Comment l’esprit vient aux filles
Der Roman «Mitsou», 1919 erschienen, ist einer der größten literarischen Erfolge der französischen Schriftstellerin Sidonie Gabrielle Colette, die später nur unter dem Autorennamen «Colette» veröffentlicht hat. Eine schillernde Persönlichkeit, dreimal verheiratet, Männern und Frauen gleichermaßen zugetan, skandalumwitterte Tänzerin und Schauspielerin, als Journalistin und vielseitige Autorin mit Geistesgrößen ihrer Zeit verkehrend, hochgeehrt als Präsidentin der Académie Goncourt und Mitglied der von Napoleon gestifteten Ehrenlegion. Über die «Grande Dame» der französischen Literatur äußerte sich Jean Cocteau: «Colettes Leben. Skandal auf Skandal. Und dann nimmt alles eine neue Wendung, und sie wird zum Idol.» Dem dann, so möchte ich hinzufügen, ein ehrendes Staatsbegräbnis zuteil wurde.
Marcel Proust schrieb nach der Lektüre dieses kleinen Liebesromans: «Ich, der ich durch viele Jahre hindurch nicht geweint habe, brach in Tränen aus, als ich die Briefe Mitsous an ihren Leutnant las». Und in der Tat ist Mitsou, Heldin des melancholischen Kurzromans, als Figur derart berührend, geradezu bezaubernd angelegt, dass man als Leser ein literarisches Pendant kaum wird finden können. Die Geschichte ist in einem Milieu angesiedelt, welches der Autorin bestens vertraut war, hat sie doch auch, wie ihre Protagonistin, als Revuegirl in Paris gearbeitet. Vor dem prekären Dasein als kleine Modistin war die brave und naive Mitsou einst in die bunte Welt des Theaters geflüchtet, um dort bescheidenen Erfolg auf der Bühne zu haben. Ein mit fünfzig Jahren doppelt so alter Liebhaber sorgt für ein wenig Luxus, stellt ihr sogar ein Auto zur Verfügung, ein wohlfeiles Klischee, das scheinbar unverzichtbar zu diesem etwas anrüchigen Milieu dazugehört, auch bei Colette.
Im Mai 1917 nun, mitten im Ersten Weltkrieg, begegnet Mitsou in ihrer Garderobe einem 24jährigen Leutnant in blauer Uniform, der auf Fronturlaub ist. Aus der flüchtigen Begegnung ergibt sich ein Briefwechsel, in dem die Beiden einander näher kommen, sich am Ende sogar ihre Zuneigung gestehen. Als der «blaue Leutnant», wie sie ihn in ihren Briefen nennt, nach zwei Monaten wieder für kurze Zeit in Paris ist, kommt es zu einer beglückenden Liebesnacht. Noch vor dem Morgengrauen aber wird ihm klar, dass er Mitsous naive Liebesträume nicht wird erfüllen können, zu sehr hat der Krieg den jungen Mann geprägt, er gehört der «Verlorenen Generation» an. Aber auch sie wird seinen Erwartungen nicht gerecht werden können, ist ihm zu naiv, ungebildet, oberflächlich. Als er ihr brieflich seine unter nichtigem Vorwand erfolgte, sofortige Abreise mitteilt, sind die schönen Illusionen von Mitsou zerstört, hat die harte Realität sie eingeholt. «Comment l’esprit vient aux filles», schon der Untertitel in der französischen Originalausgabe deutet sinngemäß darauf hin: Aus einem Mädchen ist eine Frau geworden. Sie weiß das auch, aber sie gibt ihre Hoffnung nicht auf: «Mein Liebster, ich will versuchen, dein Traum zu werden» schreibt sie ihm in ihrem letzten Brief, mit dem der Roman endet.
Wie eine Textvorlage in einem Boulevardstück beginnend, als berührender Briefroman gekonnt weitergeführt und durch konventionelle Erzählweise sinnvoll ergänzt, ist «Mitsou» ein geschickt angelegter, zwischen den Erzählstilen virtuos pendelnder, geradezu federleichter Roman. Die an sich ja nicht gerade neue Thematik der problematischen ersten Verliebtheit wird durch eine klug durchdachte und stilistisch ausgefeilte Prosa erschlossen, die selbst Verächter von Liebesromanen literarisch überzeugen kann. Besonders berührend war es für mich, die sich behutsam entwickelnde Liebe zwischen den Beiden anhand ihrer Briefe unmittelbar miterleben und nachvollziehen zu können, literarisches wahrhaftig ein Kabinettstück. Die mit ihren Frauenthemen bekannt gewordene Autorin verfügt über ein beachtliches psychologisches Feingefühl, das sie in diesem lesenswerten Roman gekonnt eingesetzt hat.
Fazit: erfreulich
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