Altes Land

altesLandVera ist fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter auf dem großen steinernen Gutshof im alten Land, dem großen Obstanbaugebiet unweit von Hamburg strandet. Sie sind 1945 aus Ostpreußen geflohen, die wortkargen Norddeutschen heißen die Flüchtlinge nicht gerade willkommen. “Diet Huus is mien un doch nich mien, de no mi kummt, nenn’t ook noch sien” steht über der Tür. “Von mi gift dat nix!“ ist der einzige Satz, den die alte Bäuerin zu den Flüchtlingen spricht.

Vera wird ihr Leben auf diesem Hof verbringen, aber mehr als “die Fremde” wird sie nie sein – immerhin schon ein Fortschritt zum “Polackenkind”. Sie wird das Haus erben, jedoch nie die Kraft finden, es instandsetzen zu lassen. Es ist ihr Haus und doch nicht ihr Haus, ganz so wie die Inschrift über der Tür es dunkel prophezeit. Sechzig Jahre später steht ihre Nichte Anne mit ihrem kleinen Sohn vor der Tür. Auch Anne ist ein Flüchtling, aber sie flüchtet nicht vor Krieg, Elend und Vertreibung, sie flüchtet aus ihrer Ehe, weil ihr Mann eine andere liebt und sie das nicht einfach sachlich abwickeln kann und will, so wie es die ungeschriebenen Gesetze der Hamburg-Ottenser Vollwert-Schickeria es diktieren. Nun will sie dort Fuß fassen, wo schon ihre Oma nie Fuß fassen konnte.

Vera und ihre Mutter waren preußisch bis in die Knochen, ungeachtet der ihnen entgegengebrachten Ablehnung kämpften sie stoisch und standesbewusst um ihr Bleiberecht. Die Mutter machte Nägel mit Köpfen, in dem sie den Sohn des Hauses heiratete, doch dann flieht sie weiter und schafft durch die nächste Heirat eine weitere Stufe der gesellschaftlichen Leiter im Wirtschaftswunderland. Ihre wunderliche Tochter Vera lässt sie bei ihrem ersten Mann auf dem Hof zurück. Vera erkämpft sich gegen alle Widerstände ein Studium und wird die Zahnärztin des Dorfes. Man begegnet mit einer Art widerwilligem Respekt, doch mehr ist es nie geworden.

Dörte Hansen gibt in ihrem Debütroman “Altes Land” einen Einblick in das Leben und den Alltag der Menschen in den Elbmarschen, in ihre doch recht eigene Welt, ihre Wertvorstellungen und vor allem in die Maßstäbe, die sie an sich und gnadenlos auch an ihre Mitmenschen anlegen. Es ist die Welt des alten Hinni, der zwar drei Söhne, aber keinen Erben für seinen so penibel gepflegten Hof hat, des Bauern Dirk und seine Frau Britta, die ihren Obstanbau klassisch betreiben – sprich mit viel Chemie und die sich von den Stadtflüchtigen bedrängt fühlen. Von jenen “möchte-gern-Kreativen”, die es aus der Hektik der Großstadt hierhin verschlagen hat und deren Welt es nie werden kann. Die Sehnsucht nach der heilen Welt auf dem Lande -die Marotte unserer Zeit, man kennt das. In Wahrheit finden “die Stadtflüchtigen” alles allenfalls pittoresk -solange es nur neu ist, aber alt aussieht und was hermacht und man es in Artikeln in Hochglanzmagazinen, die die Seele des gestressten Städters streicheln sollen, verwursten kann. Hauptsache, die “dickschädeligen” Bauern kommen authentisch rüber.

Dem gegenüber stehen die Schilderungen der jungen alternativen urbanen Familien, die doch soviel spießiger und engstirniger sind als noch ihre Eltern. Während Dörte Hanse den knorrigen Menschen aus dem alten Land – ob Alteingessene oder “neu” Hinzugezogene – mit Respekt und Verständnis begegnet, müssen die Übermütter und Väter aus Ottensen sich mit leichtem Spott begnügen. Das gelingt Hansen witzig, mit viel Wiedererkennungswert. Man kennt sie, die bemühten Eltern mit ihren Einkäufen im Bio-Supermarkt, den Baby-Schlafsäcken aus reiner Schafswolle, die ihre Kinder im stylischen Buggy vom Chinesisch für die Kleinsten zur musikalischen Früherziehung karren. Hochbegabte, wohin man schaut, die von in abgeklärten Beziehungen lebenden Eltern wohlwollend zu Höchstleistungen erzogen werden, biologisch korrekt ernährt und in politisch korrektem Sprech geleitet. In Unwissenheit der Tatsache, dass auch Sprache Heimat sein kann. Die Leute im alten Land wissen das, sie benutzen ihr Plattdeutsch als Ausdruck ihrer Zusammengehörigkeit, aber auch als Ausschlußtechnik. Dörte Hansen gibt diese Sprache in manchen Sätzen ganz bewusst so wieder, der Leser muss sie mehrmals lesen und sich laut vorlesen, damit er sie versteht. Aber so versteht er auch, was es heißt, als völlig Fremder in eine in sich geschlossene Gesellschaft zu kommen.

Anne, die gelernte Tischlerin nimmt sich schließlich des alten Hauses an, sie sorgt dafür, dass Wände trocken gelegt, Fenster erneuert werden und die alten Stützbalken wieder gestärkt werden. Sie, die völlig Fremde, wird dafür sorgen, dass ein Jahrhunderte altes Erbe bewahrt werden kann. Und sie sorgt dafür, dass Vera wieder schlafen kann. Auch wenn es bedeutet, dass sie selber wach bleiben wird und die Träume derer behütet, denen das Haus vielleicht doch noch eine Heimat wird – dadurch, dass sie gefunden haben, was sie eigentlich nie suchten – eine Familie. Die Handlung in “Altes Land” ist recht überschaubar, seine Anziehungskraft besteht in Dörte Hansens Schilderungen. Das Buch lebt sowohl von den beschriebenen Gegensätzen, als auch von Dörte Hansens scharfem Blick, von ihrem trockenen Wortwitz und einem hintergründigen, oft erst auf den zweiten Blick erkennbaren Humor. Sie erzählt mit Distanz, die Verbindung zu den Charakteren muss man sich über eine längere Strecke “erlesen”.

“Altes Land” steht seit Monaten auf den vorderen Plätzen diverser Bestsellerlisten. Mit ihrem Buch scheint die Autorin einen Nerv getroffen zu haben. Sie erzählt von der Suche nach Heimat, nach Zugehörigkeit, vom Fremdsein, von der Suche nach dem Platz im Leben. Ich nähere mich diesen Bestsellern ja nach diversen Enttäuschungen mit hoher Vorsicht, aber die Neugier überwog doch. Und – ich mochte das Buch. Sehr sogar. Es ist sehr behutsam erzählt, bei aller Distanz fühlt die Autorin sich gut ein in ihre Charaktere, Manche Personen sind liebevoll gezeichnet, andere wieder witzig, allerdings steht zu befürchten, dass wirklich keiner der Charaktere überzeichnet ist, auch wenn man es gelegentlich hofft. Alleine ihre Beschreibungen der Hamburger Vollwert-Eltern (das ist allerdings nicht Hansestadt-spezifisch, die gibt es mittlerweile überall, sogar im Ruhrpott) lohnt die Lektüre.

In etlichen Feuilletons war von “plumper” Belletristik zu lesen, ich kann dem nicht zustimmen. Belletristik ja, ok. Sind wir wieder bei der alten Frage, warum ist das eine Abwertung? Es geht doch nichts über eine gut erzählte Geschichte. Und ich mochte nicht nur das Buch, welches in seinen besten Momenten an “die hellen Tage von Zsuzsa Bank” erinnert, ich mochte durchaus auch das hoffnungsspendende Ende. Mein persönliches Fazit: Aufgrund der vielen abwertenden Rezensionen habe ich extra so lange gewartet mit meiner Beurteilung. Denn für mich ist ein Buch immer dann ein gutes Buch, wenn es lange nachwirkt. Altes Land habe ich noch im letzten Jahr gelesen und – es wirkt bis heute nach, ist mir bis heute präsent. Daher: Echte, uneingeschränkte Leseempfehlung.

Darüberhinaus – und davon kann in diesen unseren Zeiten gar nicht genug erzählt werden – “Altes Land” gibt eine eindringliche Vorstellung davon, wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich heimatlos ist. Und vor allem, wie es sich anfühlt, wenn man unerwünscht ist, obwohl man im Grunde nichts anderes will als überleben.

Die Journalistin Dörte Hansen lebt in der Nähe von Hamburg. Sie arbeitete als Redakteurin beim Norddeutschen Rundfunk und heute als Autorin für Hörfunk und Print. “Altes Land” ist ihr erster Roman und ein erstaunlicher – meiner Meinung nach verdienter – Überraschungserfolg.


Genre: Romane
Illustrated by Knaus München

Förster, mein Förster

Förster Förster, Schriftsteller mit Schreibhemmung steht kurz vor seinem 50 Geburtstag. Tjanun, so kann es gehen: Gerade noch jung und knackig, das Leben liegt vor einem, findet man sich plötzlich in einem Alter wieder, in dem man einsieht, dass Stracciatella und Pistazie ganz schlecht zusammenpassen. Auch wenn er sich noch so oft einredet, dass es ein Geburtstag wie jeder andere ist und nicht wichtiger als der ein Jahr zuvor – Förster kommt doch ins Grübeln. Die Vollendung des halben Jahrhunderts ist einfach „der Tag, ab dem man sich nichts mehr vormachen kann“.

Wenn er mit sich selbst spricht, dann redet er sich gerne in der Tradition des berühmten Gedichts von Walt Whitman an: “Förster, mein Förster“. Zum Captain hat er es bis jetzt noch nicht so ganz gebracht; das gesteht er sich selber ein – aber wenigstens gehört er noch nicht zum Club der toten Dichter. Auch wenn in naher Zukunft eine Gewebeentnahme dräut. Seine Freundin Monika treibt sich auf den äußeren Hebriden herum, während die Ex Martina es zwar zur bundesweit beliebten Tatort-Kommissarin gebracht hat, am liebsten aber mit Förster zurück in die muffigen Theaterkeller ihrer Jugend möchte. Seine Freunde Brocki und Fränge, mit denen er seit der Schulzeit eine herzliche Männerfreundschaft pflegt, sind auch keine große Hilfe. Fränge ist kurz davor, seine Ehe an die Wand zu fahren und Brocki tut immer noch alles, um cool zu wirken. Auch die Gespräche mit dem alten Nachbarn Dreffke, der nicht mehr so genau weiß, wann er das letzte Mal tot war und dem wohlstandsverwahrlosten Jugendlichen Finn bringen Förster nicht weiter.

Sie alle wissen nicht, wohin genau ihre Reise gehen soll. Das Einfachste wäre es abzuhauen, nach Iowa zum Beispiel oder am allerbesten ganz weit weg ins Outback. Aber zur Not tut es auch die Ostsee. An eben diese wird die leicht demente Nachbarin Frau Strobel von einer Jugendfreundin gerufen, die ganz dringend noch einmal die unvergessene Tanzkapelle Schmidt wiederbeleben muss. Frau Strobel kann zwar die Tücken des Alltags nicht mehr ganz so gut bewältigen, ein glasklares “Ganz Paris träumt von der Liebe” aber entlockt sie ihrem Saxophon noch immer. Vorzugsweise mitten in der Nacht. Da gerade alle nicht viel Besseres zu tun haben, steigt diese ungleiche, bunt zusammengewürfelte Gesellschaft kurzerhand in Fränges halb fertig restaurierten Bulli und begleitet Frau Strobel bei ihrer Reise in eine ruhmreichere Vergangenheit. Und wie das eben immer so ist, wenn eine Geschichte zum Road Trip wird, ist der Weg das eigentliche Ziel. Zumal die Zwischenstopps “praktischerweise direkt auf dem Weg liegen“.

Der Bochumer Schriftsteller und Kabarettist Goosen wird gerne als Chronist der Ruhrgebiets-Gegenwart bezeichnet. Er schreibt aber auch noch eine ganz andere Chronik: die Chronik seiner Generation, der Generation der sogenannten Babyboomer. Goosens erster Roman “liegen lernen” erzählte von einer ersten großen Liebe in den frühen 80ern, “Pink Moon” und “Mein Ich und sein Leben” erzählten vom Erwachsenwerden im sich wandelnden Ruhrgebiet, “so viel Zeit” vom Angekommensein und sich Abfinden mit dem Erwachsensein rund um den 40 Geburtstag. Mit “Förster, mein Förster” nun erzählt er von Freunden, die auf ein halbes Jahrhundert zurückblicken – selbst erste Gedanken an die Rente werden zaghaft zugelassen. Begleitet von einer Mischung aus Melancholie und Wehmut nach diesem “Früher“. Auch wenn ihnen insgeheim klar ist, dass “Je weiter weg, desto schöner das Früher

Überhaupt dieser Bulli. Das knuddelige Gefährt hat in den letzten Jahren ein Comeback hingelegt, als Symbol der Sehnsucht nach vergangenen unbeschwerten Tagen. Erstaunlich, aber irgendwie auch logisch: Mehr Freiheit als in den 70ern und den frühen 80ern hatte diese Generation schließlich nie und wird sie auch nie wieder haben. So ziert der Bulli nicht nur in sattem Bochumer Blau-Weiß das Cover – er spielt auch eine tragende Rolle in Frank Goosens neuem Roman. Fränge, der von allen Freunden am stärksten mit der Midlife-Crisis zu kämpfen hat, hat sich diesen Bulli zugelegt. Hier ein Schräubchen festziehen, da etwas festklopfen, dann noch ein Gestell rein und ab dafür – weg, einfach weg, einem neuen Leben, einem neuen Aufbruch entgegen.

Keine Frage: Etliches kommt einem bekannt vor. Aber – das ist nun mal so heutzutage. Nichts, was nicht schon besungen, verfilmt oder erzählt wurde. Da hält Goosen es ganz pragmatisch mit der alten Weisheit: Man kann das Rad nicht neu erfinden, man kann ihm allenfalls neuen Schwung geben. Er dreht sein Rad im Surrealismus des Alltags, er sieht die Komik im Absurden. Allerdings kann man sich während der Lektüre des Eindrucks nicht erwehren, dass Frank Goosen seine Romane mittlerweile durchaus mit Blick auf die weitere mediale Verwertungskette schreibt. Goosens Werke sind ja zusehends zu einer Art Gesamtkunstwerk avanciert. “liegen lernen” wurde mit großem Erfolg verfilmt, “Radio Heimat” und “Sommerfest” sind gerade in der Kino-Mache, “So viel Zeit” wurde mit kommerziellem Erfolg am Theater Oberhausen dramaturgisch aufbereitet und fester Bestandteil seiner eigenen Bühnenprogramme sind seine Bücher sowieso.

Förster, mein Förster” bereitet dies schon vor. In dem ohnehin sehr dialoglastigen Roman wurde die ein oder andere Passage direkt schon als Drehbuch geschrieben. Das Buch verliert so zwischenzeitlich an Schwung und liest sich streckenweise hölzerner, als man es von Frank Goosen gewohnt ist. Die besten Passagen sind jene, in denen Förster seinen Gedanken freien Lauf lässt oder sich die Freunde in bewährter Manier kabbeln, eben immer dann, wenn er frei von der Leber weg schreibt. (Wie auch auf der Bühne seine stärksten Momente immer die sind, wo er vom Skript abweicht.)

Dennoch: Goosens Werke und auch der neue Roman “Förster, mein Förster” sind Lichtblicke, weil sie ungebrochen hoffnungsfroh Zuversicht vermitteln. Seine Protagonisten kommen zwar bisweilen etwas melancholisch rüber, düstere Melancholie war jedoch noch nie Frank Goosens Ding. Bei ihm ist es eher eine sehnsüchtige, zuversichtliche Melancholie. Wenn irgendwann irgendwer in hoffentlich noch weit entfernter Zukunft in einer Retrospektive ein Fazit ziehen wird, was bleiben wird aus den Büchern von Frank Goosen: Es wird zum einen die fast schon mantrahaft vorgebetete Erkenntnis sein, dass Musik Leben nicht nur begleiten, sondern auch retten kann, zum anderen die Beschwörung der Kraft der Freundschaft. Der nach außen so kumpeligen, raubeinigen Freundschaft, die aber ohne jedes wenn und aber durch dick und dünn geht – Freundschaften eben, wie sie besonders im Ruhrgebiet gepflegt und zelebriert werden. Liebe auch – von Liebe ist auch immer wieder die Rede. Doch auch wenn Montagues und Capulets in allen denkbaren Entwicklungsstadien den Roman bevölkern, im Goosenschen Universum ist Liebe nicht das allein selig machende.

Zum guten Schluss feiert die Tanzkapelle Schmidt eine umjubelte Wiedervereinigung und Förster sieht zwei Dinge ein: Auch die Ostsee ist ein guter Platz und eine Welt,
in der “a horse with no name” die neue Oppa Musik ist, kann nicht allzu schlecht sein. So lässt sich doch am 50sten die “grundlose Schwermut des modernen Menschen” zelebrieren.

(Diese Rezension erschien – in gekürzter Form – bereits am Erscheinungstag des Romans, am 18.02.2016 in den Revierpassagen.de . Diese Version ist der gewünschte “Directors Cut”)


Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Blutiges Afrika

afrikaHarry Kowalski ist ein ehemaliger Bundeswehr-Soldat, der in zahlreichen Afghanistan-Einsätzen zerschlissen wurde und mit 54 Lenzen bereits Frührentner ist. Posttraumatisches Belastungssyndrom, kurz PTBS, nennt sich seine Erkrankung. Er leidet darunter, zu einer bösartigen Waffe erzogen worden zu sein, zu einem Roboter aus Fleisch und Blut, programmiert zum Töten. Dabei war er ausschließlich des Geldes wegen Richtung Kabul gezogen, nicht, um den Helden zu spielen oder den Menschen in der Ödnis Demokratie bringen zu wollen; und das Leben am Hindukusch war besonders lukrativ, weil es als gefährlich galt. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Kindle Edition

Die Nachhut

 

NachhutJosef, Otto, Konrad und Fritz hat man blutjung und noch ohne Feindberührung kurz vor Kriegsende 1945 zur Waffen-SS eingezogen. Ihr Auftrag: den ultrageheimen Stützpunkt im Brandenburgischen warm halten, falls der Führer einen Rückzugsraum benötigt. Als sechzig Jahre später der letzte Büchsenöffner abbricht, kommt es in dem vergessenen unterirdischen Bunker nahe dem heutigen Autobahndreieck Wittstock zur Meuterei: Nach weit mehr als einem halben Leben tief unter der Erde, trotz unzähliger Durchhalteparolen und gegenseitiger Beförderungen ist die eiserne Disziplin der mittlerweile steinalten Männer endgültig aufgebraucht, und sie beschließen den Ausstieg. Ans Tageslicht treten vier Don Quichotes der deutschen Vergangenheit, die ein heilloses Chaos anrichten.

Als Fritz im Alter von 17 Jahren, kurz vor Kriegsende, zur Waffen-SS eingezogen wurde, ging alles sehr schnell. Gemeinsam mit 20 anderen, jungen Soldaten, verfrachtete man ihn in einen geheimen Bunker in der brandenburgischen Pampa um dort die Stellung zu halten und auf den Führer zu warten. Dann war der Krieg vorbei und man hat die jungen Soldaten einfach vergessen. Die Jahre zogen ins Land und ohne Kontakt zur Außenwelt, haben die Männer nie erfahren dass der Krieg schon längst vorbei ist.

Dummerweise wurde im Laufe der Jahre aus dem Wald ein Militärübungsgelände und somit hörten die Soldaten im Bunker immer wieder Schüsse und Militärflugzeuge, weshalb für sie feststand, dass der Krieg auch nach 60 Jahren noch im vollen Gang ist und sie die Stellung zu halten haben bis sie neue Befehle bekommen.

Im Jahr 2004 sind lediglich noch 4 von den inzwischen fast 80 jährigen Soldaten übrig, da viele bereits an Altersschwäche oder auch Krankheit verstorben sind. Als dann der letzte Dosenöffner abbricht, nehmen die 4 dies als Zeichen und beschließen nach tagelangem hin und her überlegen doch den Bunker zu verlassen, sich auf den Weg zur „Reichshauptstadt“ zu machen um dort neue Befehle entgegen zu nehmen…!

Otto, der Ranghöchste Soldat, ist bereits Mitte 80, extrem schlecht zu Fuß und wird bei Ihrem Marsch durch kleine, brandenburgische Dörfer deshalb in einem Sessel geschoben. So machen sich die 4 Kammeraden auf den Weg, natürlich extrem vorsichtig und selbstverständlich in standesgemäßer Waffen-SS Uniform und mit Gewehren bewaffnet…!

Auf Ihrem Weg kommen den Soldaten nicht die geringsten Zweifel daran dass der Krieg noch in vollem Gange ist, schließlich sind die Straßen marode, in kleinen Dörfern sind viele Häuser leerstehend oder verfallen und lediglich ältere Menschen sind auf den Straßen anzutreffen. Diese schauen beim Anblick der 4 Soldaten zwar oftmals sehr verstört aber das ist ja auch klar denn eigentlich sollten die Männer ja an der Front kämpfen und nicht durch die Gegend ziehen…! Bei wenigen zaghaften Unterhaltungen (das deutsche Volk ist durch den immer noch andauernden Krieg scheinbar stark traumatisiert) erfahren sie, dass die jungen Männer alle im Westen sind (dort müssen also die größten Gefechte stattfinden)! Aber es ist doch schön zu wissen dass es nach so vielen Jahren des Krieges immer noch genügend tapfere Soldaten gibt die für das Deutsche Reich kämpfen denn schließlich sieht man auch hier und da immer wieder Gebäude mit Hakenkreuzverzierungen und der Parole „Sieg Heil“!

Es dauert nicht lange da erwecken die 4 komischen Alten in Ihren SS-Uniformen natürlich Aufsehen und werden von Reportern (dem 27 jährigen Benny und seinem Team) und der SoRex (Sonderkommission Rechtsextremismus, geleitet von der 40 jährigen Evelyn) verfolgt. Irgendwie gelingt es den alten Herren aber immer wieder zu entkommen, sei es durch Glück, Zufall oder der Hilfe von Jugendlichen Neonazis die die Alten natürlich total super finden und die sie unwissentlich in ihrem Glauben bestärken dass der Krieg noch nicht vorbei ist denn von Nichts anderem lassen sich die 4 Kameraden überzeugen…!

Die Geschichte spielt im Jahr 2004 und wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Der fast 80 jährige Fritz hat die 60 Jahre im Bunker akribisch in unzähligen Tagebüchern festgehalten und auch auf der „Flucht“ nach dem Bunker, schreibt er fleißig weiter und hält seine Eindrücke und Erlebnisse fest. Dabei richtet er sich ganz speziell an seine geliebte Lisbeth, der er in Briefform alles erzählt…!

Im Laufe der Geschichte bekommt der Leser auch nach und nach mehrere Male Eindrücke von den Geschehnissen im Bunker, da der Journalist Benny diese Tagebücher in die Finger bekommt und immer wieder mal in ihnen liest…!

Die zweite Perspektive ist nämlich Bennys Sichtweise, der nämlich seine Erlebnisse rund um die alten SS-Soldaten aufgeschrieben hat und in Briefform Evelyn davon berichtet. Dabei wird ziemlich schnell klar dass Benny und Evelyn mittlerweile ein Paar sind…!

Die dritte Perspektive ist die von Evelyn denn auch sie hat die komplette Geschichte aufgeschrieben und richtig ihre Briefe speziell an Benny.

Man könnte also sagen, dass das komplette Buch fast nur auf Briefen und Aufzeichnungen besteht, was ich eine gute Idee finde und der Spannung absolut keinen Abbruch tut! Außerdem ist es sehr interessant die Geschichte aus verschiedenen Sichtweisen, von doch sehr unterschiedlichen Personen erzählt zu bekommen…!

Ich habe viel gelacht, Fritz´ Sichtweise ist teilweise einfach nur zum Schreien, ich war aber auch betroffen denn obwohl es sich um SS-Soldaten handelt, so können sie einen in gewissen Situationen schon wirklich Leidtun und teilweise erwischt man sich sogar dabei dass manche Ihrer Aussagen tatsächlich Hand und Fuß haben! Z.B ist Fritz außer sich als er erfährt, dass junge, glatzköpfige Männer in der Nacht einen türkischen Imbiss angezündet haben denn „So etwas Feiges und hinterhältiges macht ein anständiger Deutscher nicht“! Generell muss man Fritz des Öfteren mal Recht geben und ist dann darüber erstaunt dass er zwischendurch wirklich vernünftige Sätze von sich gibt und Sichtweisen vertritt…!

Wer jetzt denkt dass das Buch nur ein Abklatsch von Timur Vermes „Er ist wieder da“ ist, dem sei gesagt, dass dieses Buch einige Jahre früher erschienen ist und auch nicht ganz sooo leichte Kost ist wie „Er ist wieder da“ (welches ich übrigens auch großartig fand)!

Dieses Buch ist auf viel mehr Ebenen zugänglich und behandelt unzählige Themen gleichzeitig wie z.b den (richtigen) Umgang mit der dunklen Vergangenheit (aber welcher ist der richtige Umgang?) es befasst sich mit Pressefreiheit und Vertuschungsaktionen seitens der Polizei, Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch, mit blindem Vertrauen und dem Folgen falscher Ideale und noch sooo vielen Themen mehr. Denn nicht nur die 4 alten SS-Soldaten stehen im Mittelpunkt sondern auch die Kapitel über Bennys und Evelyns Erlebnisse und das ist auch wirklich gut so denn man bekommt einen intensiven und speziellen Einblick über Polizeiarbeit und Journalismus…! Die Geschichte zeigt wie sehr man dazu neigt blind zu vertrauen und wie ratsam es ist, auch über den eigenen Horizont zu blicken und Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und zu hinterfragen…! Sie zeigt wie leicht Meinungen doch kippen können und das die Grenzen zwischen richtig und falsch oftmals nicht so leicht zu durchschauen sind…!

Das Buch ist absolut lesenswert, es hat mir super gefallen und es wundert mich sehr dass es nicht so erfolgreich wurde wie „Er ist wieder da“! Vermutlich liegt es aber daran, dass es doch ein wenig anspruchsvoller ist denn gerade in Evelyns „Polizeikapiteln“ geht es doch auch häufiger um Hintergründe und Politik und auch Benny fängt nach und nach an intensiver nachzudenken, Zusammenhänge zu verstehen und Sachen in Frage zu stellen…!

Hans Waal wurde 1968 geboren, lebt mit seiner Familie in Leipzig und arbeitet unter seinem richtigen Namen in Berlin und schreibt für den „Stern“.


Genre: Humor und Satire, Romane
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

So fängt das Schlimme an

javier mariasSchuld und Verstrickung sind ohne Zweifel geeignete Themen für einen Längen-, Breiten- und Tiefenroman von 650 Seiten und wenn die Handlung unmittelbar nach dem Ende einer Diktatur angesiedelt ist erst recht. Dann lässt sich  genug aus dem Vollen schöpfen, um mit einer politischen und privaten Schiene sogar zweigleisig zu fahren.

Da gibt es das traurige Geheimnis zwischen den Eheleuten, dem Filmemacher Eduardo und seiner Frau Beatriz und die aus der Franco-Diktatur her rührende düstere Vergangenheit des Hausfreundes Dr. Vechten. Es wird aus der Sicht von Eduardos jungem Privatsekretär de Vere erzählt.

Man könnte das Ding eigentlich als einen klassischen Bildungsroman begreifen. Über den jungen Erzähler stürzt gar heftig die Bedeutungsschwere seiner Eindrücke und Beobachtungen herein, so sehr dass sie sich für ihn regelrecht zum  postjugendlichen Reifungsprozess auswachsen. Dennoch ist mit  Filmproduzent Eduardo die Hauptfigur eine andere. Sein  Werdegang vom privaten Haupt- und politischen Nebenkläger zum Vergeber und Vergesser darf wohl als der facettenreichste Entwicklungsstrang in dem Roman angesehen werden. Die beiden anderen wichtigen Figuren bleiben indes zur relativen Schablonenhaftigkeit verurteilt. Das gilt für den einfach nur triebhaft dauerschlechten Diktaturgewinnler Dr. Vechten ebenso wie für Eduardos Ehefrau Beatriz, die aus der Melancholie ihrer großbourgeoisen Dauergelangweiltheit kaum heraus kommt.

Immerhin versteht es Marias früh- und rechtzeitige Andeutungsmarken zu setzen, wer so seine tiefen Geheimnisse mit sich herum trägt und wer was mit sich aus zu machen hat, was dann auch zum Ende hin gekonnt aufgelöst wird. Das Lesevergnügen bis dorthin ist allerdings nicht gerade billig erkauft. Der Roman hat eine Ausschweiferitis, die einen Thomas-Mann dagegen noch zum Thriller-Autor gereichen würde. Es wird  weitaus mehr reflektiert und beschrieben als erzählt. Immer wieder spinnen sich Details und Vorkommnisse und seien sie auch vergleichsweise nebensächlich in zum Teil seitenlange Kokons des Augenblicks-Philosophierens ein. Die Betrachtungen über die Franco-Diktatur und vor allem ihrer nachträglichen gesellschaftlichen Verwerfungen, die ja einen wichtigen Kontext darstellen, gehören da noch zu den beeindruckenderen  Passagen. Ansonsten gebiert eine Fortabstrahierung die nächste. So wie auch nur Anflüge von Handlung Dramatik erkennbar werden, spült der nächste seitenlange Gedankenstrom sie wieder fort. Endlose, zum Teil halbseitenlange Relativ- und Schachtelsätze und der fehlende Verzicht auf Binsenweisheitlichkeit tun ihr übriges. So bleiben auch Doppelungen nicht aus, wenn die eigentlich dem Leser obliegende Verarbeitung der Erzählmasse noch einmal zusätzlich beschrieben und erklärt wird.

Fazit: Wer sich auf der Meta-Ebene gerne viel vorreflektieren und vorphilosophieren lässt, der ist mit dem Roman gut bedient, wer aber nicht nur vom Fortgang der Überlegungen sondern auch der Ereignisse getragen werden möchte, der bekommt so seine Probleme.

Zum Bestellen bitte hier klicken: So fängt das Schlimme an: Roman

 


Genre: Romane
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Angst

AngstDas Leben von Randolph Tiefenthaler scheint mit dem Kauf der schönen Berliner Altbauwohnung seine Erfüllung zu finden. Der Architekt und seine Familie ahnen nichts Böses, als der schrullige Herr Tiberius ihnen Kuchen vor die Tür stellt. Doch bald wird der Nachbar aus dem Souterrain unheimlich. Er beobachtet Tiefenthalers Frau, schreibt erst verliebte, dann verleumderische Briefe, erstattet sogar Anzeige. Die Ehe stürzt in eine Krise, das bloße Dasein des Nachbarn vergiftet den Alltag. Die unerträgliche Situation bringt Randolph auf einen entsetzlichen Gedanken…

Randolph ist Mitte 40, Architekt und zieht mit seiner Frau Rebecca und den beiden Kindern Paul und Fee in eine Berliner Altbauwohnung. Herr Tiberius aus dem Souterrain ist zuerst ziemlich nett, legt Ihnen selbstgebackenen Kuchen und Plätzchen vor die Tür und ist freundlich. Dann verändert sich sein Verhalten allerdings, er fängt an Rebecca gegenüber anzügliche Bemerkungen zu machen, woraufhin Sie ihn in seine Schranken weist!

Ab diesem Zeitpunkt fängt er an ihr Gedichte von Sex und Tod vor die Tür zu legen! Es dauert dann auch nicht lange, da fängt Herr Tiberius an zu behaupten, dass Randolph und Rebecca Ihre Kinder sexuell missbrauchen würden und erstattet Anzeige gegen Sie. Ständig ruft er die Polizei und Randolph und Rebecca erstatten Anzeige wegen Verleumdung. Randolph ist nun selbst ständig bei der Polizei, bei Anwälten und sogar beim Jugendamt aber Niemand kann ihm helfen Herrn Tiberius aus der Wohnung zu bekommen da dieser ja nie gewalttätig ist und keine aktive Gefahr darstellt…! Seine Briefe werden immer schlimmer und er schildert sehr bildlich was Randolph und Rebecca in seinen Augen angeblich mit Ihren Kindern anstellen…!

Die Geschichte wird aus Randolphs Ich-Erzählperspektive erzählt und beginnt damit dass Randolph im Gefängnis ist um dort seinen 78 jährigen Vater zu besuchen der wegen Mordes an Herrn Tiberius zu 8 Jahren Haft verurteilt wurde! Randolph sitzt nach diesem Besuch ziemlich verzweifelt zu Hause und beginnt die komplette Geschichte aufzuschreiben! Er beginnt in seiner frühesten Kindheit, was auch nicht unwichtig ist, da Randolph und sein Vater schon immer ein schwieriges Verhältnis hatten! Eigentlich schreibt Randolph sein komplettes Leben auf und zwischendurch denkt man schon des Öfteren mal „also so ausführlich brauch ich das alles jetzt eigentlich nicht“ sondern möchte eigentlich viel mehr über den Nachbarn erfahren! Uninteressant sind Randolphs Erinnerungen aber wirklich nicht und dadurch dass man seine komplette Lebensgeschichte erfährt, bekommt man einen sehr engen Bezug zu ihm als Protagonisten!

Eigentlich kommt Herr Tiberius in dem Buch gar nicht so oft vor und ich hatte mir die Geschichte völlig anders vorgestellt! Wer ausgeprägte Streitereien und einen ordentlich aus dem Ruder laufenden Kleinkrieg zwischen Nachbarn erwartet, der wird von diesem Buch enttäuscht sein denn das alles gibt es nicht und das Buch ist komplett gewaltfrei!

Es geht hauptsächlich darum mit dem Psychoterror und seiner eigenen Angst klarzukommen denn die Angst ist in dieser Geschichte das beherrschende Thema (wie der Titel ja auch vermuten lässt)! 😉 Randolph hat Angst! Er hatte schon in seiner Kindheit Angst, in seiner Jungend und auch jetzt hat er Angst! Angst davor wie weit Herr Tiberius gehen wird, denn wer so detailliert Kindesmissbrauch beschreibt, der hat doch bestimmt selbst eine pädophile Ader, oder?! Er hat Angst davor dass die Polizei Herrn Tiberius glauben könnte, Angst davor bald als Kinderschänder abgestempelt zu werden, Angst davor seine Kinder in der Öffentlichkeit zu berühren und auch Angst davor dass seine Kinder eine unbedachte Äußerung machen könnten die man falsch auslegen könnte…! Randolphs und Rebeccas Leben wird von Angst bestimmt und auch das angespannte Verhältnis zwischen den beiden spielt eine große Rolle und wird stark thematisiert.

Ein wirklich sehr gutes Buch über Psychoterror, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Selbstjustiz, Angst und darüber was Angst aus Menschen machen kann…! Ich hatte mir das Buch völlig anders vorgestellt, bin aber total begeistert und kann es sehr weiterempfehlen!

Dirk Kurbjuweit wurde 1962 geboren und war Redakteur der „Zeit“ und arbeitet nun seit 1999 für den „Spiegel“. Bisher hat er sechs Romane geschrieben, von denen drei verfilmt wurden („Die Einsamkeit der Krokodile“ „Zweier ohne“) Für seine Reportagen erhielt er 1998 und 2002 den „Egon-Erwin-Kisch-Preis“ und weitere Auszeichnungen.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Die Glücklichen

Fürchten wir uns nicht alle davor, aus dem Paradies vertrieben zu werden?

Kristine Bilkau - die Glücklichen Isabell und Georg sind ein junges, schickes und schönes Paar. Wohlig haben sie sich in ihrer famosen Hamburger Altbauwohnung eingerichtet und schlürfen den Schaum ihres Latte Macchiato in angesagter Achtsamkeit, sich ihrer politischen und ökologischen Korrektheit stets sorgsam und stolz versichernd. Isabell ist Cellistin in einem Musical-Orchester, Georg schreibt als Journalist mit wohlwollendem Schauder über Aussteigerpaare auf dem Bauernhof. Die ganz große Karriere ist nur einen Sprung weit entfernt, aber immerhin – es reicht für Risottomischungen in durchsichtigen Tütchen und andere für das gepflegte Leben unverzichtbare Dinge wie Wildfeigen, Rosenkandis, Bio-Lavendelblütenhonig und Pfefferschokolade.

Dass nicht nur die ganz große Karriere, sondern auch der Absturz nur einen Sprung weit entfernt ist, scheint vor allem Isabell unbewusst zu ahnen. Irgendwoher muss es ja schließlich kommen, dieses Zittern in den Händen, welches sie zunächst noch verbergen kann. Doch der Druck steigt. Zuhause wartet nicht nur die Altbau-Idylle, sondern mittlerweile auch der kleine Sohn Matti und mit ihm die Verantwortung. Das Zittern nimmt zu und sie verliert ihren Job, der zwar nur als Zwischenstation geplant war, ihr nun aber unerreichbar großartig scheint. Zugleich berichtet Georg nicht mehr nur über Nachrichten, er selbst bzw. sein Arbeitgeber ist die Nachricht geworden. Das große Zeitungssterben beginnt, dem Verlag geht es schlecht. Georg fällt den berüchtigten Synergien zum Opfer, sein Job ist nur noch etwas, das schnellstmöglich outgesourced wird.

Natürlich kommt jetzt eine Mietpreiserhöhung, natürlich kommen auch noch andere Verpflichtungen auf sie zu. Georgs Mutter stirbt und hinterlässt nur Schulden, schon die Beerdigungskosten sind utopisch hoch. Schluß mit Rosenkandis und Bio-Gemüsekisten. Isabell und Georg reagieren verstört und hilflos, sie sind völlig verunsichert. Gegenseitig treiben sie sich immer mehr in die Enge, bis ihr Glück und ihre kleine Familie zu zerbrechen droht.

Kristine Bilkau zeichnet in ihrem Debütroman »Die Glücklichen« das präzise Bild einer überreizten überforderten Generation, die sich davor fürchtet, aus dem Paradies vertrieben zu werden. Es ist die Generation Praktikum, die Generation, die immer wieder von ihren Lebensentwürfen Abschied nehmen muss. Die sich unter den Druck der absoluten Perfektion setzt und doch gleichzeitig den Umgang mit einer zunehmend präkeren und unsicheren Existenz lernen muss. Dazu verdammt, ein Leben ohne Niederlagen zu führen. Solange es alles einigermaßen läuft, übertünchen sie ihre Unsicherheit mit dem Gehabe der nach außen hin ach so politisch und ökologisch korrekten Welt. Sobald jedoch etwas ins Wanken gerät, haben sie nichts als Unsicherheit. Alle erlernten Verhaltensmuster greifen nicht mehr. Isabell und Georg sind nur die Prototypen all der freien Künstler, Journalisten, der Mitarbeiter mit befristeten Verträgen in ihren grundsanierten Altbauwohnungen.

Isabell und Georg kommt plötzlich nicht nur ihr Lebensstil abhanden, sondern auch ihre mangels anderer Werte und Orientierungen mühsam zurechtgezimmerten Identität. Sie können sie sich schlicht nicht mehr leisten. Wirklich gerechnet hat keiner von ihnen damit. In ihrem Inneren haben sie immer geglaubt, dass man sich den Anspruch auf Sicherheit verdienen könne, mehr noch, ihnen war die Selbstverständlichkeit anerzogen, dass ihnen ein gutes Leben zustünde. Die plötzliche Erkenntnis, dass nichts im Leben sicher ist und das es per se keinen wie auch immer gearteten Anspruch gibt, lässt sie ermüden und nachgerade ungerecht und boshaft werden.

Das Romandebüt der Journalistin Kristine Bilkau erzählt von zunächst kaum wahrnehmbaren Verschiebungen, von erst kleinen, dann schmerzlicher werdenden Verlusten. Die diffusen Ängste ihrer Protagonisten macht sie an präzisen Ereignissen fest, lange bevor Isabell und Georg es selber merken. Fürchten wir uns nicht alle davor, aus dem Paradies vertrieben zu werden? Sie erzählt es ganz leicht, fast beiläufig, dabei ist der Leser Isabell und Georg immer einen kleinen Schritt voraus. Genau das aber erweckt seine Neugier, er will wissen, wie sie schließlich damit fertig werden. Vielleicht wünscht der Leser sich auch ein Patentrezept, welches er sich merken kann, wenn ihn dann mal die Keule trifft.

So oder so ist Bilkaus Roman ein spannendes, interessantes Buch. Es gibt weniger Antworten, als dem Leser lieb sein wird, aber wenigstens die Fragen, die viele unbehaglich umtreiben, werden einmal gestellt. Im Buch finden Isabell und Georg nur den Anfang des Weges aus ihrem Dilemma, ob er zunkunftsfähig sein wird, das erfahren wir nicht. Das Ende ist ein wenig abrupt und läßt den Leser leicht unbefriedigt zurück, zumal Bilkau auch in ihrem Stil ein wenig aus dem Takt gerät, ja geradezu ins Kitschige abgleitet. Es scheint, als habe sie auf einmal keine Lust mehr gehabt, als wäre ihr das Sujet aus den Händen geglitten und sie habe plötzlich keine Lust mehr auf das Lamento ihrer Hauptfiguren gehabt. Schade, aber abgesehen davon ein Buch, das sich zu lesen lohnt.


Genre: Romane
Illustrated by Luchterhand

33

Kjersti33Eine Frau, zwei Männer, einer davon tot und noch kein Kind. Um dieses fragile Universum kreist die Erzählerin. Sie ist eine lungenkranke Frau, die dem Leser nur als K. vorgestellt wird. Gerade ist sie 33 geworden, das Alter, das im Himmel alle haben, so hat sie es jedenfalls gelernt.

Die große Liebe der K., Ferdinand, hat Selbstmord begangen, was K. aber nicht daran hindert, eifrige Schwätzchen mit dem Dahingeschiedenen zu halten. Zeit hat sie genug, sie arbeitet zwar als Lehrerin, aber in ihrem Fach, der Mathematik braucht man das Rad ja nicht täglich neu zu erfinden. Und ihr aktueller Mann, der Ire Samuel, ist in einem Endlos-Cricket-Match gefangen. Sie horcht in ihren kranken Körper und malt Horrorvisionen darüber, was in und mit diesem alles passiert. Und dann der Wunsch nach einem Kind. Kann sie das überhaupt, darf sie das überhaupt, was wird das mit ihrem Körper, ihrer Seele machen? Schon die Unsicherheit, was es mit ihr macht, wenn die Nabelschnur gekappt ist! Noch größer aber ist ihre Angst davor, das (ungezeugte) Kind in ihren Eierstöcken könne unentbunden bleiben und sie damit unerlöst. Zum Üben schafft sie sich ein Haustier an und nennt es “dasKind“. Was für ein Tier “dasKind” ist, bleibt unklar, aber es scheint in eine Plastiktüte zu passen. Vielleicht ist es aber auch gar nicht real, vielleicht aber doch. Genau wie der Albatros, den sie sieht und der ihr einfach kein klares Zeichen geben will.

K. ist eine ausgesprochen merkwürdige junge Frau und “33” ein ausgesprochen merkwürdiger Text. Mit Absicht steht hier der übergeordnete Begriff “Text” und nicht Roman. Denn ein Roman ist es nicht. Ein Roman ist qua Definition eine Erzählung und erzählt wird hier ausgesprochen wenig. Es ist eher eine Ansammlung von Satzfragmenten, schwankend zwischen Lyrik und abgegriffenen Weisheiten a la “Sentimentalität ist die Schwester der Brutalität.” Zu Beginn ist das Buch noch einigermaßen klar und begreifbar. Die Betonung liegt auf einigermaßen! Doch je weiter K. in ihrer Larmoyanz fortschreitet, desto mehr verliert sie ihren roten Faden, mäandert zwischen tatsächlichen Ereignissen, die sie aber sofort überhöht, Alb- und Wachträumen und vollkommen absurden Vorstellungen, wie der, dass sie Ferdinand in sich eingenäht habe und nun amputiert werden müsse. Intention war es wohl, Momente einzufangen, die alles verändern und der Frage nachzugehen, ob man es wagen kann, sich fallen zu lassen, wenn man nicht weiß, ob einen jemand fängt. Dies bezogen vor allem auf die Frage einer eventuellen Mutterschaft. Man kommt nicht umhin, zu denken, dass einem das Kind schon vor der Zeugung leid tut. Wer Mutterschaft schon vorher derart thematisiert und problematisiert, sollte es wirklich besser bleiben lassen.

Kjersti Annesdatter Skomsvold wird nach wie vor als große Nachwuchshoffnung der norwegischen Literatur gehandelt, auch wenn sie mittlerweile mehrere Werke veröffentlicht hat. Ihr Debütroman “je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich” war ein verstörendes, aber auch berührendes, versponnenes Märchen. “33” nun ist zwar auch noch versponnen, aber zumindest mich hat es nicht berührt. “33” ist vor allem verstörend. Wo ist die Leichtigkeit hin, mit der sie in ihrem ersten Roman erzählte? In diesem Buch gelang noch die Mischung aus Melancholie, Empathie und Witz. In “33” gelingt ihr diese Mischung nicht. Was dort bleibt, ist unterm Strich nichts als Larmoyanz. Natürlich – der Erzählerin ist viel zugestossen, sie hat es nicht leicht. Aber durchgehendes Selbstmitleid hilft nun mal nicht. Weder der K. noch einem ungeborenen Kind.

Stilistisch ist Kjersti A. Skomsvold durchaus begabt. Sie handhabt ihr Handwerk mittels Bildern und Allegorien gekonnt und die Fähigkeit, Schmerz und körperliche Empfindungen in Worte zu kleiden, ist nur wenigen Autoren derart gegeben. Wenn diese Fähigkeit aber nur dazu dient, Selbstmitleid auszukleiden, ist es nicht genug, um die ersehnten surrealistischen Sphären auch nur zu streifen. Da helfen auch die mehr oder weniger subtilen Hinweise auf Samuel Beckett nichts.

Der Roman ist krampfhaft um Exzentrik bemüht. Aber Exzentrik muss man sich erstmal leisten können. Souverän gehandhabtes Handwerk reicht dafür nicht. Um Exzentrik zu goutieren, müssen dem Leser schon mehr als exzessiv gelebtes Selbstmitleid und ausformulierte Mätzchen geboten werden. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich keinen Roman lese, sondern allenfalls Zeuge exzessiver literarischer Übungen werde.


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Frühe Störung

früheStörungEs gibt Menschen, die haben Stimmen im Ohr und verstehen sie nicht. Franz Walter hört nur eine einzige Stimme und die versteht er sehr gut. Es ist die seiner Mutter. Nach halbwegs geglückter Psychotherapie hört er auch diese nicht mehr, dafür hält nun ein einziges Wort sein Ohr besetzt. „Mutter, Mutter, Mutter“ – so kreist es unablässig in seinem Ohr. Und nicht nur dort.

Das Wort Mutter kreist in seinem Kopf, ach was: in seinem ganzen Leben. Da hilft es auch nichts, dass die biestige und zwanghaft besitzergreifende Mutter sich längst aus dem Leben verabschiedet hat. So wie auch schon der charmante Berliner Kiez nichts geholfen hat, wenn dieser auf ein Bett zusammenschrumpft, in dem der kleine Franz Walter mit seiner Mutter Mittagsschläfchen halten muss und dabei ihren Schweiß riecht. Es hilft erst recht nicht, wenn der zumindest dem Alter nach erwachsene Franz Walter mit seiner Mutter auf die kleine Insel Darß reist und zur Sicherheit das immer gleiche Fischrestaurant aufsucht. Über diese Insel und ihre Region schreibt der zumindest dem Alter nach erwachsene Franz Walter Reiseführer, die eher Gebrauchsanweisungen ähneln und so mutlos sind wie sein ganzes Leben.

Sonst noch was? Ach ja, die Mutter hatte Brustkrebs, der Sohn weilte während der OP in Rom. Die Mutter lag im Sterben, der Sohn weilte in Kalkutta. Nachsehen, ob man nicht vielleicht auch Mutter Teresa ein paar negative Seiten nachweisen kann. Sonst noch was? Nicht wirklich. Im Großen und Ganzen ist dies der Inhalt von Hans-Ulrich Treichels neuem Roman „Frühe Störung“.

Schade nur, dass man über diese Inhaltsfragmente schon nach gut einem Viertel des Romans Bescheid weiß. Noch bedauerlicher, wenn man danach auf knapp 190 Seiten bis auf eine Entblößung der zerstörten Mutterbrust und zwei ungelenken Beziehungsversuchen nichts Neues mehr erfährt. Der Rest ist Wiederholung, langweilende, irritierende, nervende Wiederholung ohne jede Variation. Die Speisekarte des Fischrestaurants kennt der Leser bald besser als die Mutter, der Mittagsschlaf schafft es gefühlt auf jede zweite Seite und was der arme Therapeut dazu zu sagen hatte, das können wir alsbald auch auswendig repetieren.

Vollkommen ratlos lässt einen dieses Buch zurück. Nicht ratlos ob der „frühen Störung“ des auf ewig in kindlichen Animositäten verharrenden Franz Walter. Dessen Störung reicht noch nicht mal für einen ordentlichen Ödipus-Komplex, sondern ist eher lapidar. (Vielleicht liegt darin das Problem des Romans. Hätte ein ordentlicher ausgewachsener Ödipus-Komplex mehr hergegeben?) Dazu kommt die leider gesicherte Existenz des ewigen Muttersöhnchens. Leider, denn müsste Franz Walter sich mit etwas so Profanem wie Existenzsicherung auseinandersetzen, wäre wohl weniger Zeit, derart episch und larmoyant sein Zivilisationsproblem einer überbehüteten Kindheit wieder und wieder durchzukauen. Nein, das Buch lässt einen ratlos mit der Frage zurück: Wer bitte, soll und will das lesen?

Es scheint, als ob sich jemand diese „frühe Störung“ von der Seele hat schreiben müssen. Das ganze Buch wirkt wie eine dringend benötigte Aufarbeitung frühkindlicher Traumata ohne Rücksicht auf den, der es lesen soll. Der Klappentext verkauft es als Literatur mit schmerzlich-ironischem Unterton. Ein bißchen Ironie fehlt in der Tat schmerzlich, aber das war wohl nicht gemeint. Wo jedenfalls der Autor und der Verlag diese Ironie gefunden haben wollen, bleibt ihr Geheimnis.

Ganz besonders irritierend ist das Buch auch deshalb, weil es formal und sprachlich außerordentlich gut geschrieben ist. Erzähltechniken wie das Einfügen von Rückblenden beherrscht Treichel perfekt. Seine Sätze sind elegant und kristallklar formuliert, man liest sie der Fomulierungen wegen mit Respekt und auch Freude an der Sprache. Das ist aber auch fast der einzige Grund, der einen zum Weiterlesen bewegt. Manches, etwa das Alltagsleben auf dem Darß, ist durchaus angenehm schrullig beschrieben und macht Freude beim Lesen. Aber eben nur einmal. Danach wird es – aber egal. Ich will mich jetzt nicht auch noch ständig wiederholen.

Noch irritierender wirkt der Roman, wenn man an das bisherige literarische Werk Hans-Ulrich Treichels denkt. Der promovierte Germanist und Mitglied des PEN-Zentrums begeisterte mit seinen bisherigen Werken Publikum wie Kritik gleichermaßen. Zwar setzt er sich auch in seinem wohl bekanntesten Roman „Der Verlorene“ mit Schuldgefühlen innerhalb einer Familie auseinander und der titelgebende „Verlorene“ ist auch in diesem Buch der Sohn, aber im Punkt erzählerischer Dichte sind es Welten, die diese Bücher trennen. So gesehen, erscheint „frühe Störung“ eher als eine späte Störung.

Zu autobiographischen Bezügen seiner Romane äußerte sich Hans-Ulrich Treichel bisher ambivalent. Angenommen, der Autor habe sich selbst die „Mutter, Mutter, Mutter“ von der Seele schreiben müssen, bleibt die Hoffnung, dass er sein unbestreitbar enormes schriftstellerisches Talent in seinen nächsten Werken störungsfreier entfalten möge.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de


Genre: Romane
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Riven Rock

riven_rock-9783423127844Nahezu überschwappend dieser Irrsinn. Der arme Mr McCormick, ein Gejagter seiner inneren Richter, der Unfähigkeit Sexualität als etwas Normales sehen und fühlen zu können, eine übermächtige Mutter, eine ebenfalls psychisch kranke große Schwester. Dann die Jahrzehnte, in denen der Millionär weggesperrt leben muss. Wechselnde Psychiater, die “Redekuren” verordnen, sprich Psychoanalyse, die damals völlig unbekannt war, dazwischen einer, der die Affen und ihre Sexualität im Park des Anwesens erforscht. Sehr schräg, amüsant und gut gemacht. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Romane
Illustrated by dtv München

Der Maulwurf aus Moskau

Vladimir Ivanovich Serkov alias Martin Landau wollte eigentlich Kosmonaut werden. Dann entwickelte er Toiletten für die Schwerelosigkeit und weltraumtaugliches Klopapier samt in Raumanzügen eingebauter Toiletten an der TU Dresden. Um in den Westen zu kommen, verdingt er sich als Spion beim britischen Geheimdienst MI6.

Der Autor schildert das Leben des Computerspezialisten und beginnt dessen Odyssee durch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme in einer Verhörzelle von Stasi und KGB, wo man ihn gefügig macht. Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus und der Maueröffnung entfällt seine Existenzgrundlage. Er geht nach Wien, wo er sich als Kellner verdingt, dann jedoch mittels gefälschter Papier einen Spitzenjob für ein bundesdeutsches Rüstungsunternehmen bekommt, für die er eine Software zur Steuerung militärischer Drohnen entwickelt.

Doch seine alten Auftraggeber spüren ihn auf und schieben ihm einen Quellcode unter. Mit dem frisch programmierten Trojaner wollen die Russen bei jedem Drohnenflug mit von der Partie sein. Martin wehrt sich, aber er hat eine Schwachstelle: seine frisch angetraute Frau. Geheimdienste mögen Menschen mit Schwachstellen, weil sie diese leichter manipulieren und erpressen können.

Die ehemaligen KGB-Mitarbeiter, die unverändert im Geheimen tätig sind, spielen Landau Software zu, die er auf die Entwicklungsrechner seines Auftraggebers überspielt. Allerdings wird ein Kollege aufmerksam, der schnell merkt, dass ein Einzelner nicht derart umfangreich programmieren kann. Er spricht Martin an, wenige Tage darauf stirbt er nach einem Treffen mit einem russischen Lockvogel an einer Überdosis Crystal Meth.

Landau begreift endgültig, dass er nur ein Spielball in den Händen seiner Auftraggeber ist und dass sein Leben keinen roten Heller mehr wert sein wird, wenn er den Job erst einmal pflichtgemäß erledigt hat. Im Gegenteil: Als Mitwisser wird er vermutlich Opfer eines geheimnisvollen Verkehrsunfalls oder erliegt aus heiterem Himmel einem plötzlichen Herzstillstand. Er hängt wie eine Marionette an der dünnen Strippe unbekannter Puppenspieler, die die Fäden durchschneiden können, wann immer es ihnen passt.

Er setzt alles auf eine Karte und plant den großen Befreiungsschlag, um sich und die Seinen für immer aus der Abhängigkeit der Schlapphüte zu befreien. Dabei bedient er sich alter Seilschaften, trifft aber auch auf einen Bundesgenossen, an den er nie zuvor gedacht hatte.

Autor Detlev Crusius, der unter dem Pseudonym Eddy Zack schreibt, legt einen hochkomplexen Agentenroman vor, der regelrecht nach Verfllmung schreit. Er schafft es, das perfide Spiel der Geheimdienste gegen- und miteinander zu schildern, und so wundert es zum Schluss nicht, dass es die Amis sind, die an Trojanern interessiert sind, mit denen sie ihre NATO-Bündnispartner kontrollieren. In Zeichen von Wikileaks und NSA ist dieser packende Kriminalroman eine hochpolitisch, absolut zeitgemäße Geschichte, die vermutlich nur noch von der Wirklichkeit überholt werden kann.

Der Leser gewinnt auch Verständnis, warum immer wieder fiktive Bedrohungen produziert werden, für deren Beseitigung man unbedingt neue Waffensysteme wie die hier behandelten Drohnen benötigt. Wie jede Kirche aus der Angst der Gläubigen vor dem Jenseits ihre Daseinsberechtigung ableitet, so leben auch die Geheimdienste nur von der Angst ihrer Regierungen, man könne ihnen auf die Schliche kommen.

Ein packendes Buch mit großem Potential.


Genre: Agentenroman, Romane, Spionageroman
Illustrated by Kindle Edition

Was wir nicht wussten

WaswirnichtwusstenDa traut eine Autorin sich aber was. Mit “Was wir nicht wussten” legt die Amerikanerin TaraShea Nesbit ein ganz erstaunliches Debüt vor. Sie wagt sich an ein totgeschwiegenes Thema und nutzt dafür eine überaus seltene literarische Form.

Ihr Thema ist das Manhattan Project: Während des zweiten Weltkriegs schickten die Amerikaner Tausende Physiker und Techniker in die Wüste, nach Los Alamos. Ihr geheimer Auftrag: Der Bau der Atombombe. Mit den Wissenschaftlern kamen ihre Frauen und Kinder. Sie kamen von überall auf der Welt und ihre Gemeinsamkeit bestand in einem Geheimnis, welches sie selbst nicht kannten. Zwar brauchten sie nicht um an der Front stationierte Männer bangen, doch diese relative Sicherheit bezahlten sie mit einem improvisierten Leben hinter Stacheldraht. Die Geheimhaltung war absolut und durchdrang alle Aspekte ihres Lebens. Namen wurden geändert, Kontakte zu Familien und Freunden rigoros unterbrochen. Ihr Alltag definierte sich nur durch das , was sie nicht tun konnten. Briefe, die sie nicht schreiben durften, Freiheiten, die sie nicht mehr hatten, Dinge, über die sie nicht reden durften, Fragen, die nicht gestellt werden durften, nicht einmal Mutmaßungen waren gestattet.

Und doch oder gerade deshalb etablierte sich in der unwirtlichen Gegend, der im Nichts aus dem Boden gestampften Forschungsstadt eine Gemeinschaft. Man zog in identische olivgrüne Häuschen, kämpfte mit Wasserknappheit und um das Privileg einer Badewanne. Freundschaften entstanden, Kinder wurden geboren, der Alltag behauptete sich, man feierte Partys, lernte Klavierspielen und Reiten. Es waren vor allem die Frauen, die zusammenwuchsen, während ihre Männer an einer bis heute unvorstellbaren Zerstörungskraft arbeiteten. Erst als im Sommer 1945 Hiroshima und Nagasaki dieser Zerstörungskraft zum Opfer fielen, begriffen die Frauen, woran ihre Männer gearbeitet hatten. Und sie wussten, dass sie es aller Geheimhaltung, allem Bemühen um Normalität zum Trotz schon immer gewusst hatten.

An dieser Stelle endet die Erzählung. Was aus den Frauen, aus den Familien wurde, wie sie mit diesem Wissen weiterlebten, ist nur eine der vielen Fragen, die dieser erstaunliche Roman aufwirft. Man erfährt gerade so eben noch, dass bei aller Unfasslichkeit doch auch ein hoffnungsvoller Gedanke durch die Köpfe der Frauen ging, der fromme Wunsch, dass nun endlich alles vorbei sein könnte. Neben allem anderen Entsetzen entsetzt auch diese Erkenntnis: dass zu jeder schrecklichen, grausamen Tat eben auch die Menschen gehören, die diese umsetzen und am Randgeschehen ihre Familien.

TaraSheaNesbit erzählt von den drei Jahren in Los Alamos als einer unwirklichen Zeit . Was ihren Roman so berührend macht, ist die Tatsache, dass er auf historischen Ereignissen beruht. Sie erzählt von Geschehnissen, die bis heute von Mythen und Geheimhaltung umrankt und schwer zu begreifen sind. Wie sehr diese Zeit im Nebel des Mythos verschwunden ist, wieviel Recherchearbeit nötig war, um wahrhaftig zum Kern vorzustoßen, lässt die Danksagung am Ende des Romans erahnen. Wie sie diese Schicksale und die Ausnahmesituation schildert, ist dabei erstaunlich spröde und distanziert. Sie erzählt nur Bruchstücke, es gibt Dutzende Personen, deren Schicksal man nur streift. Doch Tara Shea Nesbit schafft es, in einem einzigen Satz eine ganze Geschichte zu erzählen. Ihr eigenwilliger Stil entfaltet einen sehr besonderen Sog, dem sich der Leser nur ganz schwer entziehen kann.

Ausgesprochen ungewöhnlich ist die Form des Erzählers. So wie es im gesamten Buch nicht DIE eine Hauptperson gibt, so gibt es auch nicht DIE eine Erzählerin. Erzählt wird durchgehend in der 1.Person Plural. Sehr ausgefallen, sicher auch nicht leicht zu erlesen. Und ganz sicher nicht jedermanns Fall. Lässt man sich aber darauf ein, ist es toll. Nicht nur, weil es anders ist. Wahrscheinlich ist es gerade die literarisch so ungewohnte Wir-Form, welche den Sog des Buches ausmacht. „Wir kamen als Jungvermählte oder im verflixten siebten Jahr“, heißt es, „manche von uns waren noch nicht US-Bürgerinnen; wir kamen aus Feindesland, aus Deutschland, aber wir waren nicht der Feind“. “Unsere Kinder logen wir an; wir packten, behaupteten wir, um den August bei den Großeltern zu verbringen oder wir sagten, wir wüssten nicht, wo es hinging, was ja auch stimmte oder wir sagten, es handle sich um ein Abenteuer” oder oder oder. Oder ist das meistgebrauchte Wort in diesem Roman, das Wort, welches den Leser immer wieder an die Hand nimmt und ihn gleichzeitig bei der Stange hält, weil er erfahren will, wo der nächste Weg hinführt.

Man kommt keiner einzelnen Frau, keiner einzigen Familie wirklich näher, ist aber tief berührt von den Geschehnissen. Das “oder” und die “Wir-Form” arbeitet die Unterschiede zwischen all den Frauen genau heraus, zeigt aber so die Wichtigkeit und Bedeutsamkeit der Gemeinsamkeiten. Glasklar erkennt der Leser, dass es Situationen gibt, die man nur gemeinsam bestehen kann, auch wenn man dennoch alleine bleibt im tiefsten Inneren. An keiner Stelle wertet die Autorin die Geschehnisse oder die Gefühle der Frauen. Das überlässt sie dem Leser. Gerade dadurch aber wirkt das Buch lange nach.

Ich fand das Buch ohne Wenn und Aber großartig und habe es relativ gierig gelesen. Dennoch ist der Stil der Autorin ausgesprochen gewöhnungsbedürftig und ganz sicher nicht jedermanns Fall. Meine Empfehlung: Leseprobe runterladen und wenn man mit dem Stil klar kommt, unbedingt weiterlesen. Dann gehört dieser Debütroman zu den Büchern, die man nie mehr vergisst. Man muss sich aber darauf einlassen.

TaraShea Nesbit ist Dozentin für Creative Writing an der University of Denver und der University of Washington. Texte von ihr erschienen bisher lediglich in zahlreichen Literaturzeitschriften. Die Geschichte der Frauen von Los Alamos ist ihr erster Roman.Die Handlung beruht auf historischen Ereignissen.


Genre: Historischer Roman, Romane
Illustrated by dumont Köln

Magical Mystery oder die Rückkehr des Karl Schmidt

Magical Mystery Die Magical Mystery Tour! In der Rockmusiker-Szene so etwas wie eine globalgalaktische Sehnsuchtsbestimmung. Bei den Beatles 1967 ging es mehr oder weniger schief, der Funke sprang nicht so recht über. Besser läuft es damit hingegen bei einer bekannten PunkrockCombo aus dem Dorf an der Düssel, die mit ihren Magical-Mystery-Wohnzimmer-Konzerten dem beschworenen Ideal von love and peace noch am nächsten kommen. Der Musiker und Schriftsteller Sven Regener nun verlegt dieses Sehnsuchtsding kurzerhand in die Elektromusik/ Raverszene, denn “Raver machen dies, Rocker machen das, das ist doch alles nur vorgeschobener Scheiss!” Und zur Freude seiner Fans hat Regener Karl Schmidt an’s Steuer des Tourbus gesetzt.

Karl Schmidt? Wer war das noch gleich? Karl Schmidt mit dt, genannt Charlie. Richtig. Der Charlie! Der nicht zu Ruhm und Ehre gekommene Installationskünstler, bester Freund von Herrn Lehmann, DEM Regener-Helden. Charlie, der eifrige Konsument diversester bewusstseinsverändernder Drogen, der großherzige Charlie, der es fertig brachte, just am Tag der Maueröffnung mit einer Psychose in der Klapse zu landen, dieser Charlie sitzt nun am Steuer eines Sprinters auf Magical Mystery Tour oder wie die eigentlich geschäftstüchtigen Raver sagen: “Dieses Ding mit der Liebe“. Denn “das ist das, was die Sachen sexy macht, dass man zugleich jung ist und doof und trotzdem schlauer als alles anderen

Doch bevor die Tour losgeht, erfährt der geneigte Leser zunächst, was dem guten Charlie nach seiner Einlieferung in die Klapse geschah. Wir treffen Charlie wieder in einer wolkigen Parallelwelt namens “Clean Cut”, einer drogentherapeutischen Einrichtung in Hamburg. wo er sich in alter Gutmütigkeit und bewusster Unauffälligkeit übt. Sogar in das ganz normale Berufsleben hat er sich integriert und gibt als Hilfshausmeister und Streichelzoowärter eines Kinderkurheimes alles. Bis er eines Tages zum einen erfährt, dass er einen neuen Haupt-Hausmeister vor die Nase gesetzt bekommt und zum anderen in einer Altonaer Eisdiele eine Begegnung mit seiner Vergangenheit hat. Er trifft Raimund. einen der alten Raver-Kumpels, der es doch erstaunlicherweise in der Zwischenzeit als Mitinhaber des Labels “BummBumm” zu etwas gebracht hat, vor allem zu Geld.

Dieser Raimund plant gemeinsam mit seinem Partner Ferdi just jene Magical-Mystery-Tour, die den Gummistiefel Techno und den Rave der 90er mit der Love-and-Peace Sehnsucht vereinen soll. Charlie, der sich nur noch einen kleinen Schritt entfernt von einem selbstbestimmten Leben fühlt, kommt ihm gerade recht. Denn sie brauchen noch einen Steuermann, der nicht nur den Bus, sondern auch die Geschicke der Tour lenken soll. Dave, der es eigentlich machen sollte, hat für den Geschmack der idealistisch Beseelten zu sehr das Gemüt eines Erbsenzählers. Man braucht einen, der nüchtern bleiben muss und im Gegensatz zu den Mitreisenden halbwegs klar denken kann, zugleich aber auch an die von “BummBumm” ausgerufenen Ideale glaubt. Kurz, Charlie soll es machen. Und Charlie macht. Wenn man ihn schon nicht zum “richtigen” Hausmeister befördert.

Denn dadurch, dass man ihn bei der längst fälligen Beförderung in der kleinen Spießerwelt übergeht, mit der er sich gerade so mühsam versucht zu arrangieren, bekommt der nach Zugehörigkeit und Anerkennung suchende Charlie einmal mehr die Bestätigung, dass er in dieser Welt wohl auf immer der “Psycho-Dödel” bleiben wird. Genau in diesem Moment tritt die Magical-Mystery-Nummer in sein Leben. Das muss doch ein Zeichen sein. (Dass er auch diesen Job nur angeboten bekommt, weil einigen die Nase des eigentlich vorgesehen Dave nicht passt, blendet er dabei geschickt aus) Er sieht es als Chance, in die von ihm nie vergessene und immer geliebte Welt durchgeknallter Künstler zurückzukehren.

Eine Welt, in der man sich Hosti Bros nennt, Saxophon-Stücke als Lied mit der Flöte hypet und in der manchmal auch nur ein Arschwackeln reicht, um zu reüssieren. Eine Welt, die alles nicht ganz so ernst nimmt, aber mittlerweile auch zu Charlies großem Erstaunen eine Welt geworden ist, die Riesendinger a la Mayday Dortmund (im Buch Springtime in Essen) mit Erfolg auf die Beine zu stellen vermag. Wenn auch noch nicht mit dem mega Erfolg, den ElektroMusic, Djs und Rave heutzutage haben. Regeners Buch spielt eher in der Zeit, als German dance noch so etwas wie der ganz heisse Scheiss war und Ideale noch salonfähig. Wenn man auch mitunter den Eindruck hat, dass Charlie der letzte echte Idealist in der Bummbummtruppe ist.

Glücklicherweise hilft diesem seine pragmatische Art, mit der er den Aushilfs-Hausmeister im Kinderkurheim gegeben hat, nun auch prima das Magical-Mystery-Getingel einigermaßen zu wuppen. Und wer weiß, vielleicht findet er ja einen Weg, nach der Tour ein neues Leben in einer alten Welt gut auf die Reihe zu kriegen. Denn seine Künstlervergangenheit ist ihm lange noch nicht egal, wie sich zeigt, als er in einem Antiquariat zum ersten Mal den Katalog für seine eigene, dareinst in den 80ern geplante und dann geplatzte Ausstellung findet.

Charlie ist ein großartiger Held, ein sympathischer noch dazu. Letzten Endes sogar einer, mit dem man schneller warm wird, als mit Herrn Lehmann. Von dem im übrigen im Buch auch immer mal wieder mehr oder weniger wehmütig die Rede ist. “Frankie, die alte Socke… wir hätten ihn nicht dauernd Herrn Lehmann nennen dürfen” Soviel sei gespoilert: Ja, der Leser wird erfahren, was aus Herrn Lehmann geworden ist. Aber – nein, es wird kein Wiedersehen mit Herrn Lehmann geben. So billig macht es ein Sven Regener glücklicherweise nicht. Hat auch eine gewisse Logik: Die Geschichte von Herrn Lehmann war weitestgehend auserzählt, er war ja auch nicht wirklich ein Typ, um den man sich hätte Sorgen machen müssen. Das war einer, der immer wieder auf seine Füße fallen würde. Es waren ganz andere Typen, die in den vorangegangenen Büchern hinten rüber gefallen sind und deren Geschichte noch zu Ende erzählt werden kann. Wie die von Charlie eben.

Seinem Helden zur Seite gestellt hat Regener mit den Ravern Figuren, die von Apfelwein und anderen Drogen beseelt ununterbrochen die Dinge des Lebens bequasseln und den Begriff Laberflash aufs beste illustrieren, gelegentlich aber auch mal was Erhellendes sagen. So atemlos wie die Raverszene in der äußeren Wahrnehmung daherkommt, so atemlos liest sich das Buch streckenweise auch. Gequirltes Gesabbel de luxe. Manchmal witzig, manchmal nervtötend, aber immer authentisch, Grammatikfehler in wörtlicher Rede absichtlich inbegriffen. Milieugenauigkeit war schließlich schon immer eine der großen Stärken Sven Regeners. Das kann er wie kein Zweiter. Hier eine Szene, dort ein Dialog und schon hat man die jeweilige Welt in ihrer ganzen Surrealität vor Augen. Egal, ob es die zwischen Nostalgie, Geschäftstüchtigkeit und Idealismus sich nicht entscheiden könnende großmäulige Techno Szene ist oder die zwischen Bevormundung und Weltverbesserer-Gehabe schwankende Clean-Cut-Welt.

Regeners Figuren haben alle eine Macke, aber man muss sie mögen. Er hat ganz einfach ein Herz für die Bekloppten dieser Welt. Doch so entlarvend manche Szenen sind, so wenig schaut Regener und mit ihm der Leser auf sie runter. Eine ganz große Stärke entwickelt das Buch in den Momenten, wo es Karl Schmidt über seine paronaiden Schübe, “das Dunkel, das ihn bedroht” und wie er damit umgeht, erzählen lässt. Im Buch ist es die DJane Rosa, in die Charlie sich so ein bißchen verliebt, die stellvertretend für den Leser wissen will, wie es so ist, wenn man verrückt wird. Das erzählt einem ja sonst keiner. Aber Charlie erzählt es jetzt. Ganz nüchtern, nicht wehleidig, nicht pathetisch und genau darum so berührend erzählt er es Rosa und mit ihr dem Leser in bester Hausmeister-Manier, wie es ist mit “der Schraube, die einmal überdreht wurde und nie wieder richtig fest sitzt

Was bleibt nach der Lektüre? Ein Einblick in die goldene Aufbruchzeit der Raver, Freude, Hoffnung und trotz gelegentlicher Längen und Überdruss ob des allzu breitgetretenen Gelabers die wiederholte Erkenntnis, dass es wenige gibt, die wie Regener mit der deutschen Sprache umgehen können. Texte von ihm machen einfach immer wieder Freude, egal ob es Liedtexte oder Prosa sind. Weit und breit ist wohl keiner zu finden, der Wörter derart kunstvoll zu gebrauchen weiß und damit entzückt, egal ob es der gesungene “Schwachstromsignalübertragungsweg” oder die “Verlaufskontrollpreußen” in der “Bummbummigkeit” der Magical Mystery Tour sind. Und alte abgenudelte Sponti-Sprüche à la “Profile sind nur was für Reifen” in Literatur umzuwandeln, das muss man auch erstmal fertig bringen. Darüberhinaus möchte man ihm schon ziemlich gerne den Titel “Meister der ersten und letzten Sätze in einem Roman”verleihen. Auch wenn diese hier absichtlich nicht zitiert werden, da man sie sich ruhig selbst erlesen sollte, sie sind extremst gelungen – Chapeau.

Sven Regener lebt in Berlin. Bekannt und beliebt wurde er einem eingeschworenen Fankreis als Frontmann der Band Element of Crime. Mit seiner Trilogie über Herrn Lehmann machte er sich auch als Schriftsteller einen Namen und brachte das Kunststück fertig, seitdem mit diversen Projekten gleichermaßen als Lieblings des Feuilletons und der Indie-Szene die deutsche Kulturszene aufzumischen. Dass einem während der Lektüre der Magical Mystery ständig EoC Liedtexte in den Sinn kommen, gehört wohl ebenso zu den Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen des Regener-Universums wie die Tatsache, dass man während des Lesens immer Detlef Buck als Karl Schmidt vor Augen hat.

Nachsatz zur Rezension am 03.12.2015:

Der Kollege Kretzler hat dieses Buch in der Kindle-E-Book-Version gelesen. Neben der Begeisterung für das Werk hat er aber eine kritische Anmerkung, die durchaus in eine Buchbesprechung gehört. Ich zitiere deshalb auch an dieser Stelle aus untenstehendem Kommentar des geschätzten Kollegen:

Was mir bei der Kindle-Version negativ auffiel waren wiederholt unmotivierte Zahlen in eckigen Klammern mitten im Text, da wurde geschlampt.”


Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Wilder Fluss

515It+rl-dL._SX330_BO1,204,203,200_Der South Nahanni River in den kanadischen Northwest Territories ist bekannt für seine Geschichten um mysteriöse Todesfälle, kopflose Leichen und Entführungen, aber er kann auch der Schlüssel zum Überleben der Menschheit sein oder ihrer Zerstörung. Del dachte, dass ihr Vater schon lange tot war. Doch jemand aus ihrer Vergangenheit behauptet etwas anderes. Jetzt ist sie mit einer Gruppe ihr nahezu fremder Menschen auf einer lebensgefährlichen Mission. Vor sieben Jahren verschwanden Del Hawthornes Vater und drei seiner Freunde in der Nähe des Nahanni River und wurden für tot erklärt. Del ist schockiert, als ihr einer der vermissten Männer an der Universität begegnet; gealtert zwar und kaum wiederzuerkennen, aber äußerst lebendig. Was der Mann ihr sagt, scheint undenkbar: Auch ihr Vater ist noch am Leben! Mit einer Gruppe von Freiwilligen fährt Del zum Nahanni River, um ihren Vater zu retten. Was sie vorfindet, ist ein geheimnisvoller Fluss, der sie in eine technologisch fortgeschrittene Welt voller Nanobots und schmerzhafter Seren führt. Del deckt eine Verschwörung unvorstellbaren Grauens auf, die uns alle zu vernichten droht. Wird die Menschheit für die Suche nach dem ewigen Leben geopfert werden? Ab welchem Punkt werden wir zu… Gott?

Delila ist Mitte 30 und hat den (angeblichen) Tod Ihres geliebten Vaters, eines angesehenen Genetikers, nie überwunden. Jetzt taucht einer seiner Kollegen plötzlich auf und behauptet, dass Ihr Vater noch am Leben sei. Er liegt im Sterben, kämpft gegen eine unbekannte Variante von Progeria, die den Körper im Zeitraffer altern lässt, kann Del aber noch sein Notizbuch mit rätselhaften Codes übergeben, bevor er das Bewusstsein verliert! Für Del steht nun fest dass Sie Ihren Vater finden und nach Hause bringen muss. Gemeinsam mit Ihrem Exfreund stellt sie ein Expeditionsteam zusammen, um am Nahanni River mitten in der kanadischen Einöde nach Ihrem Vater zu suchen, denn dorthin brach er vor 7 Jahren zu Forschungszwecken auf.

Das Buch beginnt als spannender Abenteuerroman, mit dem Überleben in der Wildnis, Spurensuche in den Wäldern, Kanufahrten auf dem reißenden Fluss und hat mir bis dahin äußerst gut gefallen, was auch an den verschiedenen Persönlichkeiten liegt, die miteinander auf die Suche gehen und dort aufeinanderprallen.

Nach der Hälfte kippt die Geschichte aber (leider) und driftet mir zu sehr in ScienceFiction ab und das hat mir gar nicht gefallen. Damit hätte ich ja noch leben können, denn jetzt wollte ich auch wissen, wie die Geschichte endet. Ich hatte mich mit ScienceFiction abgefunden, aber auch die Handlungen und die Gespräche der Figuren ändern sich stark. Die Geschichte wird sehr unglaubwürdig, ich habe an manchen Stellen mit dem Kopf geschüttelt, weil sich kein normaler Mensch so verhalten würde. Vieles ist meiner Meinung nach einfach unlogisch und unglaubwürdig (und ich rede nur vom Verhalten der Figuren, nicht von ScienceFiction Aspekten)! Die Geschichte wird nach und nach leider immer blöder, obwohl sie mir zu Anfang so gut gefallen hat und das Ende fand ich auch sehr enttäuschend…! Na ja, zumindest war es kein „Friede-Freude-Bratkartoffel-Ende“ das ich schon befürchtet hatte.

Eine Geschichte aus deren Grundidee (illegale Stammzellenforschung, der Besessenheit von ewiger Jugend und Macht) man wirklich viel hätte machen können, aber irgendwie hat das nicht so ganz geklappt! Die ScienceFiction Elemente waren auch einfach zu viel des Guten und hätten nicht sein müssen. Oft ist weniger halt einfach mehr.

Cheryl Kaye Tardif ist eine preisgekrönte, kanadische Bestsellerautorin. Ihr bekanntestes Werk ist der übernatürliche Thriller „Des Nebels Kinder“, der sich über 60.000 Mal verkaufte. Sie wird mit Michael Crichton, James Patterson und J.D. Robb verglichen.

 


Genre: Romane, Thriller
Illustrated by Luzifer Verlag

Grosse Liebe

Kermani grosse Liebe Was löst Liebe aus bei einem Menschen und wie verändert er sich dadurch? Dieser Frage geht Navid Kermani in seinem Roman „Grosse Liebe“ in Gedanken nach. Die Liebe – so das Fazit des Romans – ist, muss es sein, was Menschen über alle Kulturen, Religionen und Jahrhunderte hinweg verbindet.

Navid Kermani erinnert sich an seine Schulhofliebe in den 80er Jahren. Fünfzehn Jahre war er alt und es waren nur wenige Tage, in denen er alle Phasen der Liebe durchlebte. Von der alle Sinne verwirrenden Schwärmerei für die Allerschönste aus der Raucherecke im gymnasialen Pausenhof über den ersten Kuss, die erste Aufopferungsbereitschaft bis schließlich hin zum radikalen Bruch, der schroffen Zurückweisung durch die Geliebte. Kermani erzählt von dieser Liebe vor dem Hintergrund der friedensbewegten 80er Jahre und verknüpft seine Erinnerungen mit Erzählungen islamischer Liebesmystiker aus dem 12. und 13. Jahrhundert.

Der zwischen Unschuld und Verzweiflung schwankenden Liebe des 15jährigen stellt er die Erzählung Ibn Arabis über die sagenhaft schöne Leila und den ihr verfallenen Madschnun gegenüber. Die Erkenntnis hier wie dort: Würdevoll und töricht zugleich ist die Liebe, sie adelt den Menschen und gibt ihn gleichzeitig der Lächerlichkeit preis. Nicht ohne Erleichterung kommt der erwachsene Erzähler dennoch zu der Erkenntnis, dass bei aller Narrheit des 15jährigen die hemmungslose Demut des Madschnun seiner Lebenswirklichkeit nicht entspricht und entsprach. „Ich glaube allerdings, der Junge hätte Ibn Arabi den Vogel gezeigt“.

„Grosse Liebe“ ist ein Roman, der von Erinnerungen eines ungestümen Jugendlichen lebt, doch das Buch ist weder als klassischer Liebesroman noch als Coming-of-Age-Geschichte angelegt. Auch die schwärmerische Huldigung an die Schönste ist nur mehr ein Mosaikstein zur Lösung des Rätsels der Liebe. Die Erzählungen der arabisch-persischen Liebesmystik sind das ureigene Metier des habilitierten Orientalisten Kermani. Es sind diese alten, aber zeitlosen Geschichten, mit denen er zeigt, dass sich Liebe nie ändert und mit denen er einen ganz eigenen, sehr behutsamen beschriebenen Beitrag zum Verständnis untereinander über alle Kulturen hinweg leistet.

Doch es ist nicht nur das Wesen der Liebe, das er mit der Erzählung dieser (von ihm als rein und wahrhaftig empfundenen) ersten Liebe erinnern will. Gleichzeitig reflektiert er auch die Angst vor dem Verlust, es ist ein Versuch, diese Angst in ihre Schranken zu verweisen. Er will nicht nur seinem eigenen 15jährigen Ich nachspüren, es ist auch sein Weg, seinen nunmehr 15jährigen Sohn zu verstehen.

Der Sohn entgleitet ihm jäh und unvermutet, er verschmäht den häuslichen Geburtstags-Frühstückstisch mit dem liebevoll gebackenen Schokoladenkuchen zugunsten eines Treffens mit Freunden in einer neumodischen Kaffeehaus-Kette. Kermani erinnert sich an den Kummer, den sein durch die Liebe verursachtes irrationales Handeln seinen Eltern bereitet hat. Nicht nur, dass er ohne Meldung über Nacht wegblieb, einmal musste der Vater ihn sogar aus einer Arrestzelle holen. Da ist die Kaffeehaus-Kette ja noch das kleinere Übel.

Kermani erzählt diese Geschichte auf allen Ebenen in einer sehr melodiösen, wohlgesetzten, gleichwohl leicht zu lesenden Sprache, die den Leser angenehm durch die Geschichte gleiten lässt. Wenn überhaupt etwas den Lesefluss unterbricht, dann seine gelegentlichen, bemüht wirkenden Abstecher in die Meta-Ebene. Einhundert Schreibtage habe er sich gegeben, einhundert kurze Abschnitte sollten es werden und sind es geworden. Doch nicht immer passt es so, wie es der um stete Perfektion bemühte Erzähler wünscht. Da wird der Plan mal nach vorne, mal nach hinten geschoben, solange bis die Schönste aus der Raucherecke auch genau in der Mitte der Erzählung ihre Schenkel öffnet. Die Geschichte wirkt dadurch gewollt harsch unterbrochen, warum der Erzähler das allerdings möchte, bleibt im Verborgenen. Vielleicht will er seine gelegentlich ins Schwärmerische abgleitenden Beschreibungen dadurch relativieren, doch das hätte es nicht gebraucht.

Navid Kermani gilt in der deutschen Kulturszene als bedeutender Intellektueller, nicht zuletzt auch durch die Gründung der Kölner Akademie der Künste der Welt. Er ist vielfach preisgekrönt, nicht immer unumstritten und hat sich sowohl als Wissenschaftler wie auch als Autor einen Namen gemacht. Er selbst sagt, seine Aufgabe als Autor sei die (Selbst-)Kritik und Versöhnung der europäischen und der islamischen Kultur. Im deutschen Bundestag hielt er eine vielbeachtete Laudatio zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes. Getreu seiner selbstgestellten Aufgabe konfrontierte er die Abgeordneten und mit ihnen das ganze Land mit Lob und Kritik gleichermaßen. Die Wichtigkeit solch besonnener Worte kann jederzeit kaum hoch genug geschätzt werden.

„Grosse Liebe“ ist kein politisch motivierter Roman, aber die Handlung ist eingebettet in die Zeit der Friedensbewegung, der Demos im Bonner Hofgarten, der Hausbesetzerkommunen. Bis ins kleinste Detail, vom Räucherstäbchenduft über selbstgetöpferte Teetassen bis hin zu den unvergessenen Latzhosen jener Tage lässt Kermani die Atmosphäre wieder auferstehen und rahmt seine Erinnerungen darin ein. Es sind Erinnerungen, die ein Teil seiner Generation kennt und die heute phantastisch naiv anmuten. Leider. Wie auch Kermani bedauernd anmerkt. Denn so unpolitisch sein Roman auf den ersten Blick daherkommt, ist er denn doch nicht.

Es ist eine der ganz großen Stärken des Erzählers, dass immer wieder ein Nebensatz, eine beiläufig gezogene Schlußfolgerung kommt, von der man erst Tage später merkt, dass man dauernd darüber nachdenkt. So zum Beispiel, wenn er aufrichtig bedauert, dass von der Zeit der 80er nichts im kollektiven Gedächtnis der heutigen Bundesrepublik blieb, so dramatisch und umstürzlerisch sie den Beteiligten auch damals vorgekommen sein mag. Er schätze diese Zeit, „weil sie eines nicht war, nämlich cool und ironisch„. Es sei „das bisher letzte Mal in der westlichen Welt gewesen, dass das Gutmeinen, Altruismus, Sanftmut als Tugend galt“ – genau wie in den traditionellen arabischen Geschichten.

Diejenigen aus Kermanis Generation, die seine Erinnerungen an etliche im Buch beschriebene Ereignisse teilen, werden – wenn sie ehrlich zu sich selber sind – zu der Schlußfolgerung kommen: Er hat recht. So idealistisch, so begeisterungsfähig, so vom Glauben an den Frieden beseelt war keine Generation mehr danach und auch diese Generation hat sich längst in den Zynismus geflüchtet. Was daraus resultierte und noch resultieren mag – diese Frage sollte man sich in der Tat stellen, diesen Gedanken in der Tat zu Ende denken.

Und so ist dieses Buch über die Liebe vielleicht auch grundsätzlich zu verstehen. Als Buch nicht nur über die Liebe zwischen zwei Menschen, sondern auch zu den Menschen.

(Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de 2014)


Genre: Erinnerungen, Romane
Illustrated by Hanser Verlag München