33

Kjersti33Eine Frau, zwei Männer, einer davon tot und noch kein Kind. Um dieses fragile Universum kreist die Erzählerin. Sie ist eine lungenkranke Frau, die dem Leser nur als K. vorgestellt wird. Gerade ist sie 33 geworden, das Alter, das im Himmel alle haben, so hat sie es jedenfalls gelernt.

Die große Liebe der K., Ferdinand, hat Selbstmord begangen, was K. aber nicht daran hindert, eifrige Schwätzchen mit dem Dahingeschiedenen zu halten. Zeit hat sie genug, sie arbeitet zwar als Lehrerin, aber in ihrem Fach, der Mathematik braucht man das Rad ja nicht täglich neu zu erfinden. Und ihr aktueller Mann, der Ire Samuel, ist in einem Endlos-Cricket-Match gefangen. Sie horcht in ihren kranken Körper und malt Horrorvisionen darüber, was in und mit diesem alles passiert. Und dann der Wunsch nach einem Kind. Kann sie das überhaupt, darf sie das überhaupt, was wird das mit ihrem Körper, ihrer Seele machen? Schon die Unsicherheit, was es mit ihr macht, wenn die Nabelschnur gekappt ist! Noch größer aber ist ihre Angst davor, das (ungezeugte) Kind in ihren Eierstöcken könne unentbunden bleiben und sie damit unerlöst. Zum Üben schafft sie sich ein Haustier an und nennt es “dasKind“. Was für ein Tier “dasKind” ist, bleibt unklar, aber es scheint in eine Plastiktüte zu passen. Vielleicht ist es aber auch gar nicht real, vielleicht aber doch. Genau wie der Albatros, den sie sieht und der ihr einfach kein klares Zeichen geben will.

K. ist eine ausgesprochen merkwürdige junge Frau und “33” ein ausgesprochen merkwürdiger Text. Mit Absicht steht hier der übergeordnete Begriff “Text” und nicht Roman. Denn ein Roman ist es nicht. Ein Roman ist qua Definition eine Erzählung und erzählt wird hier ausgesprochen wenig. Es ist eher eine Ansammlung von Satzfragmenten, schwankend zwischen Lyrik und abgegriffenen Weisheiten a la “Sentimentalität ist die Schwester der Brutalität.” Zu Beginn ist das Buch noch einigermaßen klar und begreifbar. Die Betonung liegt auf einigermaßen! Doch je weiter K. in ihrer Larmoyanz fortschreitet, desto mehr verliert sie ihren roten Faden, mäandert zwischen tatsächlichen Ereignissen, die sie aber sofort überhöht, Alb- und Wachträumen und vollkommen absurden Vorstellungen, wie der, dass sie Ferdinand in sich eingenäht habe und nun amputiert werden müsse. Intention war es wohl, Momente einzufangen, die alles verändern und der Frage nachzugehen, ob man es wagen kann, sich fallen zu lassen, wenn man nicht weiß, ob einen jemand fängt. Dies bezogen vor allem auf die Frage einer eventuellen Mutterschaft. Man kommt nicht umhin, zu denken, dass einem das Kind schon vor der Zeugung leid tut. Wer Mutterschaft schon vorher derart thematisiert und problematisiert, sollte es wirklich besser bleiben lassen.

Kjersti Annesdatter Skomsvold wird nach wie vor als große Nachwuchshoffnung der norwegischen Literatur gehandelt, auch wenn sie mittlerweile mehrere Werke veröffentlicht hat. Ihr Debütroman “je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich” war ein verstörendes, aber auch berührendes, versponnenes Märchen. “33” nun ist zwar auch noch versponnen, aber zumindest mich hat es nicht berührt. “33” ist vor allem verstörend. Wo ist die Leichtigkeit hin, mit der sie in ihrem ersten Roman erzählte? In diesem Buch gelang noch die Mischung aus Melancholie, Empathie und Witz. In “33” gelingt ihr diese Mischung nicht. Was dort bleibt, ist unterm Strich nichts als Larmoyanz. Natürlich – der Erzählerin ist viel zugestossen, sie hat es nicht leicht. Aber durchgehendes Selbstmitleid hilft nun mal nicht. Weder der K. noch einem ungeborenen Kind.

Stilistisch ist Kjersti A. Skomsvold durchaus begabt. Sie handhabt ihr Handwerk mittels Bildern und Allegorien gekonnt und die Fähigkeit, Schmerz und körperliche Empfindungen in Worte zu kleiden, ist nur wenigen Autoren derart gegeben. Wenn diese Fähigkeit aber nur dazu dient, Selbstmitleid auszukleiden, ist es nicht genug, um die ersehnten surrealistischen Sphären auch nur zu streifen. Da helfen auch die mehr oder weniger subtilen Hinweise auf Samuel Beckett nichts.

Der Roman ist krampfhaft um Exzentrik bemüht. Aber Exzentrik muss man sich erstmal leisten können. Souverän gehandhabtes Handwerk reicht dafür nicht. Um Exzentrik zu goutieren, müssen dem Leser schon mehr als exzessiv gelebtes Selbstmitleid und ausformulierte Mätzchen geboten werden. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich keinen Roman lese, sondern allenfalls Zeuge exzessiver literarischer Übungen werde.


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Je schneller ich gehe, desto klener bin ich

skomsvold“Ich habe schon immer gern Dinge zu Ende gebracht. Ohrenwärmer. Sommer. Herbst. Frühling. Winter. Epsilons Berufsleben. Die Sachen erledigt.”

So beginnt ein kleiner, feiner, außergewöhnlicher Roman der jungen Norwegerin Kjersti A. Skomsvold. Ihre Heldin Mathea Martinsen ist fast hundert Jahre alt und am liebsten würde sie sich einfrieren. Solange, bis sie sich überlegt hat, wie sie den Rest ihrer Lebenszeit am besten nutzen kann. Epsilon – so nannte sie ihren vor kurzem verstorbenen Mann und so wie er lebenslang ihr Maßstab, ihre Orientierungsmarke war, so orientiert sie sich nun am Epsilon als statistische Einheit. Sie resümiert ihr Leben, ihre Ehe und wird gewahr, dass nichts von ihr überdauern wird, dass sie ihre Lebenszeit nicht genutzt hat. Sei es aus Überdruss, aus Schüchternheit, aus Bequemlichkeit. So ganz kann sie das selber nicht mehr klären. Gerne würde sie etwas hinterlassen, damit die Nachwelt weiß, dass sie überhaupt gelebt hat. Schliesslich leben momentan mehr Menschen auf der Welt, als jemals gestorben sind. Und da wäre es doch “fein, das Zünglein an der Waage zu sein”. Aber ist eine vergrabene Kiste, ihr Brautkleid und Legionen von für Epsilon gestrickte Ohrenwärmern enthaltend, dafür ein probates Mittel? Obwohl sie in ihrem (Ehe-)leben nur ein einziges Mal Besuch erhielten, versucht sie nun eine zaghafte Annäherung an ihre Mitmenschen. Eigentlich geht sie nur aus dem Haus, bevor sie sich durch ihren Türspion versichert hat, dass ausser ihr niemand im Treppenhaus ist. Nun grüßt sie mutig den Mann ohne Namen im Wald, sogar dem Nachbarn, den sie ihr Leben lang nur von oben herab gesehen hat, leiht sie Zucker. Mutig geworden geht sie gar zu einem Senioren-Kaffeeklatsch mit Bingo “Vergnügen” – und scheitert. Wieder einmal an ihrer eigenen Unsichtbarkeit, in langen Jahren zur Perfektion ausgebildet. Sie gehört nicht zu der Spezies, die Kuchen bekommen und ihre Jacke wird als Kuriosität versteigert.

Kjersti A. Skomsvold erzählt mehr ein versponnenes Märchen denn eine Handlung oder gar eine Biographie. Anrührend, bisweilen recht vergnüglich erzählt sie von der Kunst des Lebens und Sterbens und dem Scheitern an diesen Künsten. Noch vor dem bittersüßen Ende kommt Mathea zu der Erkenntnis “so muss es sein, wenn man tot ist, wie als man noch nicht geboren war, und das war ja nicht die schlechteste Zeit.”
Die junge norwegische Autorin hat ein ganz beachtenswertes Debüt geschrieben, in Norwegen viel bejubelt – und ja, zumindest dort schon mit Preisen dekoriert. In diesem Bücherherbst ist viel von gescheiterten Lebensentwürfen zu lesen. So auch in diesem. Dennoch ist es nicht ein weiteres zu dieser Thematik, denn es ist gleichzeitig auch ein Buch, welches Hoffnung mitgibt – zudem so einige Wahrheiten und Erkenntnisse über das Leben.

In Presseberichten wurde Mathea eine rührende alte Dame voller Weisheit genannt. Das kann ich so nicht sehen. Es ist nicht rührend, eigentlich ist es erschütternd. Man liest das Buch mit einem Schmunzeln, kann sich aber des traurigen Mitleidens für die des Lebens so unfähige Mathea und ihres dadurch sehr eingeschränkten Epsilon nicht erwehren.
Jeder Leser wird nach der Lektüre seine eigene Interpretationsmöglichkeit des sperrigen Titels finden, jeder Leser wird die Geschichte auch auf seine eigene, auf ihn selbst gemünzte Art interpretieren. Und das ist sicher die eigentliche Kunst des Buches. Es regt zum Nachdenken an – und zu eigener Entscheidungsfindung.

Ich hatte in diesem Portal schon eindringlich die Bücher der norwegischen Ausnahme-Autorin Anne B. Ragde empfohlen. Die junge Osloerin schickt sich an, in ihre Fußstapfen zu treten. Kjersti A. Skomsvold beweist in meinen Augen einmal mehr, dass es sich lohnt, die skandinavische Literatur jenseits der Krimis und Thriller für sich zu entdecken. Ich bin mir sicher, von ihr wird noch viel zu lesen sein.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe