Das Konzert

lange-1Unerhörtes aus dem Totenreich

Als «Geheimtipp» hat Hartmut Lange sich selbst mal ironisch in einem Interview bezeichnet und ein zwischen kurzfristigem Hochjubeln und totalem Vergessen polarisierendes Feuilleton beklagt: «In so einer Atmosphäre können Sie Literatur nur aus Triebtäterschaft machen.» Sein Œuvre besteht seit Anfang der achtziger Jahre zum überwiegenden Teil aus Novellen, jene literarische Gattung, zu der Goethe angemerkt hat, sie berichte typischer Weise über eine «unerhörte Begebenheit.» Insoweit ist «Das Konzert» ganz klassisch konzipiert, mit einer konzisen Darstellung des uralten Themas von Schuld und Vergebung, hier exemplarisch an einem surrealen Aufeinandertreffen von Tätern und Opfern im Totenreich dargestellt. «Wer unter den Toten Berlins Rang und Namen hatte, wer es überdrüssig war, sich unter die Lebenden zu mischen, wer die Erinnerung an jene Jahre, in denen er sich in der Zeit befand, besonders hochhielt, der bemühte sich früher oder später darum, in den Salon der Frau Altenschul geladen zu werden, und da man wusste, wie sehr die elegante, zierliche, den Dingen des schönen Scheins zugetane Jüdin dem berühmten Max Liebermann verbunden war, schrieb man an die Adresse jener Villa am Wannsee, in der man die Anwesenheit des Malers vermutete.» Mit diesem Satz beginnt die Exposition dieser 1986 erschienenen Novelle.

Hauptfigur der Geschichte ist der 28jährige, hochbegabte Pianist Rudolf Lewanski, der während der Naziherrschaft in Litzmannstadt durch Genickschuss getötet wurde. Die Salondame alter Schule mit dem beziehungsreichen Namen wurde ebenfalls ermordet und nackt, mit verrenkten Gliedern, in eine Grube geworfen. Ihr ganzes Streben als Tote richtet sich nun darauf, ein Konzert in der Philharmonie zu veranstalten, in dem Lewanski die E-Dur-Sonate op. 109 von Ludwig van Beethoven spielen soll. Ein für ihn schwieriges Stück, für das er sich nicht reif genug fühlt als ewig 28Jähriger, er scheitert immer wieder an einer bestimmten Stelle. Als er nach intensivem Üben sich dem Konzert dann doch gewachsen fühlt, landet er auf dem Weg zur Philharmonie im zugeschütteten Bunker der ehemaligen Reichskanzlei. «Mein Mann und ich sind voller Sorge, dass es Ihnen nicht gelingen könnte, uns zu verzeihen.» Die da spricht ist die frisch verheiratete Eva Braun, und so spielt Lewanski nach einigem Zögern vor den versammelten toten Nazigrößen. Wieder scheitert er an der kritischen Stelle. «Litzmannstadt … Litzmannstadt » platzt es aus ihm heraus, «Sie hören es selbst: Um dies spielen zu können, sollte ich erwachsen sein. Man hat mich zu früh aus dem Leben gerissen.»

Der ermordete Schriftsteller Schulze-Bethmann, der ebenfalls in jenem Salon verkehrt, sieht keinen Grund, den Kontakt mit seinem eigenen Mörder, einem schwarz uniformierten SS-Mann, zu meiden. Und zum Konzert erklärt er: «Ich kann kein Unglück darin sehen, dass der Pianist Rudolf Lewanski den Mut, oder sagen wir, die Gelegenheit hatte, vor seinen Mördern auf dem Klavier zu spielen. Der Täter und sein Opfer – was bleibt uns im Tode anderes übrig, als in Betroffenheit beieinander zu sitzen und darüber zu staunen, welche Absurditäten im Leben allerdings und unwiderruflich geschehen sind.»

Der Autor versteht es, uns Lesern ohne aufdringliche Moral ein fürwahr schwieriges Thema nahe zu bringen, über das es sich weiterzudenken lohnt. Nur der Blick aus dem Totenreich vermag dabei hilfreich sein, nur so wird deutlich, dass die Untaten den Tätern ja letztendlich gar nichts nützen. Nur ewiges Bereuen und ewiges Verzeihen ist die Folge. Dieses surreale erzählerische Konstrukt erweist sich als wunderbar stimmig in Hinblick auf die hochgradig emotionsgeladene Holocaust-Thematik, die mit Sühne und Vergebung als ewigem Menetekel belastet ist. Ein, wie die Liebe und anderes mehr, nur dem Menschen eigenes, in der Natur, im Universum, nicht vorhandenes transzendentales Kriterium. Schade, dass es nur so wenige Leser gibt für eine derart tiefgründige Thematik.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Im Museum. Unheimliche Begebenheiten

lange im museum2Einmal Geschehenes kann man nicht zurückholen, auch nicht, indem man Exponate aus vergangenen Zeiten im Museum präsentiert. Da ist das Kleidungsstück fein ausgestellt, doch der Mensch, der vor Jahrhunderten darin steckte, bleibt für immer verschwunden. Ist es denn verrückt, wenn in Erzählungen Gestalten aus vergangenen Epochen in einem Museum lebendig werden? „Die Literatur hat ihren eigenen Wahrheitsgrund“, meint Hartmut Lange und lässt in den sieben Kapiteln seines Bändchens „Im Museum. Unheimliche Begebenheiten“ Protagonisten aus den Tiefen der Geschichte, Museumspersonal und Besucher einander begegnen. Es ist wahrhaft mysteriös, was sich in Hallen, Gängen, Korridoren, auf Treppen und Emporen des Deutschen Historischen Museums in Berlin abspielt.

Wer hätte als Besucher einer Ausstellung nicht schon einmal darüber nachgedacht, was in jemandem vorgeht, dessen Aufgabe darin besteht, Exponate zu bewachen? Zum Beispiel die Frau, die Tag für Tag unauffällig ihre Arbeit neben der Statue Carls des Großen macht. In Langes Geschichte bekommt sie einen Namen und sitzt nach Feierabend auf ihrem Sofa. Wir sind dabei, wie die höchst zuverlässige Frau Bachmann auf der Suche nach der Ursache eines Luftzuges die abendliche Schließung des Gebäudes verpasst, die Nacht im Museum verbringt und spurlos verschwindet. Und da ist Aufseherkollege Klinger, zu DDR Zeiten Leutnant der Staatsicherheit. Als Aufpasser sieht er sich nun mit einem „Schuppen voller Plunder“ konfrontiert. Ihn zieht es in einen Geheimgang im Keller des Hauses, in den er einen arglosen Besucher locken und einen fiesen Plan verwirklichen will.

In nächtlicher Stille wäre das „Gluckern in den Heizkörpern“ und das „Knacken unter dem Fußboden“ ganz normal, wäre da nicht der Schatten eines Mannes mit Militärkappe, der zu Lebzeiten in seinem Rassenwahn Deutschland und Europa terrorisierte. Nacht für Nacht geistert er ruhelos durch die Ausstellungsräume. Die Darstellung eines anderen Despoten lässt ihm keine Ruhe. Da wird das Bildnis Napoleon Bonapartes kostbar mit Brokat und Lorbeerkranz präsentiert, er hingegen „wie ein Paria“ in den Keller verbannt.

Foto: © Andreas von Scheven

Foto: © Andreas von Scheven

Wenn ein Herr Polenz nach Feierabend in die von der Frau verlassene Wohnung kommt, einen Zettel vorfindet, und danach ohne besondere Absicht das Deutsche Historische Museum betritt, ahne ich schon Verwicklungen. Wie ist es möglich, dass weder die Drehtür zum Festungsgraben noch die zum Boulevard Unter den Linden ihn wieder herauslässt und er sein zu Hause im Flur abgestelltes Fagott und die Querflöte im notbeleuchteten Museumsfoyer entdeckt? Und es hat auch etwas Skurriles, wenn eine Frau aus dem 19. Jahrhundert ihrer kleinen Tochter erklärt, warum sie vor der ratternden Rolltreppe keine Angst haben muss und wenn ein junger Volontär mitten in der Nacht heimlich zuschaut, wie jene Mutter und ihr Kind auf den Fliesen im menschenleeren Schlüterhof sitzen und durch das Glasdach den Himmel anschauen.

Wie es sein kann, dass ein Foto von Rodins „Denker“ immer wieder Risse und Kratzer bekommt, fragt sich ein Mitglied des Fördervereins in der letzten Story im Buch. Von einem gewaltsam zu Tode gekommenen Mann wird er darüber aufgeklärt, was sein Schicksal mit Denken zu tun hat. Die Parole „liberté, égalité, fraternité“ hat ihm den Tod gebracht. „Und war es nicht tatsächlich so, dass sich das Töten durch die Perversion des Denkens bis in alle Ewigkeit fortsetzte?“, resümiert der Erzähler.

Foto: © Andreas von Scheven

Foto: © Andreas von Scheven

In den sieben Erzählungen „Im Museum“, die alle im Gebäude des Deutschen Historischen Museum in Berlin spielen, lässt der für seine herausragenden Novellen bekannte Autor Hartmut Lange Protagonisten aus der Gegenwart und aus verschiedenen Epochen einander begegnen und im Dialog miteinander auftreten. Am liebsten nachts bei Notbeleuchtung schickt er sie in den dunklen Korridor, vor die verschlossene Tür, die frisch verputzte Wand, ins Museumscafé, in den Schlüterhof und den “Gigantenhäuptern mit qualvoll aufgerissenen Mündern“ und lässt sie an der verflixten Drehtür verzweifeln. Dabei spielt er souverän mit verschiedenen Zeitebenen und Perspektiven, schlüpft mal in die Rolle des allwissenden Erzählers mal in die des einen oder anderen Protagonisten. Angenehm, mit welcher Selbstverständlichkeit ihm das fern jeder besserwisserischen Psychoschau gelingt.

Foto: © Hans-Christian Plambeck/laif

Foto: © Hans-Christian Plambeck/laif

Beim wiederholten Lesen versuche ich mir zu erklären, mit welcher sprachlichen Raffinesse Hartmut Lange es schafft, diesen Sog zu erzeugen, der mich unwillkürlich am Text hält. Da ist der Widerspruch zwischen schnörkellosen, ja banal anmutenden Formulierungen und der gespannten Erwartung, welche Überraschung der Autor denn nun wieder für mich bereit hält. Und wie könnte ich nicht Abgründe wittern, wenn ein Kapitel so beginnt: „Ich gebe zu, ich mache mir unnötige Gedanken, und ich hatte unlängst die Gelegenheit, vor einem dunklen Korridor zu sitzen.“


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Diogenes Zürich