Krass

Sic transit gloria mundi

Im neuen Roman von Martin Mosebach mit dem deskriptiven Titel «Krass» steht ein Machtmensch gleichen Namens auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Krass ist aber auch, adjektivisch wohlgemerkt, der aberwitzige Plot des umstrittenen Büchner-Preisträgers, in dem der Zufall fröhliche Urständ feiert. Wie oft bei diesem Autor ist es eine Geschichte vom Scheitern, hier als Psychogramm eines narzisstischen Machertypen mit einer dominanten physischen Präsenz, ein skrupelloser Waffenhändler. «Er arrangiert die Welt, so wie sie ihm gefällt», hat der Autor seinen Protagonisten charakterisiert.

In Neapel besucht 1988 eine siebenköpfige Reisegruppe eine Zauberschau und trifft später in einem Restaurant auf die als Assistentin beteiligte Lidewine. Ralph Krass, Spritus rector und großzügiger Finanzier der Gruppe, lässt sie von seinem Adlatus Dr. Jüngel an ihren Tisch bitten. Die junge Frau, Inkarnation des «Ewig Weiblichen», wie es im Roman anbiedernd heißt, ist Krass sofort sympathisch. Er weist den assistierenden Kunsthistoriker spontan an, sie als Begleiterin für diese Reise zu engagieren. Alles rein platonisch, Sex ist für die Dauer der Reise – auch für sie – tabu, er braucht sie nur für sein Ego, als dekorative Begleitung. Man besichtigt das berühmte Alexander-Mosaik, in dem sich auch das Motiv des Buchumschlags mit der in ihr Spiegelbild verliebten Bachstelze findet. Anschließend geht es nach Capri, um dort eine zum  Verkauf stehende schlossartige Villa anzusehen. Lidewine wird ständig mit teuren Geschenken überhäuft, bis Jüngel zufällig mitbekommt, dass sie einen adonisartigen Hotel-Kellner nachts in ihrer Suite empfängt. Ein eindeutiger Vertragsbruch, sie wird entlassen, die Gruppe zerfällt schlagartig.

Dieser erste Teil des Romans mit dem Titel «Allegro imbarazzante» weist auf das Peinliche des großspurigen Gehabes von Krass hin. Es folgt mit «Andante pensieroso» ein melancholischer zweiter Teil, in dem der arbeitslos gewordene Jüngel vorübergehend Unterschlupf in der französischen Provinz sucht. Dort rekapituliert er die Neapel-Reise und nebenbei auch das Scheitern seiner Ehe. Mit «Marcia funebre» wird im letzten Teil zwanzig Jahre später eine Art finaler Trauermarsch angestimmt. Die Protagonisten treffen in unterschiedlicher Mission in Kairo wieder aufeinander, welch ein Zufall! Krass ist völlig mittellos, er liegt buchstäblich auf der Straße. Jüngel, inzwischen Professor für Urbanistik und nach einer zweiten Ehe wieder geschieden, ist als Forscher in der ägyptischen Metropole. Lidewine wiederum ist dort unterwegs, um eine Galerie zu gründen, in der Superreiche aus den Emiraten ihr überflüssiges Geld in moderne Kunst investieren können.

Martin Mosebach erzählt seine mephistophelische Geschichte in einem altväterlichen Duktus mit Sätzen wie diesem: «Dass sein Körper, so wie er nun einmal war, als Wohnstatt seines Willens höchste Beachtung verdiente, das stand für ihn außer Frage». Die auktoriale Erzählweise wechselt im Mittelteil zur personalen, mit Jüngel als Ich-Erzähler, abwechselnd im Brief oder Tagebuch. Es bleibt offen, ob Krass mit seinen Allmachts-Fantasien unternehmerisch ein Genie ist oder ein Hochstapler. Außer einer nur telefonisch in Erscheinung tretenden Sekretärin gibt es offensichtlich keine weiteren Mitarbeiter. Alle Geschäfte werden rund um den Erdball nur papierlos in Hotels und Restaurants abgewickelt. Der atmosphärisch dichte, bildstarke Roman verdeutlich in seinem spannenden Plot, der letztendlich aber nirgendwo hinführt, das Wesen und die Wirkungen der vergehenden Zeit. Das geschieht in einer eigenwilligen Form, die unübersehbar ironisch gefärbt ist und unterschwellig zuweilen sogar Humor erahnen lässt. Erstaunlich ist jedenfalls, dass dieser ambivalente Roman, in dem sich zwar vieles ereignet, aber nicht wirklich auch etwas passiert, es mit seiner Schadenfroh-Thematik ‹sic transit gloria mundi› auf Anhieb in die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Lucky Luke 100: Die Ursprünge – Western von Gestern
by Morris

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Tom und sein Vater haben reichlich Gold gefunden und wollen ihren Fund in der Bank deponieren. Cheat und seine Bande haben Wind davon bekommen und überfallen die Kutsche, die den Schatz transportieren soll. Tom holt Lucky Luke zu Hilfe. Der rettet nicht nur Toms Vater aus einer lebensgefährlichen Situaton, sondern bleibt auch in einer abenteuerlichen Jagd Cheats Gehilfen Big Belly und Mestizo auf den Fersen.

Die Goldmine von Dick Digger

Lucky Lukes Freund Dick Digger, der Goldgräber, verrät in Saloon, dass er Gold gefunden hat. Das bekommen Big Belly und Mestizo mit. Sie beschließen, Dick die Nuggets zu stehlen. Nach einer deftigen Prügelei mit dem alten Dick gelingt ihnen der Raub. Später entdecken sie, dass sie nicht nur die Nuggets, sondern auch die Wegbeschreibung zur Goldmine gestohlen haben. Lucky Luke macht sich auf, die beiden Räuber zu stellen und damit den Ruin von Dicks Familie abzuwenden.

75 Jahre Lucky Luke

Pünktlich zum 75-jährigen Jubiläum der Comicserie Lucky Luke wartet Ehapa mit vielen Schmankerln für Fans auf: Im März macht den Auftakt das vorliegende 100. Album mit den beiden allerersten Lucky-Luke-Comics. Das Cover wurde vom aktuellen Zeichner Achdé entworfen und zeigt schön, wie sich der Held entwickelt hat. Parallel dazu präsentiert die erste Seite Jolly Jumpers Entwicklung. Der 100. Band kommt mit einer Goldprägung im Titel daher. Das Album ist sowohl als Soft- als auch als Hardcover zu den üblichen Preisen erhältlich. Als Extra ist im Band ein kurzer Lebenslauf des Künstlers Morris abgeduckt. Allerdings hätte ich mir etwas mehr Extras im Album erhofft, auch bzgl. der Hintergründe zu den Ursprüngen.

Die Zeichnungen sind noch weit entfernt von dem, was man heute als Lucky Luke kennt. Sie sind typisch für die Entstehungszeit und fallen durch sehr einfache v.a. runde/ovale Formen der Figuren auf. Außerdem sind die Zeichnungen sowohl von den Figuren als auch von den Hintergründen und Farben einfach gehalten und nicht so detailliert wie später üblich. Der Held selbst ist kleiner als heute. Aber schon von der ersten zur zweiten Geschichte stellt man zeichnerische Unterschiede fest: Der Held bekommt etwas mehr Konturen, wirkt nicht mehr ganz so rund, obwohl sein Kinn sehr ausladend ist. Auch Jolly Jumper wirkt ausgestalteter. Insgesamt kommen mehr Details und mehr Formen in die Zeichnungen, sodass nicht mehr nur die geometrischen Grundformen genutzt werden.

So einfach gestrickt wie die Zeichnungen sind auch die ersten Abenteuer, die anstatt der Daltons eine Banditenbande rund um den Chef Cheat als Gegenspieler Lukes in den Fokus rückt. Trotzdem funktioniet der einfache Storyaufbau mit Spannungskurve durch die Gegenspieler und durch die Actionszenen gut.

Fazit

Die ersten Abenteuer Lucky Lukes sind aufgrund des für heutige Augen ungewohnten Zeichenstils etwas gewöhnungsbedürftig, aber die insgesamt einfachen Zeichnungen und Geschichten funktionieren aufgrund des Gut-Böse-Schemas und der Action. Für Fans auf jeden Fall eine Bereicherung der Sammlung, denn Ursprünge zu kennen und die Entwicklung zu verfolgen ist an sich schon spannend. Etwas mehr Extras wären aber schön gewesen.


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa

Insomnia

Vom Bruder des Todes

Im Nachlass des jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andrić fanden sich Notizbücher mit etwa 1500 Einträgen, von denen Michael Martens unter dem Titel «Insomnia» im vorliegenden Band mehr als zweihundert neu übersetzt herausgegeben hat. Der Nobelpreisträger von 1961 litt an Schlaflosigkeit, gehörte als Oneironaut jedoch zu jenen Menschen, die sich im Klaren sind, dass sie träumen und diese Klarträume sogar bewusst herbeiführen können. Was schon der Untertitel «Nachtgedanken» verdeutlicht und die Nachttischlampe auf dem Cover symbolisch unterstreicht. Der Klartraum-Forschung zufolge sind Introvertiertheit und Neugierde typische Persönlichkeits-Merkmale solcher Menschen, und in der Tat trifft denn wohl auch Beides auf den Autor zu.

Das Konvolut nachgelassener Notizen aus den Jahren 1915 bis 1974 war nicht zur Veröffentlichung bestimmt, die einzelnen Texte sind bis auf wenige Ausnahmen undatiert und lassen sich nicht chronologisch lesen. Die vielstimmige Zusammenstellung in diesem Band ist in zwölf Abschnitte aufgeteilt, in denen Notate enthalten sind, die zum überwiegenden Teil aus Reflexionen des Autors bestehen. Sie beschäftigen sich vornehmlich in immer wieder neuen Variationen mit den Qualen der Schlaflosigkeit selbst. Es finden sich darin aber auch viele Erinnerungs-Fragmente, Selbstbetrachtungen, Anmerkungen und Beobachtungen zur Vergänglichkeit, zu Schaffenskrisen, zum Alltaggeschehen. Ferner gibt es Rückblicke in die Kindheit, Begegnungen mit Menschen, Naturbetrachtungen. All das wird noch ergänzt um Kurzgeschichten, Anekdoten und Aphorismen. So schreibt er zum Beispiel über die knarzenden Geräusche, die sein Parkett bei nächtlichen Temperatur-Schwankungen erzeugt, registriert das Abflauen des munteren Gezwitschers der Nachtigallen im Morgengrauen oder berichtet über einen Konzertabend mit Werken von Mozart, Liszt und Brahms. Der eher elegische Schluss bei Brahms baue sich ganz auf das Vorhergehende auf, ganz so, wie er es sich denn auch von seinem Leben erwarte. Und er distanziert sich vehement vom kleinbürgerlichen Leben, «das in nichts Größe, Schönheit oder echte Freude zeigt, weil in ihm alles vergiftet ist von Vorurteilen und befleckt von Berechnungen, die sich noch in die entlegensten Tiefen des menschlichen Lebens hineinziehen».

Der von seinen Dämonen heimgesuchte Autor bezieht sich in puncto Schlaflosigkeit zuweilen auf seine schreibenden Kollegen und Leidensgenossen Franz Kafka und Fernando Pessoa, die er zum Teil wörtlich zitiert. Bei all seinen Selbsterkundungen bleibt Ivo Andrić aber auffallend distanziert, er wird nie wirklich persönlich, man erfährt nichts Intimes von ihm, und auch sein Arbeitsleben wird nicht thematisiert. Seine übermächtigen Selbstzweifel hingegen verdeutlicht der bemerkenswerte Satz: «Wenn ich nicht verzweifelt bin, tauge ich nichts». Keinesfalls hat er seine Meditationen als narrative Selbstzeugnisse aufgefasst, im Gegenteil: «Ein Schriftsteller sollte schreiben und erzählen, aber nicht aus seinem Leben eine Erzählung machen. Die dies tun, versündigen sich an sich selbst und an der Leserschaft, vor allem aber an der Wahrheit».

«Der Schlaf ist ein Bruder des Todes» heißt es im Volksmund, und auch wenn man diesen Spruch in Zweifel zieht, zeugt zumindest dieses düstere Buch von deren existentieller Nähe. Denn der Leser lernt hier einen seelisch gequälten Mann kennen, der sich selbst nicht ganz geheuer ist, ein stoisch resignierender Ivo Andrić voller innerer Spannungen, der sich die Vanitas-Rhetorik vollinhaltlich zu Eigen gemacht hat. Es ist gerade diese zutiefst existentielle Dimension seiner Skizzen, die das uneitle, aufrichtige Selbstzeugnis eines chronisch schlechten Schläfers lesenwert macht. Dass ein solch skeptisches Werk allerdings schwer zu lesen ist und alles andere als Wohlfühl-Literatur darstellt, das liegt auf der Hand. Den nobelpreis-gekrönten Autor grandioser historischer Romane wird man hier kaum wiedererkennen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Kurzprosa
Illustrated by Zsolnay München

Das Leben des Charles Bukowski

Das Leben des Charles Bukowski

Das Leben des Charles Bukowski. „Sundays kill more men than bombs”. In diese lakonische Bemerkung verpackt Charles Bukowski nicht nur seine Lebenseinstellung gegenüber dem American Way of Life, sondern auch seine eigene Biographie. Denn er wollte nie dazu gehören. Nie eine Familie gründen. Nie ein Teil des Establishments werden. Für immer ein Außenseiter bleiben.

Das Leben des Charles Bukowski

Ob ihm das wirklich gelungen ist, untersucht u.a. die vorliegende Biographie von Neeli Cherkovski, die aus Anlass des 100. Geburtstages des 1994 verstorbenen Charles Bukowski neu überarbeitet und mit einem neuen Vorwort versehen wurde. Eigentlich war Charles Bukowski ja ein Dichter und kein bloßer Schriftsteller. Seine Kurzgeschichten und Romane, die Prosa, brachten ihm im Alter von knapp 50 Jahren den eigentlichen Durchbruch in den USA. Sein Leben wurde nach seinem eigenen Drehbuch von Hollywood sogar verfilmt. Sein Biograph Neeli Cherkovski hatte ihn 1963 zum ersten Mal kennengelernt. Damals war er 18 und Bukowski schon 43, was ihn wohl dazu veranlasste, ihn stets „Kid“ zu nennen. Dabei legte Neeli Cherkovski (*1945 in Santa Monica) selbst eine beachtliche Karriere vor: er ist Poet, Verleger und Biograph und gehört zu den North Beach Poeten aus San Francisco. Sein Buch „Walt Whitmans wilde Kinder“ wurde zu einem Beststeller der US-amerikanischen Untergrundliteratur und zuletzt (2020) erschien sein jüngster Gedichtband „Hang on to the Yangtze River“ bei Lithic Press. Die deutsche Übersetzung der Bukowski Biographie erscheint zeitgleich mit der US-Ausgabe, Titel: „Bukowski, A Life: The Centennial Edition“ (Black Sparrow Press), die Neeli Cherkovski anlässlich Bukowskis 100. Geburtstag überarbeitet und erweitert hat. Sie basiert auf der 1995 erschienenen Fassung, die von Bukowski selbst autorisiert wurde.

Mythos Bukowski Re-visited

Dass Biograph und Protagonist sich persönlich kannten, macht die vorliegende Biographie sicherlich zu einem besonderen Leseerlebnis, aber mehr noch, dass sie freundschaftlich verbunden waren. Denn Neeli Cherkovski will den Mythos Bukowski nicht dekonstruieren, sondern um seine persönlichen Facetten erweitern. So zeichnet er ein Bild von einem Bukowski, der seine Frauen liebte. Davon gab es – in der Erzählung von Cherkovski – insgesamt vor allem vier wichtige: Jane, Barbara, Linda K. und Linda B., die ihn bis zu seinem Tod begleitete. Cherkovski erzählt auch von Bukowskis Verlegern, die sich oft unter der Aufopferung ihres persönlichen Lebens, für die Veröffentlichung seiner Texte einsetzten. Natürlich wird auch der wichtigste deutsche Übersetzer, Carl Weissner, gewürdigt, der, selbst ein Unikum, wesentlich für den Erfolg Bukowskis in seinem ehemaligen Heimatland (*1920 in Andernach) verantwortlich zeichnete. Nachdem „Post Office“, Bukowskis Romandebüt, im deutschsprachigen Raum erstmal durchfiel, war es Carl Weissner, der die Idee hatte, es mit Bukowskis Lyrik beim Augsburger Maro Verlag zu versuchen. Benno Käsmayr, der junge Verleger bei Maro, war selbst schon Bukowski-Fan und leicht zu überzeugen. Seinem verlegerischen Geschick ist es zu verdanken, dass sich der Verkauf des ersten Gedichtbandes, „Gedichte, die einer schrieb, bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang“, innerhalb eines Jahres von 1800 auf 50.000 steigerte. Dieser Lyrikband habe Bukowski in Deutschland zum Durchbruch verholfen, wie Cherkovski schreibt. Der Rest ist Geschichte. In der Zwischenzeit sind mehr als 40 Bücher ins Deutsche übersetzt und eine deutsche Bukowski-Gesellschaft feiert – pandemiebedingt – demnächst seinen 101. Geburtstag. In diesem Sinne: alles Gute, Buk!

Neeli Cherkovski

Das Leben des Charles Bukowski

Erweiterte & überarbeitete Biographie über Bukowski zum 100. Geburtstag

Aus dem amerikanischen Englisch von Gerhard Beckmann

Umschlag von Rotraut Susanne Berner

2020, 368 Seiten, Broschur

ISBN: 978-3-87512-494-1

Maro Verlag

24,00.-€

Weitere Werke von Charles Bukowski beim Maro Verlag!


Genre: Biographie
Illustrated by Maro Verlag

Krähenzauber (Die zwölf Kasten von Sabor) 2

Krähenzauber (Die zwölf Kasten von Sabor 2)Politik gegen das Volk zum eigenen Nutzen

Nachdem Pah, der alte Anfüher der Krähenrotte, Schreinwächter geworden ist, führt Stur ihre mittlerweile stark geschrumpfte Rotte als Krähenhexe an. Prinz Jasimir hat sich derweil mit den Militärs seiner Tante, der Oberbefehlshaberin Draga, auf den Weg zum Palast gemacht, um Rhusana zu stürzen. Rhusana hat inzwischen Jasimirs Vater, den König, ermordet, um selbst den Thron zu besteigen. Und damit haben die Oleander-Junker freie Bahn, die Krähen zu verfolgen und ungestraft zu töten. Rhusana will die Krähenkaste auslöschen und gießt zusätzlich Öl ins Feuer, indem sie  Lügen über die Sündenseuche verbreitet. Stur erkennt, dass ihre besonderen Fähigkeiten gefragt sind, um Schlimmers abzuwenden und Jasimir zum Thron zu verhelfen. Denn die von Rhusana erschaffenen Haut-Ghoule dezimieren die Armee und sind auch den Krähen auf der Spur. Mit ihren Phönix-Zähnen kann Stur das Phönix-Feuer wirken, das als einziges die Ghoule aufhält und ihr auch bei der Bekämpfung der sich stark ausbreitenden Sündenseuche hilft. Aber dann verliert sie ihre Zähne ausgerechnet an einen anderen betrügerischen Rottenführer.

Erkennen und Ausbau eigener Fähigkeiten

Stur wird immer selbstsicherer und lernt ihre Fähigkeiten als Anführerin immer besser und realistischer einzuschätzen. Außerdem baut sie ihre Fähigkeiten als Hexe aus und entdeckt, dass sie (weil sie neue, kreative Ideen hat, die vom Althergebrachten abweichen) ihre Magie den Gegebenheiten anpassen kann, sodass Stur auch ohne die Sicherheit der Phönix-Zähne auskommt. Dabei ist sie keineswegs ohne Angst und Zweifel, aber sie lernt, diese zu überwinden, um ihre Ziele zu erreichen. Ihr Antrieb ist die fürchterliche Zukunft, die ihre Kaste erwartet, sollten sie und Jasimir scheitern.

Dabei werden ihr allmählich auch ihre Vergangenheit in gescheiterten vergangenen Leben bewusst und sie erkennt die Zusammenhänge ihres Schicksals mit den Schicksalsfäden der Korona. Dieses Wissen wiegt schwer, hilft ihr aber auch, ihre Aufgabe zu meistern. Außerdem kommt sie der ursprünglichen Bestimmung der Krähen auf die Spur, die den Krähen eine verloren gegangene Fähigkeit zurückgibt.

Stur sprengt somit althergebrachte Traditionen und Grenzen, um nicht nur für ihre eigene Kaste eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Sie wagt Neues und weiß, dass das Neue nicht gern gesehen und deshalb für sie gefährlich ist. Sie beweist Mut, indem sie sich dieser Herausforderung stellt. Damit hat sie Vorbildfunktion. Wie schon in meiner Rezension zum ersten Band ausgeführt, kommt der Antrieb für eine bessere Zukunft von unten, denn die oberen Kasten haben kein Interesse, etwas an ihrem (ausbeuterischen) System zu ändern. Die Revolution kommt nicht nur von unten, sie kommt von einer Frau. Und diese Frau ändert fast im Alleingang eine ganze Welt. Damit klingt an, dass man sich mit einem vermeintlich vorgegebenen Schicksal nicht abfinden muss. Stur tut es nicht, trotz Lebensgefahr.

Fantasy- oder SF-Literarur reagiert oft auf und verarbeitet politische vergangene oder aktuelle Ereignisse. Kastensysteme und Hierarchien, sowie deren Misswirtschaft und Unterdrückung der Menschen gab es seit der Sesshaftwerdung mehr oder weniger durchgängig. Immer dort, wo Menschen Besitz anhäufen, muss dieser verteidigt werden und oft wird er ungleich verteilt. In Kombination mit einem patriarchalischen System haben v.a. die Frauen das Nachsehen. Beides wird in dieser mit zwei Bänden abgeschlossenen Reihe aufgenommen und verarbeitet. Die Autorin setzt den Fokus v.a. auf die unterste Kaste, die Krähen, und zeigt, dass jeder Mensch wertvoll ist, egal, wo sie/er/divers herkommt, egal, welches Geschlecht sie/er/divers hat. Der besondere Fokus allerdings liegt auf der Hauptfigur, die weiblich und ganz und gar sie selbst ist.

Fazit

Spannnende, 2-bändige Reihe mit sozialer Botschaft und einer Frau, die allen Widrigkeiten zum Trotz ganz sie selbst ist und damit nicht weniger als die Welt verändert.


Genre: Fantasy, Jugendroman
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Effi Briest

Ein weites Feld

Von den Meisterwerken Theodor Fontanes ist sein 1896 erschienener Roman «Effi Briest» das bekannteste, es gibt Theater-Adaptionen und nicht weniger als sechs Verfilmungen dieses Klassikers. Inspiriert wurde der Autor durch einen authentischen Fall, den er deutlich abgeändert als Vorlage benutzt hat. Sein dem bürgerlichen Realismus verpflichteter Gesellschafts-Roman ist ein Meilenstein der deutschen Literatur. Er demaskiert mit seiner Ehebruch-Thematik den Ende des 19ten Jahrhunderts zur reinen Farce herabgesunkenen, gesellschaftlichen Ehrenkodex.

Die lebenslustige, 17jährige Effi heiratet den ehemaligen Verehrer ihrer Mutter, Baron Innstetten, ein 21 Jahre älterer, karriere-orientierter Beamter. Sie erhofft sich von der Ehe sozialen Aufstieg und Befreiung aus der für Effi eintönigen, brandenburgischen Provinz. In dem Ostsee-Städtchen, wo ihr Mann als Landrat arbeitet, erwartet sie aber ein ebenso monotones Leben wie daheim, und auch die Geburt von Annie ändert daran nichts. Ihr Mann ist oft auf Reisen, sie fühlt sich vernachlässigt und geht schließlich auf die Avancen des draufgängerischen Majors Crampas ein, den ihr Mann noch aus seiner Militärzeit kennt. Die heimliche Liaison der Beiden erweist sich mit der Zeit als moralisch sehr bedrückend. Sie sind schließlich sogar froh, als Innstetten, zum Ministerialrat befördert, nach Berlin berufen wird, denn mit dem Umzug enden dann zwangsläufig auch ihre heimlichen Treffen. Sechs Jahre später findet Innstetten zufällig die Liebesbriefe seines einstigen Nebenbuhlers. Er tötet ihn im Duell und lässt sich scheiden, die Tochter wird ihm zugesprochen. Und auch Effis Eltern verstoßen sie brüsk, sie darf nicht mehr ins Elternhaus zurück. In Berlin führt sie ein bescheidenes Leben und beginnt schließlich zu kränkeln. Auf Fürsprache ihres Arztes hin, der die seelischen Ursachen ihres zusehends schlechteren Gesundheits-Zustands erkennt, kehrt sie zu den Eltern zurück und stirbt schließlich als gerade mal Dreißigjährige.

Der für seinen anheimelnden Plauderton geschätzte Autor erzählt seine motivisch reiche Geschichte in epischer Breite. Dabei bezieht er neben der auktorialen Erzählerstimme auch die perspektivische seines Figuren-Ensembles mit ein, in Form der erlebten Rede oder monologisch in Briefform. Dominant aber ist bei ihm immer die Konversation, aus der heraus er einen Großteil des Geschehens entwickelt, womit dann auch gleich die zu Grunde liegenden, seelischen Befindlichkeiten verdeutlicht werden. Bei alldem wimmelt es nur so von Verweisen und Anspielungen, die er oft metaphorisch verwendet. Im üppigen Figuren-Ensemble sticht insbesondere Effis Vater hervor, der als Alter Ego des Autors gesehen werden kann. Der alte Briest ist das Urbild eines gradlinig denkenden, gutmütigen Mannes, dessen funkelnde Dispute mit seiner gestrengen Frau zu amüsanten Glücksmomenten für den aufnahmefähigen Leser werden. Aber auch alle anderen Figuren sind liebevoll gezeichnete Charaktere, selbst der ungeschickt agierende Innstetten tut einem leid am Ende, er ist das unglückselige Opfer zweifelhafter Konventionen geworden.

Vom Emanzipatorischen her sieht zum Beispiel Nora Gomringer in ihrem Essay Effi als Opfer eines Mordes. Das reiche Angebot an Lektüre-Schlüsseln beweist, dass dieses kanonische Werk auch heute noch die Gemüter erhitzt und zu allerlei Deutungen anregt. Und beim erneuen Lesen erschließen sich zudem viele Motive neu. Man ist angesichts der mäßigen Hervorbringungen zeitgenössischer Literatur erstaunt über die narrative Souveränität, mit der einst Fontane sein Metier beherrscht hat und auch heutige Leser bestens zu unterhalten vermag. Nicht zuletzt aber weist die leitmotivisch verwendete Redensart des alten Briest, die dann auch den letzten Satz des Romans bildet, auf diese Fülle an Motiven hin. Sie ergeben ja allesamt zu vielerlei Betrachtungen Anlass, die der alte Briest mit seinem «Ach, Luise, lass … das ist ein zu weites Feld» stets lebensklug zu beenden weiß.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Reclam Verlag

Road Princess

Unterschiedliche Welten

Tara und Jay leben beide in Boston, aber ihre Lebenswirklichkeit könnte nicht unterschiedlicher sein. Tara genießt als Tochter des Bürgermeisters viele Privilegien, muss dafür aber ihre Interessen zugunsten der Karriere ihres Vaters opfern. Jay, Enkel eines Steakhouse-Betreibers und Mitglied einer berüchtigten Motorradgang, den Road Kings, hat sich ein Stipendium erkämpft. Mit dessen Hilfe will er Jura studieren, um armen Mitmenschen ein gerechter juristischer Beistand zu sein. Als beide sich am Campus zufällig über den Weg laufen, sind sie sich sofort sympathisch. Mit Jay kann Tara zwanglos reden, ohne sich vor Neidern oder Speichelleckern in Acht nehmen zu müssen. Jay gefällt Taras nette und zielstrebige Art. Aber als Jay herausfindet, dass Tara die Tochter des Bürgermeisters ist, geht er auf Abstand. Auch Taras Vater ist alles andere als erfreut darüber, dass sie Kontakt zu einem Road King aufgenommen hat. Er verbietet ihr den Umgang mit Jay. Tara wird misstrauisch, weil weder ihr Vater noch ihr Großvater über den Grund reden wollen, warum Taras  mit Jays Familie verfeindet ist. Sie beschließt, Nachforschungen anzustellen und kommt trotz aller Widerstände einem alten Familiengeheimnis auf die Spur, das ihr komplettes Leben völlig umkrempeln wird.

Romeo und Julia

Der in sich abgeschlossene Roman erinnert vom Thema her an eine neue Version von Romeo und Julia. Zwei verfeindete Familien, deren Kinder sich ineinander verlieben und diese Liebe trotz aller Widerstände leben wollen. Im Gegensatz zu Romeo und Julia hat dieser Roman zumindest für die Liebenden ein Happy End.

Mit diesem Thema verflochten ist auch das der Motorradgang, das für meinen Geschmack etwas zu romantisch verklärt wird. Auf der anderen Seite drücken Motorräder den Hang zur Freiheitsliebe aus. Die verspürt auch Tara, wobei ihre Freiheit durch die Erwartungen ihres Vaters und der Familie nicht zum Ausdruck kommen darf, die sie sich aber im Laufe der Geschichte erkämpft.

Überhaupt ist sie eine sehr starke Julia, die mit Beharrlichkeit und dem Willen zur Selbstfindung schließlich die Freiheit gewinnt, über ihr eigenes Leben und Lieben zu bestimmen. Durch diese Beharrlichkeit erkämpft sie auch die Wahrheit und ein besseres Leben für die Familie ihres Herzensmannes. Der ist im Vergleich zu ihr eher passiv und mitunter durch die Stärke der Frau ein wenig überfordert, weil er noch durch das alte Rollenbild geprägt ist – zumal Tara, klein und blondhaarig, zunächst dem Bild einer folgsamen Tochter und Frau zu entsprechen scheint. Durch ihren Mut, ihre Intelligenz, ihre Willensstärke und ihr stark ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit und Soziales widerspricht sie allerdings jedem Blondinenklischee (das interessanterweise nur für Frauen gilt, inklusive der diskriminierenden Blondinenwitze). Auf der anderen Seite ermutigt Jay sie aber auch bzgl. der Berufswahl nicht auf ihren Vater, sondern auf ihr Herz zu hören. Er hat durch seine Empathie für Tara und andere und seine Intelligenz also mehr zu bieten als nur ein hübsches Äußeres und Muskeln.

Sozialkritisch ist der Roman ebenfalls, wenn er die sichtbaren und unsichtbaren Schranken anspricht, die die High Society von den normalen Menschen und erst recht von der “Unterschicht” trennt.

Trotzdem ist der Roman in erster Linie ein Liebesroman, der sich flüssig lesen lässt und durch die Detektivarbeit Taras und den Konflikten zwischen Arm und Reich immer den Spannungsbogen aufrecht erhält.

Fazit

Flüssig zu lesender Liebesroman für junge Erwachsene mit einer starken und doch sanften Julia.


Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Karte und Gebiet

Mit ministerieller Leseempfehlung

Auch in seinem 2010 mit dem Prix Goncourt prämierten Roman «Karte und Gebiet» greift Michel Houellebecq auf für ihn typische Motive zurück, er kritisiert den wuchernden Kapitalismus ebenso wie die bindungsarme, selbstverliebte Konsum-Gesellschaft zu Beginn des 21ten Jahrhunderts. Deren Dekadenz wird hier aber etwas weniger bissig angeprangert, der Ton des Enfant Terrible der französischen Literatur ist milder geworden. Nach wie vor jedoch spaltet er das Feuilleton in zwei Lager, was auch bei diesem Roman deutlich wird. Einer der Protagonisten ist nämlich ein gewisser Michel Houellebecq, der natürlich auch im Roman ein umstrittener Schriftsteller ist. In dieser Figur nimmt er sich als auktorialer Erzähler ironisch selbst aufs Korn, ein kreativ erdachter narrativer Coup mit einer wahrlich nicht alltäglichen Wirkung auf den verblüfften Leser.

«Die Welt ist meiner überdrüssig, und ich bin es ihr gleichermaßen» lautet ein vorangestelltes Zitat von Karl, dem Herzog von Orleans. Ein solcher Überdruss kennzeichnet auch Jed Martin, Sohn eines erfolgreichen Architekten, dessen Frau sich das Leben nahm. Als Halbwaise im Internat erzogen, hat der eigenbrötlerische 25Jährige nach dem Kunst-Studium erste Erfolge als Fotograf. Er stellt seine am Computer künstlerisch nachbearbeiteten Fotografien von Michelin Straßenkarten den entsprechenden Satellitenbildern gegenüber. Mit dem überraschenden Ergebnis: «Die Karte ist interessanter als das Gebiet». Später wendet er sich der Malerei zu und findet schließlich auch einen Galeristen für seinen Bilder-Zyklus «Serie einfacher Berufe». Bei den Vorbereitungen für seine erste Ausstellung hat Jed die Idee, Michel Houellebecq für das Vorwort zum Katalog zu gewinnen. Und tatsächlich gelingt es ihm, den berühmten Schriftsteller zu überzeugen. Jed verspricht ihm, neben dem Honorar von zehntausend Euro ein Portrait von ihm zu malen und es ihm dann nach der Vernissage zu schenken. Prompt wird Jed zum gefeierten Star der französischen Malerei, er erzielt Höchstpreise, alle Bilder werden verkauft, schlagartig ist er ein reicher Mann – und hört endgültig auf mit dem Malen.

Während in dem dreiteiligen Roman, auch durch diverse Rückblenden, zunächst die Geschichte von Jed Martin erzählt wird, ist der dritte Teil ganz dem Schriftsteller Michel Houellebecq gewidmet, der Opfer eines bestialischen Mordes wird. In zwei Handlungssträngen wird so ein durchaus spannender Krimi mit dem Künstler-Roman verknüpft. Im Jahre 2035 erleben wir Jed dann am Ende als 60jährigen in seinem festungsartig abgesicherten, riesigen Landsitz. Dort hat er sich filmisch zunächst der lebenden Vegetation gewidmet, die er mit extremem Zeitraffer in kurze Sequenzen verdichtet. Später beschäftigt er sich künstlerisch mit dem allmählichen Zerfall von Gegenständen, die er auf gleiche Weise erfasst und dann mit den Pflanzenvideos zusammenmischt. «Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon» lautet sein resignatives Motto.

Seine zwei sozial verkümmerten Protagonisten schildert Houellebecq als harmlose Egozentriker. Mit einer Fülle von Motiven und durch allerlei zeitkritische Reflexionen angereichert, beschreibt er nüchtern und beiläufig so unterschiedliche Gegenstände wie den von der Geldschwemme befeuerten Kunstmarkt, die Technik von professionellen Fotoapparaten oder die Tücken einer akustisch virilen Heizung. Er beschäftigt sich aber auch mit Hunden, Insektensammlern, Silikonbrüsten, dem Schweizer Sterbetourismus und anderem mehr. Sprachlich souverän und anspielungsreich vereint der Autor diese disparaten Motive in einem wagemutig konstruierten Plot, stellt die Persiflage auf seine Person neben den Horror-Thriller, fügt Beziehungs-Geschichten und Vater-Sohn-Probleme ein. Am Ende ist Frankreich dann zum reinen Tourismusland geworden, eine postkapitalistische Dystopie. Genau deshalb hat Wirtschafts-Minister Montebourg diesen Roman zum Lesen empfohlen, – dem schließe ich mich rein literarisch gerne an!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by DuMont

Aus den Papieren eines Wärters

“Aus den Papieren eines Wärters” ist sicherlich für Neulinge im Kosmos Dürrenmatt schwierig, aber um Dürrenmatts Werk zu verstehen und zu begreifen, ist meines Erachtens, dieser Band der Wichtigste. Hier finden wir die Urformen vieler späteren Werke. Werke, die immer wieder von ihm bearbeitet wurden, weil er noch mehr aus dem Stoff herausholen musste. Weiterlesen


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Diogenes

7 Minuten am Tag – endlich gesünder leben

Laut Autorin reichen 7 Minuten am Tag aus, um sich (wenn möglich) zu einem gesünderen Lebensstil hinzuwenden. Tatsächlich sind die Vorschläge recht schnell umgesetzt, weil einfach. Allerdings braucht es bei einigen Tipps Vorbereitungs- und/oder Nachbereitungszeit, die nicht in die 7 Minuten einkalkuliert werden. Weiterlesen


Illustrated by Knaur/Menssana

Die Ballade von Halo Jones

Die Ballade von Halo Jones: Alan Moore braucht man nicht extra vorzustellen. Wie kaum ein anderer hat er das Comic-Genre revolutioniert. Auch mit diesem 2020 erstmals auf Deutsch erschienenen Science-Fiction Abenteuer aus dem Jahre 1984 nahm der gutgelaunte Engländer vieles vorweg. Halo Jones lässt grüßen, und das beinahe in Breitbandformat!

Halo Jones: Reich des Müßiggangs

Im 50. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung gibt es nicht nur Müllströme durchs Weltall, sondern auch „Zenaten“, eine Mischung aus Zen und „Granate“, die zur Beruhigung mit Alphawellen auch von Halo Jones‘ Freundin Rodice eingesetzt wird. „…und dann, wenn du eins bist mit dem Jetzt, kannst du deinen Kopf völlig leeren“, schwärmt sie über die Segnungen der Zenate. „Manche habe dabei weniger zu tun als andere“, fügt ihre Kollegin lakonisch hinzu und steuert das Raumschiff in eine andere Richtung. Was hier so munter beginnt und voller eigener Idiome versucht, eine neue Welt zu erschaffen, ist nichts anderes als ein knallbuntes Science-Fiction-Abenteuer in den unendlichen Weiten des Weltalls, das mit flotten Sprüchen auch mal Gesellschaftskritik übt. „Lasst uns in Ruhe, Ihr Discountertussis“, droht die eine, mit ihrem „Kotzstik“ in der Linken. Cybertollwut grassiert allerorten und manche Mitbewohner des Planeten sind bereits lobotomisiert worden. Und der Planet selbst ist von einem „Ring“ umgeben, in dem sich das Reich des Müßiggangs befindet. Alle Einkunftslosen der Zukunftsgesellschaft befinden sich hier und können in Zenate-Gelassenheit ihren Hobbies nachgeben.

Der Ring: eine riesige Müllkippe

Mit anderen Worten: der Ring ist „eine riesige Müllkippe, auf der Amerika seine Arbeitslosen ablud“. Und wer den hellsten Stern am Himmel genießen will, muss bald wie Helo Jones feststellen, dass dies „unser Abfallentsorgungsanhänger“ ist. Aber es gibt da einen Millionär, Lux Roth Chop, der den Krieg gegen Freie Kolonialweltn in Tarantulanebel finanziell unterstützt. Mit dem Schiff Clara Pandy macht sich Halo Jones als Freiwillige in Begleitung des Blechhundes und einer Glyphe auf in die unendlichen Weiten des Weltraums und ein neues Abenteuer beginnt, das insgesamt auf neun Teile ausgedehnt werden sollte. Das laut Moore „großartigste Comic der Galaxis ist ein knallbuntes Sci-Fi-Abenteuer voller skurriler Einfälle und einem ganz eigenen Jargon, den man natürlich erst erlernen muss, um in den vollen Genuss zu kommen. „Oh, ja. Spiel’s nochmal, Yortelbuzzgubbly.“

Alan Moore

Die Ballade von Halo Jones 1

Zeichner: Ian Gibson

Autor: Alan Moore

2020, Hardcover, 72 Seiten

ISBN: 9783741620690

Panini

17,00 €

Alan Moore

“Die Ballade von Halo Jones 2”

Originaltitel: The Ballad of Halo Jones 2

Zeichner:   Ian Gibson

Autor:       Alan Moore

2021, Hardcover, Science-Fiction, 64 Seiten

ISBN: 9783741621642

Panini


Genre: Comic, Futurismus, Humor, Science-fiction
Illustrated by Panini Comics

Predigt auf den Untergang Roms

Ein kühnes Unterfangen

Mit dem Roman «Predigt auf den Untergang Roms» hatte Jérôme Ferrari 2012 seinen Durchbruch als Schriftsteller, er gewann den Prix Goncourt, die wichtigste literarische Auszeichnung Frankreichs. Wie in seinen anderen Werken geht es auch hier um das Scheitern, schon der Titel spielt ja auf die Warnung von Augustinus an, der von der Überheblichkeit der Römer und vom Untergang des römischen Reiches gepredigt hat. Der Autor nutzt sein Wissen als Philosophie-Lehrer und seine Milieu-Kenntnisse, um die hehren Gedanken des Kirchenvaters vom Werden und Vergehen auf eine Bar in einem korsischen Dorf anzuwenden, Religion und Philosophie also der für eine Bar spezifischen Männergier nach Alkohol und Frauen gegenüber zu stellen. Ein kühnes Unterfangen!

Philosophie-Student Matthieu, ein Leibnitz-Apologet, und sein aus Sardinien stammender Freund Libero, leidenschaftlicher Augustinus-Spezialist, übernehmen eine schlecht gehende Dorfkneipe im Landesinneren von Korsika, an der schon viele Pächter ökonomisch gescheitert sind. Mit kreativen Ideen in eine Bar verwandelt, haben sie dort sehr schnell großen Erfolg, zu dem vor allem vier junge, attraktive Frauen beitragen, die sie als Kellnerinnen eingestellt haben. Von weit her kommt nun Kundschaft angefahren, das Geschäft floriert. Und auch ein Gitarrist belebt mit seinem – leider unüberhörbar stümperhaften – Spiel gleichwohl die Tristesse der ehemaligen Kneipe. Besonders die kesse Annie lockt die Männer an, sie küsst jeden männlichen Gast zur Begrüßung und fasst ihm dabei wie selbstverständlich zwischen die Beine. Schon vor der Neueröffnung lautete der gutgemeinte Rat eines in der Branche erfahrenen Freundes: «Und vor allem dürft ihr die Kellnerinnen nicht ficken». Irgendwann aber hält sich Matthieu nicht mehr daran. Damit läutet er dann letztendlich den Niedergang ein, Annie nimmt Geld aus der Kasse, es gibt Eifersüchteleien, das bisher so gute Betriebsklima leidet. Während Leibnitz-Jünger Matthieu sich in der besten aller Welten wähnt, in der Milch und Honig fließen, ekelt sich der von Augustinus intellektuell geprägte Libero inzwischen geradezu vor dem zwielichtigen Milieu, in das er da hineingeraten ist, er will aussteigen.

Den einzelnen Kapiteln seines Buches hat der Autor jeweils hochtrabende, tief religiöse Zitate von Augustinus vorangestellt, das letzte Kapitel ist sogar ganz dem Kirchenvater gewidmet. Das in Alltagssprache der Jetztzeit geschilderte, eher derbe Geschehen steht in eklatantem Gegensatz dazu. Als originär weltliche Bühne dient dabei die Bar mit ihrem ständigen Kommen und Gehen, mit all den zweifelhaften Figuren, die derartige Orte so gerne bevölkern. Wohl um den Untergang des französischen Kolonialreichs als weiteren Beleg seiner Thesen mit einzubinden, hat Ferrari auch noch eine Passage über den Großvater von Matthieu eingefügt, der diese Zeit als Soldat und späterer Diplomat miterlebt hat. Und seine Schwester, die erzählerisch den Außenblick auf Matthieu repräsentiert, ist an archäologischen Grabungen in Hippo Regius beteiligt, dem einstigen Bischofssitz von Augustinus. Der schmale Band mündet mit seiner hoch verdichteten Erzählweise in dessen These ein, dass Werden und Vergehen auf dieser Welt unterliege einem ewigen Kreislauf, in dem sich alles wiederholt und nichts wirklich verschwindet, weil die geistige Welt ja ewig bestehen bleibe.

Nach der Lektüre stellen sich Zweifel ein, ob das Gegeneinanderstellen von philosophischer Hochkultur aus den «Sermones» des Augustinus und der schnöden Underground-Szenerie einer korsischen Bar ein gelungenes Verfahren ist, den Impetus des Autors zu verdeutlichen. Denn eine wirklich tragfähige Verbindung hat er nicht herstellen können, die Augustinus-Thematik wird der mitreißend bunten, korsischen Geschichte regelrecht aufgepfropft. Stilistisch störend sind zudem die prätentiös wirkenden Satzkonstruktionen, die das Lesen dieses ambivalenten Romans schwierig machen. Das Lesen aber – lohnt sich trotzdem!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Secession Verlag Zürich

Treffen sich zwei

Love it or leave it

Mit dem deskriptiven Titel «Treffen sich zwei» hat Iris Hanika die Thematik ihres Romans bereits angedeutet, es geht um Zweisamkeit in konventioneller Form, in der heterosexuellen also. Ein ‹weites Feld› mithin, und ein reichlich beackertes zugleich, die Zahl die Liebesromane ist ja Legion. Umso kühner also der Versuch der Autorin, diesem abgedroschenen Thema, jenseits der Herz/Schmerz-Trivialität, neue Facetten abgewinnen zu wollen.

Die Zwei, die sich da treffen, sind bereits über vierzig, beide sind mit ihren diversen Partnerschaften jeweils grandios gescheitert. Senta arbeitet in einer nur nachmittags geöffneten Bilder-Galerie, die ein kunstbesessener Notar und Rechtsanwalt sich quasi als Hobby leistet. In einer Bar trifft sie auf Thomas, beide schauen sich wie vom Blitz getroffen in die Augen, sie fühlen sich unwiderstehlich zueinander hingezogen. Kaum haben sie ein paar Sätze gewechselt, da verlassen sie auch schon gemeinsam die Bar und landen wie selbstverständlich in Sentas Bett, die Anziehungskräfte sind einfach übermächtig. Als Thomas sie morgens überhastet verlässt, weil er zur Arbeit muss, sagt er ihr, er würde sie anrufen. Senta merkt, dass sie von ihm nichts weiß, außer seinem Vornamen und dass er IT-Systemberater ist. Sie hat ihm nicht mal ihre Telefonnummer gegeben, so sehr waren sie in ihrem Sexrausch versunken. Nach zwölf ähnlich wilden Tagen kommt es zum Eklat, sie betrinkt sich in der Bar, weil er sich heute wegen einer geschäftlichen Verpflichtung nicht gemeldet hatte. Beim verzweifelten Grübeln wird ihr klar, dass Thomas ja überhaupt kein Mann zum Heiraten ist. Als er sie spätabends aber doch noch anruft, ist sie bereits stockbetrunken, und als er dann in die Bar kommt, um sie abzuholen, macht sie ihm vor allen Gästen eine Szene. Sie beschuldigt ihn, er würde sie ja sexuell nur ausnutzen, sie hingegen würde nicht mal zum Orgasmus kommen mit ihm. Alles vorbei also?

Beide haben ihre große Liebe gesucht und, überstrahlt von der gierig genossenen Lust, scheinbar auch gefunden, aber es ist ihnen nicht gelungen, dieses Glück dann auch zu bewahren. In ihrem Katzenjammer bricht die hysterische Senta auch noch einen Streit mit ihrer besten Freundin vom Zaun, die, anders als sie, ihren Mann fürs Leben gefunden hat, glücklich verheiratet ist und Kinder hat. Senta, die nah am Wasser gebaut hat, ist tagelang in Tränen aufgelöst vor Verzweiflung. Thomas ist entsetzt und auch sehr wütend, dass sie ihn in der Öffentlichkeit derart blamiert hat. Ein alles andere als überraschender Plot, der garniert ist mit allerlei peripheren Schilderungen aus dem Stadtteil Berlin-Kreuzberg, in dem die Handlung angesiedelt ist. In epischer Breite wird da zum Beispiel von der Geschichte des Landwehrkanals berichtet, an dem die Zwei gerne spazieren gehen. In einer Art Jobbeschreibung wird die Tätigkeit eines IT-Systemberaters erklärt und die spezielle Konzeption der Software, mit der Thomas so überaus erfolgreich arbeitet.

Stilistisch sind in diesem Roman vom Scheitern die verschiedensten Erzählformen vertreten, journalistisch nüchterne Beschreibungen, essayistische Abhandlungen, Internet-Recherche, Passagen in Form des Dramas mit szenischen Anmerkungen. Allzu häufig wird auch aus englischen Songtexten zitiert, die kaum jemandem etwas sagen, der sich nicht bestens in dieser Szene auskennt, Gleiches gilt für den mit seiner Penthesilea zitierten Kleist. So ganz ohne Pathos geht es also nicht ab in diesem Roman, obwohl all das unübersehbar ironisch unterlegt ist, ein Großstadt-Märchen mit dem (unheilvollen?) Credo «Wir schaffen das». Störend sind auch all die satztechnischen Mätzchen, mit denen zum Teil Seiten geschunden werden, die anbiedernd postmodern erscheinen, ohne erkennbar etwas zu bewirken. ‹Love it or leave it› ist hier das Motto für den Leser, der Roman, dessen Protagonisten kaum Empathie zu wecken vermögen, wirkt jedenfalls stark polarisierend. Sein Unterhaltungswert aber tendiert gegen Null.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb München