bank von England» genannt, was zu recht skurrilen Sätzen führt, «very british» eben. Seltsam, dass fast alle wichtigen männlichen Figuren des Romans homosexuell sind oder es zumindest zeitweise werden wie der namenlose Ich-Erzähler, den die französische Hauptfigur Paul Michel nur mit «petit» anredet. Diese einseitige sexuelle Färbung des Plots und das Generalthema Psychiatrie sind nicht gerade alltäglich in Romanen, sie sind auch nicht jedermanns Sache, aber ganz offensichtlich wollte die Autorin keine brave, konventionelle Belletristik abliefern mit ihrem Erstling. Der im Übrigen angereichert ist mit diversen philosophischen und literarischen Themen, die in Dialog- oder Briefform eingebaut dem Buch einen gewissen intellektuellen Anspruch verleihen sollen. Ob das tatsächlich gelungen ist, hängt allein vom individuellen Maßstab des verehrten Lesers ab.

Wenn sich am Ende der Geschichte in einer Rückblende der psychotische Protagonist am Strand mit einem kleinen Jungen anfreundet, dessen Vater niemand anderes ist als «Die Bank von England» und der sich also in Wahrheit nun als ein Mädchen entpuppt, als unsere knabenhafte «Germanistin» nämlich, dann schließt sich der Kreis der Erzählung, – der tödlich verunglückte Schriftsteller kann beerdigt werden. Ich möchte dem kurzen Roman attestieren, dass er recht niveauvoll unterhält, ich habe ihn als spannendes Buch in einem Rutsch gelesen.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

An einem klaren, eiskalten Januarmorgen

schimmelpfennig-1Tragisch unterkühlt

Auffallen um jeden Preis ist wohl die Devise, und dazu geeignet scheint auch ein solch bandwurmartiger Romantitel wie «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21ten Jahrhunderts». Frank Witzel hat seinen Lesern die Abkürzung «Die Erfindung» zugestanden für seinen noch üppigeren Romantitel, von Theaterautor und Dramaturg Roland Schimmelpfennig war diesbezüglich noch nichts zu hören. Er hat jedenfalls mit diesem deskriptiven Titel für seinen Debütroman vorab schon einiges angedeutet, die Eiseskälte dient ihm als Metapher für Erstarrung, Vereinsamung, Ausweglosigkeit als sozialer Befund. Und schon im ersten Satz wird neben dem geografischen Schauplatz der Handlung auch gleich eine Art Leitmotiv eingeführt, das einen weiteren literarischen Trend bestätigt, den Hang zum Tier als Subjekt der Handlung, hier in Form eines Wolfes. Also nicht gerade ein Kuscheltier, im Mythos wie im Volksverständnis als bedrohliches Tier angesehen, womit der Leser auf das Folgende bereits bestens eingestimmt ist.

In kurzen Episoden wird, auf mehrere Handlungsstränge verteilt, von Menschen erzählt, die im Dunstkreis der Metropole Berlin soziologische Typen verkörpern, denen allesamt etwas Unfrohes anhaftet, die permanent enttäuscht werden. Da ist zunächst der polnische Saisonarbeiter, der bei einem Stau auf der Autobahn dem Wolf als Erster begegnet und ihn geistesgegenwärtig fotografiert, vor einem Schild «Berlin 80 km» auch noch. Seine als Putzfrau arbeitende Freundin verkauft das Foto, und sofort ist der Wolf in allen Zeitungen präsent und wird schnell zum Problemwolf wie einst Bruno, der bayerische Problembär seligen Angedenkens. Der Pole wird arbeitslos, die Freundin lässt sich auf einer Party von einer Zufallsbekanntschaft schwängern, der jugendliche Erzeuger dringt auf Abtreibung. Ein junges Pärchen reißt von zuhause aus, weil die Mutter ihre Tochter ins Gesicht geschlagen hat, eine lebensgefährliche Flucht bei strengem Forst, bei der ihre Liebe auf der Strecke bleibt. Die Eltern suchen erfolglos nach ihnen, sie stecken ihrerseits in handfesten Problemen, Alkoholismus spielt eine dominante Rolle, auch Hoffnungslosigkeit und Sprachlosigkeit. Wir erleben den Kioskbesitzer, der die fixe Idee hat, den Wolf zu finden und zu erschießen, es gibt andere Figuren mehr, deren Wege sich mit dem Ausreißerpärchen kreuzen, und immer wieder taucht dabei unvermutet der Wolf auf.

Der Autor bedient sich in lose aneinandergereihten kurzen Szenen einer unterkühlt wirkenden Sprache, mit minimalistischen, schmucklosen Sätzen, die häufig ohne Nebensätze auskommen und wie Bühnensprache phonetisch zweckmäßig und dramaturgisch leichtverständlich aneinandergereiht sind. Die im Roman eh schon vorherrschende meteorologische wie mentale Eiseskälte wird dadurch aber entschieden überstrapaziert, der Leser muss sich warm anziehen, könnte man sagen, – oder viel Alkohol trinken wie die allesamt tragischen Romanfiguren. Viele von ihnen bleiben übrigens namenlos, was zu sperrigen Formulierungen wie «Die Freundin der Mutter des Jungen» führt, und über ihr Geschick können wir am Ende nur mutmaßen, irgendwelche Andeutungen gibt es keine. Im letzten Satz schließlich heißt es lapidar: «Der Wolf war verschwunden.»

In Form eines Gegenwartsromans beschreibt der Autor lakonisch eine äußerst triste Gesellschaft, wobei mir seine emotionslose Geschichte deutlich überzeichnet erscheint, allzu eiskalt konstruiert zudem, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Absicht, ein Panorama der Jetztzeit zu zeichnen, ist jedenfalls wenig überzeugend, sowohl in inhaltlicher als auch sprachlicher Hinsicht. Rückblickend gesehen war mir persönlich nur der Wolf sympathisch, der als Rudeltier hier aber einsam umherirrt, wie all die blutleeren menschlichen Figuren übrigens auch. Erstaunlich, dass es dieser fragwürdige Roman in die Shortlist des Leipziger Buchpreises geschafft hat, klug aber, dass die Jury ihm diesen Preis letztendlich nicht verliehen hat.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Allerseelen

nooteboom-1

Ein sinnierender Flaneur

Der Prophet gilt wenig im eigenen Land, dem Schriftsteller geht es zuweilen ebenso. Cees Nooteboom ist so einer, auf den dies zutrifft, die Rezeption seines erzählerischen Werkes ist in Deutschland intensiver als in seiner holländischen Heimat. Neben dem Feuilleton ist dies vermutlich dem Engagement Siegfried Unselds für seinen Autor zu danken, «Allerseelen» hatte den berühmten Verleger, wie er schrieb, beim Lesen an die großen Flaneure des zwanzigsten Jahrhunderts erinnert. Der Handlungsort Berlin kurz nach der Wiedervereinigung erklärt zudem die besondere Beachtung dieses 1999 veröffentlichten Romans in Deutschland, er gilt als der beste Berlin-Roman der jüngeren Zeit.

Arthur Daane, unverkennbar das Alter Ego des Autors, ist geradezu der Prototyp eines Flaneurs, ein 44jähriger niederländischer Filmemacher, der vor zehn Jahren bei einem Flugzeugunglück Frau und Kind verloren hat und inzwischen zum Einzelgänger geworden ist. Sein Beruf zwingt ihm eine unstetige Lebensweise auf, er ist viel auf Reisen und nirgendwo richtig zu Hause, es zieht ihn aber immer wieder nach Berlin, wo er gute Freunde hat. Da ist der deutsche Philosoph Arno Tieck, eine Romanfigur, die an Rüdiger Safranski erinnert, mit dem der Autor befreundet ist, ferner der holländische Bildhauer Victor und die russische Physikerin und Galeristin Zenobia, ein debattierfreudiges Dreigestirn, das sich regelmäßig in einem Pfälzer Weinlokal trifft. Seine älteste Freundin, die in Amsterdam lebende Erna, mit der er fast täglich telefoniert, stellt mit ihrer lebensklugen Art einen Anker für ihn dar, sie erdet ihn regelmäßig, wenn er mal wieder in höheren Sphären schwebt. Denn Arthur, der durch Berlin streift in den Wartezeiten zwischen seinen Filmprojekten, der nicht jeden Auftrag annimmt und nur soviel arbeitet, wie unbedingt sein muss, der Galerien, Ausstellungen, Museen, Bibliotheken besucht, regelmäßig in bestimmten Cafés und Restaurants anzutreffen ist, er betätigt sich auf seinen Streifzügen nicht nur physisch als Flaneur, er ist es auch psychisch. Permanent auf der Suche, ohne genau definieren zu können, was er denn sucht, hat er seine Kamera meistens dabei und filmt für seine private «Sammlung» speziell das, was kommerziell nicht verwertbar ist, unbedeutende Details und Fragmente zumeist, die er irgendwann zu einem großen Ganzen fügen will.

In einem Café trifft er auf eine junge Frau, die extrem verschlossen ist und seltsam abweisend bleibt auch dann, als sie sich näher kommen. Sie arbeitet verbissen an einer Dissertation über eine nahezu vergessene spanische Königin, diskutiert lebhaft mit seinen Freunden, verschwindet aber immer wieder ganz abrupt und ohne Abschied. Als Arthur nach einem mehrwöchigen Filmauftrag aus Japan zurückkommt, ist sie wieder verschwunden, mühsam spürt er sie im Nationalarchiv in Madrid auf. Sie sei schwanger geworden, habe abtreiben lassen, – beide trennen sich im Streit. Als Arthur nach einem Raubüberfall aus dem Krankenhaus entlassen wird und erfährt, sie sei nach Santiago abgereist, widersteht er dem Impuls, ihr nachzureisen.

Der Roman hat abgesehen von der kurzen eingelagerten Beziehungsgeschichte kaum Handlung, er stellt eine Kollage von Episoden, Reflexionen, Theorien über Geschichte, Nationen, Politik, städtische Kultur und vor allem über Kunst dar, von einem auktorialen Erzähler aus Arthurs Perspektive erzählt und von einem der Antike nachempfundenen «Chor» in kurzen Intermezzi kommentiert. Es ist der Kampf gegen das Vergessen, an «Allerseelen» als Gedenken an die Toten zelebriert, der Arthur umtreibt, ihn ausufernde philosophische Diskussionen führen lässt, der Chor aber resümiert am Ende: «Und wir? Ach wir …» Mit seiner Themenfülle und den vielen Bezügen und Querverweisen ist dieser ebenso kopflastige wie blutleere Roman eine Fundgrube für den philosophisch interessierten Leser, permanent zu einem Weiterdenken anregend, welches man kaum als kontemplativ bezeichnen kann.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

33 Augenblicke des Glücks

schulze-1Verschwendetes Erzähltalent

In seiner ersten Buchveröffentlichung «33 Augenblicke des Glücks» von 1995 hat Ingo Schulze eigene Erfahrungen verarbeitet, die er während seiner beruflichen Tätigkeit in Sankt Petersburg gewonnen hatte, worauf auch der Untertitel «Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter» schon hinweist. Diese Großstadt bildet eine Projektionsfläche für knapp drei Dutzend Kurzgeschichten recht unterschiedlicher Länge, die von den Alltagsproblemen der Bevölkerung in «Piter», wie sie ihre Stadt liebevoll nennen, nach der Epochenwende handeln, dem Fall des Eisernen Vorhangs und den darauf folgenden Umwälzungen. Der von der Kritik auffallend konträr bewertete Erzählband fand später Aufnahme in die zweite Staffel der Anthologie der Süddeutschen Zeitung, – zu Recht?

«Ich will es ihnen erklären: Vor einem Jahr erfüllte ich mir einen langgehegten Wunsch und fuhr mit der Bahn nach Petersburg» lautet der erste Satz. Der Autor baut damit die Fiktion auf, eine Frau hätte die Mappe eines Mitreisenden namens Hofmann im Zug gefunden, in denen dieser eigene und ihm von Freunden zugetragene Erlebnisse niedergeschrieben habe. Sie schickt die Mappe dem Autor zur Veröffentlichung. «Wäre ich nicht zu der Überzeugung gelangt», schreibt jener, «dass die hier versammelten Aufzeichnungen über einen bloßen Unterhaltungswert hinausgingen und die Möglichkeit in sich trügen, die anhaltende Diskussion um den Stellenwert des Glücks zu beleben, hätte ich von dieser Aufgabe Abstand genommen». Genau diese Mappe liege nun als Buch vor dem Leser. Ein Hinweis also gleich am Anfang schon auf «Hoffmanns Erzählungen», und abenteuerlich geht es denn auch bereits in der ersten Geschichte zu.

In Episoden ohne erkennbaren Zusammenhang wird aus dem postsowjetischen Alltag berichtet, Protagonisten sind dabei die sogenannten kleinen Leute, die mit den gesellschaftlichen Veränderungen mehr oder weniger gut zurechtkommen. Die Figuren sind recht plastisch beschrieben, sie lassen die typisch russische Seele erkennen in einem bunten Panoptikum, beginnend mit der Edelhure im Hotelfoyer über einfache Arbeiter, arme Landleute, kleine Angestellte, gerissene Geschäftemacher, skrupellose Waffenhändler bis hin zu den brutalen russischen Mafiosi. Was da erzählt wird ist abenteuerlich surreal, der Autor treibt ein ironisches Spielchen mit seinen Lesern, zweigt vom Schönen, Anheimelnden, Märchenhaften plötzlich und unvermutet ins Groteske, Eklige, Grausame und leider häufig völlig Sinnfreie ab. Ein «Wilder Osten» also, der in Kannibalismus gipfelt, das im Buchtitel verheißene Glück wird ad absurdum geführt.

Es wird gekonnt erzählt in einer leicht lesbaren Sprache, wobei inhaltlich Bezüge zu verschiedenen russischen Autoren erkennbar werden, aber auch zu E.T.A. Hoffmann. Kurz nach der Kannibalismus-Episode in der Mitte hat ein Leser vor mir in das Buch geschrieben: «Ingo, Ingo. Bis hierhin bin ich nun gekommen beim Lesen, – aber so langsam denke ich darüber nach, dieses Buch nicht mehr zu Ende zu lesen». Ähnliches findet sich auch in anderen Kommentaren, viele waren froh, als die Lektüre endlich beendet war. Mir ging es ebenso! Denn die sarkastische Erzählweise führt den Leser zu einer makabren Art von «Glück», das verstörend oft die Bösewichte betrifft, zum Beispiel bei den glücklichen Mördern der kannibalischen Sauna-Orgie. Der Sarkasmus des Autors ist also schon im Titel präsent, und man fragt sich unwillkürlich, warum straft der Autor seine Leser derartig? Nicht das Makabre ist damit gemeint, auch nicht das zumeist rätselhaft abrupte Ende seiner Kurzgeschichten, sondern das ins Nichts führende, so offenkundig Sinnlose, das den Leser zweifeln lässt an seinen eigenen geistigen Fähigkeiten. Eine Art Publikumsbeschimpfung à la Handke, oder der Versuch, originell anders zu sein als Schriftsteller, und das schon gleich beim Debüt? Schade für ein zweifellos vorhandenes, aber sinnlos verschwendetes Erzähltalent am untauglichen Objekt!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Maximen und Reflexionen

la-rochefoucauld-1Geistreiche Polemik

Seiner Nachwelt ist der adelige Politiker und Militär François de La Rochefoucauld vor allem als Autor der «Maximen und Reflexionen» bekannt, ein Buch, das heutzutage – noch vor seinen viel beachteten Memoiren – als sein Hauptwerk gilt. Er war ein prominenter Vertreter der französischen Moralisten, zu denen unter anderen auch de Montaigne und Pascal zählen, deren literarisches Wirken später dann auch Lichtenberg, Nietzsche, Goethe und Andere beeinflusste. Der erstmals 1664 unautorisiert in Holland erschienenen Textsammlung war ein rascher Erfolg beschieden, Voltaire schrieb dazu: «Man liest die Memoiren des Herzogs von La Rochefoucauld, und man weiß seine Maximen auswendig». Es folgten mehrere jeweils ergänzte Auflagen, die fünfte und letzte zu Lebzeiten des Autors war 1678 auf 504 Aphorismen angewachsen, sie liegt der deutschen Übersetzung des vorliegenden Reclam-Bands zugrunde, ergänzt um ein informatives Nachwort. Können Moralvorstellungen aus jener Zeit uns Heutigen noch etwas sagen, lohnt sich die Lektüre auch mehr als dreihundert Jahre später noch?

Aber sicher doch! Die Natur des Menschen, die Triebfedern seines Handelns, seine typischen Verhaltensweisen haben sich seither nämlich kaum verändert. Das merkt man schon beim Lesen von einigen wenigen dieser klugen Sentenzen, die Beweggründe menschlichen Handelns scheinen immanent zu sein. Wobei La Rochefoucauld seine lehrreichen Aphorismen mit feiner Ironie würzt, die sich oft bis ins Sarkastische steigert. Immer aber ist auch feiner Humor im Spiel bei seinen pointiert auf allzu menschliche Schwächen zielenden Sinnsprüchen. Deren Stimmung jedoch eher pessimistisch ist, aus seiner rigiden Zustandsanalyse ergeben sich jedenfalls keinerlei optimistisch stimmende Perspektiven. Moral ist demzufolge ein anzustrebendes, aber kaum je realisierbares Handlungsgerüst für eine allzu leicht verführbare Menschheit. Natürlich schimmert zuweilen der Einfluss der christlichen Lehre von der Erbsünde in diesen Texten durch. Prompt hat sich der Autor denn auch gegen aufkommende Anfeindungen gewehrt, indem er im Vorwort einer frühen Ausgabe klarstellte, «dass sein Buch nichts anderes enthalte als den Abriss einer Moral, die mit den Gedanken mehrere Kirchenväter übereinstimmt». Eine Schutzbehauptung, denn La Rochefoucaulds Sinnsprüche sind allesamt dezidiert innerweltlich, hier geht es um handfest Menschliches, nicht um idealisiert Metaphysisches, das den kirchlichen Dogmen verpflichtet wäre.

«Die Philosophie triumphiert leicht über vergangene und zukünftige Übel, aber gegenwärtige triumphieren über sie». Die 504 Aphorismen des Büchleins sind so weit es möglich ist thematisch zusammen gefasst, da ist die Rede von Eigenliebe, Leidenschaft, Liebe, Eifersucht, Hochmut, Stolz, Glück, Geltungsdrang, Lüge, Wahrheit, Freundschaft, Ehrgeiz, Verrat, Betrug und vieles mehr. Man kann dem Autor bei den philosophischen Exkursen seinen polemischen Duktus vorwerfen, so wenn er zum Beispiel schreibt: «Es gibt gute Ehen, aber keine wundervollen». Oder, ebenso skeptisch: «Oft tut man Gutes, um ungestraft Böses tun zu können». Zur Klugheit: «Der Wunsch, klug zu erscheinen, hindert uns oft, es zu werde». Und mehr: «Es beweist große Klugheit, seine Klugheit zu verbergen».

Mit einer Fülle trefflicher Sentenzen und tiefsinniger Reflexionen gehört dieses kleine Buch zum Kanon berühmter Sammlungen von Aphorismen, es hat, das sei hier wiederholt, auch dem heutigen Leser viel zu sagen. Brillant formuliert sind diese Sinnsprüche allerdings leider nicht, was am zeitlichen Abstand zur Entstehungszeit liegen mag oder an einer wenig eleganten Übersetzung. Den Gehalt des Gesagten beeinträchtigt dieses sprachliche Manko natürlich nicht. Man wird sich unwillkürlich das eine oder andere Zitat zu Eigen machen beim Lesen, und dieser literarische Fundus wächst dann stetig, wenn man wie ich seinen La Rochefoucauld als praktisches Reclam-Bändchen stets dabei hat – und zum Beispiel irgendwo warten muss.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Aphorismen
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Follens Erbe

zeller-1Theorien-Diarrhö

Man könnte von einem Campusroman sprechen bei «Follens Erbe» von Michael Zeller, die literaturwissenschaftliche Fakultät einer deutsche Universität ist jedenfalls Hintergrund der Erzählung, das berufliche Umfeld seines Protagonisten, des Dozenten Hellmuth Buchwald. Die detaillierten Schilderungen der Interna des universitären Umfeldes lassen vermuten, dass einiges aus der Biografie des Autors in den Roman eingeflossen ist. War doch auch er Dozent für Literatur und habilitierte sich über zeitgenössische deutsche Lyrik, ehe er dann acht Jahre lang als Literaturkritiker für die FAZ arbeitete. Im Titel des Romans liegt ein weiterer Schlüssel für dessen Inhalt, denn Karl Follen war ein rebellischer Burschenschaftler, der zu den führenden Kräften des Vormärz in Deutschland zählt, der Untertitel «Eine deutsche Geschichte» unterstreicht dies noch. Zeller verbindet in seinem Roman die politische Situation nach der Ermordung August von Kotzebues durch Karl Ludwig Sand im Jahre 1819 und die im gleichen Jahre folgenden Karlsbader Beschlüsse mit der Zeit der RAF, genauer gesagt der Zeit der Entführung und Ermordung von Hanns-Martin Schleyer im Jahre 1977.

Wie einhundertfünfzig Jahre vorher mit den Demagogenverfolgungen war damals auch in der Bundesrepublik Deutschland eine reaktionäre Stimmung auf ihrem Siedepunkt angelangt und führte zu hysterischen Repressionen staatlicherseits. Eigentlich wollte sich Buchwald während seiner Zeit als Assistent mit einer Arbeit über den rebellischen Follen habilitieren, ein Thema, dem sein ganzer Arbeitseifer galt. Er beschäftigte sich dann aber auch mit zeitgenössischer Lyrik, ergriff sogar Partei für eine Lyrikerin, deren zeitkritisches Gedicht gerade Furore machte, indem er einen geharnischten Artikel für eine Fachzeitschrift verfasste und darin trotzig gegen die Angriffe auf die Autorin und ihr Gedicht Stellung bezog. Während eines Studentenstreiks kam es in seinem Seminar zu politischen Auseinandersetzungen, in denen er Verständnis für die Anliegen der Streikenden zeigte und hitzige Diskussionen darüber zuließ. Prompt sah er sich dem Vorwurf verfassungsfeindlicher Umtriebe ausgesetzt und entging nur knapp und mit viel Glück seinem universitären Karriere-Ende.

Geschichte wiederholt sich, sagt man, Zeller liefert mit seinem Roman den schlagenden Beweis dafür. In vier nach den Jahreszeiten benannten Kapiteln entwickelt er seine Geschichte vom Dozenten Buchwald, erzählt von dessen Privatleben in bescheidenen Verhältnissen, von seiner letztendlich scheiternden Liebe zu Judith und den verschiedenen Frauen, denen er, nicht immer erfolglos, hinterher steigt. Interessanter jedoch sind seine literarischen Erlebnisse, die mit feiner Ironie erzählten Studien über Follen und über den Universitätsbetrieb. Köstlich zum Beispiel sein Einschub über den «Classischen Cuddel», als Professor der absolute Paradiesvogel dieser Uni, ein einseitig auf Schiller spezialisierter Sonderling, dessen Marotten süffisant geschildert werden. Ebenso amüsant der Assistenten-Stammtisch mit einem hochgelehrten Disput, der sich an Franz Kafkas TBC entzündet und in linguistischen Spitzfindigkeiten endet, da fällt dann auch schon mal ein Wort wie Theorien-Diarrhö. Auch die scharfsichtige Schilderung der in jener Zeit in hoher Blüte befindlichen antiautoritären Erziehung lässt den Leser häufig laut auflachen.

Schade eigentlich, dass man so ein Buch heute nur noch antiquarisch erwerben kann, ich war jedenfalls hocherfreut über meinen Zufallsfund mit seinen reichlich vorhandenen, ebenso lehrreichen wie amüsanten Lesefrüchten.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Oberon

Der Geliebte der Mutter

widmer-2Requiem für eine besessene Frau

Im umfangreichen und vielseitigen Œuvre des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer ist die fiktionale Biografie «Der Geliebte der Mutter» erster Teil einer Trilogie, zu der auch «Das Buch des Vaters» und «Ein Leben als Zwerg» gehören, die allesamt zu seinen größten Erfolgen gerechnet werden. Es ist der Roman einer an Hörigkeit grenzenden, tragischen Leidenschaft der Mutter des Ich-Erzählers für einen berühmten Orchesterchef, der von manchen auch als Schlüsselroman für die reale Person des Dirigenten Paul Sacher gedeutet wird.

Als Klammer für den kurzen Roman dient der Tod des Dirigenten. «Heute ist der Geliebte meiner Mutter gestorben» lautet der erste Satz. Es folgt die Geschichte zweier Protagonisten, der kometenhafte Aufstieg des mittellosen, begabten jungen Edwin zum weltweit gefeierten Pultstar für moderne Musik, und parallel dazu und schicksalhaft damit verbunden der Niedergang der schönen und reichen Fabrikantentochter Clara, die verarmt in der Psychiatrie endet. Selbstlos hat sie die Karriere des von ihr grenzenlos geliebten Mannes gefördert, ihm bei der Gründung seines schnell prosperierenden jungen Orchesters geholfen. Eine unentgeltliche Tätigkeit als Mädchen für Alles, die von ihm aber niemals gebührend gewürdigt wird, er beachtet sie kaum, erwidert ihre Liebe nicht. Auf einer Konzertreise wird sie schließlich seine Geliebte, auch dies für ihn eher nebensächlich, ein unbedeutendes Techtelmechtel, mehr nicht. Als sie schwanger wird, verlangt er ganz selbstverständlich die Abtreibung. Beim Börsencrash 1929 verliert sie ihr ganzes Vermögen und muss fortan in ärmsten Verhältnissen leben, Edwin aber heiratet die reiche Erbin eines florierenden Unternehmens und wird der reichste Mann der Schweiz. Auch Clara heiratet irgendwann einen namenlos bleibenden und auch nicht weiter in Erscheinung tretenden Mann, wobei offen bleibt, ob er der Vater des Ich-Erzählers ist.

Wir haben es hier mit einer Art literarischem Requiem für eine liebeskranke Mutter zu tun, deren Besessenheit tragisch enden muss, deren stilles Aufbegehren in einem hilflosen «Ich kann nicht mehr» endet. Widmer schildert in einer angenehm dichten, leichtfüßigen Sprache den Lebensweg seiner beiden Figuren, verfolgt Claras italienische Herkunft bis zurück zu deren Urahnen. In einer urkomischen Szene wird ein Besuch des Duce auf dem Weingut der Familie geschildert. Hinreißend auch spiegelt der Autor in einem kurzen erzählerischen Wechselspiel das bescheidene Leben Claras in ihrem fast autarken Haushalt vor der Kulisse des Zweiten Weltkriegs: «So lebte sie. Hitler griff Russland an, und die Mutter setzte Zwiebeln. Hitler belagerte Moskau. Die Mutter riss Rüben aus. Rommels Panzer jagten die Panzer Montgomerys durch die Sahara. Die Mutter stand im Rauch eines Feuers, das alten Ästen den Garaus machte». In einem amüsanten Einschub wird von Claras Wiedersehen mit Edwins Freund erzählt, der auf einer Reise durch die Südsee vom Krieg überrascht wurde und in Bali gestrandet ist, wo er kurz entschlossen eine Inselschönheit heiratete. Clara trifft die Beiden nach dem Krieg ganz profan am Wäschestand in einem Kaufhaus.

«Die Geschichte ist erzählt» heißt es am Ende. Der nun plötzlich leibhaftig auftretende Ich-Erzähler trifft im Museum den greisen Dirigenten. Auf seine Frage: «Warum haben Sie Clara gezwungen, ihr Kind abzutreiben» entgegnet Edwin: «Ich zwinge keine Frauen zu nichts. Nie. Ich habe vier Kinder». Er leugnet jede Verantwortung: «Wenn Ihre Geschichte stimmen würde», rief er kichernd, «da wären Sie ja mein Sohn», und verschwand. In einer TV-Sondersendung zum Ableben Edwins schließlich sah der Sohn Archivmaterial aus dessen Leben, und bei einem Schwenk ins Publikum, in der Mitte des Balkons, «einen Schatten, der meine Mutter sein mochte». Diese berührende Geschichte ist nüchtern und zielgerichtet, ohne jedes Pathos erzählt, sie wirkt gerade dadurch besonders lange nach. Ganz ohne Zweifel ein rundum gelungener Roman!

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Rubinsteins Versteigerung

seligmann-1Ad infinitum

Mit seinem 1988 erschienenen Romandebüt «Rubinsteins Versteigerung» hat Rafael Seligmann ein autobiografisch geprägtes Werk vorgelegt, Henryk M. Broder etwa hat damals ganz selbstverständlich dessen Ich-Erzähler Jonathan Rubinstein als Decknamen des Autors angesehen. Viele biografische Details des zwölf Jahre nach dem zweiten Weltkrieg mit seinen Eltern aus Israel nach Deutschland eingewanderten Seligmann sind jedenfalls in diesen Roman eingearbeitet, von dem heute kaum noch Notiz genommen wird. Ein Schicksal, dass er mit unendlich vielen anderen Prosawerken teilt, oft sehr zu Unrecht, wie sich an diesem Beispiel mal wieder zeigt. Denn dieser Roman enthält alles, was eine lesenswerte Lektüre ausmacht: Er ist bereichernd und auf amüsante Art unterhaltend.

Sein Thema nämlich, um mit dem Bereichern zu beginnen, ist das schwierige Verhältnis der Deutschen und Juden zueinander, als studierter Politikwissenschaftler und Historiker sei dies seine «Mission», wie Seligmann es einmal formuliert hat. Dabei kritisiert er beide Seiten schonungslos, entblößt gegenseitige Vorbehalte als Überheblichkeit und in der Regel auch als grenzenlose Dummheit. Er polarisiert damit zwangsläufig bei dem Versuch, wenn nötig durch Streit die schreckliche Vergangenheit aufzuarbeiten, weil akademische Debatten allein seelische Verletzungen bei Tätern, Opfern und auch bei deren Nachkommen nicht heilen könnten. Der nichtjüdische Leser bekommt ungewohnte Einblicke in die Mentalität und Denkweise deutscher Juden der Nachkriegszeit, insbesondere verkörpert durch «Esel», wie Jonathan seine unbeirrbar orthodox denkende Mutter mit Kosenamen nennt, die allem Deutschen mehr als skeptisch gegenübersteht und damit ständigen für böse ausufernden Streit sorgt.

Bei seinem Romanerstling hat der Autor diese Thematik in eine Handlung eingebaut, die in lockerer Weise verschiedene Facetten des problematischen Verhältnisses aufzeigt, äußerst geschickt und unaufdringlich gespiegelt an den Schul- und Liebesnöten seines Helden. Er beschreibt dessen Erlebnisse in München, wenige Monate vor seinem Abitur im Jahre 1969. Es beginnt gleich virtuos und witzig, als Jonathan seinen Platz im Stuhl-Halbkreis direkt neben der unkonventionellen neuen Deutschlehrerin an seine Mitschüler versteigert, das Höchstgebot liegt am Ende bei hundert Mark. «Rubinsteins Versteigerung» ist nicht nur titelgebend für diese turbulente Geschichte, sie ermöglicht ihm auch seinen ersten Bordellbesuch, wobei die erhoffte Initiation des immerhin schon 21jährigen scheitert, wegen Ladehemmung, könnte man sagen. «Umsonst im Puff» ist deshalb dieses zweite von 34 Kapiteln des relativ kurzen Romans überschrieben. Es schließen sich weitere missglückte Versuche des testosterongesteuerten Jünglings mit standhaft bleibenden, jüdischen Mädchen an, denen von ihren Eltern Keuschheit vor der Ehe als höchstes Gut so nachhaltig eingetrichtert worden ist, dass all sein Charme nichts ausrichten kann. Sogar seine Deutschlehrerin wäre beinahe schwach geworden bei ihm, aber eben nur beinahe. Bis er endlich im Englischen Garten ein deutsches Mädchen kennenlernt, mit dem seine Mannwerdung dann glücklich gelingt.

In einem Extemporale beim Deutschunterricht schreibt Jonathan mal sehr lakonisch: «Die Aussagen des Romans ‚Der Untertan’ von Heinrich Mann sind heute ebenso aktuell wie vor sechzig Jahren». Und weiter: «…wessen Wille gebrochen wurde, kann selber nur gehorchen oder befehlen. In diesem Sinne wird in Deutschland eine Generation nach der anderen zu guten Untertanen erzogen – ad infinitum». Die Schatten der Vergangenheit werden schließlich auch beim überraschenden Ende übermächtig, ein sehr geschickter Handlungsaufbau, wie ich meine, mehr will ich hier aber nicht verraten, der Spannung wegen.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Das kurze Leben

onetti-1Klug hinterfragtes Ich

Santa María heißt die fiktive Stadt, in der ein Romanzyklus des uruguayischen Schriftstellers Juan Carlos Onetti beheimatet ist, dessen erster Band den Titel «Das kurze Leben» trägt. Der 1950 erschienene Roman ist das wichtigste Werk dieses der klassischen Moderne zugerechneten Autors, der innerhalb der südamerikanischen Literatur als Avantgardist angesehen werden kann, ihr erster namhafter Vertreter war. Der vorliegende Roman belegt dies deutlich, man ahnt schon recht bald beim Lesen, dass hier nicht gängige Leseerwartungen an einen südamerikanischen Roman á la Llosa oder Marquez erfüllt werden, dass hier kein pralles Leben in buntem Lokalkolorit thematisiert wird mit all den Ingredienzien, die solcherart Lektüre so angenehm mühelos konsumierbar macht. Onettis äußerst anspruchsvoller Roman demgegenüber ist ein gewagtes Spiel mit Identitäten, seine Figuren sind nicht festgefügter Bestandteil eines stringenten Plots, ihre Existenzen bleiben vage, scheinen austauschbar, sind «bloße Verkörperung der Idee» ihrer selbst, wie der Autor schreibt, ein Spiel mit dem Ich.

Aus unverkennbar männlicher Sicht wird hier im Kern das Verhältnis der Geschlechter thematisiert, wobei mich die machohafte Perspektive des Autors ziemlich gestört hat. Ich-Erzähler Juan María Brausen, von Entlassung bedrohter Werbetexter, kommt nicht darüber hinweg, dass seiner Frau die linke Brust amputiert werden musste, seine erst fünf Jahre dauernde Ehe scheitert daran. Durch die dünne Wand zur Nachbarwohnung hört er die Prostituierte Queca, die dort ihre Freier empfängt. Er wird ebenfalls ihr Kunde, bleibt aber anonym, sie weiß nicht, dass er ihr Nachbar ist. Als Ernesto sie erwürgt, identifiziert Juan sich mit ihm, der nur das getan habe, was er selbst tun wollte, er organisiert und begleitet dessen Flucht. Die Morphiumampullen seiner Frau bringen Juan auf eine Idee, er installiert den Arzt Días Grey als Hauptfigur seines neu zu schreibenden Drehbuchs, dessen Fortentwicklung wir als Leser quasi miterleben, – es ist im Wesentlichen der zweite Handlungsstrang. Grey begehrt heftig Elena Sala, die attraktive Frau von Señor Lagos, die Morphium von dem Arzt verlangt, ihm im Sprechzimmer ihre prallen Brüste präsentiert, sich ihm letztendlich aber versagt, weil sie dem schönen, geheimnisvollen Oscar zugeneigt ist. Nach Elenas Tod wird Grey immer mehr in kriminelle Rauschgiftgeschäfte verwickelt, und er begehrt erneut eine Frau, die Lagos begleitet, eine mysteriöse Geigerin. Das Ganze endet im Karneval, von dem auch schon zu Beginn kurz die Rede ist, die Figuren verwandeln sich beim Kostümverleiher in ein anderes Ich, sie verschwinden somit geradezu in der Fiktion, werden unsichtbar, verlöschen.

In den beiden Handlungssträngen, die stark ineinander verwoben in den 41 Kapiteln des zweiteiligen Romans erzählt werden, entwickelt der Autor seine metaphysischen Betrachtungen, verdeutlicht menschliches Bewusstsein, indem er seine Figuren in andere Identitäten schlüpfen lässt, sie aus verschiedenen Blickwinkeln zeigt. Für mich stärkste Passage war dabei die Bischoffszene, wo er den hochwürdigsten Monsignore zum Beispiel an einer Stelle sagen lässt: «Nur Gott ist ewig. Ein jeder ist nur ein möglicher Augenblick; und das entwürdigende Bewusstsein, das ihnen erlaubt, auf der launischen, zerstückelten und selbstgefälligen Sinneswahrnehmung, die sie Vergangenheit nennen, festzustehen, die ihnen erlaubt, Hoffnungsleinen auszuwerfen, und Fehler in dem zu berichtigen, was sie Zeit und Zukunft nennen, ist, wenn man es annimmt, nur ein persönliches Bewusstsein».

Wer den Fehler macht, einen in jeder Hinsicht literarisch so hochklassigen Roman wie diesen als Strandlektüre lesen zu wollen, der muss natürlich kläglich scheitern an einer derartigen gedanklichen Dichte. Kontemplativ veranlagten, aufnahmebereiten Lesern hingegen wird eine zum Weiterdenken anregende, bereichernde Weltsicht dargeboten, die das Ich ausgesprochen klug hinterfragt.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Amerika, Amerika

kazan-1Ein Filmskript mutiert zum Roman

Allen Cineasten dürfte bei Titeln wie «Endstation Sehnsucht», «Die Faust im Nacken» oder «Jenseits von Eden» sofort der amerikanische Regisseur griechischer Abstammung Elia Kazan einfallen, dessen Filmkarriere durch viele Oscars gekrönt wurde, unter anderem auch für sein Lebenswerk. Wegen seiner Haltung während der McCarthy-Ära verschiedentlich angefeindet, unter anderem von Arthur Miller, hatte er sich seit den siebziger Jahren zunehmend auf die Schriftstellerei als künstlerischem Ausdrucksmittel zurückgezogen, aus seiner Feder stammen neben seiner Autobiografie sieben Romane. Einer davon ist «Amerika Amerika», zunächst eigentlich als Filmskript geschrieben, von ihm dann aber doch als Roman veröffentlicht, sein Spielfilm «Die Unbesiegbaren» basiert auf diesem Stoff.

Ein Zufall hatte mich zu diesem Buch gebracht, und die Neugier dann zum Lesen, denn diesen Titel hatte ich erst kürzlich in meiner Leseliste verzeichnet, in einem Wort zwar, «Amerika» also, von niemand Geringerem als von Franz Kafka geschrieben. In beiden Romanen geht es um die Sehnsucht nach dem «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», bei Kafka allerdings als Geschichte, die schon vor Ort passiert, während Kazans Roman ausschließlich den Weg dorthin beschreibt, mit der ungeheuren Anziehungskraft dieses Landes als mächtiger Triebfeder der gesamten Handlung.

Seine Herkunft vom Filmskript merkt man Kazans Roman schon im ersten Satz an, er beschreibt einen Berg in Anatolien, dann hört man ein Lied und Stimmen. Es folgt die Schilderung einer Szene, die sich auf einem Eisfeld am Hang des Berges abspielt, zwei Männer zerhacken Eis in handliche Stücke. Nicht nur diese Eingangsszene, der ganze Roman ist im Präsens geschrieben, in seiner Sprache stilistisch einem Bühnenstück sehr ähnlich, also äußerst dialogreich, außerdem streng linear erzählt ohne Rückblenden, immer vorandrängend. Der griechischstämmige Protagonist Stavros hat viel durchzumachen, bevor er unbeirrbar sein Traumziel erreicht, und auf dem Weg dorthin führt Kazan den Leser tief hinein ins türkisch beherrschte Anatolien Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinen griechischen und armenischen Minderheiten und den daraus folgenden ethnischen Konflikten. Das ist interessant und den eigenen Horizont erweiternd zu lesen. Manchmal wird es sogar lustig, wenn man zum Beispiel schmunzelnd miterlebt, wie kunstvoll und trickreich dort Ehen gestiftet wurden und ja wohl heute noch werden. Am Ende turbulenter Ereignisse ist Stavros als Schuhputzer endlich in New York gelandet und kann seiner erwartungsfrohen Familie die ersten Dollars schicken, deren Herkunft aber sein Geheimnis bleibt, es ist dies nämlich der Liebeslohn für sein amouröses Verhältnis mit einer etwas älteren, verheirateten Dame während der Schiffspassage nach Amerika.

Die punktgenaue, schnörkellose Erzählweise bewirkt, dass diese nette Geschichte mit ihren überraschenden Wendungen schon nach knapp hundertdreißig Seiten beendet ist. Manche Leser mögen es ja so, ein schnelles Lesevergnügen mithin, bei dem der Plot überaus deutlich im Mittelpunkt steht. Theodor Fontane hätte seinen kompletten «Stechlin» auf fünfzig Seiten unterbringen können mit einer vergleichbar komprimierten Erzählweise. Das Interessanteste dürfte also der besondere sprachliche Stil Kazans sein, den man nicht so häufig findet in der Literatur, der aber durchaus seinen Reiz hat.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Knaur München

Katz und Maus

grass-3Ritterkreuz und Adamsapfel

Für manche Kritiker markiert die Danzig-Trilogie von Günter Grass als Frühwerk bereits den Höhepunkt seines literarischen Schaffens. Der Mittelteil dieser Hommage an seine Heimatstadt ist die in Jahre 1961 publizierte Novelle «Katz und Maus». Wegen einer als obszön angesehenen Onanierszene sollte das Buch damals auf den Index gesetzt werden, was eine Protestwelle auslöste und dann doch unterblieb. Aber auch gegen die Verächtlichmachung des Ritterkreuzes in dieser pikarischen Novelle wurde aus rechten Kreisen heftig protestiert, Grass behandelt hier den Zweiten Weltkrieg nämlich in einer bis dato ungewohnten Weise, indem er Stilmittel des Schelmenromans einsetzt. Er erzählt seine Geschichte aus einer unbekümmert privaten, zutiefst menschlichen Sicht vor dem Hintergrund schicksalsschwerer historischer Ereignisse, deren Bedeutung er damit relativiert, sie stehen nicht im Mittelpunkt und werden allenfalls beiläufig und zudem noch ironisch distanziert behandelt.

«Was tut mein Vorname zur Sache” fragt Pilenz rhetorisch, vornamenlos bleibender Ich-Erzähler und Schüler eines Danziger Gymnasiums, der hier über seine Zeit mit einem ganz besonderen Mitschüler erzählt. Joachim Mahlke, Halbwaise und Außenseiter, mit einem überdimensionalen Adamsapfel gesegnet, der der titelgebenden Katze zu Maus wurde, lernt spät das Schwimmen und kann sich dann endlich einer Schülerclique anschließen, die immer wieder zu einem versenkten polnischen Minensuchboot hinausschwimmt, das mit den Aufbauten noch aus dem Wasser ragt. Mahlke erweist sich als überragender Taucher, der am längsten unten bleibt, er entdeckt einen nur unter Wasser zugänglichen Funkraum, zu dem er als Einziger tauchen kann. Sein Ruhm wird noch gesteigert, als er in der Schule einem Offizier das Ritterkreuz stiehlt, er ist fortan nur noch «Der große Mahlke» für die Clique. Obwohl Pilenz ihn grenzenlos bewundert, entwickelt sich doch nie eine richtige Freundschaft zwischen den Beiden, ihre Beziehung bleibt distanziert und ambivalent. Mahlke interessiert sich auch nicht für Mädchen, er liebt ausschließlich und inbrünstig die Jungfrau Maria in einer grotesk naiven Frömmigkeit, Gott existiert nicht für ihn. Als er im Krieg selbst das Ritterkreuz erhält und auf Fronturlaub einen Vortrag in seiner alten Schule halten will, wird ihm das wegen der alten Diebstahlsgeschichte verwehrt. Grenzenlos enttäuscht desertiert er daraufhin, versteckt sich im Schiffswrack, will auf einem Schiff nach Schweden flüchten. Pilenz aber gewährt ihm nicht die versprochene Hilfe, er sieht ihn dann auch nie wieder, seine späteren Nachforschungen verlaufen ergebnislos.

Indem Pilenz beim Erzählen mehrfach in die Du-Form wechselt, wird die Ungewissheit über Mahlkes Schicksal verdeutlicht, er könnte ja noch leben. Seinerzeit als zum Teil obszön und blasphemisch angesehen, markiert diese geradezu klassische Novelle mit ihrer bildstarken Erzählweise, die ohne Umwege direkt zum Kern der Sache vorstößt, einen der Höhepunkte in der Sprachkunst von Günter Grass. Äußerst komprimiert werden hier in wenigen treffenden Worten Ereignisse und Szenarien beschrieben, für die andere Autoren viele Sätze, manche sogar mehrere Seiten benötigen würden, ohne jedoch mehr auslösen zu können im Kopfkino des Lesers. Ironisch, fast zynisch schildert Grass den albernen Katholizismus seiner Schlüsselfigur, den «Großen Mahlke» damit auf Zwergmaß zurechtstutzend, und entlarvt außerdem den schlechten Charakter seines zwielichtigen Ich-Erzählers Pilenz.

Obwohl einige Male ein Dreijähriger mit Blechtrommel auftaucht, ist «Katz und Maus» eine eigenständig zu lesende Erzählung. Die Pubertät seiner zwei ungleichen Jungengestalten wird überaus stimmig geschildert, man ist gespannt als Leser, wie es denn ausgeht mit den Beiden, deren Psychogramme uns da vor Augen geführt werden. Und die subtile Einbindung des furchtbaren Krieges, ganz am Rande sozusagen, kann man durchaus als literarischen Meilenstein bezeichnen.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Novelle
Illustrated by dtv München