Das Konzert

lange-1Unerhörtes aus dem Totenreich

Als «Geheimtipp» hat Hartmut Lange sich selbst mal ironisch in einem Interview bezeichnet und ein zwischen kurzfristigem Hochjubeln und totalem Vergessen polarisierendes Feuilleton beklagt: «In so einer Atmosphäre können Sie Literatur nur aus Triebtäterschaft machen.» Sein Œuvre besteht seit Anfang der achtziger Jahre zum überwiegenden Teil aus Novellen, jene literarische Gattung, zu der Goethe angemerkt hat, sie berichte typischer Weise über eine «unerhörte Begebenheit.» Insoweit ist «Das Konzert» ganz klassisch konzipiert, mit einer konzisen Darstellung des uralten Themas von Schuld und Vergebung, hier exemplarisch an einem surrealen Aufeinandertreffen von Tätern und Opfern im Totenreich dargestellt. «Wer unter den Toten Berlins Rang und Namen hatte, wer es überdrüssig war, sich unter die Lebenden zu mischen, wer die Erinnerung an jene Jahre, in denen er sich in der Zeit befand, besonders hochhielt, der bemühte sich früher oder später darum, in den Salon der Frau Altenschul geladen zu werden, und da man wusste, wie sehr die elegante, zierliche, den Dingen des schönen Scheins zugetane Jüdin dem berühmten Max Liebermann verbunden war, schrieb man an die Adresse jener Villa am Wannsee, in der man die Anwesenheit des Malers vermutete.» Mit diesem Satz beginnt die Exposition dieser 1986 erschienenen Novelle.

Hauptfigur der Geschichte ist der 28jährige, hochbegabte Pianist Rudolf Lewanski, der während der Naziherrschaft in Litzmannstadt durch Genickschuss getötet wurde. Die Salondame alter Schule mit dem beziehungsreichen Namen wurde ebenfalls ermordet und nackt, mit verrenkten Gliedern, in eine Grube geworfen. Ihr ganzes Streben als Tote richtet sich nun darauf, ein Konzert in der Philharmonie zu veranstalten, in dem Lewanski die E-Dur-Sonate op. 109 von Ludwig van Beethoven spielen soll. Ein für ihn schwieriges Stück, für das er sich nicht reif genug fühlt als ewig 28Jähriger, er scheitert immer wieder an einer bestimmten Stelle. Als er nach intensivem Üben sich dem Konzert dann doch gewachsen fühlt, landet er auf dem Weg zur Philharmonie im zugeschütteten Bunker der ehemaligen Reichskanzlei. «Mein Mann und ich sind voller Sorge, dass es Ihnen nicht gelingen könnte, uns zu verzeihen.» Die da spricht ist die frisch verheiratete Eva Braun, und so spielt Lewanski nach einigem Zögern vor den versammelten toten Nazigrößen. Wieder scheitert er an der kritischen Stelle. «Litzmannstadt … Litzmannstadt » platzt es aus ihm heraus, «Sie hören es selbst: Um dies spielen zu können, sollte ich erwachsen sein. Man hat mich zu früh aus dem Leben gerissen.»

Der ermordete Schriftsteller Schulze-Bethmann, der ebenfalls in jenem Salon verkehrt, sieht keinen Grund, den Kontakt mit seinem eigenen Mörder, einem schwarz uniformierten SS-Mann, zu meiden. Und zum Konzert erklärt er: «Ich kann kein Unglück darin sehen, dass der Pianist Rudolf Lewanski den Mut, oder sagen wir, die Gelegenheit hatte, vor seinen Mördern auf dem Klavier zu spielen. Der Täter und sein Opfer – was bleibt uns im Tode anderes übrig, als in Betroffenheit beieinander zu sitzen und darüber zu staunen, welche Absurditäten im Leben allerdings und unwiderruflich geschehen sind.»

Der Autor versteht es, uns Lesern ohne aufdringliche Moral ein fürwahr schwieriges Thema nahe zu bringen, über das es sich weiterzudenken lohnt. Nur der Blick aus dem Totenreich vermag dabei hilfreich sein, nur so wird deutlich, dass die Untaten den Tätern ja letztendlich gar nichts nützen. Nur ewiges Bereuen und ewiges Verzeihen ist die Folge. Dieses surreale erzählerische Konstrukt erweist sich als wunderbar stimmig in Hinblick auf die hochgradig emotionsgeladene Holocaust-Thematik, die mit Sühne und Vergebung als ewigem Menetekel belastet ist. Ein, wie die Liebe und anderes mehr, nur dem Menschen eigenes, in der Natur, im Universum, nicht vorhandenes transzendentales Kriterium. Schade, dass es nur so wenige Leser gibt für eine derart tiefgründige Thematik.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Mitsou

colette-1Comment l’esprit vient aux filles

Der Roman «Mitsou», 1919 erschienen, ist einer der größten literarischen Erfolge der französischen Schriftstellerin Sidonie Gabrielle Colette, die später nur unter dem Autorennamen «Colette» veröffentlicht hat. Eine schillernde Persönlichkeit, dreimal verheiratet, Männern und Frauen gleichermaßen zugetan, skandalumwitterte Tänzerin und  Schauspielerin, als Journalistin und vielseitige Autorin mit Geistesgrößen ihrer Zeit verkehrend, hochgeehrt als Präsidentin der Académie Goncourt und Mitglied der von Napoleon gestifteten Ehrenlegion. Über die «Grande Dame» der französischen Literatur äußerte sich Jean Cocteau: «Colettes Leben. Skandal auf Skandal. Und dann nimmt alles eine neue Wendung, und sie wird zum Idol.» Dem dann, so möchte ich hinzufügen, ein ehrendes Staatsbegräbnis zuteil wurde.

Marcel Proust schrieb nach der Lektüre dieses kleinen Liebesromans: «Ich, der ich durch viele Jahre hindurch nicht geweint habe, brach in Tränen aus, als ich die Briefe Mitsous an ihren Leutnant las». Und in der Tat ist Mitsou, Heldin des melancholischen Kurzromans, als Figur derart berührend, geradezu bezaubernd angelegt, dass man als Leser ein literarisches Pendant kaum wird finden können. Die Geschichte ist in einem Milieu angesiedelt, welches der Autorin bestens vertraut war, hat sie doch auch, wie ihre Protagonistin, als Revuegirl in Paris gearbeitet. Vor dem prekären Dasein als kleine Modistin war die brave und naive Mitsou einst in die bunte Welt des Theaters geflüchtet, um dort bescheidenen Erfolg auf der Bühne zu haben. Ein mit fünfzig Jahren doppelt so alter Liebhaber sorgt für ein wenig Luxus, stellt ihr sogar ein Auto zur Verfügung, ein wohlfeiles Klischee, das scheinbar unverzichtbar zu diesem etwas anrüchigen Milieu dazugehört, auch bei Colette.

Im Mai 1917 nun, mitten im Ersten Weltkrieg, begegnet Mitsou in ihrer Garderobe einem 24jährigen Leutnant in blauer Uniform, der auf Fronturlaub ist. Aus der flüchtigen Begegnung ergibt sich ein Briefwechsel, in dem die Beiden einander näher kommen, sich am Ende sogar ihre Zuneigung gestehen. Als der «blaue Leutnant», wie sie ihn in ihren Briefen nennt, nach zwei Monaten wieder für kurze Zeit in Paris ist, kommt es zu einer beglückenden Liebesnacht. Noch vor dem Morgengrauen aber wird ihm klar, dass er Mitsous naive Liebesträume nicht wird erfüllen können, zu sehr hat der Krieg den jungen Mann geprägt, er gehört der «Verlorenen Generation» an. Aber auch sie wird seinen Erwartungen nicht gerecht werden können, ist ihm zu naiv, ungebildet, oberflächlich. Als er ihr brieflich seine unter nichtigem Vorwand erfolgte, sofortige Abreise mitteilt, sind die schönen Illusionen von Mitsou zerstört, hat die harte Realität sie eingeholt. «Comment l’esprit vient aux filles», schon der Untertitel in der französischen Originalausgabe deutet sinngemäß darauf hin: Aus einem Mädchen ist eine Frau geworden. Sie weiß das auch, aber sie gibt ihre Hoffnung nicht auf: «Mein Liebster, ich will versuchen, dein Traum zu werden» schreibt sie ihm in ihrem letzten Brief, mit dem der Roman endet.

Wie eine Textvorlage in einem Boulevardstück beginnend, als berührender Briefroman gekonnt weitergeführt und durch konventionelle Erzählweise sinnvoll ergänzt, ist «Mitsou» ein geschickt angelegter, zwischen den Erzählstilen virtuos pendelnder, geradezu federleichter Roman. Die an sich ja nicht gerade neue Thematik der problematischen ersten Verliebtheit wird durch eine klug durchdachte und stilistisch ausgefeilte Prosa erschlossen, die selbst Verächter von Liebesromanen literarisch überzeugen kann. Besonders berührend war es für mich, die sich behutsam entwickelnde Liebe zwischen den Beiden anhand ihrer Briefe unmittelbar miterleben und nachvollziehen zu können, literarisches wahrhaftig ein Kabinettstück. Die mit ihren Frauenthemen bekannt gewordene Autorin verfügt über ein beachtliches psychologisches Feingefühl, das sie in diesem lesenswerten Roman gekonnt eingesetzt hat.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Niemand, der mit mir geht

gordimer-1Nichts Halbes und nichts Ganzes

Der Grande Dame der südafrikanischen Literatur wurde 1991 der Nobelpreis verliehen, «für ihre epische Dichtung, die der Menschheit einen großen Nutzen erwiesen hat und durch die tiefen Einblicke in das historische Geschehen dazu beiträgt, dieses Geschehen zu formen.» Nadine Gordimer und ihr umfangreiches Œuvre sind geradezu ein Synonym für den Kampf gegen die Apartheid, als liberale Weiße hat sie ihr Leben lang gegen die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung angeschrieben, ohne sich jedoch als Propagandistin politisch vereinnahmen zu lassen. Insoweit ist auch der Roman «Niemand, der mit mir geht» für ihre Art zu schreiben typisch, wobei sich mir nach der Lektüre die Frage aufdrängt, ob hier Gordimers spezielle Thematik – ihre Heimat und deren politisches Unrechtssystem – geehrt wurde oder ihre literarische Kunst. Letztere nämlich fand ich vor Jahren schon, in dem Erzählband «Clowns im Glück», bereits wenig überzeugend, und daran hat dieser Roman leider auch nichts ändern können.

Vera Stark, nomen est omen, ist die toughe Protagonistin in diesem Plot, der in den privaten Konflikten seiner Figuren die brutale Rassentrennung Südafrikas und ihre verheerenden Folgen spiegelt. Sie ist als weiße Juristin erfolgreich in einer Stiftung tätig, wo sie im Streit zwischen den besitzlosen Schwarzen und den burischen Farmern engagiert vermittelt und dabei ihr Privatleben völlig hintanstellt. Ihr Mann Ben scheitert beruflich, sie trennt sich am Ende von ihm. Eine weitere starke Frau ist die Schwarze Sibongile, deren Mann als Held des Widerstands im neuen System nicht mehr gebraucht wird, während seine Frau politisch schnell aufsteigt. Beide Frauen erleben den allgegenwärtigen Terror dieser politischen Übergangszeit hautnah, Vera wird bei einem Überfall angeschossen, Sibongile steht auf einer Todesliste und fühlt sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Veras private Probleme, die Scheidung ihres Sohnes, das Coming-out ihrer lesbischen Tochter, die Entfremdung von ihrem einstigen Liebhaber und zweiten Mann münden in einer Einsamkeit, die sie letztendlich als Preis für ihr unbeirrtes Engagement akzeptiert, das ihr andererseits aber auch zur ersehnten persönlichen Freiheit verhilft. Gleichwohl ist dies ein Roman des Scheiterns, beide Paare kommen mit den weitreichenden politischen Umbrüchen nicht zurecht.

Ihrer selbst gewählten Rolle als Seismograph der Apartheid kommt die Autorin im vorliegenden Roman also dadurch nach, dass sie aufmerksam deren Erschütterungen registriert und literarisch weiterverarbeitet im Schicksal ihrer diversen Figuren. Der handlungsarmen Geschichte jedoch, die da erzählt wird, mangelt es an Spannung selbst in den wenigen dramatischeren Szenen. Einen weiten Raum nehmen demgegenüber endlos scheinende, langweilige Schilderungen der diversen Komitees, Ausschüsse und Kongresse ein. Die allesamt auch noch sehr oberflächlich bleiben, uns Leser also nicht wirklich hinter die Kulissen der Macht blicken lassen, – immerhin rangieren ja beide Heldinnen weit oben in der politischen Hierarchie, Vera am Ende sogar im verfassungsgebenden Komitee. Ich vermute hier mal, dafür fehlte der Autorin ganz einfach das nötige Insiderwissen.

Der komplexe Roman ist im Stil des psychologischen Realismus geschrieben, seine in verschiedenen Zeitebenen erzählte Geschichte eines politischen Umbruchs ist flüssig zu lesen und gewährt Einblicke nicht nur in die Lebenswirklichkeit der Weißen, sondern – in bescheidenerem Maße – auch die der farbigen Bevölkerung. Empathie zu ihren Figuren vermag die Autorin mit ihrem nüchternen und zuweilen leicht ironischen Schreibstil allerdings kaum zu wecken, was nicht zuletzt wohl auch auf deren zauderndes Verhalten zurückzuführen ist, man bleibt jedenfalls auf Distanz als Leser. Und die sprachliche Realisierung vermag fürwahr nicht auszugleichen, was dem Plot substantiell fehlt und die Lektüre über das rein Informative hinaus auch erfreulich machen könnte.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der Schmerz

duras-1Das auf ewig Unfassbare

Die französische Autorin Marguerite Duras ist als prägende Vertreterin des «Nouveau Roman» bekannt, ein Begriff, den Roland Barthes für eine neue Gattung in der Literaturwelt etabliert hat. Mit dem Band «Der Schmerz» hat sie 1985, wie sie im Vorwort schreibt, alte Texte veröffentlicht, die sie vier Jahrzehnte nach der Niederschrift in ihrem Landhaus wiedergefunden hatte, an deren Existenz und erst recht an deren Entstehung sie sich absolut nicht mehr erinnern konnte. «Ich stand vor einer phänomenalen Unordnung des Denkens und des Fühlens, an die ich nicht zu rühren wagte und der gegenüber ich die Literatur als beschämend empfand». Der Stil, in dem sie verfasst sind, weist allerdings schon deutlich auf ihre später erschienene Prosa einer distanziert beschriebenen, eigengesetzlichen Welt hin.

Im ersten, fast die Hälfte des gesamten Buches umfassenden Teil mit dem Titel «Der Schmerz» schreibt die Autorin in chronologischer, tagebuchartiger Form über die albtraumhafte Trennung von ihrem Mann, der kurz vor Kriegsende als Mitglied der Résistance von den Nazis nach Deutschland deportiert wurde. Nach der Befreiung des KZs Buchenwald im April 1945 wartet sie verzweifelt auf ein Lebenszeichen von ihm, sie klammert sich wie eine Ertrinkende an jeden Strohhalm, verfolgt unbeirrt jede Spur, geht jedem Gerücht nach. Ein Auf und Ab der Gefühle, sie will wenigstens Gewissheit, und wenn es nur die im höchsten Grade wahrscheinliche Bestätigung seines Todes ist. Eines Tages kommt dann ein Anruf von Morland, einem Mitstreiter aus der Résistance, der in Wirklichkeit François Mitterand heißt, der spätere Staatspräsident Frankreichs: Ihr Mann lebe, man habe ihn im KZ Dachau aufgespürt. Halbtot wird er nach Paris gebracht, er ist nur noch ein menschliches Wrack, sterbenskrank, ohne realistische Überlebenschancen. Das Unwahrscheinliche geschieht gleichwohl, er überlebt und kommt ganz allmählich wieder zu Kräften, schreibt schließlich sogar ein Buch über seine Erlebnisse in Deutschland. Nach langen Monaten der Rekonvaleszenz kann sie ihm dann schließlich sagen, dass sie sich scheiden lassen müssen, dass sie ein Kind wolle, von einem anderen Mann. Trotzdem sitzt das Trauma ihrer durchlittenen Ängste auch nach mehr als einem Jahr immer noch so tief, dass sie schon zu weinen anfängt, sobald sie nur seinen Namen hört. Das Schreiben über diese Rückkehr, ihr Versuch, etwas über diese erloschene Liebe zu sagen, löst allmählich ihre ungeheuren inneren Spannungen. Und so schreibt sie, geradezu erleichtert, als Schlusssatz: «Ich wusste, dass er es wusste – dass er wusste, dass ich zu jeder Stunde eines jeden Tages dachte: Er ist nicht im Konzentrationslager gestorben.»

Der zweite Teil beginnen mit der Geschichte eines Gestapomannes, der am 1. Juni 1944 ihren Mann verhaftet hat, «eine bis in die Einzelheiten wahre Geschichte», wie sie im Vorwort schreibt. Durch den Kontakt mit ihm erhofft sie sich Informationen über ihren Mann, aber auch die Résistance profitiert davon. Beide belauern sich gegenseitig, es ist ein permanentes Katz-und-Maus-Spiel – bis zur Befreiung von Paris durch die Alliierten. Es folgen zwei Geschichten, im Vorwort als «heilige Texte» bezeichnet, über die sie dort schreibt: «Thérèse, das bin ich. Die, die den Denunzianten foltert, das bin ich. Die, die gern mit Ter, dem Milizionär, schlafen möchte, ebenfalls ich». Es folgen zum Schluss zwei weitere kleine, fiktionale Texte.

Mit der für sie charakteristischen schlichten, geradezu kargen Sprache und den besonders im Tagebuchteil vorherrschenden, stakkatoartigen Kurzsätzen wahrt Marguerite Duras die Distanz zu dem Grauen, über das sie schreibt und das den Leser, vermutlich gerade dadurch, besonders tief berührt. Ein lesenswerter Beitrag zum unmöglich erscheinenden Verständnis des auf ewig Unfassbaren!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Das Buch von Blanche und Marie

enquist-1Omnia vincit amor

Auch in seinem 2004 erschienenen Roman «Das Buch von Blanche und Marie» geht der schwedische Schriftsteller Per Olof Enquist, wie oft in seinem Œuvre, von historischen Personen aus, die ihm als Bindeglied für seinen Plot dienen. Herausgekommen ist dabei ein pseudo-dokumentarischer Roman, dessen wahrer Kern nicht nur fiktional ausgeschmückt ist, sondern fast untergeht vor allzu unbekümmert Hinzuphantasiertem.

Vergils «omnia vincit amor», Liebe besiegt alles, steht auf dem Deckel einer braunen Mappe mit dem Titel «Fragebuch», das drei Notizbücher enthält. Das lateinische Motto bezeichnet Enquist als Arbeitshypothese, seine Handlung baut auf diesen Notizbüchern von Blanche Wittmann auf, berühmte Patientin von Professor Jean Martin Charcot, dem Leiter der psychiatrischen Anstalt Salpêtrière in Paris, im Jahre 1862 mit 4000 Patientinnen größtes Hospiz in Frankreich. In seiner regelmäßig veranstalteten, eher als Show inszenierten Vorlesung zu seinem Forschungsthema Hysterie dient ihm Blanche als williges Medium. Einer seiner Assistenten ist Sigmund Freud, und die gaffenden Zuschauer sind nicht nur Studenten, sondern viele berühmte Leute aus ganz Europa. Die titelgebende zweite Protagonistin des Romans ist Marie Skłodowska Curie, die berühmte Wissenschafterin polnischer Herkunft, Entdeckerin des Radiums, zweifache Nobelpreisträgerin sowohl für Physik (1903) als auch für Chemie (1911). Nach dem Unfalltod ihres Mannes hat sie eine stürmische Liebesbeziehung mit einem verheirateten Physikprofessor, die als Langevin-Affäre in Frankreich hohe Wellen schlägt und fortan als ewiger Makel an ihr hängen bleibt.

Soweit die Fakten. Postfaktisch hingegen, um eine dümmliche Wortschöpfung unserer Tage auch mal zu benutzen, ist die jahrelang unterdrückte Liebesbeziehung zwischen Blanche und Professor Charcot. Nach dessen Tod wird sie Assistentin bei Marie Curie, erleidet durch hohe Strahlungen bei ihrer Arbeit schwere gesundheitliche Schäden, beide Beine und der linke Arm müssen amputiert werden, sie sitzt als Torso fortan in einer rollenden Kiste. Die beiden Frauen werden enge Freundinnen, zu denen sich als dritte Jane Avril gesellt, kurzzeitig ebenfalls Patientin von Professor Charcot, später dann im Moulin Rouge berühmt gewordene Tänzerin, vielfach portraitiert von Toulouse Lautrec und auf ihren Plakaten omnipräsent bis heute.

«Die Liebe kann man nicht erklären. Aber wer wären wir, wenn wir es nicht versuchten?» Dieser Versuch ist hier misslungen, mit der Liebe als Zentralthema hat sich Enquist total verhoben. Marie scheitert kläglich mit ihrer ehebrecherischen Liaison, Blanche verkümmert in ihrer unerfüllten und, sieht man von einer irrealen Schlussszene ab, ewig platonischen Liebe zu Charcot. Dem uralten Thema Liebe gewinnt der Autor keine neuen Facetten ab, er verfällt vielmehr zusehends in peinliches Pathos dabei. Schon eher ist da die Aufdeckung der schaurigen Frühgeschichte der Psychiatrie zu loben, der tadelnde Hinweis auf die mühsame Emanzipation der Frauen, die Kritik des naiven Fortschrittsglaubens jener Zeit. Das Interessanteste aber, die faszinierende Figur der genialen Forscherin Marie Curie, wird kaum gebührend gewürdigt, sie ist als Romanfigur weitgehend auf ihre Liebesaffäre reduziert.

Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis, das die einzelnen Kapitel als Gesänge bezeichnet, macht stutzig und kündet von Esoterischem. Der melancholische Plot verstört durch unmotivierte zeitliche und gedankliche Sprünge und lästige Wiederholungen, deren nervigste, geradezu sadistisch anmutende für mich der gefühlt hundertmal erwähnten Torso in der rollenden Kiste war. Vollends fragwürdig aber wird dieser Roman durch seinen holzschnittartigen Sprachstil, durch verstümmelte Sätze mit merkwürdiger Interpunktion, die das Verständnis behindern statt es zu fördern. Liebe und leidenschaftliche Forschung belegen, das ist mein Fazit aus dieser Lektüre, nun mal keine gleichen Areale in unserer Seele, sie sind wesensfremd.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Das Hotel New Hampshire

irving-1Mit Sonnenuntergang

Der US-amerikanische Schriftsteller John Irving ist einer jener polarisierenden Autoren, deren Romane man entweder ganz toll findet, um sich damit jubelnd in die zugehörige Fan-Gemeinde einzureihen, oder eher miserabel, womit man sich in der Rolle des schwarzen Storches befindet, also ein störender Andersartiger ist inmitten weißer Artgenossen. Auch nach zwei Jahrzehnten Abstand habe ich beim Wiederlesen seines wohl bekanntesten Romans, «Das Hotel New Hampshire», 1982 auf Deutsch erschienen, keinen Zugang gefunden zu dieser Art des Erzählens, – von der misslungenen Verfilmung mal ganz abgesehen. Mein Unvermögen also?

Es handelt sich um einen klassischen Coming-of-Age-Roman. Die Geschichte wird strikt aus der Ich-Perspektive erzählt, von John Berry, der anfangs zehn Jahre alt ist, und sie erstreckt sich zeitlich über etwa dreißig Jahre, von Anfang der vierziger bis Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, deckt also seine späte Kindheit ab bis zur Heirat mit vierzig. Um diese zentrale Figur herum gruppiert Irving eine geradezu absurd skurrile Familie mit fünf Kindern und einem Großvater sowie diversen Gestalten mit wunderlichen Namen wie Susie der Bär, Freud, Kreisch-Annie, Die Alte Billig, Die Dunkle Inge, Ernst der Pornograph, Schraubenschlüssel, Schwanger, Fräulein Fehlgeburt und viele andere mehr. In diesem dubiosen Panoptikum fällt auf, dass den starken Frauenfiguren wie zum Beispiel Franny, Johns ein Jahr älterer Schwester, die der intellektuelle Mittelpunkt der Familie ist, schwache Männer gegenüberstehen wie der antriebslose John oder sein schwuler Bruder Frank. Gleiches gilt für die jüngere, kleinwüchsige Schwester Lilly, die einen erfolgreichen Roman schreibt, und den jüngsten Bruder Egg, der ziemlich einfältig erscheint nicht nur durch seine Schwerhörigkeit. Zum typischen Instrumentarium dieses Autors gehören ferner literarische Versatzstücke, die sich auch in manchen anderen Romanen von ihm finden: Männersportarten wie Football, Motorräder, Bären, Zirkus, Prostitution, Homosexualität, Vergewaltigung, Inzest, Macho-Sex. Nicht sehr abwechslungsreich sind auch seine autobiografisch geprägten Lieblingsschauplätze, hier New Hampshire, New York und Wien, und seine bevorzugten Milieus wie Hotels, Schulen, Bordelle.

Aus all dem entwickelt der Autor seine handlungsreiche, trotz einiger überraschender Wendungen aber merkwürdig spannungsarme Geschichte, man schwimmt als Leser mit im Erzählfluss, hat aber nie Schwierigkeiten, das dicke Buch beiseite zu legen für eine längere Lesepause. Wir erleben diese chaotische Familie und all die skurrilen Randfiguren in ihren drei Hotels, lesen von diversen Schicksalsschlägen: Flugzeugabsturz der Mutter und des jüngsten Sohnes, Attentatsversuch auf das Wiener Opernhaus, Erblindung des Vaters, Selbstmord der jungen Schriftstellerin. Irving erzählt seine ausufernd pralle Geschichte in einer anspruchslosen, äußerst vulgären Sprache, mit der er seinen Figuren den ordinären Jargon der Halbstarken und des Rotlichtmilieus in den Mund legt, erweist ihr damit aber einen Bärendienst, der seine moralische Intention konterkariert. Er wäre nämlich kein typisch amerikanischer Autor, wenn er nicht zu guter Letzt eine wohlfeile Botschaft verbreiten wollte, wobei er den «Gatsby» seines Kollegen Fitzgerald als maßlos bewundertes Vorbild heranzieht. «Bleib immer weg von offenen Fenstern» heißt es rührselig bei Irving, womit gebetsmühlenartig eine unbeirrbar optimistische Lebensmaxime bekräftigt wird, sich ja nie unterkriegen zu lassen, egal wie dick es kommt.

Ordinär verbalisierter Sex ersetzt in dieser naiv märchenhaften Erzählung die Liebe, sämtliche Beziehungen zwischen den Protagonisten wirken seltsam oberflächlich, Trauer und Schmerz, seelische Verletzungen werden nassforsch weggebügelt von einer alles übertönenden Zuversichtlichkeit im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten». Ein Roman wie ein lauter, kitschiger Hollywoodfilm, mit Sonnenuntergang am Ende.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Marbot

hildesheimer-1Die Fiktion als Wahrheit

Jene Figur, die Wolfgang Hildesheimer in seinem 1981 erschienenen Band «Marbot. Eine Biographie» erschaffen hat, könnte man als einen literarischen Homunkulus bezeichnen, so lebensecht erscheint uns sein Held, quasi als reale historische Persönlichkeit. Der Autor führt seine Leser gekonnt an der Nase herum, versteckt die Fiktion trickreich unter einer Fülle historischer und wissenschaftlicher Fakten, deklariert seinen Text als Biografie, nicht als Roman, obwohl Letzteres weit eher zutreffend wäre. Es ist der originelle Versuch, eine Lebensgeschichte zu erfinden, die als Wirklichkeit wahrgenommen wird, wobei den Leser hier nicht das amüsante Spiel eines ironischen Erzählers mit der Realität erwartet, der Biograf vermittelt uns vielmehr bis zur letzten Zeile durchaus überzeugend historische Fakten, eine Wahrheit also, in die er seine Figur nahtlos integriert hat.

«Für mich ist nur das Wahre wahr, das Wahrscheinliche dagegen Schein» sagte der 24jährige Sir Andrew Marbot am 4. Juli 1825 bei einem Besuch in Weimar zu Goethe. Wir Leser, damit auf das Folgende eingestimmt, erfahren davon gleich auf der ersten Seite. Der umfassend gebildete junge Mann, privilegierter Sohn eines reichen englischen Gutsherrn, von einem Jesuitenpater erzogen, widmet sich, nachdem er sein eigenes Unvermögen als Künstler erkannt und akzeptiert hat, mit ganzer Leidenschaft der Malerei, entwickelt sich zum scharfsinnigen Kritiker und Experten dieser Kunstgattung. Er hat Talent, ist aber kein Genie. Auf seinen Studienreisen durch halb Europa trifft er viele Geistesgrößen jener Zeit, verkehrt in kunstsinnigen Salons und besichtigt immer wieder öffentliche Gemäldegalerien und private Sammlungen. Bei seinen Theorien über Ästhetik und Interpretationen berühmter Gemälde bezieht Marbot erstmals Aspekte der Psychoanalyse mit ein, interessiert sich vor allem für die Bedingtheit von Werk und Maler und die kathartische Wirkung von Kunst.

Schon als Kind hatte Andrew eine tiefe Abneigung gegen seinen bodenständigen, sich fast ausschließlich der Jagd und Fischerei widmenden Vater, dafür aber eine umso innigere Beziehung zu seiner schönen Mutter. Es kommt zum Inzest, den beide unbeirrt ausleben, ein Tabu, dessen skandalträchtige Problematik sie in ein unlösbares Dilemma stürzt, sodass sie ihrer verzehrenden, fast grenzenlosen Liebe nach zwei Jahren notgedrungen endgültig abschwören. Andrew verlässt England für immer, nach mehreren Zwischenstationen lässt er sich schließlich im italienischen Urbino nieder, im Gebiet des Montefeltro. Wo er schließlich, inzwischen 29jährig, eines Morgens das Haus verlässt und für immer spurlos verschwindet, nur sein Pferd steht am nächsten Morgen wieder auf dem Hof. Da eine seiner beiden Pistolen fehlt, geht man von Selbstmord aus, ein zweiter Tabubruch also, eine weitere Todsünde nach dem Dogma der katholischen Kirche.

Dieser Plot jedoch ist beinahe nebensächlich in einer Biografie, die sich in epischer Breite, bis ins kleinste Detail, mit Kunst beschäftigt. Der Autor treibt seine Camouflage so weit, dass er zur Vorspiegelung von Authentizität eine Fülle englischer Zitate einstreut, für die er dann hilfreich gleich noch die Übersetzung mitliefert. Zu diesem Spiel mit der Fiktion gehört ferner der Hinweis, dass 1888 eine erste Biografie über Marbot erschienen sei, außerdem wird an vielen Stellen die mangelhafte Quellenlage beklagt. Vor allem aber soll uns das sachbuchartige Register berühmter Geistesgrößen, die mit Marbot in Verbindung standen, in die Irre führen. Mit alldem ist Hildesheimer ein überzeugendes Bild des exzentrischen britischen Kunstkritikers gelungen. Gleichzeitig aber nutzt er, der ja selbst Malerei studiert hat, sein Buch als Forum für ausufernde kunsttheoretische Betrachtungen. Damit jedoch überfrachtet er den Stoff gewaltig, nur wenige Leser dürften das erforderliche Fachwissen besitzen, um diesen geistigen Höhenflügen im Detail folgen zu können, das Buch also mit Gewinn zu lesen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Transit

seghers-1Chaos auch damals

Sie hatte alles selbst erlebt auf ihrer Flucht vor den Nazis, die in Deutschland ihre Bücher verbrannt hatten und vor denen sie sich als KPD-Mitglied ins unbesetzte Frankreich gerettet hatte, nach Marseille. Der Roman «Transit» der unter Pseudonym schreibenden Schriftstellerin Anna Seghers ist insoweit ein fiktional angereichertes, autobiografisch inspiriertes Zeitzeugnis einer schlimmen Epoche, die in jenem Frühjahr 1940 ihren Anfang nahm und als Vichy-Regime unrühmlich in die Geschichte einging. Eine politische Katastrophe, die damals viele Flüchtlinge nach Südfrankreich fliehen ließ mit seinem für eine Auswanderung wichtigen Überseehafen. Dieses der «Neuen Sachlichkeit» verpflichtete, 1941/42 geschriebene Frühwerk gehört zu den bedeutenden Werken der Exilliteratur. Die Autorin übersiedelte 1950 in die DDR, hatte dort etliche offizielle Funktionen inne und wurde mit Ehrungen für ihr umfangreiches Œuvre geradezu überhäuft, ihrer unbeirrbaren Linientreue wegen allerdings auch heftig kritisiert.

In einer Pizzeria in Marseille lädt ein namenlos bleibender Ich-Erzähler, ein 27jähriger Deutscher, einen Unbekannten zum Essen ein, ganz offensichtlich sucht er jemanden, dem er seine Geschichte erzählen kann. Er sei aus einem KZ in Deutschland geflohen, habe den Rhein durchschwommen und sei dann in Frankreich in einem Arbeitslager in der Nähe von Rouen inhaftiert worden. Beim Näherrücken der Front gelingt einer Gruppe deutscher Häftlinge der Ausbruch, auf der Flucht werden sie von den vorrückenden deutschen Truppen überrollt. Er schlägt sich ins besetzte Paris durch, wo Freunde ihn aufnehmen. Dort trifft er einen ehemaligen Mithäftling, der ihn bittet, einem Dichter namens Weidel einen Brief zu überbringen. Aber der hat sich das Leben genommen, man bittet ihn, den Koffer des Toten seinen Verwandten zu bringen. Als die Übergabe scheitert, behält er den Koffer und entdeckt darin neben Briefen von dessen Frau, die mit ihm nach Mexico auswandern wollte, ein Manuskript. «Aus lauter Langeweile fing ich zu lesen an. Ich las und las. Vielleicht, weil ich bisher noch nie ein Buch zu Ende gelesen hatte. Ich war verzaubert» erzählt er. «Und plötzlich, so in den dreihundert Seiten, brach alles für mich ab. Ich erfuhr den Ausgang nie». Als ihm in Paris die Gefahr zu groß wird, entdeckt zu werden, flieht er schließlich nach Marseille. Als er dort den Koffer im mexikanischen Konsulat abgeben will, hält man durch ein Missverständnis ihn selbst für Weidel.

Wir erleben einen wahrhaft kafkaesk anmutenden Kampf der Flüchtlinge um Visa, Transits, Schiffstickets, Testate und anderes mehr mit einer unwilligen Verwaltung, von den Menschen spöttisch als «Konsulatszauber» und «Visatanz» bezeichnet. Über weite Teile des Romans wird dieser bürokratische Wahnsinn von Vorbedingungen und Fristen geschildert, die sich häufig gegenseitig ausschließen und die Menschen zur Verzweiflung treiben, den coolen Erzähler selbst jedoch wenig beeindrucken. Er beobachtet eine Frau, die rastlos durch Marseille streift und jemanden zu suchen scheint. Schließlich lernt er sie als Freundin eines Arztes kennen, sie ist Weidels Frau, die ihren Exmann wegen der Auswanderungspapiere sucht. Er verliebt sich in sie, hilft dem Arzt und ihr gleichwohl bei den Formalitäten für ihre Ausreise, und als er sie schließlich über den Tod ihres Mannes informiert, glaubt sie ihm nicht. Enttäuscht verzichtet er auf die für ihn unerreichbare Frau und entschließt sich endgültig, zu bleiben.

Der kunstvoll konstruierte Plot ist sehr informativ in einer angenehm zu lesenden Sprache erzählt, mit stimmig erscheinenden, originellen Figuren, deren in immer neuen Varianten geschilderter, meist erfolgloser Kampf mit der Bürokratie irgendwann jedoch ziemlich langweilig wird. Das abrupte Ende in Weidels Manuskript scheint sich hier zu wiederholen, «Ich werde eher des Wartens müde als sie der Suche nach dem unauffindbaren Toten.» lautet der letzte Satz des resignierenden Helden.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Täuschung

roth-2Postkoitales Verwirrspiel

Im umfangreichen Werk von Philip Roth finden sich charakteristische literarische Konstanten, zu denen das Judentum und die US-amerikanische Gesellschaft ebenso gehören wie Ehe und Sexualität im Kontext eines typisch männlichen Selbstentwurfs. Es gehört aber auch sein Spiel mit Identitäten dazu, bei dem er sich häufig hinter einem Alter Ego versteckt oder gleich in persona auftritt. Und natürlich ist diese Figur dann als Schriftsteller ebenfalls in den Schreibprozess integriert, es geht also letztendlich darum, den kreativen Prozess offen zu legen, mit dem eine literarische Identität erschaffen wird. Auf die Spitze getrieben hat Roth dieses kunstvolle Verwirrspiel in dem 1990 erschienenen Roman «Täuschung», dritter Teil einer vierbändigen Autobiografie, dessen ironischer Titel bereits andeutet, was auf den Leser zukommt. Denn literarische Lebensbeichte und unbekümmert ergänzte Fiktion sind kaum auseinander zu halten, zum vollen Verständnis sind deshalb einige Kenntnisse über Autor und Werk unabdingbar, auch um intertextuelle Bezüge richtig interpretieren zu können.

Der Roman ist ohne Exposition vollständig in Dialogform geschrieben, nur wörtliche Rede also, es bleibt jeweils offen, wer da gerade spricht. Ein amerikanischer Autor namens Philip und seine englische Geliebte treffen sich zum Sex in seinem spartanisch eingerichteten Arbeitszimmer, mit einer Plastikmatte auf dem Boden «für Rückenübungen und Ehebruch». Speziell der Modus des Ehebruchs gibt ihrem geheimen Treiben den Kick, löst ihre Beziehung aus dem drögen Alltag heraus. Alle diese Dialoge ihrer «postkoitalen Intimität» entstammen dem Notizbuch des Schriftstellers, der sie dort im Wortlaut festgehalten hat. Auf seine Frage beispielsweise, wie sie denn ihrem Ehemann einen blauen Fleck erklärt hätte, antwortet sie: «Ich habe gesagt: Dieser blaue Fleck stammt aus einer stürmischen Umarmung mit einem beschäftigungslosen Schriftsteller in einem Wohnhaus ohne Fahrstuhl in Notting Hill».

Kurze amüsante Dialogskizzen dieser Art werden ergänzt durch andere Gespräche, wobei gegen Ende insbesondere das lange Gespräch des Schriftstellers mit seiner Frau einiges klärt. Sie hat nämlich sein Notizbuch gefunden und macht ihm nun Vorwürfe, fühlt sich erniedrigt. «Wie kannst du dich von etwas erniedrigt fühlen, das überhaupt nicht den Tatsachen entspricht? Das bin nicht ich. Es ist weit davon entfernt, ich zu sein – es ist eine Posse, es ist ein Spiel, es ist eine Inszenierung meines Ich». Im letzten Abschnitt telefoniert der Schriftsteller Jahre später mit seiner ehemaligen Geliebten. Sie erzählt ihm, dass sie damals schwanger geworden sei, aber nicht von ihm. Auch dass sie sich in seinem Buch wieder erkannt habe, sich entblößt fühle davon. Und wirft ihm vor, sie habe nur als literarische Inspiration gedient für ihn. «Du liebst deine Schreibmaschine mehr, als du je irgendeine Frau lieben könntest». «Ich denke nicht, dass das bei dir so war. Ich glaube, ich habe euch beide gleichermaßen geliebt», erwidert er. Und deutet an, dass er dieses Telefonat ja ebenfalls in einem Buch verarbeiten könnte. Ein kaum entwirrbares Wechselspiel zwischen Romanfigur, Ich-Erzähler und Autor also, das Philip Roth da treibt.

Das Buch ist schnörkellos geschrieben und leicht lesbar, ein stringenter Plot ist allerdings nicht vorhanden. Der Sinn einiger Einschübe wird ebenfalls nicht deutlich, der Abschnitt mit Olina und Ivan aus Prag zum Beispiel. Oder die Szene mit einer Polin, die Philip, der vor zehn Jahren ihr Geliebter war, in der U-Bahn sieht, – der aber erkennt sie nicht und eilt davon. Zum seinem Dialog-Roman sagte Roth: «Ich wollte ausprobieren, ob das funktioniert. Und es schien mir zu passen: Ehebruch und Gespräch gehören zusammen». Er wollte eine englische Lady beim Ehebruch zeigen, Noblesse plus Libido also, seine Perspektive jedoch ist machohaft, die Wortwahl brutal direkt und völlig unerotisch. Ein Roman mithin, der irritiert und polarisiert zugleich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Verteidigung der Missionarsstellung

haas-1Alle Kreter sind Lügner, sagte der Kreter

Na bitte, es geht doch! Ein pseudo-philosophischer Roman der Postmoderne à la Jonathan Safran Foer, von einem österreichischen Schriftsteller geschrieben, ein Sprachwissenschaftler, Werbetexter und hoch gelobter Krimiautor außerdem, wenn das nichts ist! Da sage noch einer, die heutige deutschsprachige Literatur sei nicht kreativ und avantgardistisch! Dieses werbewirksam betitelte Buch wirkt wie eine literarische Anwendung des Paisleymusters, dessen Ornamentik sich geradezu klassisch im vielfach auf sich selbst zurückführenden Text spiegelt, ein Tabubruch mithin, folgt man Alfred Tarski, dem Hohepriester der logischen Semantik. Aber was ist denn nun das Besondere an diesem Roman?

Wolf Haas hat die absurde Konstruktion seiner Geschichte mit unendlich vielen Sprachspielereien derart auf die Spitze getrieben, dass der Leser seine liebe Not hat, dem Plot zu folgen, wenn er es nicht sowieso vorzieht, sich einfach nur amüsiert im Fluss der Worte treiben zu lassen, ohne überhaupt irgend etwas verstehen zu wollen. Die Erzählperspektive wechselt ständig, Wahres und Fiktives sind kaum unterscheidbar, man gerät in sprachliche Fallen, erlebt dauernde Abschweifungen, endlose Zirkel und Spiegelungen. Immer wieder gibt es bei den Dialogen zwei Versionen, der nur imaginierte und der dann tatsächlich gesprochene Text. Eine weitere Skurrilität sind die häufigen, in eckige Klammern gesetzten Überarbeitungskommentare und Korrekturanmerkungen, mit denen der Autor geschickt die Phantasie des Lesers in seine überbordende Story einbezieht und die Entstehung der Geschichte selbst zur Geschichte wird. Man blickt dem Autor quasi über die Schulter, der gelesene Text wirkt wie ein vorläufiger Entwurf. Kein Wunder also, dass Wolf Haas als Figur höchstpersönlich den Roman bevölkert.

An einer Stelle des Buches (Seite 119) taucht das Verb herunteraxolotln auf, eine nette Wortschöpfung des Autors, die auf die Plagiatsaffäre um den Roman «Axolotl Roadkill» von Helene Hegemann hinweist. Was die eigenwillige Typografie und die verschiedenen Layout-Spielchen anbelangt sind allerdings auch in Falle Haas die Anleihen bei Foer nicht zu übersehen. Vertikal und diagonal angeordnete Sätze, bis zur Unlesbarkeit verkleinerte Schrift, chinesische Schriftzeichen zwischendurch, aber auch auf ganze Seiten ausgedehnt, fahrstuhlartig sich verschiebende Textblöcke über mehrere Seiten. All das könnte man euphorisch als eine grandiose typografische Spielwiese bezeichnen, auf der eine liebenswerte Verarschung des Lesers stattfindet, aber auch als pure Seiten-Schinderei des Autors und seines Verlages, immerhin sind es fast 50 von insgesamt 239 Seiten, auf denen man nichts zu lesen braucht, weil sie entweder leer sind oder nichts Sinnvolles enthalten.

Skurril, satirisch, originell, amüsant, unterhaltsam, intelligent, tiefgründig könnte man den Roman wohlwollend nennen, ein Höhepunkt der deutschsprachigen Produktion des Jahres 2012. Man hätte auch Recht, wenn man sagt, der Roman ist manieriert, überdreht, wirr, abstrus, durchgeknallt, entsetzlich, unerträglich, weil man partout keinen persönlichen Zugang dazu findet, einen konventionellen Text bevorzugt. Ernsthaftigkeit ist jedenfalls keine kennzeichnende Eigenschaft dieses ungewöhnlichen Romans, es kommt hier wirklich nur auf den Leser an. Und all die widersprüchlichen Kritiken sind absolut wahr, ganz im Sinne von Alfred Tarski!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Über den Winter

lappert-1Vom Gewinn beim Scheitern

Hochaktuell erscheint uns Rolf Lapperts neuer Roman «Über den Winter» gleich im Prolog, der mit dem letzten Kapitel eine lose Klammer bildet um die Handlung, eines verschwundenen Koffers wegen, aber das nur nebenbei. Das Thema Bootsflüchtlinge nämlich leitet den Plot ein, bleibt jedoch auf die Einleitung begrenzt. Meine anfängliche Vermutung, dass die Wahl dieses Romans unter die Finalisten des Deutschen Buchpreises 2015 dieser Thematik wegen erfolgt sein könnte, erwies sich somit als falsch. Auch in diesem Roman etabliert der Schweizer Schriftsteller einen typischen Antihelden, und man fragt sich unwillkürlich und auch ein wenig skeptisch, wo diese melancholische Prosa hinführen soll.

Lennard Salm, mäßig erfolgreicher, knapp fünfzigjähriger Objektkünstler mit illegalem Atelier in einem Abrisshaus in New York, sammelt am Strand des Mittelmeers Treibgut von gekenterten und ertrunkenen Bootsflüchtlingen für eine geplante neue Installation. Der plötzliche Tod seiner Schwester Helene jedoch zwingt ihn, nach Hamburg zu reisen, wo seine Familie wohnt, von der er sich seit Jahren entfremdet hat. Er scheut das Wiedersehen mit seinen Angehörigen, würde am liebsten zur Beerdigung nicht erscheinen. Der ewig zaudernde, völlig irrational handelnde Protagonist verkörpert den Prototyp des gescheiterten Künstlers, seine Kreativität ist auf den Nullpunkt gesunken, was dazu führt, dass er seinem Manager und Mäzen schließlich das Ende seiner künstlerischen Tätigkeit verkündet. Wovon er denn leben wolle, fragt der belustigt, Lennard verweist auf seine Ersparnisse, mit denen er bescheiden zwei bis drei Jahre leben könne. Auf die Frage: Und dann? weiß er keine Antwort.

In einer Art Gegenentwicklung zu seinem Niedergang als Künstler erwickelt der introvertierte, lethargische Antiheld allmählich empathische Züge, nähert sich sehr langsam seinen Angehörigen, die wie er in prekären Verhältnissen leben. Der Vater verarmt und fast erblindet, als Pflegefall von einer Polin betreut, die unkonventionelle Schwester Billie, die in seinem Beisein ihren Job als Regieassistentin verliert, von einer selbstbetriebenen Suppenküche faselt. Er lernt die anderen Mieter im Haus des Vaters kennen, kommt einer Mitbewohnerin und ihrem chaotischen Sohn näher, kümmert sich mit ihm zusammen schließlich um ein ausgemergeltes, herrenloses Pferd. Trotz aller deprimierenden Umstände, in denen Lapperts diverse Figuren leben, strahlt seine im Grunde traurige Geschichte allmählich doch Zuversicht aus, entsteht zaghaft menschliche Nähe, wächst das Verständnis füreinander.

Der Klappentext spricht von einem Familienroman, mir waren viele der anderen Figuren, die der Autor so überaus subtil beschreibt, ebenso wichtig. Berührend menschlich zum Beispiel fand ich eine Szene mit einem türkischen Schneider, bei dem Lennard gleich zu Beginn seinen schwarzen Anzug für die Beerdigung kauft, aber auch seine Begegnungen mit Hotelportiers, Taxifahrern, dem Bauern, bei dem er Heu und Stroh für das Pferd kauft oder dem durchgeknallten Schauspieler, der beim Vorsprechen für eine Rolle ausrastet und um sich schießt. All dies wird in einer leicht lesbaren, klaren Sprache einsträngig erzählt, wobei sich der Autor viel Zeit lässt, seine Szenen wunderbar anschaulich zu beschreiben. Die immer wieder thematisierte klirrende Kälte dieses Winters überstrahlt metaphorisch das gesamte Geschehen. Und auch wenn der traurige Held überzeichnet erscheint in seiner Weltfremdheit und seine Metamorphose vom Künstler zum Familienmenschen etwas unglaubwürdig, so ist die Wirkung auf den Leser im Verlaufe seiner Lektüre gleichwohl angenehm berührend in ihrer allmählich erfreulicheren emotionalen Entwicklung. Das alles ist gekonnt erdacht und in Szene gesetzt, ein nachdenklich machender Roman vom Scheitern also, von den nicht geglückten Lebensläufen, lesenswert mithin, wenn man auf die subtilen Zwischentöne zu achten gewillt ist – und die erforderliche Geduld mitbringt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Vom Ende einer Geschichte

barnes-1Ein literarischer Spaltpilz

Fast so aufregend wie das vorliegende Buch von Julian Barnes ist die Flut ungewöhnlich konträrer Rezensionen, die ihrerseits en passant einen zusätzlichen Lesespaß bieten, der einen letzten Endes aber auch nachdenklich macht. Ist doch einerseits dieses, übrigens eindeutig der Novelle als epischer Gattung zuzurechnende Buch für die eine, geradezu hymnisch urteilende Fraktion, ein grandioses Meisterwerk ohne jeden Makel, so ist es für seine erbitterten Kritiker ein Wühltisch-Schmöcker allerschlimmster Sorte. Und genau diese sich diametral einander gegenüber stehenden Standpunkte machen die Novelle zu einer uneingeschränkt empfehlenswerten Lektüre, sie stellt nämlich eine bestens gelungene Synthese aus geistigem Anspruch und glänzender Unterhaltung dar. Unbedingt lesen, kann ich nur sagen!

Im unverkennbar britischen Ton einer Konversation mit der inseltypisch beiläufigen Komik wird eine rätselhafte Geschichte erzählt, deren Spannung sich laufend steigert und bis zur allerletzten Seite anhält. Der einsträngige Plot beginnt in der Schulzeit des Protagonisten, der als Ich-Erzähler von manchen übereifrigen Kritikern mit dem Autor gleichgesetzt wird, was natürlich völlig abseitig ist. Bei mir wurden gleich zu Beginn angenehme Erinnerungen an den berührenden Kinofilm «Der Club der toten Dichter» wachgerufen. Tony, der Held, hat es sich in seiner knapp erzählten Lebensgeschichte, nach einem angepassten und völlig unspektakulären Leben mit all den üblichen Details, bereits in seinem wohlverdienten Ruhestand gemütlich gemacht, als ein unerwarteter Brief ihn plötzlich aufschreckt. Seine Erinnerungen erweisen sich als brüchig, fragwürdig, ja als falsch, und seine ihm so sicher erscheinende Identität ist weitgehend eine Selbsttäuschung. Er ist aus dem Gleichgewicht und begreift die Zusammenhänge erst ganz zum Schluss der Geschichte, buchstäblich auf der letzten Seite, und nichts ist dann mehr so, wie es bisher schien. Eindrücklicher kann man die Subjektivität dessen, was wir zu wissen glauben über das Leben, wohl kaum darstellen.

Die Handlung ist klug konstruiert und in sich schlüssig, tiefgründig und zum Nachdenken anregend, sie vermittelt ganz nebenbei auch Einblicke in die wohl eher trockene, weniger emphatische Mentalität der Briten. Kein Wunder, dass Barnes damit den Booker-Preis gewonnen hat, in England, Irland und dem Commonwealth ja die wichtigste, fast dem Nobelpreis gleichkommende Ehrung. Diese Novelle ist amüsant und schwungvoll geschrieben, mit sympathisch geschilderten Figuren und stimmigen Dialogen, sie hat Tiefgang und regt zum Nachdenken an, nicht zuletzt auch über das eigene Leben. Vielleicht ist es genau das, was die erbitterten Kritiker so ärgert. Ich konnte das kleine Buch schon nach der ersten Seite nicht mehr aus der Hand legen und habe es an einem einzigen, verregneten Nachmittag gelesen, der nicht zu den schlechtesten zählt in meinem Leben!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Sofies Welt

gaarder-1Gegen den Dornröschenschlaf des Alltagslebens

Der Roman «Sofies Welt» bringt seine Leser ziemlich listig, quasi durch die Hintertür dazu, sich intensiv mit einem Sachbuch über die Geschichte der Philosophie zu beschäftigen. Man könnte dem norwegischen Autor Jostein Gaarder also mit Recht einen Etikettenschwindel vorwerfen, denn welcher andere Roman noch, und als ein solcher ist dieses Buch ja deklariert, hat denn ein derart umfangreiches Sach- und Namensregister, 16 engbedruckte Seiten? Pädagogen, und Gaarder ist einer, müssen manchmal eben notgedrungen zu derartigen Tricks greifen, um Interesse für ihr spezielles Thema zu erwecken. In diesem Fall also, um Menschen aus dem «Dornröschenschlaf des Alltagslebens» zu reißen, wie es gleich am Anfang dieses Buches mal so schön und treffend heißt, um sie für Philosophie zu interessieren, vielleicht sogar zu begeistern. Und das ist ihm grandios gelungen, sein 1991 erschienenes Buch hat, inzwischen übersetzt in viele Sprachen, schnell absoluten Bestsellerstatus erreicht mit mehr als 40 Millionen verkauften Exemplaren. Ganz so dröge und denkfaul scheint das Publikum also doch nicht zu sein, – das lesende zumindest!

Bestimmt hat noch ein zweiter Kniff des Autors nicht unwesentlich zur Popularität seines Buches beigetragen, denn es orientiert sich in Sprache und wissenschaftlichem Gehalt am erwartbaren Verständnis-Horizont jugendlicher Leser, für diese Zielgruppe wurde es eigentlich auch geschrieben. Es tauchen auch immer wieder mal altbekannte Gestalten in der Geschichte auf, so werden beispielsweise Rotkäppchen, die Gans von Nils Holgerson oder das Mädchen mit den Schwefelhölzchen in die Geschehnisse mit einbezogen. Dadurch wird die eigentliche Thematik kein bisschen geschmälert, es geht knallhart um Philosophie auf Hunderten von Seiten dieses dicken Buches, die Märchenelemente lockern den zu vermittelnden Stoff aber gehörig auf, sie dienen zuweilen sogar modellhaft der Verdeutlichung bei verzwickten Fragen. Und die gibt es reichlich, immer nach dem Motto: Wer nicht fragt bleibt dumm!

Ein Blick ins umfangreiche Inhaltsverzeichnis zeigt, dass von den frühen Mystikern und Naturphilosophen bis hin zum Existentialismus alle wichtigen philosophischen Strömungen und deren bedeutendste Vertreter in chronologischer Folge abgehandelt werden, immer im Kontext der historischen Gegebenheiten. Vom Leser wird da volle Aufmerksamkeit gefordert. Hoch anzurechnen ist dem Autor, dass er sein Thema immer auch mit Seitenblicken auf andere Disziplinen wie Astrophysik, Biologie oder Psychologie, schließlich aber auch auf soziologische und technologische Entwicklungen der Neuzeit abhandelt. Die Rahmengeschichte hingegen, das Romanhafte also, ist an sich banal und würde allein den Leser nicht fesseln, mich haben speziell die langen Dialoge von Lehrer und altkluger, nur als Stichwortgeber fungierenden Schülerin als total unrealistisch gestört. Gleichwohl, damit wird die komplexe Fülle von Informationen und Fakten aufgelockert, was einen nicht unwesentlichen Beitrag zur wahrhaft erfreulichen Rezeption dieses Werkes geleistet haben dürfte.

Literarisch raffiniert allerdings ist der Aufbau des Plots mit zwei ineinander verschachtelten Handlungsebenen, in deren äußerer es um ein Buch mit dem Titel «Sophies Welt» geht, geschrieben von einem UN-Major im Libanon als Geburtstagsgeschenk für seine Tochter Hilde, deren innere Ebene aber eben jener Philosophie-Kursus von Sofie ist, der als Kern des Ganzen ja der eigentliche Inhalt des Buches ist. Diesen informativen Kurs hat man übrigens en passant komplett gelesen am Ende, wodurch wir Leser, so ist zu vermuten, alle miteinander nicht dümmer geworden sind. Denn welcher Normalleser verfügt schon über derart umfassendes philosophisches Wissen, dass ihm das Buch wirklich nichts mehr bringt? Gaarder treibt seine Fiktion auf die Spitze, wenn er, nachdem Hilde «Sophies Welt» ganz gelesen hat, deren beide Protagonisten Alfredo und Sofie gleichwohl weiter agieren lässt, dem «inneren» Buch und seinem Ende quasi entsprungen, als Geister sozusagen, die natürlich unsichtbar sind für alle anderen Menschen. Schön, dass es solche Bücher gibt, kann ich abschließend nur sagen!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Tauben fliegen auf

abonji-1Mahnzeichen für den Balkankrieg?

Ich, der diese Rezension schreibt, um seine Eindrücke und Empfindungen nach erfolgter Lektüre festzuhalten, der künftige Leser, der in Erwartung hilfreicher Hinweise meine Kritik an diesem Roman liest, das Feuilleton, welches das Buch zumeist hochjubelte, Ich, den das Buch überhaupt nicht überzeugt hat, Melinda Nadj Abonji, die sich über renommierte Buchpreise freuen darf, Ich, der hinzufügt, wenn einen solche und noch deutlich längere Satzkaskaden nicht irritieren, der Leser, der fragt, lohnt sich das Lesen also doch, Ich, der antwortet, dann eventuell.

Die der Autorin biografisch ziemlich nahestehende Ich-Erzählerin Ildiko beschreibt ihre idyllisch scheinende ärmliche Kindheit in der Vojvodina und ihr anschließendes, vergleichsweise komfortables Leben bis zum Erwachsenwerden in der Schweiz. Mir war beim Lesen oft so, als ob ich die Protagonistin und die mit ihr symbiotisch verbundene Schwester jungmädchenhaft rumalbern hörte bei dem atemlos scheinenden Stakkato des Textes, diesem sehr speziellen Schreibstil der jungen Autorin, der beim Poetry Slam vielleicht erfolgreich ist, in einem Roman auf Dauer aber ziemlich nervt, mich jedenfalls.

Der Stoff des Romans gibt einiges her. Liebevoll und berührend werden die vielen Figuren detailreich beschrieben, die engere Familie ebenso wie der große Verwandtenkreis und auch die vielen Freunde und Nachbarn. Diese mit Anekdoten reich ausgeschmückte Beschreibung einer archaischen, kunterbunten Balkanwelt mit ihren materiellen Alltagssorgen, ihren unüberschaubar großen Familienclans, ihren ausufernden Fress- und Saufgelagen, diese minutiöse Schilderung erscheint mir merkwürdig unreif, aus Sicht naiver junger Mädchen erzählt, glorifizierend und mystifizierend gleichermaßen. Es geht dabei um Familienkonflikte, Liebesbeziehungen, Landleben, Traditionen, andererseits um Wohlstandsgesellschaft, Missgunst, Ausländerfeindlichkeit, Assimilationsdruck, und ganz im Hintergrund auch um den unsäglichen Balkankrieg.

Wir erfahren nebenbei so manches, zum Beispiel dass die beliebtesten Schwarzarbeiter die Pfarrer sind (sic!), welchen Nöten eine Serviertochter in einem Schweizer Café ausgesetzt ist und vieles Anekdotische mehr. Alles das wird überaus warmherzig geschildert und ist trotz der erwähnten stilistischen Marotte durchaus angenehm zu lesen. Woran es mangelt ist eine auch nur einigermaßen interessante Handlung, von tieferen Einsichten, die manche gute Lektüre zu vermitteln vermag, ganz zu schweigen. Fehlt Handlung weitgehend und geistiger Gehalt komplett, bleibt nur die Sprache, der Schreibstil als Motiv zum Lesen. Aber der ist einfach viel zu manieriert, wovon mein einleitender Versuch einer Nachahmung künden soll. Buchpreiswürdig also ist dieser Roman in keinem Fall! Sind womöglich die Buchpreise als Mahnzeichen für den Balkankrieg missbraucht worden, frage ich mich als total irritierter Rezensent.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Schweigend steht der Wald

fleischhauer-1… und schüttelt den Kopf

Schon der an das berühmte Gedicht von Mathias Claudius erinnernde Titel «Schweigend steht der Wald» wirkt unheimlich und düster, Autor Wolfram Fleischhauer nutzt geschickt den darin enthaltenen Mythos für seinen Roman. Der Deutsche und sein Wald, eine literarisch immer wieder anzutreffende, ganz spezielle Beziehung, deren Ursprünge in den uralten Märchen und Sagen zu finden sind. Hier nun dient der deutsche Wald sowohl als Bühne wie auch als Hintergrund einer Geschichte, deren Verlauf an einen richtigen Krimi erinnert, obwohl Autor und Verlag es vermutlich ganz bewusst unterlassen haben, den Roman als solchen zu deklarieren.

Und so birgt die Parzelle im Privatwald, in der die 28jährige Studentin der Forstwirtschaft im Rahmen eines Praktikums Bodenproben entnimmt, denn auch prompt ein düsteres Geheimnis. Ihr Vater ist in just diesem Waldstück vor zwanzig Jahren spurlos verschwunden, ein Trauma, welches sowohl Anja als auch ihre Mutter nicht haben überwinden können. Beide leiden an den Folgen, die Mutter hat einen Selbstmordversuch unternommen, die Tochter wird psychologisch betreut, ihr gelegentlich auftretendes Asthma ist psychosomatisch. Anja findet eine von der Umgebung abweichende Bodenprobe, und in den hinterlassenen Unterlagen ihres Vaters entdeckt sie, dass auch er kurz vor seinem Verschwinden genau an dieser Stelle ein ihm unerklärliches, völlig untypisches Brennnesselfeld gefunden hatte, ein Anzeiger für hohen Stickstoffgehalt im Boden, wie er zum Beispiel bei Verwesung auftritt. Der Leser glaubt nun an diesem frühen Punkt natürlich, die weiteren Entdeckungen schon zu kennen, die Anja bei ihren rastlosen Nachforschungen noch machen wird. Aber was sich da wirklich abgespielt hat an jener mysteriösen Stelle im Wald, das erfährt man tatsächlich erst sehr viel später, ganz am Ende des Romans.

In mehreren Handlungssträngen erzählt Fleischhauer eine aufregende Geschichte, die sich, von Rückblenden abgesehen, innerhalb weniger Wochen im Jahre 1999 ereignet. Er tut dies in angenehm klarer, nüchterner Sprache, seine Dialoge sind recht realitätsnah und somit glaubwürdig. Die gleich zu Beginn des Romans geschilderten Details von Anjas Arbeit im Oberpfälzer Wald dürften viele Leser irritieren, gerade darin aber sehe ich eine Stärke dieses Buches. Denn neben dem zweifellos für viele Leser attraktiven, weil ereignisreichen Plot wird hier nämlich auch mal eine andere Sicht auf den Wald geboten, auf die Belange der Forstwirtschaft und auf die Intentionen der Naturschützer, auf seine ökonomischen und ökologischen Funktionen also. Und auch der detailliert geschilderte Abschuss einer Wildsau weitet den Horizont des Normallesers sicherlich ungemein, alles Fachliche ist jedenfalls sorgfältig recherchiert. Also kein reiner Krimi, man könnte das alles sehr wohl auch als historischen Roman oder als Gesellschaftsroman ansehen.

So durchdacht und voller Überraschungen der Plot auch ist, ich empfand ihn letztendlich arg konstruiert, seine Figuren klischeehaft, seine Thematik wird dem realen, grauenhaften Geschehen nicht wirklich gerecht. Und der turbulente Showdown à la Hollywood ist leider derart aufgemotzt und unrealistisch, dass er damit die gesamte Geschichte nachträglich in Misskredit bringt. Besonders ärgerlich auch eine Stelle, wo die ansonsten so clevere Heldin über den Tod ihres Vaters sinniert: »Bären und Wölfe waren zwar selten, aber man musste stets mit ihrem Auftauchen rechnen». Ist es eigentlich Zufall, dass Anja mit Nachnamen Grimm heißt? War nicht auch Rotkäppchen dem Wolf zum Opfer gefallen? Schweigend steht der Wald – und schüttelt den Kopf!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Droemer Knaur München