Der zweite Jakob

Zum Nutzen des eigenen Schadens

Der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein, der in wenigen Tagen sechzig Jahre alt wird, hat sich mit seinem soeben erschienenen Roman «Der zweite Jakob» quasi selbst ein Geburtstags-Geschenk gemacht. Und so beginnt das Buch denn auch mit den Worten «Natürlich will niemand sechzig werden», die das Lebensgeständnis eines alternden Schauspielers einleiten. Man könnte einen Schlüsselroman darin sehen, in jedem Fall aber dürfte es eine künstlerische Selbstverortung des Autors sein, von der aus er das Leben seines Protagonisten herleitet.

Die Rahmenhandlung dieser Erzählung beginnt mit der Frage einer Tochter, «Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?» Damit bringt sie den Ich-Erzähler, ihren Vater, in arge Verlegenheit. Der erfolgreiche Innsbrucker Schauspieler mit dem Künstlernamen Jakob Thurner, der eigentlich einen Nachnamen mit vier aufeinander folgenden Konsonanten hat, «ähnlich wie Gestirn», steht kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag. Der soll in seinem Tiroler Heimatort groß gefeiert werden, wovor sich der eher menschenscheue Jubilar aber am liebsten drücken würde. Ein Verlag hatte zuvor schon eine Biografie von ihm in Auftrag gegeben, die Gespräche mit seinem Biografen endeten jedoch in einem Desaster, er zog wutentbrannt seine Autorisierung zurück. Der sensationslüsterne Schreiberling hatte nämlich allzu aufdringlich in Jakobs nicht gerade rühmlicher Vergangenheit herumgestöbert. In einer zeitlich Ende der achtziger Jahren angesiedelten, zweiten Handlungsebene erzählt Jakob von einem Filmdreh bei El Paso, nahe der amerikanisch-mexikanischen Grenze, bei dem er eine tragende Rolle als Frauenmörder hatte. Während der Drehtage in New Mexico kam es zu einem tödlichen Autounfall in der Wüste, bei dem Jakob nur Beifahrer war, sich aber wegen unterlassener Hilfeleistung und gemeinsamer Fahrerflucht zumindest mitschuldig gemacht hat.

Diese Schuld lässt ihn nicht los, obwohl seitdem Jahrzehnte vergangen sind. Es gibt aber noch ein weiteres Problem für ihn, denn er hatte in einem Interview seine Familie mal als Faschisten bezeichnet. Das nimmt man ihm in seinem Heimatdorf auch heute noch übel, er ist seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen. Überhaupt ist Jakob ein schwieriger Mensch, er hat drei Ehen hinter sich, das Verhältnis zu seiner Tochter ist äußerst problematisch, er ist ein Eigenbrödler durch und durch. Das hier mit dem Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers angestimmte, literarische Vexierspiel entlarvt den Protagonisten als elegischen Schwächling, der alles andere als sympathisch wirkt. Die von Norbert Gstrein eifrig betriebene Dekonstruktion seines psychisch schwer einschätzbaren Romanhelden ist voller literarischer und historischer Anspielungen und Verweise. Sogar ein späterer US-Präsident kreuzt seinen Weg, in dem unschwer George W. Bush zu erkennen ist. Und von Jakob wird erzählt, dass er eine Rolle als Frauenmörder in einem Spielfilm abgelehnt habe, die dann der amerikanische Filmstar John Malkovich mit Freuden übernommen hat.

Jakobs Lebenslüge erweist sich als handfeste Tragödie, die hier geradezu kammerspielartig in Szene gesetzt ist und ganz unaufgeregt, fast schon beiläufig erzählt wird. Er steht vor den Trümmern seiner psychischen Existenz, insbesondere weil er sich als zweiter Jakob fühlt. Sein gleichnamiger Onkel war geistig zurückgeblieben und wurde von ihm oft gehänselt, wie er reumütig bekennt. Während der Nazizeit hatte die Familie ihn dann ins Heim gegeben, dort war er allerdings später von Euthanasie bedroht. Es gibt so manche Ungereimtheit bei den vielen Nebenfiguren, bei der von Mörderbanden bedrohten Prostituierten in Mexico zum Beispiel, oder der kurzen Affäre mit der dreißig Jahre jüngeren Kollegin. «Er handelt zum Nutzen des eigenen Schadens aus trotzigem Stolz» hat der Autor über Jakobs zwielichtige Rolle in diesem Spiel mit Identitäten erklärt. ‹Nur keine Wirklichkeit zulassen› scheint das Motto dieses eher verstörenden Romans zu sein.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Eine Ahnung vom Anfang

gstrein-1Vorsicht Bücher

Büchern scheint in Norbert Gstreins Roman mit seinem bedeutungsschweren Titel eine geradezu magische Rolle zuzukommen, immer wieder liegen sie zufällig irgendwo herum, Dutzende von ihnen werden erwähnt oder es wird darüber gesprochen, ja es werden sogar zwei Romane geschrieben in diesem Plot, einer vom Protagonisten und einer vom Ich-Erzähler. Letzteren Text halten die Leser gerade in den Händen, erklärt uns der Autor. Gefahren drohen, weil manche dieser Bücher so machtvoll werden, dass sie jugendliche Leser auf falsche Fährten führen, ihr Leben unheilvoll beeinflussen. Lädt also ein Deutschlehrer Schuld auf sich, so ist zu fragen, wenn er seinen Schülern gewisse Bücher empfiehlt, sie ihnen sogar aus seiner eigenen Bibliothek zur Verfügung stellt? Und damit dann womöglich Entwicklungen heraufbeschwört, die sich im Nachhinein als durchaus unheilvoll erweisen können? Es ist seine «Ahnung vom Anfang», die auf ihn wartende typisch bürgerliche Biografie nämlich, die den jungen Helden dieses Romans zu seiner Flucht ins Irreale treibt.

In der Rolle eines Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nicht mehr zu bändigen weiß, glaubt sich der personale Erzähler zu befinden mit seinem hochintelligenten Schüler Daniel. Zwischen beiden besteht eine vermutlich nicht ausgelebte homoerotische Verbindung, der Autor lässt den Leser da im Dunkeln in bester Thomas-Mann-Tradition, und das ist gut so, um mit Klaus Wowereit zu sprechen, denn es gehört einfach nicht zum Thema. Daniel nämlich mit seiner angelesenen skeptischen Weltsicht gerät in die Fänge zweier Seelenretter. Zunächst ist da ein missionarischer Religionslehrer, der ihn während einer Israel-Reise zu einer naiven Religiosität bekehren will, später wird er dann auch noch von einem fanatischen amerikanischen Endzeitprediger quasi einer Gehirnwäsche unterzogen. Er wandelt sich zum nicht mehr ernst zu nehmenden Sonderling, ist von der Vernunft her kaum noch ansprechbar, bricht sein Mathematik-Studium ab, seine Handlungen werden immer unverständlicher, er verschwindet monatelang, ohne zu sagen wohin. Man traut ihm schließlich sogar eine Bombendrohung zu, die beschauliche Tiroler Kleinstadt ist in heller Aufregung deswegen. Sogar sein ehemaliger Deutschlehrer wird scheel angesehen, gerät in den Verdacht der Komplizenschaft. Der psychologisch bewanderte Polizist des Ortes erweist sich als erstaunlich kompetent in terroristischen Denkweisen, die in der Zerstörung einen Weg suchen, ihre Ideen bekanntzumachen, ihre Ideale durchzusetzen.

Auch der Ich-Erzähler driftet in diesem tiefsinnigen Roman immer weiter aus der Realität hinaus, erzählt, am Schüler Daniel gespiegelt, seine eigene Geschichte, die kaum weniger realitätsfern erscheint. Die zwei Handlungsstränge sind eng miteinander verwoben, in beiden gibt es Selbstmorde, Bedrohliches, Trennungen, Scheitern. Die Zusammenhänge bleiben aber mehr oder weniger undeutlich, sind teilweise nur zu ahnen, eine recht unscharfe Erzähllinie des Autors, die nicht jedermanns Sache sein dürfte, auch wenn es, in Maßen, spannend bleibt. Die überaus ambitionierte Thematik wird sprachlich perfekt umgesetzt in diesem Roman, seine Figuren sind klar gezeichnet, allzu viel Empathie können sie allerdings nicht wecken beim Leser.

Der skeptische, eher distanzierte und völlig humorfreie Erzählstil des Autors lässt leider keine wirkliche Lesefreude aufkommen. Dafür erfreut die Lektüre durch ihren geistigen Tiefgang umso mehr, regt zum Nach- und Weiterdenken an mit einer Thematik, die schließlich jeden von uns ganz persönlich betrifft. Unwillkürlich ist man zum Vergleich mit dem eigenen Lebensweg gedrängt und mit den Umständen, die an seinem Anfang vorlagen, und dass wir vielleicht sogar schon so etwas wie eine Ahnung davon hatten.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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