Töchter

Auf Kolportage-Kurs

Lucy Fricke hat mit ihrem Bestseller «Töchter» einen Roman vorgelegt, der thematisch an zwei Roadmovies erinnert, die sie in ihrer Geschichte sogar selbst anspricht. Wie in «Thelma und Louise» und auch in «Tschick» geht es um eine groteske Flucht mit dem Auto, welches hier nicht nur als Gefährt, sondern auch als Rückzugsort aus prekären Verhältnissen dient. Und die zwei Heldinnen in Frickes Roadtrip stehen, – genau wie in den genannten Spielfilmen -, auch ziemlich bald vor der Frage, wie finden wir da wieder raus? Die Autorin hätte als Titel eben so gut «Väter» wählen können, denn um die geht es den beiden Frauen letztendlich.

Die Ich-Erzählerin Betty ist eine alleinstehende Schriftstellerin um die vierzig, deren gleichaltrige Freundin Martha sie bittet, ihren todkranken Vater in eine Sterbeklinik in der Schweiz zu bringen. Der möchte unbedingt in seinem eigenen Auto dorthin gefahren werden, und da Martha sich nach einem schweren Unfall nicht mehr selbst ans Steuer setzt, soll ihre beste Freundin sie beide chauffieren. Während der Fahrt in dem klapperigen alten VW-Golf, die die Frauen nur widerstrebend antreten, gesteht der Vater irgendwann, dass die Sterbeklinik nur ein Vorwand war, in Wirklichkeit wolle er an den Lago Maggiore. Seine Jugendliebe, eine gelernte Krankenschwester, habe ihn dorthin eingeladen, um ihn bis zum nahen Tod selbst zu pflegen. Die beiden Freundinnen beschließen, nachdem sie ihn dort abgesetzt haben, nicht sofort wieder heimzufahren. Betty möchte nach ihrem geliebten Ziehvater suchen, der sie und ihre Mutter einst so schmählich verlassen hatte und sich dann nie mehr gemeldet hat, angeblich sei er seit zehn Jahren tot. In einem kleinen Dorf in Italien findet sie tatsächlich sein Grab, bei weiteren Recherchen stößt sie allerdings auf eine Front des Schweigens und bekommt Zweifel. Bis sie schließlich doch noch den Tipp erhält, auf einer abgelegenen griechischen Insel weiter zu suchen.

Dieser Roman über die Leerstellen, die durch Vaterlosigkeit entstehen, zählt zur Kategorie der Pageturner, mit flotter Feder erzählt Lucy Fricke ihre Geschichte in einer leicht lesbaren Sprache. Ihr Plot ist klug konstruiert und erzeugt mit seinen immer wieder überraschenden Wendungen den geschickt dosierten Sog beim Leser, der turbulenten Handlung weiter zu folgen. Die Autorin streut dabei allerlei philosophische Betrachtungen und Lebensweisheiten in ihre tragische Geschichte ein und betont ihren Realismus, indem sie zum Beispiel im Buch Esoterik definiert als «Die schlimmste vorstellbare Wahrnehmung der Wirklichkeit». Das alles ist amüsant zu lesen, ohne dass es einem gleich «die Lachtränen in die Augen treiben» würde wie dem im Klappentext zitierten, für Klamauk anfälligen Dennis Scheck. Über ihren oft abgetauchten, zwielichtigen Ziehvater tröstete Betty ihre Mutter mit den Worten: «Mach dir keine Sorgen, Mama, er ist bloß für die Mafia unterwegs. Wahrscheinlich wäre sie erleichtert gewesen. Besser einer, der nachts Leute umlegte, als dass er Frauen flachlegte».

Die allesamt maroden Figuren dieses satirischen Romans sind ziemlich konturlos, ihre Vita bleibt weitgehend im Dunkeln, man wüsste aber gerne mehr, das würde auch das Verständnis des Plots erleichtern. Bei der von Lebensbilanzen und Sterbensfragen dominierten Thematik des Romans stehen den beiden Heldinnen in ihrer nicht nur altersbedingt kritischen Lebensphase zwei lebensmüde Vaterfiguren gegenüber. In der Dramatik dieser illusionslosen Geschichte vor zumeist malerischer Kulisse ist allerdings ein gewisses Pathos nicht zu übersehen. Lakonisch wird immer wieder seelisch Verschüttetes zutage fördert, bedauerlich aber ist, dass diesem narrativen Element nicht weiter nachgegangen wird, es fehlt an gedanklicher Tiefe. Neben einigen Ungereimtheiten werden leider auch derart viele Klischees bedient, dass die Geschichte allzu vorhersehbar wird, sie gleitet teilweise sogar in die Kolportage ab, das Ende ist dann nur noch purer Kitsch!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Rameaus Nichte

Warum liebe ich diesen Mann?

Das erste in Deutschland erschienene Buch der US-amerikanischen Schriftstellerin Cathleen Schine spielt mit seinem Titel «Rameaus Nichte» auf ein von Goethe 1805 übersetztes Werk Diderots an, aber nicht nur damit. Es zitiert auch thematisch das posthum veröffentlichte und vielbeachtete Buch «Rameaus Neffe», ein philosophisch feinsinniger Lehrdialog zwischen Meister und Schüler, der die Seele eines gescheiterten Künstlers offenlegt und als erstes Auftreten des Typus ‹Intellektueller› gilt. Bei Cathleen Schine wird diese Thematik auf eine unerwartet äußerst erfolgreiche Buchautorin angewendet, die an der Realität und an sich selbst scheitert bei ihrer verzweifelten Suche nach der eigenen Identität.

Margaret Nathan, eine attraktive New Yorker Geisteswissenschaftlerin Ende zwanzig, verheiratet mit einem charismatischen Literaturprofessor, findet ein unveröffentlichtes Manuskript mit dem Titel «Rameaus Nichte», eine anonym verfasste Einführung in die Philosophie. Sie übersetzt das Traktat, stellt dabei aber fest, dass es in weiten Teilen aus Plagiaten verschiedenster Autoren des 18ten Jahrhunderts kompiliert ist und in Wahrheit einen geschickt kaschierten pornografischen Inhalt hat. Durch diese Arbeit gerät ihre Gewissheit über die seit zwölf Jahren glückliche Ehe mit Edward Nathan immer mehr ins Wanken, sie beginnt ihre Liebe und ihre Rolle als rundum zufriedene, beneidenswerte Ehefrau kritisch zu hinterfragen: «Warum liebe ich diesen Mann»? In einem von ihrer sinnlichen Phantasie angeheizten Prozess der Selbstfindung sucht die an sich eher schüchterne junge Frau schließlich den Kontakt mit potentiellen Sexpartnern. Sie bandelt, nachdem ihr schwuler Lektor von vornherein ausscheidet, zaghaft zuerst mit einem belgischen HiFi-Hersteller an, der sie aber abweist. Dann versucht sie, obwohl sie keiner lesbische Orientierung hat, ebenfalls vergeblich, ihre lebenslustige Freundin Lilly, eine feministische Autorin, zu verführen, um dann endlich doch noch mit ihrem adonisgleichen Zahnarzt im Bett zu landen. Den von ihr als Befreiung gedachten und herbeigesehnten Ehebruch hat sie nun wirklich in die Tat umgesetzt, – ohne dabei aber das gefunden zu haben, was sie suchte. Ihre sexuelle Selbstverwirklichung erweist sich als totaler Fehlschlag, sie ändert nichts.

Der dreiteilig aufgebaute Roman schildert im ersten Teil die Uni-Szene, Partyleben und Small Talk der New Yorker Intellektuellen mit belanglosen Disputen um Halbwahrheiten, im zweiten dann eine kunstsatte, bereichernde Reise der Heldin nach Prag, bei der sie erstmals seit der Hochzeit ganz auf sich selbst gestellt ist, da ihr smarter Mann sie nicht begleiten kann. Der dritte, die Hälfte des Buches umfassende Hauptteil schließlich behandelt die Irrungen und Wirrungen ihrer schwierigen Selbstfindung, ihre hilflosen Eskapaden, die allesamt nicht zur gewünschten Emanzipation führen. Sozialer Schein und privates Sein sind nicht unbedingt deckungsgleich, lautet das Fazit dieses puzzelartig angelegten Eheromans.

Wie schon die Titel andeuten, handelt es sich hier um zwei ineinander verschachtelte, gleichnamige Romane, zwei ironisch durchleuchtete Zeitepochen also, das Buch im Buch ist dabei das von der Heldin übersetzte Manuskript von «Rameaus Nichte». Diese innere, die Verführung und Entjungferung eines Mädchens, – der Nichte Rameaus nämlich -, erzählende Geschichte vom Anfang des 18ten Jahrhunderts ist in einer der Barockzeit nachempfundenen Sprache geschrieben, die zwar zeitgerecht ist, aber auch bis zur Unlesbarkeit verklausuliert. Hingegen ist die Ende des 20ten Jahrhunderts angesiedelte Geschichte einer modernen Lebens- und Liebeskrise amerikanisch knapp und salopp erzählt. Sie glänzt mit den funkelnden, geistreichen Dialogen ihrer durchweg sympathischen Figuren und den weitläufigen inneren Monologen der Protagonistin. Der Lesegenuss dieser intellektuell anspruchsvollen Lektüre wird zusätzlich durch einen köstlichen Humor bereichert.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Schlafes Bruder

Hypnos und Thanatos

Der Debütroman «Schlafes Bruder» des österreichischen Schriftstellers Robert Schneider blieb sein bis heute mit Abstand größter Erfolg. Das 1992 erschienene Buch wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt, diente als Vorlage für den gleichnamigen Spielfilm und erfuhr diverse weitere Adaptionen. Der von einem Bergbauern-Ehepaar aus Vorarlberg adoptierte Autor hat darin offensichtlich nicht nur Erfahrungen der eigenen Jugendzeit verarbeitet, er hat vor allem seine fundierten musikalischen Kenntnisse als Organist für das Hauptmotiv seiner Erzählung verwendet. Trotz ähnlichem Schauplatz ist der zeitlich am Anfang des 19ten Jahrhunderts angesiedelte Roman alles andere als einer der typischen, kitschigen Alpenromane. In diesem Entwicklungsroman wird vielmehr eine düstere, mystische Geschichte aus einem so gar nicht idyllischem Bergbauerndorf in Vorarlberg erzählt. Weiterlesen


Genre: Roman
Illustrated by Reclam Verlag

NSA – Nationales Sicherheits-Amt

Was wäre geschehen, wenn die Nazis schon über die heutige Computertechnologie verfügt hätten, wenn sie ihre Bürger hätten total überwachen und aus den Datenbergen Bewegungsprofile erstellen können? – Andreas Eschbachs Ausgangsfrage in seinem Roman »NSA« ist ebenso klug wie spannend. Weiterlesen


Genre: Dystopie, Endzeitthriller, Roman, Science-fiction
Illustrated by Bastei Lübbe

Planet Germany

Eine Expedition in die Heimat des Hawai-Toasts
Eric T. Hansen erforscht seine Wahlheimat Deutschland

Der Glaube, man könne seine Identität durch den Konsum von Coca-Cola, Jeans, Popsongs, Hollywoodfilmen und Fastfood von McDonalds verlieren, ist ziemlich deutsch. Wir Amerikaner importieren deutsches Bier, italienische Schuhe, englische Filme und mexikanische Tacos, aber sie bringen unsere Seele nicht in Gefahr. Dafür ist der Teufel zuständig. Sollte jemand prophezeien: „Nehmt euch in Acht! Bald kommt ein ausländisches Getränk und raubt euch die Seele!“ – na ja, bei uns kriegt er damit nicht so schnell die Kirche voll. Nur hierzulande fürchtet man Popkultur mehr als der Teufel das Weihwasser. Der Satz „Ich wurde amerikanisiert“ ist weniger eine Feststellung als vielmehr der Beweis, dass der Sprecher mit Leib und Seele deutsch ist. Kein Amerikaner würde beim Kauf eines BMWs grübeln: „Oh Gott, werde ich nun germanisiert?“ Keine amerikanische Mutter hat ihrem Kind Grimms Märchen verboten, aus Angst, das Kind könne deutsch werden. Ich bin auf Hawai groß geworden und aß als Kind mehr Chow Mein, Sushi und Li Hing Mui als Hamburger. Doch nie hätte ich bezweifelt, dass ich Amerikaner bin. Weiterlesen


Genre: Sachbuch
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Baron Wenckheims Rückkehr

Zwiespältige Parabel

László Krasznahorkai, ein Meister der Apokalypse, gehört zu den bedeutendsten ungarischen Schriftstellern der Gegenwart. Sein jüngster Roman «Baron Wenckheims Rückkehr» bedeute eine Wende in seinem bisher «melancholischen und resignativen Werk», wie er im Interview erklärt hat, es sei sein erster humorvoller Roman. Der vor allem im englischen Sprachraum gefeierte Autor wurde 2015 mit dem dort wichtigsten Literaturpreis ausgezeichnet, die Jury des Man-Boocker-Preises bezeichnete ihn als «einen visionären Schriftsteller von außergewöhnlicher Intensität, dessen sprachlicher Ausdruck die Beschaffenheit der heutigen Existenz in Szenen einfängt, die besorgniserregend, befremdlich, erschreckend komisch und oft überwältigend schön sind». Das in der schwülstigen Laudatio als visionär Gelobte endet auch hier allerdings wieder in einer Apokalypse, der Weg dorthin ist jedoch urkomisch.

Der vor 46 Jahren aus Ungarn vertriebene Baron Béla Wenckheim hat sich in Südamerika durch seine Spielleidenschaft in den Ruin getrieben, er sitzt in Haft. Seine wohlhabende Familie holt den verwirrten, spindeldürren Mann nach Wien zurück und kleidet den völlig Verwahrlosten neu ein, ehe sie ihn mit dem Zug in seinen ungarischen Geburtsort Gyula weiterschickt, den der alte Mann vor seinem Tod unbedingt noch einmal sehen will. Boulevardpresse und Fernsehen bauschen diese Heimkehr medial derartig auf, dass die wildesten Gerüchte entstehen, angeblich würde der steinreiche Adelige seine Stadt finanziell äußerst großzügig unterstützen. Verwaltung und Einwohnerschaft malen sich eine glänzende Zukunft aus für die hoffnungslos heruntergekommene Stadt, manche Leute beginnen sogar schon, sich zu verschulden in Erwartung des Geldsegens, der da bald auf sie nieder regnen wird.

Mit seinem üppigen Ensemble wahrhaft wunderlicher Figuren zeichnet László Krasznahorkai das Panorama einer Provinzstadt im Ungarn von heute, die auf ihren Heilsbringer wartet. Da ist der unfähige Bürgermeister, der korrupte Polizeichef mit seiner aus zwei Dutzend Rockern bestehenden Motorrad-Bande, ein verwilderter Professor, der im Dornbusch-Ödland dahinvegetiert, Marika, die Jugendliebe des Barons, Dante Szolnoki, ein redegewandter Krimineller, der sich dem Baron als Sekretär andient, und viele skurrile Typen mehr. Der Autor beschreibt das alles in einer glanzvollen Sprache mit vielen parallelen Erzählsträngen und erschließt seinen Plot großenteils mit stimmigen Dialogen, oft aber auch als Bewusstseinsstrom oder innerer Dialog. Wobei seine kunstvoll konstruieren Sätze sich immer über mehrere Seiten hinweg erstrecken und die direkte Rede ohne Satzzeichen einbinden, «ungewöhnlich lang, weil ja auch unser Denken ein endloser stürmischer Prozess ist und keine Punkte kennt», hat er dazu angemerkt. Nach anfänglichen Problemen liest man sich aber doch schon bald ein in diese virtuos konstruierten Endlossätze, sei skeptischen Lesern versichert.

In seiner zeitgeschichtlichen Parabel über ein rückständiges, korruptes Ungarn, das ihm offensichtlich peinlich ist, hat László Krasznahorkai ein vernichtendes Urteil über seine Heimat gefällt, auch wenn er dies deutlich erkennbar satirisch überzeichnet, sich am Ende gar ins Surrealistische hineinsteigert. Unfähigkeit, Faulheit und grenzenlose Dummheit sind fürwahr nicht gerade schmeichelhafte Wesensmerkmale seiner Landsleute, auch wenn er recht wohlwollend über sie schreibt. Seine hanebüchene Story ist mit häufigen kontemplativen Einschüben angereichert und bietet gute Unterhaltung vor allem durch den köstlichen Humor, der das verrückte Geschehen permanent überlagert, nicht selten aber auch in Klamauk ausartet. Mehr als ein Wermutstropfen ist außerdem eine gewisse Langatmigkeit, manches ist erzählerisch einfach zu breit ausgewalzt in dem fast 500seitigen Roman, dessen apokalyptisches Ende mich ebenfalls nicht überzeugen konnte. Und so hinterlässt dieses stilistisch erstklassige Buch leider einen sehr zwiespältigen Eindruck.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Heimat: Moabit

Tarantino-like wird diese Moabit-Geschichte aus dem Kommissar-Gereon-Rath-Universum im verruchten Berlin der 1920er aus drei Perspektiven erzählt: aus der von Adolf I. (Winkler) von Moabit, dem Schränker, der des Gefängniswärters und der seiner Tochter, Charlotte „Lotte Charly“ Ritter, auch bekannt als die Freundin des Kriminalkommissars. Adolf Winkler gehört dem Ringverein Berolina an und wird kurz vor seiner Entlassung Opfer eines Mordanschlages. Er gehört noch zur alten Garde der Kriminellen und hat ein gewissey Ganovenehrgefühl: „Dass die Berolina niemals mit Zuhältern und Drogenhändlern zusammenarbeiten wird. Dass ihr, wenn der Venuskeller so gut läuft, eben das Schutzgeld verdoppeln müsst.“, ordnet er aus dem Knast heraus seinen Berolina-Ringbrüdern an. Aber auch er ist ein Auslaufmodell, so wie man es aus einigen Mafiafilmen kennt, die ebenfalls von der Ehrhaftigkeit der ersten Generation der „ehrenwerten Gesellschaft“ überzeugt sind.

Babylon Berlin

„Fällst in die Finsternis, die so gnädig lockt und dir Erlösung von allen Schmerzen und Sorgen verspricht.“, räsoniert Winkler und will nichts von Marlow, dem „Dr. M.“, der mit Kokain und Morphium handelt, wissen will. „Berolina macht keine Geschäfte mit Drogenhändlern“, beharrt Adolf I. und die drei Jahre in Moabit hat er gerne für die Berolina abgesessen. Aber auch der „Wächter“, Ritter, ist ein Gefangener. Er wohnt im Anbau am Gefängnis  und fühlt sich jeden morgen als „träte ich meine Strafe an sobald ich meinen Arbeitsplatz betrete (…) und wir Wärter sehen in unserer Schicht den Himmel kaum öfter als die Gefangenen“. Sein Kollege Kleinschmidt hat ein lachses Verständnis der Dienstvorschriften und so dürfte es auch kein Zufall sein, dass der grad aufs Klo muss, als Winkler am Gefängniskorridor überfallen wird.

Sex and Crime

Kat Menschiks letzte Literaturillustration 2018

„Ich habe noch nie viel erzählt. So gut es geht versuche ich, die kalte brutale Welt des Gefängnisses nicht mit nach Hause zu nehmen, in die Nähe meiner Familie zu lassen“, was gar nicht so einfach ist mit einer Dienstwohnung die direkt an die Gefängnismauer grenzt. Und so wird unweigerlich auch seine Tochter in die düstere Welt des Verbrechens mit hineingezogen. Aber sie hat noch die Wahl auf welcher Seite sie stehen möchte: auf der des Gesetzes oder der der Gesetzesbrecher. „Knastlotte“, wie sie von ihrer reichen Freundin Greta scherzhaft genannt wird – weil sie ja beim Gefängnis wohnt – schleicht sich nächtens gerne davon, geht tanzen, studiert tagsüber. Und eines Nachts beobachtet sie eine Szene, die ihr Leben verändern wird: „Eine neue Wirklichkeitszusammensetzung, eine gnadenlose unerbittliche Wirklichkeit die es nicht juckt, wenn man sie nicht wahrhaben will, die einfach nur da ist und verlangt, dass man es mit ihr aufnimmt.

Zwanziger Jahre

Das Graphic Design von Kat Menschik, die Werbeplakate und Werbeinserate aus alten Zeitungen, Porträts von Damen und Herren, Luxuartikel, einen Raben, die Gefängnismauer in knallbunten Farben abbildet, macht die vorliegende Geschichte nicht nur zu einem Leseabenteuer, sondern auch zu einem visuellen Genuss der Sonderklasse.

Kafka illustriert von Kat Menschik

Die Autoren:

Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte zunächst als Tageszeitungsredakteur, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Heute lebt er als freier Autor in Köln. Mit dem Roman »Der nasse Fisch«, dem Auftakt seiner Krimiserie um Kommissar Rath im Berlin der Dreißigerjahre, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller, dem bisher fünf weitere folgten. Die Reihe ist inzwischen in viele Sprachen übersetzt.

Das neueste Buch von Kat Menschik

Kat Menschik ist freie Illustratorin. Ihr Gartenbuch ‘Der goldene Grubber. Von großen Momenten und kleinen Niederlagen im Gartenjahr’ (2014) wurde zum fulminanten Dauerseller und unter die 25 schönsten Bücher des Jahres gewählt. Seit 2016 gestaltet Kat Menschik bei Galiani ihre eigene Buchreihe, in der zuletzt Volker Kutschers ‘Moabit’ (2017) und Edgar Allan Poes ‘Unheimliche Geschichten’ (2018) erschienen. Gemeinsam mit Tilman Spreckelsen veröffentlichte sie 2018 ‘Der Held im Pardelfell’.

Kat Menschik/Volker Kutscher:
Moabit
Illustrierte Buchreihe
Galiani-Berlin
88 Seiten, Leinen
ISBN 978-3-86971-155-3
2017
Deutschland  18,00 €/Österreich 18,50 €


Genre: Krimi, Sex and Crime, Zwanziger
Illustrated by Galiani

Erinnerung eines Mädchens

Weder Fisch noch Fleisch

Die in Frankreich als literarische Legende geltende Annie Ernaux hat mit «Erinnerung eines Mädchens» ihrem überwiegend autobiografischen Œuvre jetzt auch noch die Geschichte ihrer sexuellen Initiation hinzugefügt. Mit der Verarbeitung ihres Lebens hat sie ihr ureigenes Sujet gefunden, in ihrer spezifischen Gedächtnisliteratur verschmelzen Individuelles und Kollektives symbiotisch miteinander.

«Es gibt Menschen, die überwältigt werden von der Gegenwart anderer» lautet der erste Satz in einer Art Vorwort. Gebannt von der Präsenz eines dominanten Mannes wird die knapp 18jährige Annie Duchesne zum willenlosen Opfer ihres «Herrn», den die Autorin, wie auch andere ihrer Figuren, nur mit einem Buchstaben benennt. Das Mädchen, behütetes Einzelkind aus einfachen Verhältnissen, streng katholisch erzogen, steigt am 14. August 1958, von Rouen kommend, aus dem Zug, um als Betreuerin in einem Erholungsheim für Kinder zu arbeiten. Drei Tage später landet sie mit H, dem breitschultrigen Chefbetreuer, während einer wilden Party im Bett. Das erstmals aus der strengen Obhut ihrer Eltern befreite, völlig unerfahrene, naive Mädchen ist fasziniert von dem orgiastischen Treiben und lässt willenlos alles mit sich geschehen. Es gelingt H aber nicht, in sie einzudringen, sie ist total verkrampft, er wendet sich abrupt von ihr ab. Sie stürzt sich daraufhin in wahllose Abenteuer mit anderen Kollegen, ohne dass es dabei aber je zum Vollzug kommt. Diese Zäsur in ihrem Leben wird begleitet von Phasen der Bulimie und Kleptomanie, sie ist völlig aus der Bahn geworfen und wird von ihren Kollegen gnadenlos verhöhnt. Lebenslang begleitet sie nun diese traumatische Erfahrung und die tiefe Scham darüber. Ihre Jungfernschaft verliert sie erst sechs Jahre später bei dem Mann, den sie heiratet, fortan heißt sie Annie Ernaux.

Dieses Buch einer problembeladenen Emanzipation ist eher aus einer soziologischen Perspektive heraus geschrieben als aus einer literarischen, Sentimentalitäten, Tränen womöglich kommen da gar nicht erst auf. Die Autorin hat für ihr absolut eigenständige Werk eine kühne Konstruktion gewählt, indem sie versucht, sich als Autobiografin, aus einem Abstand von mehr als sechzig Jahren schreibend, neben das junge Mädchen von damals zu stellen, quasi parallel aus deren damaliger Perspektive zu erzählen. Dementsprechend wechselt in den fraktionell aufgeteilten Abschnitten immer wieder der Erzähler, wird häufig von der ersten zur dritten Person umgeschaltet, vom «ich» zum «sie». In ihrer narrativen Symbiose von Autobiographie und Chronik will die Autorin keine Interpretationen akzeptieren, nichts glätten. «Ich konstruiere keine Romanfigur. Ich dekonstruiere das Mädchen, das ich gewesen bin». Bei ihrer Suche nach Wahrheit im Erinnerten nutzt Annie Ernaux zur Recherche alle Möglichkeiten der modernen Kommunikation, ohne dass sie der inneren Wahrheit damit auch wirklich nahe kommt.

Ihr Leben ist, wie nicht anders zu erwarten, von früh an literarisch geprägt, das essayistische Buch weist mit seiner üppigen Intertextualität deutlich darauf hin, zitiert zudem auch Spielfilme und Musiktitel. Der Leser erlebt den Prozess des Schreibens unmittelbar mit, er wird zudem sehr direkt mit den Zweifeln am Erinnerten, an den scheinbaren Gewissheiten konfrontiert. Stilistisch nüchtern und präzise geschrieben, wirkt ihr lakonisch anmutender Text ohne jedes Pathos gleichwohl verstörend. Unbehaglich war mir als Leser, dass etliche Ungereimtheiten und andere Zweifel hier ja nicht einfach als Fiktion abgetan werden können, es ist erklärtermaßen alles autobiografisch, also real. Als Mann frage ich mich aber auch, ob geschildertes Gefühlschaos und daraus resultierendes Verhalten denn wirklich Realität gewesen sein können. Ich habe meine Zweifel an diesem Seelenstriptease, aber auch an dieser poststrukturalistischen Literatur. Sie ist weder Fisch noch Fleisch, sie überzeugt mich als psychologische Studie ebenso wenig wie als Belletristik.

Fazit: miserabel

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Genre: Autobiografie
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Von den fortschreitenden Übertretungen des Major Aebi

Homer-Komplex

Der Roman «Il maggiore Aebi» des italienischen Schriftstellers Gianluigi Melega ist 1997 mit dem bandwurmartigen Titel «Von den fortschreitenden Übertretungen des Major Aebi» auch in Deutschland erschienen. Mit Übertretungen sind sexuelle Grenzüberschreitungen eines pathologischen Lüstlings gemeint, ein Sujet mithin, für das der Marquis de Sade hier einige Motive beigesteuert hat, SM allerdings ausgenommen. Die obsessiv ausgelebte Libertinage des steinreichen, pensionierten Majors bildet die narrative Oberfläche dieses Romans, unter der – durchaus ironisch – philosophische Betrachtungen nach dem Sinn des Lebens abgehandelt werden, und nebenbei auch noch Interna der Schriftstellerei.

Der Schweizer Major Aebi ist nach dem frühen Tod seiner Frau unerwartet reich geworden und kommt auf die famose Idee, seinem biederen Leben zu entfliehen, die Grenzen seiner geheimen Lüste auszuloten, seiner bis dato unterdrückten Sexualität nunmehr freien Lauf zu lassen. Der Sechzigjährige fährt nach Wien, um sich eine dralle junge Kellnerin, die ihm beim letzten Besuch mit seiner Frau im Hotel Sacher aufgefallen war, gefügig zu machen, was ihm mühelos gelingt. War bei Trude noch Geld im Spiel, erobert er Frau Grunwald, eine etwas ältere Filialleiterin aus der ererbten Firma, allein durch seine Überredungskünste, die bei ihr bis dato tief verborgene Gelüste auslösen, sie ihm bedingungslos hörig machen. Die Dritte im Bunde einer Ménage à quatre ist die lesbische Filmschauspielerin Gerda, die er mit tätlicher Hilfe von Frau Grunwald als weitere Gespielin dazu gewinnt. Die ausufernden Orgien dieses sexuellen Quartetts nehmen immer gewagtere Formen an, werden auch ins Freie verlegt und damit zusätzlich exhibitionistisch aufgeheizt, bis es schließlich so weit kommt, dass auch Kinder einbezogen werden. Das bringt den perversen Major letztendlich dann für sieben Jahre ins Gefängnis.

Während dieser Zeit schreibt er ein Buch über die Geschichte seiner Ausschweifungen, die er mit seiner absurden philosophischen Theorie als legitimes, sinnstiftendes Menschenrecht ansieht. Dieses unveröffentlichte Manuskript eines kriminell gewordenen Erotomanen landet nach dessen Tod bei dem namenlos bleibenden Ich-Erzähler, und was der da liest, könnte von ihm selbst sein. Als Journalist beginnt er zu recherchieren, er will den nachgelassenen Text ergänzt und überarbeitet dann selbst herausbringen, wir lesen quasi das Buch im Buch. In Rückblenden berichtet er von seinen Gesprächen mit dem Wüstling und von dessen libertären Phantasien, wobei das eher dröge, schweizerische Naturell des Majors hier ironisch einen kontrastierenden Hintergrund bildet. Es geht also um perverse Altmänner-Phantasien in diesem erotischen Roman, der hart an der Grenze zur Pornografie vorbeischrammt bei den – allerdings eher distanziert beschriebenen – schamlosen Sexszenen, die bei aller Deutlichkeit aber nie abstoßend obszön wirken.

Dieses Spiel mit lasziven Phantasien wird abwechselnd aus Sicht des Majors und aus der personalen Perspektive des Ich-Erzählers in einer sehr kultivierten Sprache erzählt, mit stimmigen Dialogen, einem raffiniert konstruierten Plot folgend. Besonders reizvoll fand ich die üppige Intertextualität des Romans, immer wieder stößt man auf Bücher und Schriftsteller. Das gipfelt dann im «Homer-Komplex», einem literarischen Äquivalent zum Universalgesetz der Schwerkraft: «Es ist das Gefühl, das jeder Schriftsteller kennt: den Schöpfungsakt zu wiederholen, wie ein hypothetischer Allmächtiger die Dinge aus dem Nichts heraus entstehen zu lassen. Dieses Allmachtsgefühl ist es, das alles, was man schreibt, zu etwas Neuem und Erlaubtem macht, ohne dass damit irgendein Gefühl von Schuld verbunden wäre». Den Prozess des Schreibens handelt Gianluigi Melega durch sein Alter Ego im Roman ab, dem Ich-Erzähler, der an vielen Stellen den Leser ganz direkt anspricht.  Und beziehungsreich lautet schließlich der letzte Satz: «Odysseus segelte einen Meter neben mir, dem ewigen Acheron zu».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Ammann Verlag Zürich

Der kleine Prinz

Wenn lesen glücklich macht

Der Erfolg der 1943 veröffentlichten Erzählung «Der kleine Prinz» hat dem französischen Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry einen immensen literarischen Ruhm eingetragen. Keines seiner anderen Werke war auch nur annähernd so erfolgreich, er hat damit einen zeitlosen Weltbestseller geschrieben. Die gesamte Auflage des in mehr als 270 Sprachen übersetzten Buches liegt bei etwa hundert Millionen, die Zahl der Ehrungen und künstlerischen Umsetzungen des Stoffes ist Legion, es gibt allein zwei Opern, diverse Bühnenfassungen und musikalische Adaptionen, es gibt Verfilmungen, Hörspiele und Comics, in Japan ist dieser zauberhaften Geschichte sogar ein eigenes Museum gewidmet. Nach Auslaufen der Urheberrechte sind diverse Verlage als Trittbrettfahrer mit wenig überzeugenden Neuübersetzungen des Büchleins auf diesen weltweiten Erfolgszug aufgesprungen. Was ist denn nun die Ursache dieser schon mehr als sieben Jahrzehnte andauernden Euphorie?

Eins vorweg, «Der kleine Prinz» ist kein Märchenbuch für Kinder, auch wenn sein Protagonist ein kleiner Bub ist, der ganz allein auf einem winzigen Asteroiden lebt, «Der Planet seiner Herkunft war kaum größer als ein Haus», heißt es im Buch. Um der Einsamkeit dort zu entfliehen, andere Menschen kennen zu lernen, hat er ihn verlassen. Auf sechs nahe gelegenen anderen kleinen Planeten trifft er zuerst einen König, der ihn als seinen Untertanen betrachtet, dann einen Eitlen, den er bewundern soll, einen Säufer, der säuft, um zu vergessen, dass er säuft, einen Unternehmer, dem angeblich alle Sterne gehören, einen Laternenanzünder, der seine Pflicht allzu ernst nimmt, und einen Geografen, der dicke Bücher schreibt, in denen nichts von den wichtigen Dingen des Lebens geschrieben steht. Der Geograf rät ihm, den Planeten Erde zu besuchen, «er hat einen guten Ruf». Ich-Erzähler dieser Geschichte ist ein Pilot, der wegen Motorschadens in der Wüste notlanden musste, beide sind sie quasi vom Himmel gefallen, wie sie lachend feststellen. Sie freunden sich schnell an, und der Prinz erzählt von seinem Planeten, seiner Reise auf die Erde und von seinen Erlebnissen.

Als ungewöhnlich filigran gezeichnete Parabel angelegt, enthält diese berührende Geschichte auch Elemente der Fabel, die Pflanzen und Tiere können selbstverständlich sprechen. Eine Rose, ein Fuchs und eine Schlange gehören somit zu den handelnden Figuren, letztere sogar mit tödlichem Auftrag. Mit dem Besuch der sechs Planeten verweist Saint-Exupéry auf menschlich allzumenschliche Schwächen, er legt behutsam moralisch Fragwürdiges bloß, indem er die unverdorbene Perspektive des Kindes benutzt. «Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar» ist eines der Schlüsselzitate des kleinen Prinzen. Damit will der Autor Mut machen für die Dinge des Lebens, die wirklich wichtig sind, für die es sich lohnt zu leben, ein flammendes Plädoyer für die Menschlichkeit also. Es gibt einige autobiografische Bezüge in diesem Text, die empfindliche Rose mit den vier Dornen kann als Hinweis auf den Ehekonflikt des Autors angesehen werden. Seine Einsamkeit in New York, wo er das Buch im Exil geschrieben hat, fließt ebenso ein wie die Bruchlandungen, von denen er selbst so einige hingelegt hat als Pilot, eine Notlandung in der Sahara (sic!) eingeschlossen. Die Fliegerei sei eigentlich eine Flucht vor den irdischen Sorgen, hat er seine Passion mal zu erklären versucht.

Was ist denn nun «Der kleine Prinz», ein philosophisch verklausuliertes Märchen? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, wie schön es ist, dieses Buch zu lesen! «Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können!» tröstet der Prinz den Piloten beim Abschied. «Wenn du dieses Buch gelesen hast, wirst du froh sein, es getan zu haben», möchte ich schamlos plagiierend jedem potentiellen Leser zurufen!

Fazit: erstklassig

 

Nachwort

Ich wohnte einst in einem durch Eingemeindungen zur Großstadt mutierten netten Städtle im Badischen. Einer der drei Dezernenten in der SPD-geführten Stadtverwaltung war ein streitbarer CDU-Bürgermeister, dem die damals noch junge Partei «Die Grünen» als Opposition politisch heftige Grabenkämpfe geliefert hat, auch ich als Bürger habe mich über diesen ehrgeizigen Querkopf oft sehr geärgert.

Eines Tage konnte man in der Zeitung lesen, er sei an Krebs erkrankt, wenige Monate später starb er daran. Unter den vielen Traueranzeigen war auch eine von der Partei «Die Grünen», der folgendes Zitat vorangestellt war: «Und wenn du dich getröstet hast, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben», als Quelle wurde «Der kleine Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry genannt.

Das hat mich damals tief getroffen, weil damit ein Grat an Menschlichkeit zum Ausdruck kam, eine Bereitschaft zur Versöhnung, die den rauen politischen Diskurs plötzlich verstummen lies und all das unerbittliche Gezänk schlagartig relativiert hat. Mir ging dieses Zitat dann nie mehr aus dem Kopf bis zum heutigen Tage.

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Genre: Erzählung
Illustrated by Karl Rauch Verlag Düsseldorf

Animal triste

Ohne Liebe kein Leben

Aus dem Œuvre der Schriftstellerin Monika Maron ist insbesondere der Roman «Animal triste» von 1996 bekannt geworden, nicht zuletzt durch konträre Besprechungen im Feuilleton, dem aber eine fast einmütig positive Beurteilung durch die Leserschaft entgegensteht. Zwei Wörter aus jenem – keinem der üblichen Verdächtigen zuzuordnenden und häufig in abgewandelter Form anzutreffenden – lateinischen Zitat «Post coitum omnia animal triste» bilden den wunderbar deskriptiven Titel dieses Buches. Denn auch hier herrscht stets Tristesse nach dem Beischlaf, glaubt man der Autorin.

«Doch von zwei Dingen schnell beschloss ich eines, dich zu gewinnen oder umzukommen» sagt Penthesilea im Liebeswahn. Es geht um die Kraft der Liebe in diesem Roman, und um deren zerstörerische Wirkung, dieses Kleist-Zitat wird hier zum oft artikulierten Leitmotiv. Die namenlose Ich-Erzählerin, Paläontologin in einem Ostberliner Museum für Naturkunde, erzählt als Greisin im Rückblick von ihrer grenzenlosen Liebe zu Franz, einem Ameisenforscher aus Ulm, den sie unter dem riesigen Skelett eines Brachiosaurus kurz nach dem Mauerfall kennenlernte. Für sie war es die versäumte Jugendliebe, eine Liebe, die einmalig ist, die sie weder erwartet noch gesucht habe, eine Leidenschaft zumal, von der sie bisher nur geträumt hatte. Fortan lautete ihr Credo: «Man kann im Leben nichts versäumen als die Liebe», bedingungslos stürzte sie sich in diese Amour fou und verlor jeden Kontakt zur Realität. Beide waren etwa fünfzig Jahre alt damals, sie hatte eine Ehe hinter sich und den Kontakt zu ihrer einzigen Tochter verloren, er war verheiratet und musste ihre Liaison unbedingt geheim halten, er könne seine Frau nicht verlassen, weil sie «so wenig für ein Unglück trainiert sei». Er hat ihr das gleiche Parfüm geschenkt, das auch seine Frau benutzt, nach gehabtem Coitus fährt er immer pünktlich um halbeins nach Hause und raucht im Auto Pfeife, um verräterische Gerüche zu überdecken. Diese unterschiedliche Art von Liebe, ihre grenzenlose Leidenschaft gegenüber seiner ausschließlich lustgesteuerten Liebe, ist natürlich zum Scheitern verurteilt, die rasende Eifersucht der Protagonistin zerstört am Ende denn auch ihren Liebestraum. Sie entflieht endgültig der Welt, zieht sich in eine Art innere Emigration zurück und lebt völlig isoliert nur noch von der Erinnerung.

Erzählt wird diese eskapistische Geschichte als innerer Monolog, in dem die Heldin die Beziehung zu Franz noch einmal intensiv durchlebt. Wobei hier, ganz im narrativen Stil des unzuverlässigen Erzählens, permanent Wunsch und Wirklichkeit durcheinander geraten. Sie weiß niemals sicher, ob sie etwas tatsächlich gesagt hat oder nur sagen wollte. Aber auch, wie viele Jahrzehnte das alles her ist, weiß sie nicht, sie hat sich geistig völlig aus Zeit und Wirklichkeit herausgelöst. Der sonst meist nüchterne, eher essayistische Stil von Monika Maron ist hier einer einfühlsamen Prosa gewichen, die in einfachster Diktion eindringlich und stimmig von den Ungeheuerlichkeiten der Liebe berichtet, von den inneren Tumulten, die sie auslöst, von der Liebe als Fluch. Eine Handlung ist kaum vorhanden, berichtet wird vielmehr über einen Zustand, den man in seiner Unbedingtheit als Liebeswahn bezeichnen muss. Die Ich-Erzählerin begreift den Sinn ihres Lebens im Nachhinein, aus dem Abstand von Jahrzehnten, einzig und allein im Einssein mit ihren Geliebten.

Der Epochen-Wandel, das Scheitern der DDR, wird in diesem introvertiert angelegten Roman zwar angedeutet, spielt aber nicht wirklich eine Rolle, liefert vor allem auch keine nachvollziehbare Begründung für das Geschehen. Vielmehr wird hier der Frage nachgegangen, was es bedeutet, im Alter zu begehren und, aus Frauensicht, dem Verfall der körperlichen Attraktivität unterworfen zu sein. Es sind zudem Reflexionen über das Alleinsein im Alter, über das Vergessen und das Verdrängen. «Ohne Liebe kein Leben» ist ja Penthesileas Maxime, ein Naturereignis mithin!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by S. Fischer

Unterwelt

Ein Kanon-Roman

Mit dem berühmten «Schuss, der um die ganze Welt zu hören war» beginnt das Opus magnum des US-amerikanischen Schriftstellers Don DeLillo, der mit seinem umfangreichen Œuvre alle Jahre wieder auch als Kandidat für den Nobelpreis im Gespräch ist. Auf fast tausend Seiten breitet dieser üppige, postmoderne Roman mit dem Titel «Unterwelt» ein fulminantes Panorama der amerikanischen Gesellschaft vor dem Leser aus. Vom 3. Oktober 1951, dem Datum des legendären Baseballspiels zwischen den Giants und den Dodgers, in dem dieser gewaltige Schlag in die Zuschauerränge hinein das Spiel überraschend entschieden hatte, bis hin zum Jahre 1992 reicht die Erzählzeit dieses in epischer Breite erzählten Gesellschaftsromans, der die Spezifikationen einer «Great American Novel» sogar übertraf. Denn Don DeLillo hat das amerikanische Leben hier nicht nur wirklichkeitstreu und einfühlsam dargestellt entsprechend der einschlägigen Definition von William De Forrest, er hat es in popkultureller Weise narrativ ausgeweitet in Richtung Hyperrealismus.

Der historische Ball dient als Leitmotiv, er taucht bis zum Schluss immer wieder mal auf in diesem vielstimmigen Erzählreigen und landet auf verschlungenen Wegen am Ende bei Nick Shay, einem der Protagonisten. Zudem stellt der Ball assoziativ die Brücke dar zu einem weiteren Grundmotiv, denn der Kern einer Atombombe hat den gleichen Durchmesser wie der Ball. Aber dass einen Tag nach dem berühmten Ballschlag von der UDSSR ein Atombombentest durchgeführt wurde, bleibt da fast schon eine Marginalie. «Ich glaube, ich habe versucht, die Unterwelt des Kalten Krieges zu erzählen» hat der Autor angemerkt. Ein weiteres, sich wiederholendes Motiv ist der Müll, Nick ist Manager eines Unternehmens der Müllverwertung. Die Straßen der Bronx wiederum, dem berüchtigten Stadtteil von New York, in dem der italienischstämmige Autor aufgewachsen ist, ersticken regelrecht im allgegenwärtigen Abfall, der dort scheinbar niemandem auffällt, geschweige denn stört. Nicks ehemalige Geliebte, die Künstlerin Klara Sax, bemalt Militärschrott, ausgemusterte und in der Wüste abgestellte B-52 Bomber der US Air Force, und auch die Probleme des Atommülls werden in einem Kapitel thematisiert, in Kasachstan besichtigt Nick eine Anlage zur Vernichtung radioaktiven Abfalls.

Das Prekariat nimmt einen breiten Raum ein in diesem Gesellschafts-Panorama, zu dessen handelnden Figuren Penner, Drogendealer, Nutten, Graffitisprayer oder Autodiebe zählen, aber auch ein ganzes Panoptikum von Personen aus dem Mittelstand. Sogar einige Prominente aus Politik und Showbusiness geben ein kurzes Gastspiel wie der FBI-Direktor John Edgar Hoover oder der berühmte Filmschauspieler Frank Sinatra mit seinen unrühmlichen Mafiakontakten. Der in sechs Teile mit jeweils mehreren Unterkapiteln sowie einem Prolog und Epilog gegliederte Roman vom American Way of Life lässt kaum eine soziologische Thematik aus, Ehe, Fremdgehen, Klosterleben, skrupelloser Kapitalismus, Konsumfetischismus, Medienterror, Pubertätsnöte, Vater-Sohn-Problematik und anderes mehr. Immer wieder mal wird das traumatische Bild vom ohne Abschied spurlos verschwundenen Vater in dem prägnanten Satz zynisch heraufbeschworen: «Vater ging Zigaretten holen». Geradezu bedrückend ist auch die Passage, in der sich ein bekannter Komiker peinlich unbedarft über die Kubakrise auslässt.

Don DeLillo verknüpft die vielen Motive seiner Amerika-Saga aus der Epoche des Kalten Krieges kunstvoll miteinander, er leuchtet in einer journalistisch knappen Sprache mit realitätsnahen Dialogen deren unzählige Facetten aus, wobei sich auktoriale und personale Erzählperspektive abwechseln. Das liest sich angenehm leicht, ist unterhaltend und kontemplativ anregend, wobei er weitsichtig den Cyberspace mit einbezieht, die neue Welt künstlicher Intelligenz, die er ebenso skeptisch wie ironisch vorausdeutet. Die Lektüre dieses dem literarischen Kanon zugerechneten Romans lohnt sich also in jeder Hinsicht.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Tod und Trauer

Texte zu Tod und Trauer: Beinahe als lapidar könnte man das Zitat von Gotthold Ephraim Lessing nennen, das Titel dieser Sammlung von Texten wurde, die sich explizit mit Trauernden und Hinterbliebenen beschäftigt, Menschen, die von einem schweren Schicksalsschlag und dem Verlust eines nahen Menschen getroffen wurden: „… und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht”.

Tod und Trauer in der Literatur

Natürlich ist das Zitat, das aus einem Brief Lessings an Johann Joachim Eschenberg, ein Understatement, denn wer wirklich von dem Verlust eines geliebten Menschen getroffen wurde, der findet oft nicht die richtigen Worte und schweigt lieber. Zu groß ist das Unbehagen, das sich beim Tod eines Angehörigen oder Freundes breit macht, ist man doch stets auch der eigenen Vergänglichkeit gemahnt. Aber trauern ist deswegen noch lange nicht egoistisch, denn wer sich die Zeit dafür nimmt, kann danach auch wieder andere beschenken. „Nach Hause gehen wir Geschwister zusammen“, schreibt etwa Marie Luise Kaschnitz in „Als meine Mutter starb“, „jedes von uns hat eine andere Mutter gehabt, nur die Schauplätze der Kindheit hatten wir gemeinsam, aber das ist vielj.“ Peter Weiss wiederum bezeichnet seine Eltern als „Portalfiguren“ und schreibt: „Die Trauer, die mich überkam, galt nicht ihnen, denn sie kannte ich kaum, die Trauer galt dem Versäumten, das meine Kindheit und Jugend mit gähnender Leere umgeben hatte.(…) Die Trauer galt dem Zuspät, das uns Geschwister am Grab überlagerte und das uns dann wieder auseinandertrieb, ein jedes in sein eigenes Dasein.“

Verlust und Vergebung

Auch Simone de Beauvoir macht sich Gedanken über den Verlust ihrer Mutter und ihres Mannes, Jean-Paul Sartre: „Hinter denen, die diese Welt verlassen, erlischt die Zeit; und je älter ich werde, desto mehr schrumpft meine Vergangenheit.“ Tröstend sind da viel eher die Worte von Hermann Hesse an die Familie Calw: „Oft habe ich die Empfindung ihrer Gegenwart und Liebe stärker als je zuvor zu ihren Lebzeiten.“ Das vorliegende Trostbuch für Trauernde mit Texten aus der Literatur zum Tod eines nahen Menschen, ist bei der edition momente erschienen.

Elisabeth Raabe u. Paul Raabe (Hg.)
“… und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht”
Texte zum Tod eines nahen Menschen
Neuausgabe
116 Seiten / Gebunden / Leseband
€ 18,- / sfr. 25.90
ISBN 978-3-0360-6002-6
edition momente


Genre: Ratgeber, Trauer
Illustrated by edition momente