Flussgeister

Pantha rei – alles fließt, ist stets in Bewegung und nie in Stein gemeißelt. Das ist der philosophische Grundsatz des Vorsokratikers und Naturphilosophen Heraklit, dem sich die österreichische Autorin Patricia Brooks in ihrem Roman „Flussgeister“ öffnet. In ihm kreuzen sich die Wege zweier Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber an einem Punkt in ihrem Leben angelangt sind, an dem die Gegenwart des einen zum Anker für die Gegenwart des anderen wird.

(K)ein Roman über Midlife-Crisis

Der 47-jährige Anwalt Adam, der mit einer erfolgreichen Karriere und einer attraktiven Freundin gesegnet ist, beschließt aus heiterem Himmel sein Leben umzukrempeln: Seine bisherigen Errungenschaften bedeuten ihm nichts mehr. Von einem alten Fischer kauft er eine Hütte an den Donau-Auen, in die er sich entschlossen zurückzieht. Sein Gemüt lässt sich jedoch nicht als ennui, Überdruss oder Midlife-Crisis bagatellisieren – auch wenn dies naheliegend scheinen mag. Viel mehr kann man es als Wink oder Zeichen deuten, die eigentlichen Potenziale nicht rechtzeitig anerkannt und somit nicht gebührend ausgeschöpft zu haben.

Lolita und Pygmalion als Inspiration für Patricia Brooks „Flussgeister“?

Wäre da nicht Lola, eine von harten Schicksalsschlägen gezeichnete, verrufene sowie unzähmbare Einzelgängerin, deren Handlungen unberechenbarer sind als die Mäander der Donau-Auen. Gerade Lolas – wenn auch nur vermeintliche – Freiheit ist es, die in Adam sein vernachlässigtes Talent – die Bildhauerei – wieder aufkeimen und ihn sein eigenes Atelier eröffnen lässt.

Dabei kann sich der Leser nicht des Eindrucks erwehren, dass Patricia Brooks Vladimir Nabokovs “Lolita” als Negativfolie für Flussgeister herangezogen hat. (Ferner lägen da vielleicht Frank Wedekinds Lulu-Dramen „Erdgeist“ oder „Büchse der Pandora“). Im Gegensatz zu Humbert Humbert, der Lolitas psychische und körperliche Entwicklung formt und sie wie einen Schmetterling gefangen hält, ist Adam von Lola nicht im erotisch-ästhetischen Sinne samt moralischer Transgression angetan. Wenngleich diese durch ein Kindheitstrauma – die Verführung des Geschäftspartners ihres Vaters als Mutprobe samt dessen Ungnade – den Schutzmantel des Kindlichen nie ganz abgeworfen hat.

Krude Körperlichkeit vs. Künstlerische Plastizität

Die krude Körperlichkeit, die sich die an Eierstockkrebs erkrankte Lola von ihren Freiern und zunächst auch von Adam erhofft, weicht der Plastizität der Flussgeister, die auch die spirituelle Metamorphose der beiden Protagonisten widerspiegelt. Es handelt sich um zwei Skulpturen, die Adam schafft und die ihn und Lola verkörpern –dabei aber gerade die Grenzen des Gegenständlichen transzendieren und beide bis über den Tod hinaus vereint. Eine radikale Umschreibung des profanen Pygmalion-Mythos also, aber auch der biblischen Urszene.

In diesem Sinne lässt sich auch Adams Entschluss nachvollziehen, sein Boot „St. Lola“ zu taufen. Ironischerweise ist diese spirituelle Vereinigung durch Kunst im Falle von Adams Freundin Natalie, die in der Filmbranche berufstätig ist, weniger bis gar nicht gegeben. Es ist denn auch hauptsächlich die körperliche Intimität mit derselbigen, die Adam noch eher in seiner Hütte vermisst und welche Natalie trotz neuer Bekanntschaft noch in Kauf zu nehmen gewillt ist. Zu guter Letzt sieht Adam durch die kindliche Lola auch seine Fehler ein, die ihm bei der Erziehung seines Sohnes Julian unterlaufen sind.

„Flussgeister“ von Patricia Brooks sprengt Genregrenzen

Der Roman „Flussgeister“ von Patricia Brooks sprengt Genregrenzen, indem er Elemente des Entwicklungs- und Künstlerromans mit leicht esoterischen Tönen übermalt, ohne dabei in das Sentimentale abzugleiten oder sich in poetischen Gefilden zu verlieren. Und das trotz der Fülle zahlreicher aquatischer Metaphern, naturromantischer Landschaftsbeschreibungen oder kurzer Dialoge, die an die ionische Naturphilosophie gemahnen. Patricia Brooks zeichnet sehr menschliche Figuren, blickt tief in deren psychische Abgründe, pathologisiert sie aber nicht.


Genre: Erfahrungen, Kunst, Roman
Illustrated by Septime Verlag Wien

Unendlicher Spass

Dieses Werk ist der Ironman der Literatur. Wer dieses Buch wirklich bis zur letzten Zeile durchgehalten hat, sollte vom Rowohlt-Verlag ein Finisher-T-Shirt zugeschickt bekommen. Mit 1551 Seiten oder 3.486 KB setzt David Foster Wallace alles daran, in Marcel Proust’s Fussstapfen zu treten. Die ganz persönliche Lesezeit betrug ein Jahr. War es eine verlorene Zeit? Machen wir uns auf die Suche. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek bei Hamburg

Wie ein Himmel in uns. Meine Nacht allein im Louvre.

 „Na? Wie würdest du die Mona Lisa stehlen?“ Eine Frage, die Vincenzo Peruggia, der Kunstdieb des Gemäldes, während seines Gefängnisaufenthalts 1913 einen Mitinsassen mit einem nicht minder verschmitzten Lächeln hätte stellen können. Wie wahrscheinlich wäre es außerdem, eine ‚Leihgabe‘ des Gemäldes genehmigt zu bekommen, wie im Falle des reichen Entrepreneurs Miles Bron im Film Glass Onion? Realistischer war da schon 2019 die Chance, im Rahmen eines Gewinnspiels mit Airbnb eine Nacht im Louvre zu verbringen. Eine Aktion, die sicherlich auch von Beyonces und Jay-Zs Video zu „Apeshit“ inspiriert wurde.

In „Wie ein Himmel in uns. Meine Nacht allein im Louvre“ von Jakuta Alikavazovic, einer in Paris aufgewachsenen Autorin mit jugoslawischen Wurzeln, ist die Frage nach einem potenziellen Raub der Mona Lisa eine viel komplexere, als Popkultur und Verschwörungstheorien vermuten lassen.

Kunst als Heimatverlust

Die (gestohlene) Mona Lisa wird bei Alikavazovic zum Sinnbild des Heimatverlusts. Nicht zufällig erwähnt die namenlose Ich-Erzählerin, dass Peruggia in seinem Bemühen, das Gemälde dem ‚rechtmäßigen‘ Land seiner Zugehörigkeit zurückzubringen, bis heute als italienischer Nationalheld gefeiert wird. Eine Art Restitution also?

Das Gefühl der verlorenen Heimat wird sowohl direkt durch die Ich-Erzählerin als auch indirekt durch deren Vorgeneration, ihren Vater, empfunden. Dieser spukt in Form von Erinnerungen und Mythen wie ein Phantasma durch das Narrativ der Tochter, während sie – unter dem Vorwand der Recherche für ein Buch – eine Nacht allein im Louvre verbringt. Nach der Flucht vor dem Jugoslawienkrieg nach Frankreich wird der Louvre hauptsächlich für den Vater nicht nur zum Ort der Erkenntnis, dass sich die Erinnerung an die Heimat – Titos kommunistische Utopie vom jugoslawischen ‚Einheitsstaat‘, ähnlich wie Stalins Sowjetunion – als künstliches Konstrukt entpuppt. Genauso verhält es sich mit den zahlreichen Besuchern am ‚Tatort‘ im Louvre, in deren Erinnerung die Mona Lisa während ihrer Abwesenheit 1911-1913 originellere Züge annimmt als in ihrer Anwesenheit. Die Erinnerung an etwas, das es nicht (mehr) gibt.

Kunst als ‚wahre‘ Heimat

Gleichzeitig kann der Vater seine Identität gerade im Louvre jenseits der gesprochenen Sprache mit seiner Affinität zu Kunst(geschichte) ‚neu‘ erfinden. Wenn er seine Tochter also immer wieder fragt „Na? Wie würdest du die Mona Lisa stehlen?“, dann interessieren ihn auch die Möglichkeiten und Grenzen ihrer eigenen Neuerfindung.

Ironischerweise hat auch der ehemalige französische Präsident François Mitterrand den Louvre 1989 ‚renoviert‘, weniger revolutioniert. Der Eindruck von einem ursprünglich aus dem 19. Jhdt. stammenden Adelspalast sollte unter anderem durch den Bau einer Glaspyramide, von der sich der chinesisch-amerikanische Architekt Ieoh Ming Pei absolute Transparenz erhoffte, getrübt werden. Auch wenn Mitterrand mit dieser zur spöttischen „Grabkammer der Sozialisten“ deklarierten Pyramide eine demokratische Geste für ein modernes Frankreich tätigen wollte, wurde der moderne Zusatz vom Volk lediglich geduldet. Selbst wenn die Pyramide mittlerweile bekannter ist als das eigentliche Museum.

Jenseits von Trauma und Exilliteratur. Die Untrennbarkeit von Ästhetik und Politik

In „Wie ein Himmel in uns“ untersucht Alikavazovic mit Fingerspitzengefühl, inwiefern der Akt der ‚Neuerfindung‘, sei es in Bezug auf Kunst, Geschichte oder persönliche Identität, auch mit Scham behaftet sowie eine spielerische Verleugnung der Vergangenheit und des Selbst sein kann. Auch, wie sich das auf Liebe in zwischenmenschlichen Beziehungen auswirkt. Damit knüpft sie teilweise an die Vorgängerromane Corps Volatils, Le Londres-Louxor oder Das Fortschreiten der Nacht an.

In der Manier des Magischen Realismus mit metafiktionalen Elementen lässt sie die Wahrnehmung, Erinnerungen und Erlebnisse der Ich-Erzählerin, des Vaters und anderer Bekannter ineinanderfließen. So gekonnt, dass man Vater und Tochter tatsächlich zutrauen könnte, einen Raubversuch im Louvre zu wagen. Autofiktion und Autobiographie, Ästhetik und Politik gehen somit nahtlos ineinander über.

Alikavazovic lässt sich literarischen Größen wie Vladimir Nabokov (Der Museumsbesuch), David Markson (Wittgensteins Mätresse) oder Annie Ernaux (Die Scham) zuordnen. Nicht nur, aber auch deswegen gebührt der Autorin, die auch David Foster Wallace ins Französische überträgt und von der gerade einmal zwei Romane ins Deutsche übersetzt wurden, mehr Aufmerksamkeit.

Jakuta Alikavazovic: Wie ein Himmel in uns. Meine Nacht allein im Louvre.

Übersetzt aus dem Französischen von Stephanie Singh.

Erschienen bei Hanser.


Genre: Autobiografie, Autofiktion, Kulturgeschichte, Kunst, Roman
Illustrated by Hanser

SCHMERZAMBULANZ

Spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie ist Kranksein zu einem Privileg geworden. Nicht nur wird dieses Privileg immer kostspieliger. In einem intransparenten Gesundheitssystem, das von bürokratischen, wirtschaftlichen und politischen Machtrochaden sowie von mangelnder Kommunikation und Logistik heimgesucht wird, gehen viele Entscheidungen oft auch auf die gesundheitlichen Kosten der Patienten – ohne, dass sie sich dessen bewusst sind oder sich dagegen zur Wehr setzen können.

Der im März 2023 erschienene Roman „Schmerzambulanz“, für den die österreichische Autorin Elena Messner 2022 mit dem Theodor Körner Preis für Literatur ausgezeichnet wurde, nimmt sich dieser Problematik an. Zwischen fiktiven Krankenberichten, erlebten Reden und inneren Monologen changierend, spürt Messner mit einem gnadenlosen Röntgenblick den Lücken und Tücken eines ‚krankenhausreifen‘ Systems nach, dem auch das Krankenhauspersonal zum Opfer fällt.

Leeres Versprechen

Dr. Judit Kasparek, leitende Ärztin der internen Abteilung eines Krankenhauses und hoffnungslose Optimistin, wird mit einem leeren Versprechen um den Finger gewickelt: Sie hat ihren Ausbildungsplatz an der besten Klinik des Krankenhausverbundes verlassen, um an ihrer neuen Arbeitsstelle eine Schmerzambulanz mit diversen Therapieangeboten aufzubauen. Aber der Weg dorthin ist noch lange nicht geebnet. Die Stolpersteine häufen sich nur so an.

Messner beschreibt ein – nicht beim Namen genanntes – österreichisches Krankenhaus als rentable Betreibergesellschaft, die lieber auf geliehene Ärzte und Pflegekräfte statt auf fix angestelltes Personal setzt. Seit geraumer Zeit wird vergeblich bei diversen Medizinmessen wie Arab Health neues medizinisches Equipment angefragt. Auch bei der Produktion und Lieferung von Medikamenten ist man auf externe Pharmakonzerne angewiesen – Stichwort China und Indien als neue Weltapotheke. Antibiotika und Erkältungsmedikamente gehören in Österreich schon seit Monaten zur Mangelware. Vielversprechende Studien zu neuen Schmerztherapien werden nicht zur Kenntnis genommen oder unter den Teppich gekehrt. Pflegekräfte werden nicht in die ärztliche Beratung miteingebunden. Dann wären da noch die Unstimmigkeiten bei der Vergabe von Medikamenten, und, und, und. Die Liste ist unerschöpflich.

Der Fall der 78-jährigen Barbara Steindl bringt das Pulverfass endgültig zum Explodieren: Nach einer nicht eindeutig erklärbaren Verschlimmerung des Gesundheitszustandes der Patientin sieht sich Judit dazu verpflichtet, ein Ethik-Konsil einzuberufen, womit sie den Groll all jener Angestellten auf sich zieht, die die Patientin betreut haben. Die Autorin lässt dabei die Frage offen, ob es sich um einen schlecht getarnten Racheakt wegen des nicht eingehaltenen Versprechens handelt, oder ob Judit den Fall der Patientin, in deren Alter ihre Kollegen die Ursache für deren „Gebrechlichkeit“ sehen, einfach nicht über einen Kamm scheren will.

Gleichzeitig versäumt Messner es nicht aufzuzeigen, wie das gesamte Personal unterschiedlicher sozialer Klassen auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und Schuldzuweisungen und die Instrumentalisierung der Patientin Vorrang gegenüber gemeinsamen Lösungen haben. So nimmt die Freundschaft zwischen Judit und der Anästhesistin Asja einen Kollateralschaden. Die Paranoia von Krankenpfleger Jovo wird zum Nährboden für fatale Missverständnisse. Vor ihnen ist auch nicht Judits Mentor, der Oberarzt Tom Trattner, gefeit. In ihm sieht wiederum der Bettenschieber Cveto, dem die Ausbildung zum Pfleger fehlt, eine Möglichkeit, sich beruflich über Wasser zu halten.

Wissenswertes und Sarkasmus

Messner gelingt es, in 226 Seiten viel Wissenswertes und selbst Recherchiertes über das (österreichische) Gesundheitssystem zu packen. Man erfährt unter anderem, dass die Richtlinien privater Krankenkassen im Krankenhaus Behandlungsmaßnahmen erzwingen, die der Patientin Steindl aber nicht zugutekommen. So werden nicht unbedingt notwendige Infusionen nur deswegen verabreicht, weil sie abrechenbar sind und die alleinige Einnahme von zu schluckenden Medikamenten finanziell nicht in der Krankenkasse inbegriffen ist. Da verwundert dann auch ein fiktiver Chirurg nicht, der angeblich die Kosten für einen Eingriff am Körpergewicht seiner Patienten misst.

Ein flüssig geschriebener, gelegentlich auch poetisch angehauchter Roman, der für notwendiges Unbehagen sorgt. Allerdings wird das Aufbrechen konventioneller Geschlechterrollen im Gesundheitswesen eher belächelt denn befürwortet, etwa wenn ein junger Krankenpfleger eine On-Off-Beziehung zu einer älteren Ärztin führt oder ein homosexueller Bettenschieber dem Oberarzt während des Ethik-Konsil unterstützend zujubelt. Trotz mancher Unwahrscheinlichkeiten wie der befürchteten Kündigung von Pflegern, auf die die Spitäler im Jahr 2023 mehr denn je angewiesen sind, überzeugt „Schmerzambulanz“ mit wahrheitsgetreuen Schilderungen.


Genre: Belletristik, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Edition Atelier

Eurotrash

Christian Kracht ist Schweizer mit deutschen Wurzeln. Er sieht sich selbst als Kosmopolit. Nach eigener Aussage begreift er seine Romane eher „humoristisch“, löst mit seinem Werk und Leben allerdings häufig heftige Kontroversen aus. Ein Mensch und Autor, der nicht einzuordnen ist, und der in Eurotrash offensichtlich immer noch nach seinem eigenen Platz und Stellenwert in einem Leben sucht, dessen materielle Rahmenbedingungen andere bei einem flüchtigen Blick neidvoll als beste Voraussetzungen für unbeschwertes Glück ansehen würden. Weiterlesen


Genre: Autobiografie, Erinnerungen, Gesellschaftsroman, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Melody

Cover Suter MelodyMartin Suter ist ein Autor, der meisterhaft erzählen kann. Sein Roman »Melody« steht für dieses handwerkliche Vermögen. Mit geschickt belegten Häppchen fördert er den Appetit des Lesers und lockt ihn vordergründig in die Geschichte einer großen Liebe. Seine auf den ersten Blick melodramatische Schilderung der unerfüllten Liebe eines alten Mannes zu einer bildschönen jungen Frau aus einem anderen Kulturkreis entwickelt er mit vielen geschickt eingebauten Cliffhangern und Wendungen durchaus spannend bis zur letzten Seite und beleuchtet dabei sein Thema immer wieder neu. Weiterlesen


Genre: Liebesgeschichte, Roman
Illustrated by Diogenes

Nachmittage

Ein neuer von Schirach. Ab dem Erscheinungstag auf Platz 1 der Spiegelbestsellerliste. Ferdinand von Schirach ist derzeit der erfolgreichste und berühmteste Schriftsteller Deutschlands. Aber nicht nur das, seine Geschichten und Romane werden in über 40 Sprachen übersetzt und ganz viele für Leinwand und Fernseh-Serien verfilmt.

Nun sind es sechsundzwanzig Kurzgeschichten, die der Autor an unterschiedlichste Schauplätze lokalisiert (Taipeh, Tokio, Marrakesch, Zürich, Wien, New York, Oxford, Pamplona, Oslo, Paris) und die manchmal auch nur Gedanken über wenige Zeilen sind. Im Gegensatz zu „Schuld“, „Verbrechen“ und „Strafe“ handelt es sich im Wesentlichen nicht (bzw. nur in einer Story) um Kriminalfälle aus seinen Zeiten als Strafverteidiger. In Anlehnung an „Kaffee und Zigaretten“ beinhaltet sein neuestes Buch wieder eine Sammlung von Begegnungen, Beobachtungen, Momenten, Notizen.

Man kann von Schirach lieben.

Für sein unglaubliches Repertoire an Erlebnissen.

Für seinen reduzierten Schreibstil mit dem Herunterbrechen der Sprache auf Hauptsätze (laut der WELT deshalb als der deutsche Raymond Carver bezeichnet). Eine Sprache, die es einem leicht macht, in einem angenehmen Flow zu lesen, zu folgen, zu verstehen, auszumalen und in die Geschichten eigene Farben und Bilder einzubringen.

Für Geschichten, die auf den Punkt kommen und die nach einem gezielten, aber doch unmerklichen Stimmungsaufbau schleichend auf Pointen im genau richtigen Augenblick zusteuern, oft als Finale furioso mit einem Schlüsselsatz oder einem Ein-Wort-Tusch am Ende der Erzählung.

Für Gedanken, die als fast musikalisch-harmonisches Fade-out ausklingen und einen sinnierend zurücklassen.

Für die Offenheit, dass ihm „seine eigenen Bücher fremd werden, wenn er über sie sprechen muss“ oder dass er sich bei Einladungen nicht als der „Ehrengast, sondern als der Hofnarr“ fühlt.

Man kann mit von Schirach leiden.

Wenn er von seiner Jugend in einer vom Nationalsozialismus gezeichneten Familie berichtet (sein Großvater Baldur von Schirach stand als Kriegsverbrecher vor dem Nürnberger Tribunal): „Ich war nicht der Sohn aus gutem Haus, weil es kein gutes Haus mehr war.“

Wenn er – völlig untypisch für von Schirach, der sein Privatleben immer schon zum absoluten Tabu-Thema macht – , die Scheidung seiner Eltern und den Tod des Vaters im Alkoholismus erwähnt.

Wenn er  – in Analogie zum Zitat des Don Fabricio aus einem seiner Lieblingsbücher „Der Leopard“ von Giuseppe di Lampedusa – zugibt, dass es auch bei ihm im Laufe seines Lebens nur „zwei bis drei Jahre“ waren, „in denen alles stimmte“.

Wenn schemenhaft eine verflossene Liebe auftaucht, die er einmal in New York kennenlernte, die er aber irgendwann verloren hat und offenbar schmerzlich vermisst. Ganz viel Melancholie beim feinsinnigen Juristen, der als Strafverteidiger mit mehr als einem schrecklichen Verbrechen konfrontiert war, von dem man aber auch weiß, dass er in der Vergangenheit unter depressiven Episoden zu leiden hatte. Da ist Thomas Manns Zitat aus dem Zauberberg „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“ schon fast eine Affirmation.

Man kann von Schirach hassen.

Wenn er unablässig darüber klagt, wie er sich nach der Theaterpremiere todmüde ins Hotel schleppt, nach einem langen Flug völlig erschöpft ist, nach wieder einer dieser vielen Lesungen mit ach so vielen anstrengenden Fragen keine Lust mehr auf Unterhaltungen jedweder Art hat.

Wenn er seine Freundin, die erfolgreiche Konzertpianistin, doch ach so sehr beneidet, dass sie es geschafft hat, aus dieser Marketing-Maschinerie auszusteigen, die Kunst und Künstler vergewaltigt.

Was für eine elegische Klage in extrem losgelöster Position und auf extrem hohem Niveau. Was für ein divenhaftes Gezeter eines Mannes im Olymp der Literatur. Jeder Jungautor würde liebend gerne sofort mit ihm tauschen und dieses ach so schreckliche Schicksal an seiner Statt erdulden. Und es gibt einen, der dieses schreckliche Autoren-Leben sofort ändern und aus diesem Hamsterrad der Vermarktung ad hoc aussteigen kann – Ferdinand von Schirach.


Genre: Belletristik, Erinnerungen, Erzählung, Roman
Illustrated by Luchterhand

Großmutters Haus

Thomas Sautner – Großmutters Haus

Großmutters Haus. Der aus dem Waldviertel stammende Autor ließ zuletzt (2023) mit einem amüsanten Roman über zwei alte Männer aufhorchen, die sich ihren Lebensabend mit der Gesellschaft einer gewissen Julia versüßen. Aber auch zuvor schon hat sich der fleißige Essayist immer wieder interessanten Außenseitern unserer Gesellschaft gewidmet. Darunter etwa ein ein Roman über die Jenischen, die fahrenden Gesellen, in “Fuchserde” (2008), aber auch der Hanf anpflanzenden Großmutter von Malina, seinem alter ego.

Großmutters Haus: Refugium der Triebe

Für “Großmutters Haus” schlüpft der Erzähler Sautner in die Rolle einer Frau, der jungen Malina, die von ihrer tot geglaubten Großmutter, Kristyna, eines Tages ein großes Paket bekommt. Bald findet sie heraus, warum ihre Großmutter in ihrer Verwandtschaft eine “persona non grata” angesehen wird und gerne totgeglaubt wurde, aber im Gegenteil sehr lebendig ist. Sie ist nämlich zu genau jener verrückten alten Frau geworden, die schon Brecht in seiner Kurzgeschichte “Die unwürdige Greisin” 1939 beschrieb: Eine Frau, die sich über alle Konventionen hinwegsetzt und einfach das tut, was sie will. So nimmt sie sich nicht nur mehrere Liebhaber, sondern pflanzt in ihrem Haus im Wald auch noch ein Kraut an, das für manche Spießbürger einige Offenbarungen bereithält. Wenn wir hier von “Trieben” sprechen, sind also durchaus auch pflanzliche und nicht nur menschliche gemeint.

Zeit: eine physikalische Wechselbeziehung

Drei Sorten sind es sogar, die sie eigenhändig kreiert: die “Godfather5000”, die “Sputnik” und die “Able”. Alle drei haben unterschiedliche Auswirkungen und natürlich hängt es auch von dem ab, der sie raucht, was mit ihm oder ihr dann passiert. Malina zum Beispiel verliebt sich in Jakob, den schweigsamen Besucher ihrer Großmutter, der ihr immer wieder unter die Arme greift. Manchmal noch mehr. Aber es gibt ja auch noch andere Männer, die Kristyna besuchen, während Malina über die Literatur, das Bücher lesen und den Sinn des Lebens nachdenkt. An einer Stelle setzt sie sich etwas mit der Zeit auseinander und begreift, dass diese ein Teil von uns ist. “Ich denke, dass die Zeit uns ausmacht” beschließt sie eines abends, es sei wie eine physikalische Wechselbeziehung, denn auch wir würden sie beeinflussen, nicht nur sie uns. “Wenn ein Bild, ein Buch, eine Lebenszeit glückte, waren Inhalt und Form eins“. Form follows function, FFF, der Designleitsatz aus dem Produktdesign und der Architektur wird für Marina zum Lebensmotto. “Die Form folgt immer der Funktion, und dies ist das Gesetz. Wo die Funktion sich nicht ändert, ändert sich die Form nicht.“, wusste Louis Sullivan schon 1896. Aber was bedeutet das Sullivan-Axiom für das Leben im Allgemeinen und für Malina im Speziellen?

Anker in stürmischer See

Die durchwegs amüsante Geschichte von Krystina und ihren unterschiedlichen Liebhabern wird für ihre Enkelin Malina zum formgebenden Erlebnis ihrer Adoleszenz, ihrem “Coming of Age”, wie dieser Lebensabschnitt in dem sie sich befindet gerne genannt wird. Denn es sind vor allem die Freunde und das soziale Milieu der Großmutter, die Marina für ihr Leben prägen werden und einen wichtigen Einfluss auf ihre Genese haben. Malina hat Glück, dass sie eine so coole Großmutter hat, denn das ist eine Ressource, die ihr immer wieder nützlich sein wird. Der Generationenvertrag sollte noch einmal neu überdacht werden, neu geschrieben werden. Vielleicht sind “Zwei alte Männer” (2023) und “Großmutters Haus” (2019) beide ein Plädoyer dafür, alte Menschen wieder mehr in unseren Alltag zu integrieren. Denn sie sind eine unglaubliche Ressource für uns alle. “Der Mond stand am Himmel wie eine Schüssel dampfende Vanillemilch”, schreibt Thomas Sautner. Sie, die “Alten”, sind die eigentliche “Tätowierung”, die sich unser Fleisch eingebrannt haben, die “ein Anker (sind), der sie (uns) während der Fahrt auf das offene Meer an daheim erinnerte, an den sicheren Hafen, den es gab, geben musste, irgendwo“. Gut immer wieder daran erinnert zu werden, dass man wo hingehört.

Thomas Sautner
Großmutters Haus. Roman
2019, Hardcover, 252 Seiten
ISBN 978-3-7117-2076-4
Picus Verlag
€22,00


Genre: Roman
Illustrated by Picus Verlag

Die Eingeborenen von Maria Blut

Die Eingeborenen von Maria Blut – Maria Lazar

“Die Eingeborenen wollen ihren Messias haben”, meint Meyer-Löw, prophetisch in Maria Lazars 1935 fertiggestellten Roman, der erst 1958 veröffentlicht wurde. Maria Lazar ist heute noch eine gänzlich Unbekannte in der österreichischen oder deutschsprachigen Literaturgeschichte und das obwohl sie nicht nur Oskar Kokoschka (“Dame mit Papagei“) porträtiert hatte, sondern sie sogar in Peter Weiss’ “Ästhetik des Widerstands” einem gewissen Bertolt Brecht die Stirn bietet. Ganz zu schweigen von ihrem eigenen Werk, das neben zwei Werken zum Herandäuen des Klerikalfaschismus und Nazismus in Österreich aus den Dreißigern, sich sogar bis Anfang der Zwanziger zurückverfolgen lässt und neben Prosa und Lyrik auch Theaterstücke umfasste.

Österreich zwischen Faschismus und Nazismus

In “Die Eingeborenen von Maria Blut” nimmt Maria Lazar, die Entwicklung, die ihr Heimatland Österreich in den Dreißigern nehmen wird, schon vorweg. Der Titel ist gut gewählt, verknüpft er doch die vermeintliche Landidylle eines provinziell geprägten Landes mit dem Katholizismus. Dass sich Marienkult und Geschäft schon immer gut verbinden ließen und für so manchen Wallfahrtsort, wo diverse Wunder geschehen, die Kasse (oder den Opferstock) klingelt, dürfte seit der österreichischen Satire “Braunschlag” kein Geheimnis mehr sein. Maria Blut wird im Roman sogar dreimal als “österreichisches Lourdes” bezeichnet, wo nicht nur Wunder geschehen, sondern damit auch einiges verdient wird. Auch ein Wunderheiler beteiligt sich am Schröpfen der Ahnungslosen von Maria Blut und trägt so zur Wundergläubigkeit der Bevölkerung bei. Aber natürlich gibt es auch in Maria Blut Ungläubige und Verräter, so zum Beispiel der Sozialdemokrat Lohmann, der Arzt des Dorfes, oder der bereits eingangs erwähnter Meyer-Löw, der Jurist des Dorfes.

Die Eingeborenen von Maria Blut

Beiden wird von den Eingeborenen allerhand angedichtet und nachgesagt, aber nichts davon ist wahr. Aber Gerüchte und Tratsch halten die Dorfgemeinschaft der Eingeborenen eben zusammen und schaffen Identität nach außen. Auch die Wipplingers oder die Marischka, Haushälterin und Köchin, gehören zum sympathischen Teil der Dorfbevölkerung, während der Rest entweder klerikal oder nazistisch geprägt ist. Die Prädispositionen der katholischen Provinz für den Faschismus werden in Maria Lazars Roman schonungslos und authentisch dargestellt und gipfeln in dem allgemein verbreiteten Hass auf das Rote Wien, das all das verkörperte, was wohl die Bibel als “Sodom und Gomorrha” bezeichnete. Maria Lazar antizipierte in ihrem Roman nichts weniger als den herannahenden Untergang der zivilisierten Welt oder wie es Meyer-Löw ausdrückt: “Es kommen grausame Jahre”.

Nationalsozialismus Made in Austria

Für all jene, die heute immer noch behaupten, man hätte nichts gewusst oder nichts wissen können, sei “Die Eingeborenen von Maria Blut” ins Stammbuch geschrieben, denn es legt bitteres Zeugnis darüber ab, dass der Nazismus kein preußisch-junkerisches Phänomen war oder gar auf Bismarck oder Friedrich den Großen zurückgeführt werden könne, sondern original “Made in Austria”. Der Antisemitismus und Slawenhass entstand nämlich in Böhmen und wurde von einem “böhmischen Gefreiten” zur Ideologie eines rassistischen Herrschaftssystems, das selbst die größten Despotien der Gegenwart und Vergangenheit im Ausmaß seiner Grausamkeit noch heute in den Schatten stellt stilisiert. Abschließend kann ich nur beipflichten, was Birgt Nielsen mit folgenden Worten ausdrückt: “Die zwei Romane über Österreich (Leben verboten! und Maria Blut, JW) verdienen es, dass sie heute im Zusammenhang mit den Reflexionen über die Vergangenheit in Österreich neu aufgelegt werden.”

Neuauflage des Gesamtwerks

Dies hat der Wiener DVB (“das vergessene buch”) Verlag dankenswerterweise in besonders schönen gebundenen Ausgaben 2020 gewagt und somit ist es auch ihm zu verdanken, dass 2022/23 vorliegender Roman von Maria Lazar am Wiener Akademietheater in einer Adaptation als Bühnenfassung von Lucia Bihler und Alexander Kerlin als Theaterstück gespielt wird. Diese Inszenierung wurde auch zum Berliner Theatertreffen 2023 eingeladen. Maria Lazars Gesamtwerk umfasst acht Romane, drei Dramen, eine Zitatensammlung, Gedichte, einige Essays und viele Artikel aus der Zeit als Publizistin und Journalistin für Der Tag, Das Wort u.a. Näheres zur Biographie erfährt man in dem lesenswerten Nachwort von Prof. Johann Sonnleitner zu Leben und Werk der wiederentdeckten Autorin.

Maria Lazar
Die Eingeborenen von Maria Blut
2., durchgesehene Auflage.
Mit einem umfangreichen Nachwort von Johann Sonnleitner
2020, hochwertiges Hardcover mit SU, Prägung und Lesebändchen, 313 Seiten
ISBN 978-3-903244-06-1
DVB (“das vergessene buch”) Verlag
24 Euro


Genre: Faschismus, Nationalsozialismus, Österreich, Roman
Illustrated by DVB Verlag

Drei fast geniale Freunde auf dem Weg zum Ende der Welt

Der schwedische Autor Jonas Jonasson gehört zu den Autoren, die aus jedem Buchtitel eine Kurzgeschichte machen. „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ war sein Erstlingswerk, das den Journalisten auf einen Schlag weltberühmt und reich machte, da es sich nicht nur millionenfach verkaufte, sondern auch in 45 Sprachen übersetzt und verfilmt wurde. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Erzählung, Roman, Romane
Illustrated by C. Bertelsmann München

Tomás Nevinson

Der letzte Roman des Romanciers Javier Marías

Tomás Nevinson. Das auf Deutsch 2019 erschienene „Berta Isla“ bildet mit “Tomás Nevinson”, das im Todesjahr des spanischen Autors, 2022, erschien, quasi ein Roman-Diptychon über die beiden gleichnamigen Eheleute. Javier Marías nennt seine beiden Romane im Nachwort zu vorliegender Ausgabe ein “Paar”, kein Fortsetzung. In seiner schon zuvor unter Beweis gestellten “Poetik der Abschweifung” gibt sich Javier Marias wieder ganz seinem eigentlichen Leitmotiv hin: die Unmöglichkeit, den anderen wirklich zu kennen.

Tomás Nevinson: Don’t linger and delay!

Bertram “Bertie” Tupra, der Chef des Geheimdienstes wendet sich erneut an Tomás Nevinson, der eigentlich mit seinem alten Arbeitgeber schon abgeschlossen hat. Seine Ehe mit Berta Isla war aufgrund seiner Arbeit tief zerrüttet worden, wovon der quasi erste nach ihr benannte Teil des Roman-Diptychons ausführlich Beweis ablegt. Zwischen der spanischen ETA und der irischen IRA, beides zwei Terrororganisationen, die die Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts beherrschten, so wie es heute die Dschihadisten tun, musste Tomás mit seinem natürlichen Talent für beide Sprachen dem Geheimdienst stets zur Stelle sein. Auch dieses Mal, im quasi zweiten Teil, sind wieder seine Sprachkenntnisse gefragt, denn er soll für Tupra eine nordirische Terroristin namens Magdalena Orue O’Dea enttarnen.

Drei Frauen im Terrorverdacht

Als Deckidentitäten wurden vom Geheimdienst drei Frauen eingekreist, die als Magdalena in Frage kämen: Maria Viana, Celia Bayo und Inés Marzán. Alle drei leben im Nordosten von Madrid in dem Städtchen Ruan. Nevinsons Aufgabe ist es nun, die “richtige” der drei Frauen als Magdalena Orue O’Dea zu identifizieren und dann zu liquidieren. Er hatte in seiner Laufbahn beim Geheimdienst schon zwei Männer umgebracht. Nun tut er sich allerdings als Vertreter der alten Schule noch etwas schwer bei dem Gedanken, eine Frau umzubringen. Erst als ihm sein Arbeitgeber, Tupra, unter Druck setzt und meint, ansonsten alle drei zu füsilieren, wenn er sich nicht für eine entscheiden könne, beginnt Nevinson zu spuren und will die Mordtat umsetzen. So kann er wenigstens zwei der drei Frauen “retten”. Aber genauso gut kann es sein, dass er selbst zum Opfer der Terroristin wird, da diese längst Lunte von seinem Vorhaben gerochen hat. Wird als der Verfolger bald zum Verfolgten? Auch dadurch erreicht Javier Marías ein “Moment der letzten Spannung”, das die Handlung in der Peripetie des Romans jederzeit wieder herumreißen könnte.

Der rote Faden: (Un-)Schuld

Als roter Faden des Romans kann zweifellos die Frage gelten, ob es legitim sei, einen Menschen zu töten, um ein Blutbad an der Menschheit zu verhindern. Marias bringt dabei immer wieder das Beispiel eines vermeintlichen Hitler-Attentäters, der diesen vom Wald in Berchtesgaden zwar im Korn hatte, beim Laden einer echten Patrone aber erwischt und verhaftet wird. Dieses vereitelte Attentat ist quasi die Mise en abyme des Romans Tomás Nevinson und der Person Tomás Nevinson. Lassen sich Schuld und Unschuld eines Menschen zweifelsfrei erkennen und vor allem beweisen? Und darf man einen Menschen töten, um ein größeres Verbrechen zu verhindern? Im Falle Hitlers wäre diese Antwort zweifellos einfacher mit “Ja” zu beantworten, als im Falle von Magdalena Orue O’Dea. Denn die Terroristin ist ja seit einiger Zeit untergetaucht und bereut vielleicht ihre Taten bereits.

Reue nur durch Misserfolg

Aber ist diese Reue ausreichend für eine Entschuldung? Die Massaker der Vergangenheit wiegen schwer und auch die Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation, die vor allem zivile Opfer im Visier hat, wäre eigentlich schon Grund genug, sich mit Schuld zu beladen. Und überhaupt Reue! Der einzige Grund zur Reue sei nicht nur bei einem Mörder der Misserfolg. “Dass ein Spiel schiefgeht. Die gelungenen beklagt man nicht, auch nicht die ungestraften.” Wenn es die mangelnde Reue ist, die einen Menschen vom Unschuldigen zum Schuldigen stempelt, sind wir dann nicht alle verurteilenswert? Und noch eine Frage steht ganz deutlich im Raum dieses Jahrhundertromans: Machen wir uns alle nicht gegenseitig etwas vor?

Maxime des 21. Jahrhunderts

Ist die Lüge nicht längst zum geheimen Credo dieses so scheußlich gewordenen 21. Jahrhunderts geworden? Die Lüge und die Täuschung, ja. Javier Marías’ letzter Roman ist voller Anspielungen und Zitate, darunter auch eine Huldigung an die drei Musketiere von Alexandre Dumas u.v.a.m. Aber auch Beispiele aus der Geschichte holt der Autor aus dem Vergessen und flechtet sie ein in diesen Roman der Abschweifung. Der Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen zeigt auch in seinem letzten Roman, dass es der Zweifel und der Selbstzweifel sind, die uns eigentlich zu den Menschen machen, die wir sind. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Am 11. September 2022 ist Javier Marías in Madrid verstorben.

Javier Marías
Tomás Nevinson. Roman.
Übersetzt von: Susanne Lange
2022, Hardcover, 736 Seiten
ISBN: 978-3-10-397132-3
S. FISCHER Verlag


Genre: Krimi, Roman, Spanien
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Die Kakerlake

Zuallererst: Nicht überall, wo Ian McEwan drauf steht, ist auch Ian McEwan drin. Wer als Leser also das übliche, flüssig-harmonische Gleiten einer bisweilen pointierten, aber immer eingängigen Handlung wie in „Honig“ oder „Solar“ erwartet, sei vorgewarnt. Surrealistische Trends wie in „Der Tagträumer“ haben bereits aufblitzen lassen, dass der Autor auch anders kann, wenn er will. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Humor und Satire, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Diogenes

Das Archiv der Gefühle

Nach der vorausgehenden Lektüre von Orhan Pamuk, Richard Powers und Jonathan Franzen kann man den Schweizer Autor Peter Stamm mit Fug und Recht als echtes Kontrastprogramm bezeichnen. Nach Büchern mit einer blumigen bis schwülstigen Sprache, bunten und detaillierten Bildern, feinsinnig gerankten bis langatmigen Familiengeschichten und teilweise aufwühlenden Emotionen ist die Umstellung zu „Das Archiv der Gefühle“, als hänge man Pieter Bruegel den Älteren neben Mondrian.

Aber – im einen wie im anderen Fall – absolut wohltuend und bereichernd. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Erzählung, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Hinterher

Hinterher – vielversprechendes Debüt

Hinterher. Liebeskummer. Wie kann man sowas überhaupt überleben? Wer dachte dieses Lebensgefühl, Liebeskummer, sei nur ein Problem von Pubertierenden wird in “Hinterher” eines besseren belehrt. Im Debüt des in Hannover geborenen Finn Job wird dem guten alten Liebeskummer ein trashiges und gleichzeitig intellektuelles Denkmal gesetzt, das so richtig reinhaut. Ein Roman wie ein Film, kurz und schmerzlos und direkt in die Arterien. So mag man Literatur.

Wir Kinder von Neukölln

Chaim, die große Liebe von “Boy”, wie ihn sein Freund Francesco liebevoll nennt, hat sich nach Israel abgesetzt. Boy bleibt allein in Berlin-Neukölln zurück und wird von einem Fahrrad angefahren, das ihm seine missliche Lage erst so richtig zu Bewusstsein bringt. Als im selben Moment Francesco mit dem Porsche Cayenne seiner Mutter um die Ecke schießt, steigt Boy ein und es beginnt ein abenteuerlicher Roadtrip in die Normandie. Dort soll er für Gédéon, einem Freund Francescos, ein altes Hotel wieder herrichten. Stattdessen hilft er dann aber Francesco, der eine verfallene Kirche mit Alufolie verkleiden will, um damit eine ganz bestimmte Botschaft zu transportieren. Da die beiden aber schon während ihrer Autofahrt in die Normandie nicht zu koksen aufhören konnten, gelingt schließlich weder das eine noch das andere Projekt.

Dem Leben & der Liebe “Hinterher”

Dazwischen erfährt der Leser viel über die Diskurse in der sich die Neuköllner junge Erwachsenenwelt befindet. Dass Schwulsein in Neukölln immer noch ein Problem zu sein scheint und es besser ist, sich dort nicht auf der Straße zu küssen, müssen Chaim und Boy am eigenen Leib verspüren. Aber dass dann selbst die eigene WG zum “Pack” gehört, das andere aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ausgrenzt, wiegt noch schwerer. “Pack” ist nämlich genau das Wort, das Boy für ihre Verfolger verwendet und auch ihn aus dem Kreis seiner politisch (über)korrekten Freunde ausschließt. Auch deswegen versprach die Flucht mit Francesco in die Normandie ein neues L’Chaim, ein neues “Leben”.

Wilde Flucht im Cayenne

Il n’y a pas de hors-texte“. Als dann die Drogen ausgehen – oder zumindest deren Qualität nachlässt – wird alles noch viel schwieriger und es gibt bald kein Entrinnen mehr. Dass man mit Anfang zwanzig schon so kaputt sein kann, ist kaum zu glauben, aber wohl in den Großstädten dieser Welt längst bittere Realität, wie wir ja schon seit Christiane F. wissen, die sogar noch viel jünger war, als sie auf den berühmten Hund kam. Finn Job hat seine surreale Reise in einer packenden Sprache geschrieben, die richtig über die Seiten fliegen lässt und bis zur letzten Sekunde spannend und hochtrabend bleibt. “Es war, als hätte ich mein Leben angehalten und wäre dennoch sehr alt geworden.” Finn Job bezieht sich nicht nur auf die aktuelle Populärkultur wie Songs u.ä., sondern auch viele literarische Vorbilder und kennt auch einige gute Maler.

Hinterher: vielversprechendes Debüt

Seine Referenzen sind gut nachvollziehbar und lohnen dem Nachverfolgen. Einer, der seine Hausgaben gründlich gemacht hat. Denn seine sprachlichen Bilder sitzen auch farblich. Er begibt seine Protagonisten in absurde und aberwitzige Situationen und es ist ein wahres Vergnügen, dabei förmlich zuzusehen, wie den beiden alles entgleitet. Vieles mag als purer Zynismus abgetan werden, aber hat ein Mensch, der vor enttäuschter Liebe buchstäblich zerbricht, nicht jedes Recht der Welt?

Ein Roman-Ende das förmlich nach einer Fortsetzung schreit. Bitte mehr!

Finn Job
Hinterher. Roman
2022, 192 Seiten. Klappenbroschur
ISBN 978-3-8031-3348-9
Wagenbach Verlag
Buch 22,– € / E-Book 18,99 €


Genre: Große Liebe, Kultur, Popkultur, Roman
Illustrated by Wagenbach