Bugatti taucht auf

loher-1Lektüre mit Bonus

Wer je die herrlichen Oldtimer der Collection Schlumpf in Mühlhausen gesehen hat, dürfte die Erregung nachvollziehen können, die der Name Bugatti bei mir auslöst als geradezu idealtypische Verkörperung anekdotenreicher Automobilgeschichte. Die aufsehenerregende Bergung des mysteriösen Autowracks im Lago Maggiore vor Ascona, die diesem Buch seinen Titel gab, ging seinerzeit durch alle Medien. Nachdem die erfolgreiche Dramatikerin Dea Loher mit ihrem Debütroman gleich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises aufgetaucht ist, ähnlich spektakulär wie das 75 Jahre alte Bugattiwrack auf dem Umschlagbild, war die Lektüre vollends unaufschiebbar geworden für mich.

Realer Hintergrund des Romans ist neben der Bergung der sinnlose Totschlag eines jungen Mannes während der Fasnacht in Ascona. Die Autorin erzählt ihre klar gegliederte Geschichte chronologisch korrekt in drei Abschnitten, die sich sowohl vom Umfang als auch vom Schreibstil her deutlich unterscheiden. In dem für mich schwächsten und Gott sei Dank kurzen ersten Abschnitt gewährt sie in tagebuchartiger Form einen Einblick in die depressiven Nöte des Bruders von Ettore Bugatti, die im Selbstmord enden. Dem Roman würde nichts fehlen, hätte die Autorin diese 25 Buchseiten einfach weggelassen, sie tragen rein gar nichts bei zu ihrer ansonsten klug geformten Geschichte.

Der zweite Abschnitt ist mit „Der Mord“ betitelt. In neun Kapiteln sauber gegliedert ist der Autorin die minutiöse Schilderung der Vorgeschichte und der unfassbaren Umstände einer verhängnisvollen tödlichen Prügelei meisterhaft gelungen, das ist spannend zu lesen wie ein Krimi. Besonders die im Futur abgefassten, die Gerichtsverhandlung vorwegnehmenden Aussagen der reuelosen Schläger sind beklemmend, man ist entsetzt und völlig sprachlos. Nicht minder gut gelungen ist der dritte Abschnitt über die Bergung des Bugatti, und hier nun laufen die Fäden zusammen, die Hebung des Wracks erfolgt zum Gedenken an das Opfer. Jordi, der unerschütterliche Protagonist dieses mehr als die Hälfte des Romans umfassenden Abschnittes, will mit seiner zunächst aussichtslos erscheinenden Aktion dem geschehenen Bösen das Gute entgegensetzen als Signal, will der Tragödie wenigstens nachträglich etwas nehmen von ihrer Sinnlosigkeit.

Auch wenn ich meinen ganz persönlichen Bugatti-Bonus abziehe ist der klug aufgebaute Roman eine lesenswerte, anschaulich geschriebene und mit ihren vielen sorgfältig recherchierten Details durchaus bereichernde Lektüre, die seine Leser angenehm unterhält.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Wallstein Göttingen

Das Treffen in Telgte

grass-2Gestern wird sein, was morgen gewesen ist.

Mit diesem Satz beginnt die Erzählung, ein vergnüglicher Beitrag zur Schlüsselliteratur, obwohl der Klappentext das strikt verneint. Auch wenn «Das Treffen in Telgte» nicht gerade zu den erfolgreichen Büchern von Günter Grass gehört, sagt das ja bekanntlich nichts über literarische Qualitäten aus. Schon das von ihm selbst gezeichnete Titelbild einer Hand, die eine Schreibfeder hält, weist treffend auf die Thematik hin, es geht um die Dichtkunst in Zeiten, als man dazu noch Federkiel und Tinte brauchte. Ein Jahr vor den sehnlich herbei gewünschten Friedensschlüssen von Münster und Osnabrück, die den Dreißigjährigen Krieg beenden werden, im Jahre 1647 also, lädt Simon Dach, ein Königsberger Dichter, eine Reihe von Kollegen zu einem Treffen ein, an dem auch einiger ihrer Verleger teilnehmen. Das Buch ist erklärtermaßen eine Hommage an Hans Werner Richter, Grass hat es dem Gründer und Spiritus Rector der Gruppe 47 gewidmet. Er selbst war ja ein prominentes Mitglied und hat mit einer Lesung aus «Die Blechtrommel» in diesem Kreis seinen künstlerischen Durchbruch erlebt, ihm wurde der «Preis der Gruppe 47» verliehen, ein literarischer Ritterschlag zu jener Zeit.

Kurzerhand lässt Grass in seiner humorigen Erzählung eine ähnliche Zusammenkunft einfach dreihundert Jahre früher stattfinden, als Vorläufer quasi, bei der sich eine erlauchte Schar von barocken Wortsetzern in Telgte trifft, ganz in der Nähe vom Ort der Friedensverhandlungen im westfälischen Münster. Ein Ausweichquartier, nachdem der ursprünglich geplante Tagungsort von den Schweden in Beschlag genommen ist. Christoffel Gelnhausen, rotbärtiger und blattergesichtiger Führer eines Kommandos kaiserlicher Reiter und Musketiere, bietet uneigennützig seine Dienste an und vertreibt mit einer frechen Lüge in einer Nacht- und Nebelaktion sämtliche im Gasthaus einquartierten Gäste.

Die folgenden Tage sind nun ausgefüllt mit Lesungen der mehr als zwanzig anwesenden Poeten, die ganz im Stil der Gruppe 47 in anschließenden Diskussionen die Texte bewerten. Erzählt wird all das von einem namenlos bleibenden Ich-Erzähler, der selbst nicht in das Geschehen eingreift, sich lediglich als Chronist eines wichtigen Ereignisses sieht. Ausgiebig wird von den besorgten Dichtern auch das politische Chaos jener Zeit diskutiert und die Verwüstungen ganzer Landstriche als Folge der jahrzehntelangen Kampfhandlungen beklagt. Trotzig sieht man Sprache und Literatur als über den weltlichen Niederungen stehende, autonome Instanz von bleibendem Wert, erhaben in ihrer geistigen Fülle, dem Zeitlauf im besten Fall auf ewig entrückt. Von dieser Warte aus will man einen gemeinsamen Friedensaufruf formulieren, was erst nach langwierigen redaktionellen Überarbeitungen gelingt.

Günter Grass hat seine herrliche Geschichte in einer geradezu barocken Sprache verfasst, die einerseits seine fundierten Kenntnisse der Literatur aus jener Zeit belegt, andererseits aber auch unübersehbar ironisch wirkt durch einen ausgeprägt rhetorischen Stil, der ohne direkte Rede auskommt. Insoweit ist diese Erzählung keine leichte Lektüre, vor allem dann, wenn zitiert wird in einem damals noch keinen Duden-Regeln unterworfenem «Teutsch». Im umfangreichen Anhang sind weitere Texte der versammelten Poeten abgedruckt, die ihrerseits Zeugnis davon abgeben, in welchen mundartlichen Färbungen die gedruckte deutsche Sprache zu jener Zeit verbreitet wurde. Wer auch nur ein bisschen Geduld aufbringt, sich da einzulesen, wird zusätzlich belohnt, kommt vielleicht sogar auf den Geschmack und liest der «Simplicissimus» von Grimmelshausen, den Grass als Christoffel Gelnhausen listenreich ebenfalls in seine sehr wohl verschlüsselte Geschichte eingebaut hat, in der man auch so manchen seiner Weggenossen wiedererkennen kann.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Betrug

karasek-1Così fan tutte

Was sich hinter dem Buchtitel «Betrug» verbirgt ist ein uraltes Menschheitsthema, nichts Kriminelles, dem sich Autor Hellmuth Karasek da mutig stellt, wohl weil er als Literaturkenner über die Probleme zwischen Mann und Frau bestens Bescheid zu wissen glaubt. Liebe sei, erfährt man in seinem Roman, schließlich das Thema Nummer eins in der Literatur. Hier nun steht das gestörte Liebesverhältnis im Mittelpunkt, es ist der Betrug des Partners und seine Folgen, denen er sich widmet. Der Autor wendet sich dabei auch den wirtschaftlichen Folgen des Betrugs zu, bezieht den finanziellen Niedergang seines Protagonisten und die letztendlich materiellen Motive seiner Geliebten mit in seine Handlung ein.

Robert, der Held der Geschichte, Prototyp des Schürzenjägers, freischaffender Drehbuchautor, Essayist und gelegentlicher Rezensent in Hamburg, ist beruflich wenig erfolgreich, seinen gleichwohl hohen Lebensstandard verdankt er seiner wohlhabenden Ehefrau. Katta, zweite Frau des früh verwitweten Bankers Harald, mit dem Robert befreundet ist, macht ihm plötzlich Avancen, die Beiden beginnen ohne Zögern eine heiße Affäre. «Robert liebte seine Frau, und sie liebte ihn – bestimmt. Er hatte wahrlich keinen Grund, sie zu betrügen, aber er betrog sie bei jeder Gelegenheit. Danach peinigten ihn jedes Mal unbequeme Schuldgefühle». Ein guter Freund hatte ihm vor Jahren «kategorisch erklärt, so als handele es sich um ein naturwissenschaftliches Gesetz, dass man eine Frau maximal sieben Jahre sexuell begehren könne», Seitensprünge also etwas ganz Normales seien. Die nun folgenden heimlicher Treffen der beiden Untreuen sind von der ständigen Gefahr der Entdeckung bestimmt, wobei Robert eine panische Angst davor hat, die Katta geradezu lächerlich findet. Man streitet sich deswegen, trennt sich sogar, findet aber immer wieder zueinander, der tolle Sex zwischen ihnen ist gar zu verlockend. Bald aber stellt der gehörnte Freund ihn doch zur Rede, wenig später zieht Harald mit seiner Frau Katta nach München, die ehebrecherische Beziehung ist damit beendet.

Aber Robert kommt nicht von Katta nicht los, kann nicht verwinden, dass ihm seine Beute abhanden gekommen ist. In seiner Frau sieht er nur noch den Hemmschuh für sein Glück, sie ist es, die alles kompliziert gemacht hat für ihn, die wie ein Racheengel allem im Wege stand. Er verlässt sie ohne Abschied und geht auch nach München, sucht Katta und stellt fest, dass die inzwischen einen anderen Geliebten hat. Schließlich finden die Beiden aber doch wieder zusammen, wobei Robert sie über seine prekäre finanzielle Lage im Unklaren lässt, er schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und lebt in ärmlichsten Verhältnissen, deren er sich schämt. Katta trennt sich von ihrem Mann, der neue Geliebte aber denkt nicht daran, Frau und Kind zu verlassen und mit ihr zusammen zu ziehen. «Komm, lass uns fort, nur für ein paar Tage», überredet sie Robert und fährt mit ihm in ein sündhaft teures Hotel am Starnberger See, nichtsahnend, dass er sich das eigentlich gar nicht leisten kann. «Jetzt haben wir es endlich geschafft» sagt sie am Morgen, aber Robert ist alles andere als glücklich. Er würde am liebsten alles ungeschehen machen und in den Schoß der Familie zurückkehren – und damit zu den finanziellen Quellen für sein sorgloses Leben. Und auf Katta wartet ein böses Erwachen.

Von Thornton Wilder stammt die Erkenntnis, im Leben der allermeisten Menschen gäbe es nichts anderes als «Geldverdienen, Genüsse und Gequatsche». Und genau dem entspricht auch dieser Roman, er ist nämlich Trivialliteratur durch und durch. Literarische Qualitäten sind keine auszumachen in dieser banalen Erzählung, weder die Thematik ist originell noch der Plot, und sprachlich hat der Autor einfach dem oben erwähnten Volk aufs Maul geschaut und darauf geachtet, es intellektuell nicht zu überfordern, gedankliche Tiefe findet sich nirgends im Roman, – der Auflage wegen, vermute ich mal.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Der bunte Schleier

maugham-1In der ersten Reihe zweitklassiger Autoren?

Dieser 1925 erschienene Roman des britischen Schriftstellers folgte zehn Jahre nach seinem oft als sein bestes Werk bezeichneten Buch «Der Menschen Hörigkeit». Mit vielen Millionen verkauften Büchern war der auch als Theaterautor bekannte William Somerset Maugham einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit, seinem ja auch nicht gerade erfolglosen Zeitgenossen Thomas Mann einiges voraus damit. Dass er sich selbst als zweitklassig sah, «in the very first row of second class writers», wie er das ziemlich sarkastisch, very british eben, selbst ausdrückte, steht nicht im Widerspruch zum Erfolg, denn hohe Auflagen sind und waren noch nie ein echtes Qualitätsmerkmal der Literatur. Dieser Selbsteinschätzung des Autors kann ich für «Der bunte Schleier» nur zustimmen, der Roman gehört wirklich nicht in die Kategorie literarisch hochstehender Werke. Was mich doch einigermaßen überrascht hat, denn die Lektüre des dem Alterswerk zuzurechnenden Romans «Auf Messers Schneide» habe ich als recht erfreulich in Erinnerung. Das als Titel für meine Rezension herangezogene generalisierende Zitat des Autors über seinen literarischen Rang habe ich deshalb vorsorglich mal mit einem Fragezeichen versehen.

Doch nun zu «Der bunte Schleier», eine Erzählung, die, wen wundert’s bei einem so weitgereisten Autor, nicht nur im Mutterland, sondern auch im kolonialen Außenbereich des britischen Empire spielt, in China. Erzählt wird die Geschichte einer schönen jungen Frau, die abweisend und hochmütig beinahe den richtigen Zeitpunkt zum Heiraten verpasst und dann in Panik kurz entschlossen dem Nächstbesten ihr Jawort gibt. Dabei gerät Kitty ausgerechnet an einen sterbenslangweiligen, merkwürdig gehemmten Bakteriologen, der sie vergöttert, für den sie aber rein gar nichts empfindet. Und es kommt, wie es kommen muss, sie hat eine leidenschaftliche Affäre, die nicht unentdeckt bleibt. Ihr Mann zwingt sie zur Entscheidung, der Liebhaber jedoch erweist sich als Feigling, und so folgt sie todunglücklich ihrem Mann, der in der chinesischen Provinz bei der Bekämpfung einer Cholera-Epidemie helfen will. In dieser fremden Welt reift die oberflächliche Frau, und ihre Wandelung bringt sie erstmals auch ihrem Mann näher. Ein klassischer Entwicklungsroman mithin, in dem Maugham als studierter Arzt seine medizinischen Kenntnisse ebenso einbringt wie seine Erfahrungen als viel gereister Geheimagent des britischen MI6 im Ersten Weltkrieg.

Es geht um die Liebe, den Sinn des Lebens und den Tod, um emotionale Konflikte und essentielle Lebenskrisen in diesem Roman, der, wie viele andere dieses Autors auch, schon mehrfach verfilmt wurde. Man kann ihn als interessante Charakterstudie sehen, in der die Heldin zusehends reift und als Mensch an innerer Stärke gewinnt, Profil bekommt. Sprachlich gehört der Roman zu den sehr flüssig zu lesenden Büchern, ohne deshalb seicht zu sein, leider wird er allerdings auch nicht gerade amüsant und leichtfüßig erzählt. Die Dialoge sind stimmig und oft überraschend prägnant, was ich als eine sehr erfreuliche Facette dieses Romans empfunden habe, und auch der Plot ist immer nachvollziehbar, mit seinen unerwarteten Wendungen zuweilen sogar spannend.

Die klug konstruierte Geschichte erweist sich im Rückblick aber nicht gerade als anregend, wird sie doch so umfassend und in allen ihren Aspekten abgehandelt, dass der Fantasie des Lesers kaum noch Spielraum bleibt zum Sinnieren und Weiterdenken. Und so wirkt die Lektüre auch nicht nach, wenn man das Buch ausgelesen hat, man kann sofort ein neues beginnen. Was ja eigentlich schade ist! Denn wie beim Wein den sogenannten Abgang, die Gaumenfreude am Nachgeschmack also, wenn die Flüssigkeit bereits die Kehle passiert hat, so schätze ich bei der Lektüre die Gedanken, die sich einem unwillkürlich aufdrängen und das Hirn noch lange beschäftigen, wenn man ein Buch längst weggelegt hat.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Die Freistatt

faulkner-2Ein sperriges Prosawerk

Im Werk von William Faulkner nimmt «Die Freistatt» eine Sonderrolle ein, gedacht als Garant für hohe Auflagen durch Sex and Crime, darf man vermuten, denn 1931, als der Roman erschien, wurde allein schon seine Thematik als anrüchig betrachtet im prüden Amerika. Mit feiner Ironie schildert der spätere Nobelpreisträger im Pulp-Fiction-Stil eine wilde Geschichte, in der die damals in den USA verhängte Prohibition Auslöser ist für Schwarzbrennerei und für das daraus entstehende kriminelle Umfeld. Wie üblich bei Faulkner ist sein Roman in den Südstaaten angesiedelt, im Bundesstaat Mississippi, genauer im Yoknapatawpha County, einem von seinen anderen Romanen her wohlbekannten, fiktionalen Verwaltungsbezirk. Mit Gewaltexzessen wie Mord, Vergewaltigung, Lynchmob und mit Unmoral in Form von Nymphomanie, Voyeurismus und Prostitution enthält der Roman typische Zutaten von Schundliteratur, er wurde bei seinem Erscheinen denn auch dementsprechend behandelt. Mit Recht?

Keineswegs, merkt man als Leser schon nach wenigen Zeilen, denn Faulkners Sprache ist anspruchsvoll und hochkomplex, alles andere als leicht zu lesen also, womit der Pulp-Fiction-Verdacht von vornherein ausgeräumt ist. André Malraux spricht bei diesem Roman vom «Einbruch der griechischen Tragödie in den Kriminalroman». Seine Figuren erinnern in ihrer Schicksalhaftigkeit in der Tat an die großen Dramen der Antike, ihre Determiniertheit ist bedingt durch ein unabänderlich scheinendes, schreckliches Geschehen, das kaum aufzuhalten ist. Erzählt wird auktorial in einem chronologischen Handlungsfluss, der durch viele Rückblenden angereichert ist, deren Zuordnung sich allerdings häufig als recht schwierig erweist, dem Leser also die volle Konzentration abverlangt. Die Dialoge werden oft in unvollständigen, wie abgehackt wirkenden Sätzen geführt und enden dann typischerweise mit — , womit recht treffend die Alltagssprache abgebildet wird in ihrer unkorrekten Syntax. Häufig bleibt unklar, wer da eigentlich spricht, die Dialoge sind durch lapidar verwendete Personalpronomina oder vage Bezeichnungen wie «die Frau» nur mühsam nachvollziehbar.

Ausgangspunkt der komplizierten, hier nur stichwortartig wiedergegebenen Handlung ist eine einsam gelegene Schwarzbrennerei. Ein junges Pärchen strandet dort wegen einer Autopanne und befindet sich nun in Gesellschaft finsterer Gestalten, die den jungen Mann mit Alkohol bewusstlos machen und begehrlich nach dem Mädchen schielen. Einer der Männer, der sie beschützen will, wird erschossen, sie wird mit einem Maiskolben defloriert, missbraucht und in ein Bordell nach Memphis verschleppt. Der des Mordes angeklagte Betreiber der Schwarzbrennerei wird wegen einer bewussten Falschaussage des inzwischen zum verwöhnten Gangsterliebchen verwandelten Mädchens schuldig gesprochen und von einem Lynchmob verbrannt, der wahre Täter, Entführer und impotente «Besitzer» des Mädchens wird, ohne sich verteidigt zu haben, wegen eines anderen Mordes gehängt, den er nicht begangen haben kann.

Faulkner deutet alles Brutale oder Anstößige nur verschämt an in seiner pathetischen Geschichte, er verlässt sich dabei voll auf die Phantasie seiner Leser. Der komplexe Plot handelt im Wesentlichen von menschlicher Schuldhaftigkeit, lässt aber auch ganz versteckt das Gute hervorschimmern aus seinen Figuren. Nicht leicht zu lesen das Alles, man erlebt ein an antike Vorbilder erinnerndes Südstaatendrama des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts, dessen Feinheiten sich einem nur durch detektivische Mitwirkung erschließen. Das sperrige Prosawerk dürfte also nicht jedermanns Sache sein, für mich selbst war es weder eine bereichernde noch gar eine erfreuliche Lektüre.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Ein Portrait des Künstlers als junger Mann

joyce-1Per aspera ad astra

Wie anders ist doch diese Geschichte als das betulich erzählte «Unterm Rad» von Hesse oder die verstörenden Erlebnisse, von denen Musil in «Die Verwirrungen des Zöglings Törless» berichtet! In mehr als zehn Jahren entstand über die Zwischenstufe der eher konventionell erzählten Erstfassung «Stephen Hero» schließlich der Roman «Ein Porträt des Künstlers als junger Mann», welcher als Debüt nun aber literarisch bereits vieles enthält, was James Joyce als Schriftsteller kennzeichnet. Sogar die Figur des autobiografisch inspirierten Protagonisten Stephen Dedalus findet sich später als eine der drei Hauptgestalten im «Ulysses» wieder, dem Jahrhundertroman, der seinen irischen Autor weltberühmt gemacht hat. Ist nun dieser Entwicklungsroman mit seinem deskriptiven Titel, der gleichermaßen auf die Kategorie Künstlerroman hinweist, eine empfehlenswerte Erstlektüre zur Entdeckung dieses großen Schriftstellers? Eindeutig ja, sie könnte sich literarisch sogar als eine Einstiegsdroge erweisen!

Stephen scheint unrettbar im Sumpf eines orthodoxen Katholizismus gefangen. Die aus seiner Perspektive erzählte Geschichte beginnt mit der frühen Kindheit in einem wohlhabenden Elternhaus, das später allmählich verarmt, nicht zuletzt auch durch die Trunksucht des Vaters. Er besucht ein katholisches Internat, wo er einer streng religiösen Erziehung unterworfen ist, die ihm keinerlei geistigen Spielraum lässt in ihrer ebenso unbeirrbaren wie unnachsichtigen Dogmatik. Mit einem für Atheisten wie mich geradezu lachhaft anmutenden Ernst lässt der Autor die geistlichen Lehrkräfte in ausgedehnten Passagen naiv dümmlich zum Beispiel über die Hölle erzählen. Jenem Ort, ohne den die monotheistischen Kirchen den mit Abstand gewichtigsten Teil ihrer selbst angemaßten Legitimation verlieren würden. In endlosem Palaver wird über die großen Figuren der Kirchengeschichte berichtet, jene Heiligen und Seligen, die den Schulknaben als Vorbilder dienen sollen, wortreich wird über Sünde, Beichte, Reue und Absolution gefaselt und gelogen. Es grenzt an ein Wunder, dass unser Held, auf der Suche zu sich selbst, zu seiner ganz eigenen Gefühlswelt, dieser Zuchtanstalt und dem anschließenden jesuitischen College geistig und seelisch heil entkommen kann. Die Aufnahme in den Mönchsorden lehnt er ab, entflieht den Autoritäten und Konventionen, wählt stattdessen die geistige Freiheit eines Studenten der Künste in Dublin.

Dieses Abstreifen von familiären und religiösen Zwängen und nicht zuletzt auch von den sexuellen Nöten eines Pubertierenden führt im weiteren Verlauf der Geschichte zu tiefsinnigen, köstlich freimütigen Disputen unter den Kommilitonen über irische Geschichte und Politik, über philosophische Themen, das Wesen und die Funktionen der Kunst, über Theorien der Ästhetik von der Antike bis zur Neuzeit. Joyce brilliert hier mit kühnen Gedankengängen und intelligenten Folgerungen in einer hoch komplexen Sprache. Die nun allerdings dem Leser nicht nur einiges abverlangt an geistiger Mitwirkung, sondern zu vollem Verständnis und mentalem Genuss auch eine adäquate Wissensbasis voraussetzt, die andernfalls durch fleißige Recherche ersetzt werden muss. Sprachlich ist hier ein Könner am Werk, der metaphernreich zu erzählen weiß, äußerst stimmige Bilder erzeugt im Kopf des Lesers, immer wieder überraschende Assoziationen hervorruft.

Dazu benutzt er als einer der Ersten wirkungsvoll den Bewusstseinsstrom, ein Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts neues Stilmittel, das den Beginn des modernen Romans markiert. Es verleiht dem Erzählten hohe Authentizität, dieser Roman zeugt eindrucksvoll davon. Lustvolle Lautmalereien mit Wörtern und eigene Wortkreationen, die man in keinem Lexikon findet, ergänzen all dies und stellen nicht nur an die Übersetzer der Prosa von Joyce hohe Ansprüche, sie beflügeln auch – per aspera ad astra – den geneigten Leser, sofern er Antennen hat für sprachliche Finessen jenseits des Konventionellen.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Manesse Zürich

Die Buchhandlung

fitzgerald-p-1Ein Lehrstück über das Scheitern

Als beinahe Sechzigjährige hat die englische Schriftstellerin Penelope Fitzgerald geborene Knox 1975 ihr erstes Werk veröffentlich, der literarische Spätstart einer Tochter aus gutbürgerlichem Elternhause. Über ihren Vater und seine drei Brüder, alle geistig hoch stehende Persönlichkeiten, hat sie unter dem Titel «The Knox Brothers» sogar eine Biografie geschrieben. Autobiografisch geprägt ist auch «Die Buchhandlung» von 1978, ihr, wie sie selbst sagte, «erster richtiger Roman», angeregt durch eine Episode aus ihrem Leben. Er erschien erst 22 Jahre später auch auf Deutsch, das inspirierende Titelbild der aktuellen Taschenbuchausgabe ist durchaus geeignet, viele Buchfreunde spontan zur Lektüre zu animieren. Mir ging es jedenfalls so, und ich habe es nicht bereut, soviel sei hier schon gesagt.

Eine allein stehende Frau mittleren Alters beschließt, in einer englischen Kleinstadt eine Buchhandlung zu eröffnen, zeitlich ist der Plot 1959/60 angesiedelt. Von diesem, vielen Mitbürgern völlig absurd erscheinenden Vorhaben lässt sie sich weder durch widrige Umstände noch durch diverse Rückschläge abbringen. Sie ist überzeugt: «Wenn man alles gibt, was man hat, muss man doch zu Erfolg kommen». Dieses Streben nach dem ideal Wünschbaren findet sich als Motiv auch in anderen Werken der Autorin. Sie selber nennt ihr Buch einen «kurzen Roman mit einem traurigen Ende», der letzte Satz des Romans unterstreicht das: «Als der Zug aus dem Bahnhof hinausfuhr, hielt sie den Kopf gesenkt vor Scham, dass die Stadt, die fast zehn Jahre lang ihr Wohnort gewesen war, keine Buchhandlung gewollt hat».

In einer knappen, fast lakonischen Sprache schildert die Autorin das Geschehen ruhig und gelassen, gewürzt mit schwarzem, typisch englischem Humor, der den Leser häufig schmunzeln oder sogar laut auflachen lässt. Landschaft und Atmosphäre der kleinen Stadt sind liebevoll und stimmig, aber nüchtern, ohne blumige Wendungen beschrieben, man erfährt auch erstaunlich wenig über die Protagonistin Florence Green. Weite Teile der Handlung erschließen sich zudem aus den immer wieder amüsanten, lebensechten Dialogen. Das Figurenensemble besteht aus kauzigen Typen, Solitäre zumeist in einer sozialen Gruppe, in der das Gute wie das Böse gleichermaßen zu Hause ist, in der es menschelt allenthalben. Große Literatur wird nicht thematisiert in diesem Roman, einzige Ausnahme bildet Vladimir Nabokovs «Lolita», ein sensationeller Erfolg auch für die kleine Buchhandlung, ansonsten dominieren als Umsatzbringer Sachbücher und Trivialliteratur. Die als Ergänzung des Sortiments angebotenen Ansichtskarten unterstreichen noch das Profane, eine tatkräftige, clevere Schülerin, die aushilfsweise mitarbeitet, verabscheut Bücher sogar, sie liest nur Comic-Hefte.

Schon im ersten Absatz erwähnt die Autorin das Scheitern am Beispiel eines Reihers, der einen Aal zu verschlingen sucht, was ihm aber nicht gelingt, der Aal windet sich in seinem Schnabel, er kann ihn nicht hinunterschlucken. «Keines der beiden Geschöpfe konnte den Kampf für sich entscheiden, ihr Anblick war zum Erbarmen. Sie hatten sich zuviel vorgenommen». Dieses Bild raubt ihr den Schlaf in einer Nacht, in der sie um die Entscheidung für ihre Buchhandlung ringt. Als scharfe Beobachterin entlarvt Fitzgerald eine unredliche, gedankenlose, egoistische, gefühlsarme, engstirnige Gesellschaft von Kleinbürgern, demontiert gnadenlos das gängige Klischee von der ländlichen Idylle. Ihr trockener Humor entwickelt sich in dieser Tragikkomödie vor einem traurigen Hintergrund, die eingestreuten Reflexionen sind oft nur Andeutungen, die ihrer surreal angereicherten Geschichte eine erstaunliche Tiefe verleihen. Umgeben von korrupten Anwälten, ehrlosen Bankangestellten, verlogenen Mitmenschen und undankbaren Kunden, bleibt die tragische Heldin in ihrer unbeirrten Geradlinigkeit sich selbst treu bis zum bitteren Ende, sie ist die moralische Gewinnerin im Kampf um ihren Buchladen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Edmond

leupold-2Eine Nabelschau

Ihrem 1992 erschienenen Debütroman «Edmond» hat die damals 37jährige Dagmar Leupold den Titelzusatz «Geschichte einer Sehnsucht» beigefügt, womit sie das Genre ihres Erstlings von vornherein definiert hat: es handelt sich um einen Liebesroman. Und wer die Vita der Autorin anschaut, dem drängen sich so manche Übereinstimmungen auf zwischen ihr und ihrer namenlos bleibenden Ich-Erzählerin. Ob ihre Geschichte also autobiografisch ist oder doch fiktional, bleibt somit fraglich, – es ist aber auch ziemlich egal, wenn’s nur gut ist. Ist es das?

Wie eine äußere Klammer umgibt eine bevorstehende Geburt die viele Jahre zurückliegende innere Erzählung, ein Stilmittel der Autorin, das sie später in ihrem Roman «Unter der Hand» ganz ähnlich benutzt hat. «Mit jeder Stunde, die vergeht, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass mein Kind in die Schlagzeilen gerät» lautet der erste Satz. Denn es ist der letzte Dezembertag des Jahres 1999, das Ungeborene könnte also medienwirksam als das erste Baby des Jahrtausends auf die Welt kommen. Ob es so war, bleibt ungewiss. Denn der Roman endet mit den Sätzen «Einundzwanzig Stunden nach der ersten Wehe kommt mein Sohn auf die Welt. Er gleicht niemandem». Die Frage nach dem Vater bleibt offen. «Viele Jahre nach unserer Liebesgeschichte (sie liegt jetzt neun Jahre zurück, und eigentlich hat er die Frau schon während unserer Geschichte kennengelernt) hat Edmond eine Frau geheiratet, deren Gefühlskompass intakt war».

Nun zur inneren Geschichte: Im Zug nach Paris lernt eine junge Schriftstellerin Edmond aus der Dominikanischen Republik kennen, einen muskulösen Sportlehrer, der in den USA studiert hat. Es ist Liebe auf den ersten Blick, schon am Gare de l’Est geben sie sich den ersten Kuss. Die fast ohne Dialoge erzählte Geschichte ist an sich belanglos, man liest sie nicht der Handlung wegen und begeht also auch keinen die Spannung zerstörenden Verrat, wenn man sie hier kurz skizziert. Die Beiden verbringen einige Wochen in Paris, gehen dann gemeinsam nach New York. Auf einer Party bei Edmonds Kollegin merkt sie, dass ihre Romanze dem Ende zugeht. Edmond überrascht sie zwar noch mit einer gemeinsamen Reise nach Jamaika, danach aber trennen sich ihre Wege endgültig.

«Jeder hat so seine Epiphanie; meine war der Buddha im Wald bei Worpswede». Leupold bindet diese Statue wie einen Schutzengel in ihre Geschichte ein, sie dient der Heldin, einer inneren Stimme gleich, als Kommentator und Souffleur. «Ohne Götzen keine Bücher und ohne Gespenster auch nicht» heißt es im Text, und genau hier liegt der Reiz dieser leichtfüßigen, wie schwebend erscheinenden Prosa. Weite Passagen der Geschichte nämlich sind dem Thema Schreiben im Allgemeinen gewidmet und der Entstehung dieses Romans im Besonderen. «Statt Bücher über Edmond zu schreiben könnte man selbstverständlich die deutsche Einheit oder Zwietracht zum Gegenstand wählen …» erklärt sie dem staunenden Leser, die ihr beim Schreiben quasi über die Schulter schauen darf. Wobei ihr Buch im Krankenhaus entsteht, wo sie wegen einer Komplikation die letzten Monate der Schwangerschaft verbringen muss, sie nutzt dort die Zeit zum Schreiben. Dass sie dabei über eine vergangene Liebschaft berichtet, muss nichts bedeuten, kann es aber. «Man schreibt aus denselben Gründen, aus denen man liest: aus Wissensdurst und Liebeshunger» heißt es einmal, und weiter: «Unordnung stiften, verlorenes Territorium zurückgewinnen: Blühender Sinn und ausschweifender Verstand – für all das gewährt das Papier Raum». Und was die Leser anbelangt, so stellt sie klar, «dass man jemand die Bücher ansieht, die er gelesen hat». Die Schriftstellerin hält also eine vergnügliche Nabelschau in diesem Roman, nicht mehr und nicht weniger. Liebe, Erleben, Erzählen, Lesen bilden hier eine literarische Funktionskette, formen «eine Liebesgeschichte, die im Sande verläuft», die aber auf eine intelligente und nachdenkliche Art erzählt wird, in der die Genese des Plots das eigentliche Ereignis ist.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Die Schule der Frauen

gide-1Ein hintergründiges Triptychon

Es geht um mehr als um die Geschichte einer Ehe in diesem dreiteiligen Prosawerk, als dessen «Herausgeber» André Gide in persona fungiert, eine Fiktion in der Fiktion also, von ihm kunstvoll und raffiniert zu einem Roman zusammengefügt, der es in sich hat. Wie ein dreiteiliges Altarbild aufgebaut, ergänzen und bedingen sich die Texte diese Trilogie gegenseitig und führen den Leser zum mit Spannung erwarteten, überraschenden Schluss, der mit einer versteckten, nur angedeuteten Pointe endet, die mancher vielleicht sogar übersieht.

Aber der Reihe nach! Eine Ehe bildet den äußeren Rahmen dieses genial konstruierten Plots, in dem erzählt wird, wie sich Mutter und Tochter des autoritären «Oberhauptes» einer gutbürgerlichen Familie emanzipieren und damit zunehmend von ihm entfernen. Robert pocht in der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts spielenden Geschichte unbeirrt auf seine Rechte, den damals gültigen Konventionen gemäß. Er wird unerbittlich demaskiert als egoistischer, seelenloser Opportunist, der nur seinen Vorteil sucht, er ist ganz einfach unehrlich in privaten wie auch in seinen- ziemlich undurchsichtigen – geschäftlichen Belangen.

Eveline, Gattin dieses archetypisch bourgeoisen Mannes des Fin de Siècle, erzählt in ihrem Tagebuch, wie im Verlauf ihrer Ehe ihre anfänglich euphorische Liebe langsam erlosch und allmählich sogar in Hass umschlug. Je älter sie wurde, desto klarer durchschaute sie seine verlogene, selbstgerechte Natur. Sie lehnte sich auf, wehrte sich immer heftiger gegen die unhaltbaren Konventionen der Gesellschaft und entfremdete sich sogar von der katholischen Religion, die ja deren, wie sie erkennt, geradezu einfältiges moralisches Rückgrat bildet.

«Der Geist des Widerspruchs ist immer tadelnswert, aber insbesondere halte ich ihn für tadelnswert bei einer Frau», schreibt Robert in seiner Erwiderung auf das veröffentlichte Tagebuch von Eveline. Alice Schwarzer, Urgestein der feministischen Bewegung, hätte ihre helle Freude an solch einem Macho! Eine kleine Episode, die dessen naiv-religiöse, gleichwohl scheinheilige Gesinnung erhellt: Als der Arzt seiner nach einer Fehlgeburt mit dem Tod ringenden Frau dem für die «Letzte Ölung» herbeigerufenen Abbé den Zutritt zum Krankenzimmer verwehrt, um die sich abzeichnende Besserung durch dessen bedrohliches Erscheinen nicht zu gefährden, die Hoffnung auf Genesung also nicht im Keime zu ersticken, da ist für Robert die «Rettung der Seele» durch die Sterbesakramente wichtiger als die Gefährdung des Lebens von Eveline, – der Kirchenmann darf eintreten.

Die gemeinsame Tochter Genoveva erzählt im dritten Teil des Romans ihre Entwicklung zu einer jungen Frau, die deutlich radikaler als ihre Mutter sich gegen die offensichtlichen Lügen der bürgerlichen Gesellschaft, gegen deren allenthalben spürbare Doppelmoral wehrt. Ihre Ablehnung alles Konventionellen geht so weit, dass sie sich ein Kind wünscht, ohne jedoch heiraten zu wollen, ein Sakrileg in jenen Zeiten, und dementsprechend sind denn auch die Reaktionen derer, zu denen sie davon spricht. André Gide, der 1947 mit dem Nobelpreis geehrt wurde, schreibt all das in einer kristallklaren, wunderbar schnörkellosen Sprache, wobei er vieles nur andeutet, durchscheinen lässt, dem mitdenkenden Leser dadurch also reichlich Freiraum gibt für eigene Deutungen der psychologisch komplexen Geschichte. Wie gut, dass wir in einer anderen Zeit leben, wird sich so mancher Leser da wohl denken!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Der Richter und sein Henker

duerrenmatt-1Böses mit Bösem bekämpfen

Als frühes Werk des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt ist «Der Richter und sein Henker» 1950 zunächst als Fortsetzungsroman in einer Wochenzeitschrift veröffentlich worden, er wurde später mehrfach verfilmt. Der Reiz dieses Krimis liegt hauptsächlich darin, dass hier ein Dramatiker am Werke war, der äußerst knapp und konzentriert so erzählt, wie es bei einer Bühnenfassung erforderlich wäre, verständlich also und einfach nachvollziehbar. Es wird wenig ausgeschmückt, der Text bleibt beim Wesentlichen, und es geht Schlag auf Schlag, nicht atemlos, aber zielstrebig. So ist denn auch nach gerade mal hundert Seiten der Fall gelöst und lässt einen verblüfften Leser zurück.

In zwanzig Kapiteln entwickelt Dürrenmatt seine Geschichte vom Kampf zweier Männer, die im Suff vierzig Jahre vorher in Istanbul eine makabre Wette geschlossen hatten: der Berufsverbrecher Gastmann hatte damals gewettet, vor den Augen seines Widerparts, des Kriminalkommissars Bärlach, einen Mord zu begehen, den dieser ihm nicht nachweisen könne. Und Gastmann hat diese Wette gewonnen, – seither hat Bärlach nur noch einen Wunsch, seinen Kontrahenten von damals zur Strecke zu bringen. Als sie nun bei den Ermittlungen des inzwischen in Bern tätigen «Kommissärs» im Mordfall an einem seiner Mitarbeiter erneut aufeinandertreffen, weil Gastmann verdächtigt wird, erklärt der lapidar, auf die Wette anspielend: «Ich rate dir, das Spiel aufzugeben. Es wäre Zeit, deine Niederlage einzusehen.» Es sieht auch ganz so aus, als würde Gastmann, durch höchste politische und wirtschaftliche Kreise gedeckt, sich den Ermittlungen auch diesmal wieder entziehen können, und das, obwohl er für den vehement gegen ihn ermittelnden Kriminalassistenten Tschanz dringend tatverdächtig ist. Der alte Bärlach gibt sich nicht geschlagen: «Es ist mir nicht gelungen, dich der Verbrechen zu überführen, die du begangen hast, nun werde ich dich eben dessen überführen, das du nicht begangen hast.» Als Gastmann ihm den Tod androht in diesem letzten Gespräch vor dem Showdown, entgegnet der Kommissar: «Du irrst dich. … Du wirst mich nicht töten. … Ich habe dich gerichtet, Gastmann, ich habe dich zum Tode verurteilt. Du wirst den heutigen Tag nicht mehr überleben. Der Henker, den ich ausersehen habe, wird heute zu dir kommen.»

Dieser Roman ist ein Krimi im klassischen Sinne mit einem Verbrechen und dem zugehörigen Detektiv, allerdings verschiebt sich hier die logische Abfolge, denn der Täter ist dem Kommissar längst bekannt, er ermittelt bewusst falsch, um eine Situation heraufzubeschwören, die seinem egoistischem Ziel der Selbstjustiz dient. Sich über alle moralischen Bedenken hinwegsetzend spielt Bärlach sich zum Richter auf und sorgt zudem dafür, dass sein Todesurteil auch sofort vollstreckt wird. Er löst damit gleichzeitig den aktuellen Fall, denn indem er den Mörder auf seinen ewigen Widersacher hetzt, treibt er letztendlich beide in den Tod, – Böses mit Bösem zu bekämpfen gerät hier also zur Katharsis.

In lakonisch knapper Sprache, mit kurzen, einfachen Sätzen, ironisch und zuweilen amüsant, schildert der Autor das turbulente Geschehen, lässt seine kühl und distanziert beschriebenen Protagonisten agieren. Der Plot weist logische Fehler auf, die mich sehr gestört haben: Kein Dorfpolizist, auch keiner aus der Schweiz, würde einen soeben aufgefundenen Ermordeten in dessen Wagen vom Tatort weg zur Wache fahren! Wer lässt sich schon von einer scharfen Dogge anfallen, damit der Kollege sie erschießt und er so zu einer Kugel aus dessen Dienstwaffe kommt? Welcher Kriminalpolizist schießt, selbst angeschossen, mit nur drei Schüssen gleich drei gefährliche Gangster tot? Wilhelm Tell lässt grüßen! Es gibt Dergleichen mehr zu beanstanden, -Fiktion hin, Fiktion her, etwas Realitätsnähe hätte der philosophisch ja interessanten Thematik gut getan. Was also soll der Hype um diesen Roman? Er ist weder ein überzeugender Krimi noch gar ein literarisch hochstehendes Werk!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Die Korrekturen

franzen-1Vom Scheitern der Familie

Mit seinem dritten Roman ist dem amerikanischen Gegenwartsautor seinerzeit der Durchbruch gelungen. Auch hier steht das scheinbar unaufhaltsame Auseinanderfallen der klassischen Familie im Mittelpunkt, wobei Jonathan Franzen geradezu sezierend deren einzelne Mitglieder als auch das soziale Gesamtgefüge bloßlegt, sie gekonnt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen in ihre Grundelemente zerlegt.

Wir haben es mit fünf Protagonisten zu tun, die jeder für sich als Prototypen verschiedener Charaktere und konträrer Lebensentwürfe angesehen werden können. Enid, frömmelnde und einer überholten, geradezu kitschigen Vorstellung von Familie nachhängende Mutter, träumt vom letztmaligen gemeinschaftlichen Weihnachtsfest der gesamten Familie. Bei Alfred, ihrem herrschsüchtigen und altersstarrsinnigen Ehemann, sind erste Anzeichen von Demenz zu erkennen, und inkontinent ist er auch noch. Sohn Gary, scheinbar erfolgreicher Banker, entspricht am ehesten den Idealen seiner Eltern, ist aber depressiv und hat erhebliche Ehe- und Alkoholprobleme. Chip, honoriger Literaturprofessor, verliert wegen einer Affäre mit seiner Studentin die Stellung, scheitert als Autor und wird in äußerst dubiose Geschäfte in Litauen verwickelt. Denise schließlich, hochbegabte Gourmet-Köchin, verliert ihren Job, weil sie eine leidenschaftliche Affäre mit der Frau des Chefs hat und irgendwann dann auch noch mit dem Chef selbst im Bett landet.

Eindringlich und detailreich schildert Franzen in breit angelegten Rückblenden die Biografien seiner Figuren, durchleuchtet deren kompliziertes Beziehungsgeflecht. Wir erfahren von Ehekriegen, Krankheiten, Altersqualen, Depressionen, lesbischen Beziehungen, Trennungen, Niederlagen und Triumphen, von allen familiären Irrungen und Wirrungen einer Familie aus dem Mittleren Westen der USA. Vor dem interessierten Leser wird in einem simplen Plot, dessen Höhepunkt das missglückte Weihnachtsfest ist, pessimistisch der Niedergang der herkömmlichen Familie vorgeführt, dargestellt am Beispiel der verkorksten Vita sämtlicher Figuren.

All das ist so üppig angelegt und emotional überfrachtet, dass man unwillkürlich an alte Hollywoodfilme erinnert wird, bei denen man auch nicht viel nachdenken musste, weil einem alles so mundgerecht serviert wurde. Dieser monumentale, amerikanische Erzählstil erinnert an John Updike, Philip Roth oder John Irving, ohne allerdings deren literarische Qualität wirklich zu erreichen. Das Buch mit seinen 780 Seiten liest sich sehr flüssig, und es findet sich auch einiges Amüsante dabei, die Senioren-Kreuzfahrt gegen Ende der Story ist ein gutes Beispiel dafür. Wer sich unangestrengt und extensiv unterhalten lassen will als Leser ist hier bestens aufgehoben.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Wohin der Wind uns weht

Kein Klassipedro-1ker in spe

Der im portugiesischen Original 2012 erschienene Debütroman von  erhielt in der deutschen Übersetzung den deskriptiven Titel «Wohin der Wind uns weht». In einem kleinen Epos wird die Geschichte der Familie Mendes erzählt, drei Generationen umfassend bis in die Gegenwart und gespiegelt an den politischen Geschehnissen dieser Zeit. Der Autor, als Ingenieur arbeitslos geworden, hat dazu erklärt: «Ich war kein guter Ingenieur. Denn ich dachte die ganze Zeit an Literatur. Darum wurde ich wahrscheinlich auch entlassen. Aber das bot mir die Gelegenheit zu schreiben.» Die Rezeption seines Erstlings war allenthalben positiv, euphorisch wurde ihm von der portugiesischen Wochenzeitung Expresso gar ein Platz unter den Klassikern der Weltliteratur prognostiziert. Ein Wunder also, oder übertriebene Lobhudelei?

Zeitlich effektvoll startet die Geschichte am 25. April 1974, dem Beginn der Nelkenrevolution, mit der sich die Portugiesen von einer mehr als vierzigjährigen Rechtsdiktatur befreit haben. An diesem Tage «schnallte sich Celestino weit vor sieben Uhr den Patronengürtel um, schulterte die Browning, prüfte, ob er noch Tabak und Blättchen hatte, vergaß die Uhr an dem Nagel, wo außerdem ein Kalender hing, und verließ das Haus.» Vierzig Jahre zuvor hatte Großvater Augusto Mendes, auf der Suche nach dem einfachen Leben, seinem Freund Policarpio dessen verfallenes Haus in einem abgelegenen Gebirgsdorf Zentralportugals abgekauft und sich dort als Arzt niedergelassen. Er hatte damals dem Freiheitskämpfer Celestino bei sich Unterschlupf gewährt, ihm mit einem Glasauge neuen Lebensmut gegeben, aber jetzt hat ihn das Schicksal doch noch erreicht, er wird ermordet aufgefunden. Es gehört zu den Eigenarten dieses fragmentarisch erzählten Romans, dass auch diese nur unvollständig skizzierte Episode gleich zu Beginn erst ganz am Ende noch mal kurz erwähnt wird, Näheres erfährt man auch dort nicht. Von Policarpio wiederum bekommt Augusto jedes Jahr einen Brief, lückenlos vierzig Jahre lang, er schreibt aus aller Herren Länder, von allen Kontinenten, und führt offensichtlich ein abenteuerliches Leben.

Diese Briefe bilden eine lose Klammer im Plot und spielen auch am Ende eine Rolle, tragen ein wenig bei zu Klärung offener Fragen, von denen es viele gibt in diesem Roman. Zentrale Figur darin ist Duarte, Enkel von Augusto Mendes, ein lebensuntüchtiger Außenseiter, gleichzeitig aber auch musikalisches Wunderkind. Sehr bald aber wendet er sich von Mozart ab, mag irgendwann dann auch Beethoven nicht mehr, zuletzt sogar Bach. Er hasst plötzlich die Musik, hasst sein pianistisches Talent, kann dem dadurch entstandenen Erwartungsdruck nicht standhalten und beendet abrupt seine Karriere. «Nicht ich habe angefangen, Klavier zu spielen. Das waren meine Hände» erklärt er lapidar seinen Sinneswandel. Sein Vater Antonio wiederum kehrt als psychisches Wrack aus dem Kolonialkrieg in Afrika zurück und ist erstaunt, dass seine Frau ihn mit dem kleinen Duarte am Kai erwartet.

Episodenhaft präsentiert Pedro uns ein wahres Labyrinth an Erinnerungsspuren in wunderbar poetischen Bildern, jedes Kapitel hat bei ihm seinen eigenen Stil. Ein schönes Beispiel dafür ist die berührende Episode der beinamputierten Malerin mit dem blauen Kopftuch, die sich in dem Ölgemälde «Der Kampf zwischen Karneval und Fasten» von Pieter Bruegel wiedererkennt. Eine spezifisch portugiesische Melancholie, erklärt der fabulierfreudige Autor, «die wir Saudade nennen und welche die Menschen prägt», kennzeichne seine Prosa. Zuweilen aber fällt sie auch dezent ironisch aus und ist dann amüsant zu lesen, auch wenn sie mir sprachlich nicht immer wirklich gelungen erscheint. Durch eine extrem fragmentarische Erzählweise, kryptische Anspielungen und komplizierte Verschachtelungen des Plots entstehen störende Verständnislücken, die auch mit viel Phantasie und Intuition kaum zu füllen sind. Zum Klassiker dürfte dieses eigenwillige Werk wohl kaum taugen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Frühstück bei Tiffany

 

capote-1Satire auf New Yorks Schickeria

Im Werk des in New Orleans geborenen Schriftstellers Truman Capote markiert der 1958 erschienene Kurzroman «Frühstück bei Tiffany» einen Höhepunkt seines vielseitigen Schaffens, das durch seine Tätigkeiten als Drehbuchautor und Schauspieler dem Film stets eng verbunden war. Ein Jahr nach der amerikanischen Erstausgabe erschien der Roman bereits in deutscher Übersetzung, 1961 folgte dann die berühmte Verfilmung des Stoffes mit Audrey Hepburn und machte die Geschichte von Holly Golightly einem weltweiten Publikum bekannt. Wie so oft kann aber auch hier der Film nicht wirklich überzeugen, wenn man ihn mit dem Buch vergleicht, also heißt es selber lesen, will man die berühmte Erzählung unverfälscht und ungeschmälert in allen ihren Facetten goutieren.

Im Mittelpunkt der Geschichte, die zeitlich im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist, steht die unkonventionelle 19jährige Holly Golightly, deren in etwa mit «Leichtfuß» übersetzbarer Nachname schon ihren Lebenswandel andeutet, sie schlägt sich frech und unbekümmert als Partygirl durchs New Yorker Nachtleben. Ihre diversen Verehrer nimmt sie erfindungsreich und gnadenlos aus, ohne ihnen entgegen zu kommen, als attraktive Frau auch nur ein wenig von dem zu bieten, wonach sie alle lechzen. Namenlos bleibender Ich-Erzähler ist ihr mutmaßlich schwuler Nachbar, der sich schon bald als einziger echter Freund erweist in einer ansonsten platonischen Beziehung. Denn nicht immer ist Hollys Leben lustig und unbeschwert, und wenn sie den Koller bekommt, das «rote Grausen», wie sie es nennt, dann ist wieder ein Besuch bei Tiffany fällig, dem Juwelier in der Fifth Avenue, – nicht als Kundin, nur der besonderen Atmosphäre wegen, die sie dann immer rasch wieder aufrichtet. Ihr Charme, ihre Cleverness und Unverfrorenheit helfen ihr zuverlässig über alle Klippen. Schlussendlich will sie José heiraten, einen brasilianischen Diplomaten, von dem sie ist schwanger ist und mit dem sie nach Rio de Janeiro ziehen will.

Aber sie hatte vor einiger Zeit unbedarft einen Job angenommen, der ihr jeweils hundert Dollar einbringt, nämlich Sally Tomato wöchentlich im Zuchthaus Sing-Sing zu besuchen. Die harmlos scheinenden Botschaften, die er ihr dabei mündlich mitgibt, werden ihr zum Verhängnis, sie wird verhaftet unter dem Verdacht, für den Mafiaboss gearbeitet zu haben. José trennt sich daraufhin von ihr, um sein Ansehen besorgt. Holly erleidet eine Fehlgeburt, flieht aus dem Krankenhaus und nutzt kurz entschlossen ihr Flugticket nach Rio, danach hört der Erzähler nichts mehr von ihr. Bis eines Tages eine Postkarte eintrifft: «Brasilien war scheußlich, aber Buenos Aires ganz toll. Nicht Tiffany, aber fast. Bin hüftabwärts mit himmlischem Señor verbunden. Liebe? ich glaube nicht. Sehe mich jedenfalls nach was zum Wohnen um (Señor hat Frau und sieben Bälger) und lasse Sie Adresse wissen, sobald ich selber weiß. Mille tendresse.» Diese Adresse aber hat er nie bekommen.

Truman Capote schreibt hier in bester US-amerikanischer Erzähltradition, journalistisch knapp und zielgerichtet mit dem Augenmerk immer auf seiner Geschichte, die er chronologisch erzählt. Sein völlig unprätentiöser Sprachstil ist leichtfüßig wie Hollys Lebensweise, gekonnt angereichert mit Alltagssprache aus dem Milieu einer exzentrischen Lebedame, eine leicht zu lesende, amüsante Satire auf die Schickeria von New York. Denn immer wieder kommt man ins Schmunzeln bei den teils grotesken Situationen, in die Holly und ihr Nachbar unversehens hineinschlittern. Für Buchleser erhellend aber ist auch der Vergleich mit dem vermutlich allseits bekannten Spielfilm. Dort bleibt nämlich von der verruchten Atmosphäre um die lebensgierige Holly so gut wie nichts übrig, die Story wird dank Audrey Hepburn wie mit Zuckerguss serviert, und ein kitschiges Happy End verkehrt schließlich die Intention des Autors geradezu ins Gegenteil. Den Roman zu lesen lohnt sich deshalb allemal!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek

Der Fall Kurilow

nemirowsky-3Exekution eines Hampelmanns

Vier Jahre nach dem literarischen Durchbruch von Irène Némirowski erschien 1933 ihr Roman «Der Fall Kurilow». Die Handlung ihrer spannenden Geschichte ist im Russland des Jahres 1903 angesiedelt, in der Zeit kurz vor dem Beginn der revolutionären Umwälzungen, die mit dem «Blutsonntag» 1905 einen ersten Höhepunkt erreichten und mit der «Oktoberrevolution» 1917 endeten.

«Auf der menschenleeren Terrasse eine Cafés von Nizza hatten sich, angezogen durch die Glut eines roten Kohleöfchens, zwei Männer niedergelassen» lautet der erste Satz des Romans. Léon M. ist einer der Beiden, der Andere, ein ehemaliger Polizist, spricht ihn als Marcel Legrand an, den er als mutmaßlichen Revolutionär 1903 zeitweilig beschattet hatte, das Ganze ist dreißig Jahre her. Die in einer Art Geheimdienstjargon nur in Andeutungen geführte, kurze Unterhaltung dreht sich um die revolutionären Aktivitäten im zaristischen Russland, dem von beiden Seiten ohne Rücksicht auf Menschenleben geführten Kampf um die Beseitigung des zaristischen Regimes. Damals war der Polizist als Personenschützer für die Sicherheit eines allseits verhassten Ministers namens Kurilow verantwortlich, auf den der Revolutionär Léon M. ein Attentat verüben sollte. Dieser geschickt vorgeschalteten Szene folgt der «eigentliche» Roman, der rückblickend die damaligen Ereignisse aus der Sicht des Attentäters schildert. «Ich habe im Hinblick auf eine eventuelle Biografie mit der Niederschrift dieser Notizen begonnen» erläutert der Ich-Erzähler Leon den Anlass für seinen umfassenden Bericht.

Es gelingt ihm, sich mit falscher Identität als Arzt bei Kurilow einzuschleichen, der lieber von einem ausländischen Hausarzt betreut werden will, weil er die russischen für unfähig hält. In dieser Position kommt Leon dem krebskranken Opfer sehr nahe, fast zu nahe, denn er beginnt den «Pottwal», wie der skrupellose Minister mit Spitznamen genannt wird, trotz seines hassenswerten Charakters und der verübten Missetaten als bemitleidenswerten, armseligen Menschen zu sehen, eine im Privaten geradezu lächerliche Figur. Denn ohne die Insignien der Macht, ohne sein Ministeramt ist er ein Nichts, wie sich zeigt, als er plötzlich sein Amt verliert und nun, völlig haltlos, mit sich selbst nichts mehr anzufangen weiß. Leon beginnt zu zweifeln, ob die von einem revolutionären Komitee geplante Exekution überhaupt noch sinnvoll ist. Als dem Nachfolger des Ministers ein schwerwiegender Fehler unterläuft, kommt der «Pottwal» doch wieder in Amt und Würden. Kurz darauf wird endlich auch Ort und Zeitpunkt des Attentates festgelegt, von den Terroristen ganz gezielt daraufhin geplant, eine größtmögliche öffentliche Wirkung zu erreichen, das verhasste Zarenregime also vor aller Augen möglichst effektiv bloßzustellen.

Die aus der Täterperspektive erzählte Geschichte entlarvt die Hauptakteure des zaristischen Regimes allesamt als «prächtig ausstaffierte Hampelmänner, von denen nichts geblieben ist». Der Roman gewährt dem Leser Einblick in ein ungerechtes und feudales Regime. Man ist als Leser geneigt, sich auf die Seite der Revolutionäre zu schlagen, Verständnis für ihre Ziele zu entwickeln, auch wenn sich später daraus, mit der UDSSR, ein ebenso schlimmes Unrechtsregime etabliert hat. Welches heute wiederum, mit dem «lupenreinen Demokraten» an der Spitze, als politisches System kaum weniger autoritär ist, und an die Stelle des Adels sind jetzt die Oligarchen getreten, es geht heute mitnichten gerechter zu als damals. Durch ihre einfache, geradlinige Erzählweise, mit einfühlsamer Charakterisierung ihrer beiden Hauptfiguren und einem gut durchdachten Plot erzeugt die Autorin einen erzählerischen Sog, der fast an einen Krimi erinnert und bewirkt, dass man den angenehm lesbaren, kurzen Roman nicht mehr aus der Hand legt, auch wenn man von Anfang an weiß, was passieren wird.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Auf Messers Schneide

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Mit ironischem Unterton

Seinen geheimnisvollen Titel verdankt dieser dem Spätwerk des berühmten Autors zuzurechnende Roman den Upanishaden, frühen philosophisch-theologischen Texten des indischen Brahmanismus also, wo es heißt: «Schwer ist es, auf des Messers Schneide zu wandeln». Das deutet in der Tat schon auf das äußerst anspruchsvolle Thema dieses Buches hin, die Sinnsuche des Menschen nämlich oder, wie William Somerset Maugham seinen Helden Larry sagen lässt, als er gefragt wird, was er suche: «Die Antworten auf meine Fragen». Gibt es Gott, gibt es das Böse, ist mit meinem Tod alles zu Ende oder habe ich eine unsterbliche Seele? Isabel, seine Verlobte, hält ihm lapidar entgegen: «Wenn man sie beantworten könnte, dann wären sie bestimmt schon beantwortet».

Maugham ist ein begnadeter Erzähler, der sehr erfindungsreich Geschichten konstruieren kann, die den Leser zu fesseln vermögen. So auch hier, man folgt der Handlung fasziniert bis zur letzten Seite, auf der, einem Nachwort ähnlich, Fazit gezogen wird vom Autor, welcher hier übrigens leibhaftig als Ich-Erzähler fungiert, oft als geduldiger Gesprächspartner seiner verschiedenen Protagonisten auftretend. Es handelt sich dabei um recht illustre, geradezu prototypische Figuren, wobei Larry den Vogel abschießt, um es mal etwas flapsig auszudrücken, denn er widersetzt sich allen gesellschaftlichen Erwartungen an einen jungen Mann und begibt sich unbeirrbar auf einen alternativen Weg, der schnöde Mammon reizt ihn nicht im Geringsten. Grotesker Gegenentwurf dazu ist Elliott, reicher Onkel seiner Verlobten und exaltierter Snob, eine Inkarnation geradezu jenes Menschenschlages, man kann ihn sich typischer kaum vorstellen. Elliots Tod aber deckt dann schließlich auf, wie armselig im Grunde sein pompös zelebriertes Leben in der High Society war, wie schnell er dort vergessen ist. Maugham führt uns viele sehr liebevoll, fast greifbar geschilderte Figuren vor, deren Lebenswege sich immer wieder kreuzen, die kunstvoll ineinander verwoben sind. Alle suchen ihren Weg, straucheln zuweilen, erleiden Rückschläge, finden manchmal ihr Glück – oder das, was sie dafür halten, sie bewegen sich also auf Messers Schneide.

Der Autor erwähnt im Vorwort sein Problem, sich in die amerikanische Mentalität hinein zu versetzen, fast alle Protagonisten stammen aus den USA. Aber wie hätte er glaubwürdiger die Geldgier, den nimmersatten Materialismus seiner Figuren, dem Börsenmakler, der Dollarprinzessin, dem eitlen Snob, verdeutlichen können? Nach geistreich und schwungvoll erzählter Geschichte, öfter angereichert durch eine nicht unbeträchtliche Prise britischen Humors, macht Maugham seine Leser am Anfang des vorletzten Kapitels darauf aufmerksam, man könne dieses Kapitel sehr wohl überschlagen, ohne den Faden der Geschichte zu verlieren, ein Scherz natürlich. Denn hier nun erfährt der Leser in einem Gespräch, was dem Helden auf seinem Weg zur Erkenntnis, an Hesses «Siddhartha» erinnernd, widerfahren ist, welche Weisheiten er in Indien erlangt hat. Dort nämlich kam ihm nach langen Jahren der Meditation die Erleuchtung und hat ihm die Richtung gewiesen für sein weiteres Leben. Larrys Erzählung und Maughams skeptische Anmerkungen und entlarvende Fragen bei diesem finalen Gespräch sind tiefgehende philosophische Betrachtungen, die ohne Pathos und wissenschaftlich verbrämte Arroganz vorgebracht werden, angenehm zu lesen deshalb, für nachdenkliche Leute interessant obendrein, durchaus geeignet nämlich, die eigenen Gewissheiten listig zu hinterfragen, dabei sogar zum Nachjustieren derselben anzuregen.

Die Lektüre bewirkte bei mir zuweilen eine gewisse Ermüdung, sind doch (gefühlt) mehr als fünfzig Besuche in Restaurants, Cafés, Einladungen zum Tee oder Dinner minutiös geschildert in diesem Roman, ständig wird da irgendwo gegessen und getrunken. Abgesehen von solchen Längen ist die Geschichte beschwingt erzählt mit einem ironischen Unterton, der dem Ganzen eine gewisse Würze gibt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich