Reine Beziehungskiste
Der erste literarische Erfolg des US-amerikanischen Schriftstellers William Maxwell stellte sich zwölf Jahre nach seinem Debütroman mit dem im Original 1945 erschienenen Roman «The Folded Leaf» ein, der 1959 in einer überarbeiteten Version neu erschienen ist. Zweiunddreißig Jahre später erst wurde das Buch mit einer Neuübersetzung unter dem Titel «Zeit der Nähe» auch einem breiteren deutschen Publikum bekannt. Maxwell war vierzig Jahre lang als Redakteur für Belletristik im Feuilleton des literarisch einflussreichen «The New Yorker» tätig, ein nach Bekunden seines ersten Herausgebers «nicht für biedere Leser mit eher provinziellen Vorstellungen gedachtes Magazin». Maxwells ungleich berühmterer Kollege John Updike hat über ihn gesagt: «Seine Stimme gehört zu den klügsten und scharfsinnigsten der amerikanischen Literatur». Gleichwohl hat trotz einer Neuauflage in der SZ-Bibliothek der Autor hierzulande wenig Aufmerksamkeit gefunden, ist fast vergessen inzwischen. Warum, fragt man sich.
Wir haben es hier mit einem klassischen Entwicklungsroman zu tun, der sich von 1923 an zeitlich über fünf Jahre erstreckt und örtlich in Chicago angesiedelt ist. Geschildert wird darin die Phase der Adoleszenz zweier Freunde, die sich in einer Highschool erstmals begegnen. Spud Latham, ein durchtrainierter Draufgängertyp, neu an der Schule, befreit beim Wasserpolo den schmächtigen, verträumten Lymie Peters aus misslicher Lage, er wäre beinahe ertrunken. Aus der schier grenzenlosen Dankbarkeit des intelligenten Lymie entwickelt sich eine tiefe Freundschaft der beiden Jungen, sie sind bald unzertrennlich. Spud lädt den mutterlosen Lymie zu sich nach Hause ein, er wird bei den Lathams wie ein Familienmitglied aufgenommen, gehört wie selbstverständlich dazu. Voller Demut ist Lymie stets hilfreich an Spuds Seite, macht sich nützlich, reicht ihm das Handtuch oder schnürt ihm die Boxhandschuhe zu, auf dem College dann teilen sie sich sogar ein Zimmer. Als Spud sich in Sally verliebt, toughe Tochter eines Professors, entsteht auch zwischen ihr und Lymie eine enge Freundschaft, die Drei verstehen sich bestens. Bis Spud irgendwann eifersüchtig wird, sich daraufhin immer mehr zurückzieht, den Kontakt mit seinem devoten Freund meidet. Im Showdown wird es schließlich dramatisch, endet letztendlich aber doch versöhnlich, ganz nach dem von Hollywood repräsentierten Publikumsgeschmack der damaligen Zeit.
«Zeit der Nähe» lässt sich kaum mit den thematisch ähnlichen Romanen von Hesse, Robert Walser, Musil oder Salinger vergleichen, die ich gelesen habe. Zu nüchtern, geradezu spartanisch wird hier erzählt, ein wenig origineller, typisch journalistischer Stil, ohne die Raffinesse eines Ernest Hemingway allerdings. Die erzählerische Wirkung entsteht weitgehend aus den präzise geschilderten Geschehnissen, was minutiöse Ortsbeschreibungen ebenso einschließt wie die Charaktere der handelnden Figuren. Wobei die Protagonisten trotz allem seltsam blutleer bleiben, man bekommt emotional keinen Zugang zu ihnen, eine Identifikation gar mit ihrer Persönlichkeit findet nicht statt.
Umso ergiebiger ist die im Erzählstoff steckende psychologische Problematik, einerseits eine schon fast ins Homoerotische deutende Intimität zwischen den beiden Freunden, ein klassisches Herr-und-Diener-Verhältnis mit masochistischer Komponente zudem, andererseits jene plötzlich aufbrechende Rivalität, die in ihrer Verschiedenheit begründet liegt. Hinzu kommt der weibliche Störfaktor in Person von Sally, mit der eine fragile Dreier-Konstellation entsteht, die auf Dauer kaum gut gehen kann. Maxwells Fokus ist einseitig auf das Herausarbeiten dieser problematischen Verflechtungen gerichtet, vieles andere bleibt einfach ausgeblendet in seinem Mikrokosmos. Psychologisch interessierte Leser dürften sich wohl fühlen in Maxwells tiefgründiger Seelenlandschaft, plot-orientierte hingegen werden sich langweilen und stilistisch anspruchsvolle werden enttäuscht sein.
Fazit: mäßig
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