Insomnia

Vom Bruder des Todes

Im Nachlass des jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andrić fanden sich Notizbücher mit etwa 1500 Einträgen, von denen Michael Martens unter dem Titel «Insomnia» im vorliegenden Band mehr als zweihundert neu übersetzt herausgegeben hat. Der Nobelpreisträger von 1961 litt an Schlaflosigkeit, gehörte als Oneironaut jedoch zu jenen Menschen, die sich im Klaren sind, dass sie träumen und diese Klarträume sogar bewusst herbeiführen können. Was schon der Untertitel «Nachtgedanken» verdeutlicht und die Nachttischlampe auf dem Cover symbolisch unterstreicht. Der Klartraum-Forschung zufolge sind Introvertiertheit und Neugierde typische Persönlichkeits-Merkmale solcher Menschen, und in der Tat trifft denn wohl auch Beides auf den Autor zu.

Das Konvolut nachgelassener Notizen aus den Jahren 1915 bis 1974 war nicht zur Veröffentlichung bestimmt, die einzelnen Texte sind bis auf wenige Ausnahmen undatiert und lassen sich nicht chronologisch lesen. Die vielstimmige Zusammenstellung in diesem Band ist in zwölf Abschnitte aufgeteilt, in denen Notate enthalten sind, die zum überwiegenden Teil aus Reflexionen des Autors bestehen. Sie beschäftigen sich vornehmlich in immer wieder neuen Variationen mit den Qualen der Schlaflosigkeit selbst. Es finden sich darin aber auch viele Erinnerungs-Fragmente, Selbstbetrachtungen, Anmerkungen und Beobachtungen zur Vergänglichkeit, zu Schaffenskrisen, zum Alltaggeschehen. Ferner gibt es Rückblicke in die Kindheit, Begegnungen mit Menschen, Naturbetrachtungen. All das wird noch ergänzt um Kurzgeschichten, Anekdoten und Aphorismen. So schreibt er zum Beispiel über die knarzenden Geräusche, die sein Parkett bei nächtlichen Temperatur-Schwankungen erzeugt, registriert das Abflauen des munteren Gezwitschers der Nachtigallen im Morgengrauen oder berichtet über einen Konzertabend mit Werken von Mozart, Liszt und Brahms. Der eher elegische Schluss bei Brahms baue sich ganz auf das Vorhergehende auf, ganz so, wie er es sich denn auch von seinem Leben erwarte. Und er distanziert sich vehement vom kleinbürgerlichen Leben, «das in nichts Größe, Schönheit oder echte Freude zeigt, weil in ihm alles vergiftet ist von Vorurteilen und befleckt von Berechnungen, die sich noch in die entlegensten Tiefen des menschlichen Lebens hineinziehen».

Der von seinen Dämonen heimgesuchte Autor bezieht sich in puncto Schlaflosigkeit zuweilen auf seine schreibenden Kollegen und Leidensgenossen Franz Kafka und Fernando Pessoa, die er zum Teil wörtlich zitiert. Bei all seinen Selbsterkundungen bleibt Ivo Andrić aber auffallend distanziert, er wird nie wirklich persönlich, man erfährt nichts Intimes von ihm, und auch sein Arbeitsleben wird nicht thematisiert. Seine übermächtigen Selbstzweifel hingegen verdeutlicht der bemerkenswerte Satz: «Wenn ich nicht verzweifelt bin, tauge ich nichts». Keinesfalls hat er seine Meditationen als narrative Selbstzeugnisse aufgefasst, im Gegenteil: «Ein Schriftsteller sollte schreiben und erzählen, aber nicht aus seinem Leben eine Erzählung machen. Die dies tun, versündigen sich an sich selbst und an der Leserschaft, vor allem aber an der Wahrheit».

«Der Schlaf ist ein Bruder des Todes» heißt es im Volksmund, und auch wenn man diesen Spruch in Zweifel zieht, zeugt zumindest dieses düstere Buch von deren existentieller Nähe. Denn der Leser lernt hier einen seelisch gequälten Mann kennen, der sich selbst nicht ganz geheuer ist, ein stoisch resignierender Ivo Andrić voller innerer Spannungen, der sich die Vanitas-Rhetorik vollinhaltlich zu Eigen gemacht hat. Es ist gerade diese zutiefst existentielle Dimension seiner Skizzen, die das uneitle, aufrichtige Selbstzeugnis eines chronisch schlechten Schläfers lesenwert macht. Dass ein solch skeptisches Werk allerdings schwer zu lesen ist und alles andere als Wohlfühl-Literatur darstellt, das liegt auf der Hand. Den nobelpreis-gekrönten Autor grandioser historischer Romane wird man hier kaum wiedererkennen!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Zsolnay München

Die Brücke über die Drina

andric-1Im Kanon der Weltliteratur

Im Jahre 1945 erschienen die drei Romane der «Bosnischen Trilogie» von Ivo Andrić, von denen «Die Brücke über die Drina» der mit Abstand bekannteste wurde. Sechzehn Jahre später erhielt Andrić den Nobelpreis «für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet». Sein weltberühmter Roman ist der Versuch eines Brückenschlags zwischen Okzident und Orient, symbolisiert durch jene Brücke in seiner bosnischen Heimatstadt Višegrad, die beispielhaft das multiethnische Zusammenleben auf dem Balkan thematisiert. Eine kunstvoll angelegte Geschichtsbeschreibung des auch als Politiker und Diplomat tätigen Autors, der sich entschieden für den Vielvölkerstaat Jugoslawien eingesetzt hat, welcher später so kläglich gescheitert ist. Warum, das erfahren wir Leser aus diesem historischen Roman, der insoweit auch eine Lehrstunde darstellt über politische und soziologische Hintergründe, äußere und innere Ursachen der unsäglichen, bis heute andauernden Querelen in diesem Unruheherd Europas.

Auf dem Weg zwischen Istanbul und Sarajevo gelegen, gewinnt Višegrad mit seiner steinernen Brücke wirtschaftlich, aber auch militärisch an Bedeutung. Ein weitsichtiger osmanischer Wesir hatte die Brücke nahe der Grenze zwischen Serbien und Bosnien in den Jahren 1571 bis 1578 erbaut, sie bildet ein wichtiges Bindeglied zwischen Ost und West. In diesem Epos, das von der Gemeinschaft verschiedener Ethnien in dieser kleinen Stadt erzählt, ergänzen sich historische Geschehnisse und menschliche Schicksale zu einem homogenen, den Leser mitreißenden Erzählstrom. Der zeitliche Horizont dieser «Višegrader Chronik» reicht über einige Jahrhunderte hinweg, er umfasst die türkische Herrschaft vom Bau der Brücke an bis hin zur Annexionskrise und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

In vielen Episoden und Szenen, garniert mit allerlei Anekdoten, wird aus wechselnder Perspektive chronologisch von all jenen Menschen erzählt, die im Umkreis der Brücke leben. Die drei monotheistischen Religionen sind dort gleichberechtigt nebeneinander vertreten, der Hodscha betreut seine Gemeinde ebenso wie der Pope und der Rabbiner. Man fristet ein äußerst karges Leben im ständigen Kampf mit den Naturgewalten, erträgt stoisch alles Ungemach, verharrt in einer latenten Lethargie über die Generationen hinweg, ist anfällig für dumpfen Aberglauben und skurrile Mythen. Inwieweit all dies deterministisch bedingt ist, gehört zu den großen Fragen, die der Roman aufgreift und aus der Innenperspektive zu beantworten sucht, wobei die Brücke mit ihrer Symbolkraft ein ständig wiederkehrendes Leitmotiv bildet. Der Leser begegnet einer Hundertschaft archaischer Typen, physisch und psychisch ebenso liebevoll wie treffend beschriebene, herrlich lebensechte Figuren allesamt, die ein dichtes Geflecht von Beziehungen unterhalten, welche letztendlich das Miteinander über die Jahrhunderte hinweg bestimmen.

Besonders erhellend fand ich die Episode nach der Annexion, als die neuen österreichisch-ungarischen Machthaber eifrig Vieles zu erneuern und zu reparieren begannen, was nach Meinung der lethargischen Einheimischen durchaus noch lange hätte bleiben können wie es war. Kritisch befasst sich Ivo Andrić am Ende auch mit den sozialen Veränderungen beim Übergang in die Moderne, hinterfragt ungehemmten Kapitalismus, ausufernden Konsum und eine die Menschen manipulierende Medienflut. Dieser in Deutschland lange vergessene Roman eines in seiner Heimat wenig geachteten Schriftstellers ist in einer wunderbar klaren, angenehm lesbaren Sprache geschrieben, inhaltlich unglaublich dicht zudem, völlig ohne Arabesken. Jede einzelne Seite der bildstark erzählten Geschichte eröffnet weitere Aspekte und ergänzt die Handlung durch immer neue Facetten. Den Leser erwartet ein ruhig erzählter, überaus bereichernder Roman von einem zu Recht mit dem Nobelpreis geehrten Schriftsteller, der damit ein kanonisches Werk der Weltliteratur geschaffen hat.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München