Drei starke Frauen

Fanal der Selbstbehauptung

Die erfolgreiche französische Schriftstellerin Marie NDiaye hat mit «Drei starke Frauen» ganz offensichtlich einen Nerv der Zeit getroffen, das als Roman deklarierte Buch wurde 2009 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. In Frankreich war es, trotz seiner eher deprimierenden, feministischen Thematik, ein auch politisch aufgeladener Bestseller. Gemeinsam ist den Frauen in den nur sehr lose verbundenen drei Erzählungen ihre unbeirrbare Würde, mit der sie scheinbar stoisch ihr Schicksal ertragen. Keine Wohlfühl-Lektüre also, aber als feministischer Weckruf ein wichtiger Beitrag zur nach wie vor nicht realisierten Emanzipation des vorgeblich schwachen Geschlechts.

Im ersten Teil besucht die vierzigjährige Anwältin Norah widerstrebend ihren herrischen Vater in Dakar. Der Patriarch hat sie eilends herbeigerufen, damit sie seinen über alles geliebten Sohn aus dem Gefängnis hole, er habe nach seiner desaströsen Firmenpleite kein Geld mehr für einen Verteidiger. Norahs Bruder soll seine Stiefmutter erwürgt haben, mit der er eine Liebesaffäre hatte. Im Mittelteil geht es um Fanta, die mit Rudy, ihrem französischen Mann, von Dakar nach Frankreich in die Provinz gezogen ist, sie langweilt sich dort und scheint aus ihrer kaputten Ehe ausbrechen zu wollen. Im letzten, äußerst dramatischen Teil versucht die 25jährige Khady, deren Mann plötzlich verstorben ist und die nun bei den Schwiegereltern wie eine Sklavin gehalten wird, illegal nach Frankreich einzuwandern.

Den drei ganz unterschiedlichen Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen, stehen drei gewalttätige, völlig gefühllose Männer gegenüber, die sich letztendlich dann eher doch als ziemlich schwach erweisen. Die Anwältin Norah muss zuhause einen ebenso liebenswürdigen wie parasitären Partner mit durchfüttern. Ihr einst erfolgreicher Vater und auch ihr nichtsnutziger, vom Vater verhätschelter Bruder widern sie an, sie würde am liebsten sofort wieder zurückreisen. Der Total-Versager Rudy, aus dessen Perspektive anschließend erzählt wird, ist ein aus dem Schuldienst entlassener Lehrer, der nun als Küchenverkäufer schon wieder einer Kündigung entgegensieht. Er versinkt in einen alles vernichtenden Exzess aus Selbstmitleid, in den auch mystische Symbolik hineinspielt. Seine völlig desillusionierte Frau Fanta, die vor den Scherben ihrer Ehe steht, erträgt all das mit einer trügerischen Gelassenheit. Und auch in der Flucht-Geschichte fällt einem jungen Mann eine eher schäbige Rolle zu. Er steht Khady zwar bei der Flucht hilfreich zur Seite, stiehlt ihr letztendlich aber dann doch all ihr durch Prostitution für die Flucht aufgespartes Geld. Sie bleibt in ihrem Elend zurück, während er sich rücksichtslos allein nach Frankreich durchschlägt.

Marie NDiaye erzählt ihre drei archaisch anmutenden Geschichten in einem nicht gerade angenehm lesbaren, hypotaktischen Stil, wobei sie das Geschehen allerdings sehr bildhaft zu schildern versteht. Sie taucht dabei tief in die Psyche ihrer Figuren ein und legt eindrucksvoll die komplizierten Macht-Strukturen im Verhältnis der Geschlechter ebenso bloß wie auch die verzwickten Familien-Verhältnisse. Einen nicht unwesentlichen Anteil am Narrativ haben Dämonen und Engel, die wie selbstverständlich in das Geschehen eingebaut sind. So steigt beispielsweise Norahs despotischer Vater allabendlich in den Flammenbaum, wozu auch immer. Oder der Versagertyp Rudy wird mehrfach von einem Bussard angegriffen und einmal sogar verletzt. Und in Visionen aus der Kindheit sitzen dann auch schon mal Dämonen auf jemandes Bauch, was mutmaßlich als pädophile Anspielung zu deuten ist. Die Autorin hat ihr Buch, das eher als Erzählband denn als Roman zu bezeichnen ist, ihr «hellstes» genannt, was angesichts seiner düsteren Thematik doch sehr verwundern muss. Aber auch wenn zuweilen langatmig erzählt wird, ist dieses Fanal der Selbstbehauptung als Lektüre durchaus lohnend und mit seiner Flüchtlings-Problematik nach wie vor sogar hochaktuell.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Fürst Lahovary. Mein abenteuerliches Leben als Hochstapler

Thomas Mann erkannte im Kriminellen vielfach Künstlerisch-Eigenstes wieder. Sein Werk »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« fußt auf den Memoiren von Georges Manolescu, der als »Fürst Lahovary« ein ebenso abwechslungsreiches wie abenteuerliches Leben als Hochstapler führte. Diese Memoiren aus dem Jahr 1905 liegen jetzt wieder vor. Weiterlesen


Genre: Biographien, Briefe, Memoiren
Illustrated by Manesse Verlag München

Ob wir wollen oder nicht

Alles eine Frage der Sprache

Karl-Heinz Ott hat für seinen dritten Roman «Ob wir wollen oder nicht» eine stilistisch eigenständige Form gefunden, die er im Interview als « Gedankenmusik» bezeichnet hat. Er benutzt sie, um mit Hilfe von Rhythmus und Wortklang die Seelenzustände seines Protagonisten wahrnehmbar zu machen, sie regelrecht anklingen zu lassen. In einem geradezu manisch wirkenden, inneren Monolog offenbart sein Protagonist letztendlich die Leere seiner Seele. Der am Leben Gescheiterte hat sich selbst in eine Misere hinein manövriert, in der die Frage nach Schuld ebenso im Dunkeln bleibt wie das Geschehen im Ungewissen.

Was zunächst wie ein Krimi in der Untersuchungshaft beginnt, erweist sich beim Lesen sehr schnell als ein nur rudimentäres Handlungsgerüst, der Leser erfährt bis zum Ende nicht, was da genau passiert ist. Häppchenweise lässt der etwa fünfzigjährige Ich-Erzähler immer wieder mal beiläufig ein neues Detail in seinen Monolog einfließen, während er in der Zelle auf seine Vernehmung durch den Untersuchungs-Richter wartet. Als ehemaliger Tankstellen-Pächter hatte Richard T. seine Geschäfts-Grundlage in einem Dorf im Südschwarzwald verloren, denn nach dem Bau einer Talbrücke fließt der Verkehr jetzt nicht mehr durch den Ort. Er war lange mit Lisa, der Wirtin des örtlichen Gasthofes liiert, deren Mann sie verlassen hat, nachdem das Dorf in eine Art Dornröschen-Schlaf gefallen war. Richards bester und auch einziger Freund, der ehemalige Dorfpfarrer Johannes, wurde vor sieben Jahren wegen Pädophilie angeklagt. Er wurde zwar freigesprochen, hat den Dienst damals aber quittiert und sich in ein ehemaliges Bahnwärter-Häuschen zurückgezogen. Dort beschäftigt er sich als Privatgelehrter mit vergleichenden Bibelstudien und hört sich immer wieder Haydns Oratorium «Die Schöpfung» an. Seit einiger Zeit hat er ein Verhältnis mit Lisa, die sich allmählich von Richard gelöst hat, ohne dass die Beiden je offen darüber gesprochen hätten. Für Richard war weder die Liaison mit Lisa noch die Freundschaft mit Johannes seelisch wirklich tief gründend. Der notorische Eigenbrödler und ehemalige 68er mit abgebrochenem Studium schlägt sich mit fragwürdigen Geschäften durchs Leben, aber auch das wird wie vieles nur sehr vage angedeutet.

Kann er schuldig sein, wenn er doch gar nichts getan hat? Das an Kafka gemahnende, nebulöse Geschehen wird in einem an Thomas Bernhard erinnernden Stil erzählt, nur dass hier der innere Monolog nicht als Hasstirade nach außen gerichtet ist, sondern als Selbstreflexion nach innen. Der überwiegend monologisch geprägte Roman wird nur im Mittelteil durch einen köstlichen Dialog des Häftlings mit dem jungen Richter unterbrochen. Die schon fast slapstickartige Befragung führt schließlich zu seiner sofortigen Entlassung. War der Ich-Erzähler einst aufgebrochen, die Welt zu verändern, steht er nun nicht nur materiell vor den Trümmern seiner Existenz, Lisa und Johannes haben sich aus dem Staub gemacht, er ist auch seelisch ganz allein.

Richard T. lebt absichtslos vor sich hin und sinniert nur pausenlos über das eigene Versagen und den Sinn seines Lebens. «Venceremos» hatte einer seiner Vorgänger in der Gefängnis-Zelle in die Wand geritzt, ‹wir werden siegen›, und zehn Ausrufezeichen dahinter gesetzt. Richard kennt das spanische Verb noch als Aufkleber aus seiner ehemaligen WG-Küche, von Sieg aber kann bei ihm nun wirklich keine Rede sein. Diese nur knapp vier Tage umfassende Geschichte wird in bandwurmartig langen, kunstvoll miteinander verketteten Sätzen erzählt, womit scheinbar die Verschrobenheit des Protagonisten verdeutlicht werden soll. «Alles ist eine Frage der Sprache», hatte Johannes ganz im Sinne von Wittgenstein behauptet, das wäre auch bei seiner Gerichtsverhandlung damals so gewesen. Und so dominiert denn auch in diesem Roman über einen Sonderling in einer Ausnahme-Situation die Sprache über das mysteriöse Geschehen, das sich dann erst im Kopf des Lesers zu einem Ganzen formen muss.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Kimi ni Nare – Finde dich selbst

 

https://www.carlsen.de/sites/default/files/produkt/cover/kimi-ni-nare---finde-dich-selbst_0.jpgFinde dich selbst

Oberschüler Taiyo spielt mehr schlecht als recht Gitarre – diese aber mit Leib und Seele. Als sich der Musikclub der Schule aufzulösen droht, will er seinen verschlossenen Klassenkameraden Hikari mit ins Boot holen. Hikari wurde früher eine große Karriere als Pianist bescheinigt, da er als Wunderkind galt. Aber aus einem Grund, den er niemanden wissen lassen will, hat er plötzlich mit dem Klavierspielen aufgehört. Auch für Taiyo will er keine Ausnahme machen. Dieser aber bleibt hartnäckig. Deshalb konfrontiert Hikari Tayio schließlich mit seiner Vergangenheit.

 

“Und egal wie schmerzhaft, qualvoll und frustrierend es auch sein mag … eines Tages kannst du zu deinem wahren Selbst werden.” (Taiyo)

Der Einzelband behandelt das Thema der Selbstfindung in der Phase der Pubertät. Er geht auch auf die seelischen Verletzungen ein, die die Jugendlichen bis zu diesem Zeitpunkt erlitten haben. Wie so viele will Taiyo seine seelischen Verletzungen, die schon traumatische Ausmaße erreichen, unter einer fröhlichen Fassade und unter dem Slogan “Schau nach vorne!” verstecken und verdrängen. Aber durch Ausweichen heilt man keine Traumata, man muss sich ihnen stellen. Das geschieht (wenn auch nicht unbedingt in sensibler Form) durch seinen Klassenkameraden Hikari. Er konfrontiert Taiyo mit seiner Vergangenheit. Durch diese Konfrontation kommt ein Denkprozess in Gang, in dem sich Taiyo immer mehr darüber klar wird, was er wirklich will. Der Manga gehört also, obwohl kein Roman, in die Kategorie des Entwicklungsromans. Taiyo macht sich (wenn auch nicht örtlich wie bei solchen) auf den Weg, und zwar auf den Weg in sein Inneres. Dieser Weg ist hart, schmerz-und leidvoll, gibt ihm aber letztlich den Mut, zu sich selbst zu finden und zu stehen.

Auch Hikari wird, wenn auch eher indirekt, durch Taiyo dazu gebracht, sich seiner Vergangenheit zu stellen, die ebenso schmerzhaft ist. Er bewundert Taiyos Eifer, Durchhaltevermögen und dessen Mut auch unangenehme Situationen bewusst in Kauf zu nehmen, um Menschen mit dem, was er tut, zu berühren. Die beiden sind sich gegenseitig Vorbilder und beide trauen sich – was Männer im Allgemeinen nicht gerne tun – in die Tiefen ihrer Seele abzutauchen, sich den Ungeheuern, die dort lauern, zu stellen und die Schatzkiste, die ebenfalls dort unten versteckt ist, zu heben. Damit sind sie Vorbilder! Dabei wird aber auch immer wieder deutlich, dass beide keineswegs vollkommen, sondern ganz normale Menschen sind, die gerne mal wegen mancher ihrer Eigenschaften bei anderen anecken.

Durch den Mut, seine Psyche zu ergründen, kommt es u.a. für Taiyo zu solchen Augenblicken der Erkenntnis wie diesen: “Es wäre schön, wenn traurige Dinge einfach aus der Welt verschwinden würden. Aber ohne traurige Momente würde man die schönen Augenblicke vielleicht gar nicht bemerken.” Wäre Taiyo in seinem oben beschriebenen Fluchtschema erstarrt, käme keine positive Entwicklung in Gang.

 

Fazit

Der Manga behandelt Selbstfindungsprozesse, die (wie im wahren Leben) schmerzhaft, aber letztlich lohnend sind. Beide männlichen Hauptfiguren stellen sich – im wahren Leben gerade von Männern gern verdrängt – ihren psychischen Verletzungen und lernen sich dadurch besser selbst kennen und annehmen, sodass eine positivere Zukunft möglich wird. Der Manga verarbeitet also tiefenpsychologische und philosophische Themen, die ihn trotz der Kürze tiefgründig machen.

Das ist die Stärke so manch einen guten Comics oder Mangas wie diesem, dass sie tiefgründige Themen angehen und verständlich an die Leser*innen bringen können. Das ist definitiv eine Kunst, die aber leider kaum gewürdigt wird. So mancher Roman wird bei ähnlichen Themen (und unnötig komplizierter Schreibweise) in den Himmel gelobt, obwohl er keinesfalls besser als ein dergestaltiger Comic oder Manga ist. Aber Qualität ist überall zu finden, wenn man sich nur darauf einlassen will. Auch – und vielleicht sogar v.a. – in der oftmals verachteten und belächelten “neuten Kunst” (die nicht umsonst so heißt).


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Die französische Kunst des Krieges

Illusionistische Multikulti-Euphorie

Als ‹Sonntagsschreiber›, wie er sich selbst bezeichnet hat, ist dem französischen Schriftsteller Alexis Jenni nach mehreren erfolglosen Versuchen mit seinem 2011 veröffentlichten Romandebüt «Die französische Kunst des Krieges» ein Bestseller gelungen. Das imposante Epos gewann den Prix Goncourt und wurde wegen seiner Täterperspektive mit »Die Wohlgesinnten» von Littel verglichen. Ein Vergleich, den Jenni vehement abgelehnt hat, weil sein Kollege eher eine Doku-Fiktion geschrieben habe, während bei ihm eindeutig das Romanhafte im Vordergrund stehe.

Der namenlose Ich-Erzähler ist ein im bürgerlichen Leben gescheiterter, junger Mann. Den Beginn des Golfkriegs 1991 erlebt er unbeteiligt am Bildschirm mit, der so weit entfernte Krieg bedeutet ihm rein gar nichts. Bis er in einem Bistro auf Victor Saragon trifft, einen alten Haudegen, dessen Leben zwei Jahrzehnte lang von Kriegen geprägt war, die Frankreich alle verloren hat. Seine Karriere begann einst bei den ‹Chantiers de Jeunesse›, einer die Résistance unterstützenden, paramilitärischen Jugend-Organisation. Anschließend hatte er im Indochina-Krieg gekämpft und danach im Algerien-Krieg, der dann 1962 mit der Unabhängigkeit des Landes endete, beides schmutzige, asymmetrische Kolonial-Kriege. Seine Eindrücke aus dieser Zeit hat Saragon, der ein begnadeter Zeichner ist, einst in unzähligen Bildern festgehalten. Die Beiden vereinbaren, dass Saragon dem faszinierten jungen Mann das Zeichnen beibringt, im Gegenzug würde jener die abenteuerlichen Geschichten seiner Kriegseinsätze aufschreiben, von denen ihm der alte Kämpe berichtet.

In dreizehn Kapiteln erzählt Alexis Jenni im ständigen Wechsel einerseits aus der Perspektive des Ich-Erzählers, als ‹Kommentare› betitelt, von dessen bewegtem Leben in Lyon, als auktorialer Erzähler andererseits unter den ebenfalls durchnummerierten Überschriften ‹Roman› die Geschichte des Kriegs-Veteranen. Dabei rührt er als Nest-Beschmutzer gleich an mehreren Tabus der französischen Gesellschaft. Im Interview hat er dazu angemerkt, er wolle Frankreich verstehen: «Was heißt es heute, Franzose zu sein? Gibt es eine französische Nationalität, eine französische Besonderheit?». Und daraus leitet er auch die Frage nach den sozialen Unruhen in den Banlieues ab, nach Problemen mit den Arabern, und stellt die Hypothese auf: «Unsere heutigen Probleme haben ihre Wurzeln in der Zeit der Kolonial-Kriege».

Die gelungenste Episode des Romans, mit der eindrucksvoll die verlogene Verdrängung des Tötens verdeutlich wird, ist der Umgang der modernen Gesellschaft mit Fleisch. Bei Einkauf für ein Abendessen mit Freunden kommt dem Ich-Erzähler angesichts akkurat zubereiteter und klinisch verpackter, dem Schlachttier nicht mehr zuzuordnender Fleischstücke die Idee, statt dem geplanten Bœuf bourguignon bei chinesischen und arabischen Händlern auf dem Markt das dort feilgebotene Fleisch zu kaufen. Mit Kaldaunen, drei ganzen Hammelköpfen, jede Menge Hahnenkämmen und drei Metern Blutwurst am Stück vertreibt er als Koch dann abends nicht nur die entsetzten Freunde für immer, sondern verliert auch seine Frau, – ein Clash of Civilisations der besonderen Art. Im anderen Handlungsstrang gesteht der Kriegsveteran seinem Chronisten: «Wir haben uns alle wie Schlachter aufgeführt», eine zutiefst verstörende Wahrheit für die an schamhaftes Verdrängen gewöhnte ‹Grand Nation›. Auch der eher verharmlosende Satz des Heraklit vom «Krieg als Vater aller Dinge» erweist sich damit als haltlose Schönfärberei eines barbarischen Handwerks, heute in Zeiten asymmetrischer Kriege mehr denn je. Insoweit ist dieses Epos nicht nur ein Fanal gegen den überall weitverbreiteten Rassismus, es entlarvt auch die naive Multikulti-Euphorie als grandios an der Realität scheiternde Illusion, aller Vernunft zum Trotz! Diese angenehm lesbare Diagnose nationaler Befindlichkeit dürfte für manche Leser deutlich zu lang geraten sein, aufschlussreich ist sie allemal!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

My Genderless Boyfriend 1

Weiblich? Divers? Männlich?

Meguru ist ein typischer Influencer – sollte man meinen. Tatsächlich interessiert er sich für Dinge, die man klischeemäßig eher dem weiblichen Geschlecht zurordnet: Schminken, süß aussehende Sachen und schicke, farbenfrohe Kleidung. Und das alles teilt er täglich mit seinen vielen Followern. Die finden ihn toll und nehmen ihn sich zum Vorbild. Und sie wissen, dass er (ebenfalls entgegen aller Klischees) nicht schwul ist. Allerdings wissen sie nicht, dass Meguru schon seit langem mit seiner großen Liebe, der Manga-Redakteurin Wako, zusammen ist. Sie befürchtet, dass das seinem Immage schaden könnte. Da Wako ihn schon seit Schulzeiten managt, hält sie sich bei seinen Instagramm-Auftritten im Hintergrund. Wako selbst hält in der Öffentlichkeit ebenfalls geheim, dass sie einen Freund hat. Als eine neue Kollegin zufällig sie und Meguru zusammen sieht, zieht diese die falschen Schlüsse: Megurus weibliches Aussehen und Wakos Körpergröße verleiten sie zu der Annahme, dass Wako lesbisch ist.

 

“Ein stylischer Fellgood-Manga, der sich über alle Geschlechterklischees hinwegsetzt!” (Verlag)

Der erste Band macht sich einen Spaß daraus, die Rollenerwartungen an Frau und Mann komplett über den Haufen zu werfen und (fast diabolisch) durcheinanderzuwirbeln. Und das ist auch gut so! Es fängt an mit einen kleinen Mann, der sich für gutes Aussehen und Schminken interessiert und dabei nicht schwul ist, geht weiter mit seiner Freundin, die das genaue Gegenteil von ihm ist (groß, Aussehen egal) über Megurus Freund Kira, der ein gefragtes androgynes Model ist und sich darüber beklagt, dass wegen seiner Art niemand mit ihm befreundet sein will, bis hin zu einem Umfeld, das generell neugierig auf Neues ist und somit mehr oder weniger vorurteilsfrei. Aber auch mit diesem Umfeld wird gespielt, wenn Meguru ganz selbstverständlich als Frau und damit als Freundin von Wako gehalten wird und Wako somit als lebsisch gilt, auch wenn beide (ganz konventionell) stramm hetero sind.

Das ist genug Spielwiese, um für viel Situationskomik zu sorgen und so auf humorvolle Art und Weise den Blick zu weiten für Diversität, die auch auf ihre eigene Art manchmal ganz konventionell ist. Die Natur legt es generell nicht auf Gleichmacherei an, sondern eher auf Diversität – Möglichkeiten, die ausgeschöpft werden können oder auch nicht. Wie sonst lässt sich die Artenvielfalt auf der Erde und Homosexualität im Tierreich erklären?

Süß an dieser Manga-Reihe sind nicht nur die Figuren, das Styling und die Extras, sondern auch die Gefühle der Hauptfiguren, wenn z.B. Mako völlig fertig sagt, sie müsse kurz nach Luft schnappen, weil an Megurus androgynem Freund einfach alles phantastisch aussieht.

Aber es werden auch ernste Themen angesprochen. Kira leidet darunter, außer Meguru keine Freunde zu haben, weil auch die Leute in der Modewelt ihn sofort für arrogant halten, obwohl er das gar nicht sein und niemanden verletzen will.

Fazit

Insgesamt gesehen ist es es tatsächlich vordergründig ein Romance-Feelgood-Manga wegen seines Humors und der stylischen Elemente. Im Hintergrund aber schwingen Themen wie eine stabile Liebesbeziehung, Freundschaften mit Menschen, die anders sind, hartes Arbeitsleben und das Leben in einer immer mehr technisierten und gläsernen Welt mit.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Ghostly Things 1

Übersinnliche Wahrnehmung

Oberschülerin Yachiho Takahara musste aufgrund ihres ständig abwesenden Vaters schon früh selbstständig werden. Wieder auf Forschungsreise hat dieser vorher für sich und seine Tochter ein Haus gekauft, das in der Umgebung als Geisterhaus verschrien ist. Yachiho merkt auch schon bald warum: In ihm wimmelt es von Natur- und anderen Geistern. Um sich in der Anderswelt besser zurecht zu finden und um ihre verschollene Mutter zu finden, stimmt sie zu, die Gehilfin des Grenzgeistes Moro zu werden. Außerdem sucht sie in dem Haus, das vorher einem Mann gehört hat, der ebenfalls Geister sehen konnte und zu ihnen geforscht hatte, nach der “Schrift des Totenreiches”. Denn auch diese Schrift könnte Hinweise zum Verbleib ihrer Mutter geben.

Mensch, Natur und Technik

Wie in Irland, aber auch in Deutschland, sind Geister und Naturwesen wesentlicher Bestandteil von Sagen und Mythen. So auch in Japan, das einen reichen Mythenschatz zu besitzen scheint. Und dieser wird auch gern für Mangas und Animes angezapft und verarbeitet. Man denke nur z.B. an Studio Ghiblis Animes “Prinzessin Mononoke” oder “Pompoko”, in denen es vorwiegend um den Streit zwischen den (technisierten) Menschen und der Natur geht. Auch dieser wird in dem vorliegenden Manga in Form des Herrn Kamo angesprochen. Er vertritt im Gegensatz zu Yachiho die Auffassung, dass man mit Naturgeistern nicht einträchtig zusammenleben kann. Er hält sie für gefährlich und v.a. will er deren Fähigkeiten kontrollieren und für die Technik zunutze machen. Seine Einstellung gegenüber Natur(geistern) ist feindselig, die von Yashiho offen und freundlich, obwohl sie sich auch fürchtet.

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Geschlechterverteilung. Die naturfreundliche Einstellung wird von der Frau vertreten, die naturfeindliche vom Mann. Bezieht man das auf die Literatur über Matriarchat und Patriarchat, so scheinen erstere mit der Natur und zweitere gegen die Natur zu leben. V.a. das Patriarchat hat eine Neigung dazu, die Natur unterordnen und beherrschen zu wollen, sich über die Natur zu erheben und sich von ihr unabhängig machen zu wollen – koste es, was es wolle. Im Manga wird das durch folgenden Dialog zwischen Herrn Kamo und Yashiho deutlich: “Du verstehst da offenbar etwas falsch! Naturgeister besitzen Kräfte, die den Menschenverstand übersteigen. Das sind keine Wesen, mit denen man einträchtig zusammenleben kann. Doch wenn man ihre Kräfte auf diese Weise kontrolliert, dann werden sie zu Werkzeugen, die mit großartigen Technologien ausgestattet sind.” (Kamo) “Naturgeister sind vielleicht furchteinflößend, aber das heißt doch nicht, dass man mit ihnen nicht auskommen kann. Bitte lassen Sie die beiden frei!” (Yashiho)

Yashiho ist hier vorbildhaft. Sie steht für das Gewissen, für die Verbundenheit mit der Natur, und sie stellt sich gegen eine Herrschermentalität, die keinen Raum für ein friedliches Miteinander lässt und deswegen Schaden in allen Bereichen anrichtet. Auch das wird im Manga weiter ausgeführt: Sehr behutsam lässt der Baumgeistlehrer sich seine kleinen Baumgeisterschützlinge in ihrem eigenen Tempo entwickeln und leitet sie an, anstatt sie mit Wissen vollzustopfen (man denke z.B. an die Montessouri-Pädagogik oder die des offenen Konzepts in Kitas) und schiebt deshalb seinen Tod auf, während Herr Kamo den Baumgeist, der sich vordergründig am langsamsten entwickelt, hintergründig aber eine Tiefe beweist, die den anderen noch fehlt, vorsätzlich mit seinem Schuh zertritt.

Da schwingt Kritik mit, wie der (patriarchale) Mensch mit der Natur umgeht, die die Heimat und nährende Mutter für alle Lebewesen ist – auch für den Menschen. Das lateinische “mater” für “Mutter” steckt wie auch “materies” für u.a. “Holz” in dem Begriff “Materie”…

Offen sein für Dinge, die die Wissenschaft (noch) nicht nachweisen kann

Ein weiteres Thema ist das des Mediums, das in der Lage ist, eine Welt wahrzunehmen, die für die meisten anderen verschlossen ist. Da kommen einen fernsehaffine Medien wie Ira Wolff, Theresa Caputo, Tyler (Hollywood-Medium) oder Thomas John in den Sinn – wobei man hier kritisch anmerken könnte, dass diese ihre Gabe (sofern tatsächlich vorhanden) hochpreisig verkaufen. Ich würde behaupten, dass bei Medien, die tatsächlich mit ihrer Umwelt verbunden sind, auch die Preise für jederfrau/-man erschwinglich sind.

Eine grundsätzliche Offenheit für ein Mehr als die Wissenschaft bisher bestätigen kann, ist aber wohl von Vorteil. Denn die Technik scheint bzgl. aller (Natur-)Phänomene hinterherzuhinken. Allerdings muss man sich hier (wie sonst auch) vor Scharlatanen hüten.

Der Manga greift das Thema Medium auf, aber auch die Angst solcher medial begabter Menschen vor einer Welt, die sie aus o.g. Gründen nicht zu verstehen gelernt haben. Auch Yashiho hat Angst, aber sie stellt sich ihrer Angst und ist bereit dazuzulernen.

Der spannende Manga ist der 1. Band einer Reihe, die von den gut auf den Inhalt abgestimmten Zeichnungen mehr verspricht.

Fazit

Die Themen der medialen Begabung und des Konflikts “(patriarchaler) Mensch versus Natur” werden im ersten Band der Reihe stimmig und spannend umgesetzt.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Die Tagesordnung

Desavouierendes Hohngelächter

Der französische Schriftsteller Éric Vuillard hat mit der Erzählung «Die Tagesordnung» den erzwungenen Anschluss Österreichs thematisiert, wobei er, wie schon in anderen seiner Werke, auch hier ein geschichtliches Ereignis und seine Folgen in extrem verknappter Form neu erzählt. Insoweit kann er als legitimer Nachfolger von Stefan Zweig angesehen werden, der dieses Genre mit seiner Sammlung «Sternstunden der Menschheit» äußerst erfolgreich kreiert hat. Im Unterschied zu ihm jedoch benutzt Vuillard nicht die strenge, auf ein ‹unerhörtes Ereignis› gerichtete Novellenform, er fächert seinen Stoff vielmehr deutlich weiter auf. Hier beginnend mit einem geheimen Treffen der deutschen Großindustriellen bei Göring am 20. Februar 1933 und endend bei der läppischen Entschädigungs-Zahlung Alfried Krupps an die Zwangsarbeiter 1958.

In den 16 Kapiteln der Erzählung entwickelt der Autor seine Version der historischen Ereignisse, indem er sie, fiktional ergänzt, aus einer ironischen Distanz schildert. Sein Schwerpunkt ist dabei die emotionale Ebene, die den oft lächerlich profanen Hintergrund bildet. «Die Literatur erlaubt alles», sagt Vuillard und macht sich in diesem Sinne, mit deutlich erkennbarer Wonne, gleich am Anfang über den Geldadel lustig. Vierundzwanzig Herren steigen im Treppenhaus eines pompösen Palais nach oben zu den Nazigrößen, die sie herbeigerufen haben und sie auch gleich abkassieren werden für den bevorstehenden Wahlkampf. «Demnach könnte ich sie endlos über die Penrose-Treppe schicken» macht der Autor sich über sie lustig, Geben und Nehmen liege ja dicht beieinander in Politik und Geldadel. Ähnlich spöttisch berichtet er auch über einen Besuch von Lord Halifax, entschiedener Verfechter der britischen Impeasement-Politik, bei Göring in der Schorfheide. Auch das demütigende Treffen Schuschniggs mit dem Führer auf dem Berghof wird in mehreren Kapiteln geschildert als Vorstufe zur längst beschlossenen Annektierung Österreichs. Ribbentropps Abschiedsbesuch in Downing Street ist eine ebenso amüsante Episode wie das mit ‹Blitzkrieg› überschriebene Kapitel des deutschen Einmarsches, der dann im blamablen ‹Panzerstau› am 12. März 1938 steckenblieb. Vor die Proklamation des Führers vom Balkon der Wiener Hofburg fügt der Autor noch ein Kapitel ein, in dem er das Theatralische der ‹großen Politik› durch ein riesiges Requisiten-Lager in Hollywood demonstriert, wo zeitgleich mit den Ereignissen bereits sämtliche Nazikostüme für Spielfilme verfügbar waren, Chaplin lässt grüßen! In den letzten beiden Kapiteln thematisiert er das Grauen, indem er von gleich vier Selbstmorden am Tag der Annexion berichtet. Am Ende schließlich holen den senilen Gustav Krupp die toten Zwangsarbeiter ein, die ihn in der Villa Hügel aus dem Dunkeln anklagend anstarren.

Diese 2017 mit dem Prix Goncourt prämierte Erzählung zeichnet sich durch eine irritierende Leichtigkeit aus, in der da ganz unbefangen über das mit Abstand Düsterste in der Menschheits-Geschichte berichtet wird. Sie erinnert damit entfernt auch an «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littel, ein aus der Täter-Perspektive erzählter französischer Holocaust-Roman, der, wen wundert’s, überaus kontrovers diskutiert wurde. Muss man nichtdeutscher Autor sein, um so unbeschwert und beiläufig über die Nazis erzählen zu können?

Wer bei Vuillard sauertöpfisch nach historischer Seriosität fragt, hat dessen Hintertreppen-Methode nicht verstanden. Es sei ihm um das Profane hinter den großen Ereignissen gegangen, um die grotesken Witzfiguren, die als historische Akteure so oft großspurig am Werke seien. Denn vieles erweist sich ja im Nachhinein tatsächlich als reine Farce, und genau das wiederholt sich auch noch ständig bis in die Gegenwart hinein, man denke nur an das Erstarken der Populisten in Europa. Insoweit ist es durchaus legitim, fragwürdige Politiker genüsslich zu desavouieren, sie also sarkastisch mit Hohn zu überschütten zur unverhohlenen Freude des Lesers.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Erzählung
Illustrated by Matthes & Seitz

Weine nicht

Holzschnittartige Erzählweise

Der Roman «Weine nicht» der französischen Schriftstellerin Lydie Salvayre hat den Spanischen Bürgerkrieg zum Thema. Als Tochter nach Frankreich geflüchteter Spanier erzählt sie in diesem 2014 mit dem Prix Goncourt prämierten Roman aus der anarchistischen Anfangsphase dieser brutalen Kämpfe im Sommer 1936, basierend auf den mündlichen Überlieferungen ihrer katalanischen Mutter. Eng verflochten in ihre Geschichte und häufig zitiert ist außerdem die von Georges Bernanos in seinem Buch «Die großen Friedhöfe unter dem Mond» sehr eindringlich geschilderte Verfolgung der Kommunisten auf Mallorca.

Die hochbetagte Mutter der Ich-Erzählerin berichtet im Jahre 2011 aus der einzigen Phase ihres langen Lebens, an die sie sich noch lebhaft erinnern kann. Als 15jähriges Mädchen hat Montserrat, genannt Montse, in einem hinterwäldlerischen katalanischen Dorf erlebt, wie plötzlich die Unruhen des beginnenden Bürgerkriegs auch dessen Bewohner erfasst haben. Ihr älterer Bruder José, der sich begeistert den Anarchisten anschließt, nimmt sie mit nach Barcelona, wo sich die verschiedensten politischen Kräfte versammeln und erste Milizen gebildet werden, um in den Krieg zu ziehen. Das einfältige Bauernmädchen ist überwältigt von der freiheitlichen, mondänen Welt, die sie in der großen Stadt wie ein Wunder ungläubig bestaunt, sie erlebt die intensivste Zeit ihres ganzen Lebens. Und sie lernt einen jungen Mann kennen, mit dem sie wie im Rausch die Nacht verbringt, bevor er am nächsten Morgen als Kriegsfreiwilliger zur Front abrückt, sie weiß nicht mal seinen Namen. José aber erkennt schon bald ernüchtert die Widersprüche und Unwahrheiten seiner Kampfgefährten und beschließt, nicht in den Krieg zu ziehen, sondern mit seiner Schwester in sein Dorf zurückzukehren. Montse jedoch ist schwanger, aber die Mutter verkuppelt sie flugs ausgerechnet mit Diego, der als Stalinist schärfster politischer Widersacher von José ist.

Durch die intensive Einbeziehung der Berichte von George Bernanos enthält dieser Roman eine scharfe antiklerikale Kritik, die unheilvolle Allianz der Franco-Anhänger mit dem Klerus verschlägt einem noch heute die Sprache. Man will es einfach nicht glauben, dass damals Kirchen-Vertreter die Opfer von Lynch-Aktionen der Falangisten vor dem Mord noch mit den Sterbe-Sakramenten versehen haben, um dann den in ihren Augen völlig gerechtfertigten Massakern im Namen Christi ungerührt beizuwohnen. Die Inquisition konnte kaum schlimmer gewesen sein. Erstaunlich ist, wie schnell das Aufbegehren der Kleinbauern gegen die scheinbar unverrückbaren Privilegien der Großgrund-Besitzer wieder abbricht. Man ist konservativ bis in die Knochen, auch was die prekäre eigene Rolle im sozialen Gefüge anbelangt. Eigentlich mag man ja gar keine Veränderungen, schon gar keine Revolution.

Dieser Roman wirkt formal ziemlich holzschnittartig mit seinen stark überzeichneten Figuren, derer bäuerlich einfältige Prägungen mit ihrer derben Ausdrucksweise zusammenpasst. Die wird dann immer wieder von den theologisch durchdrungenen Schriften eines Intellektuellen wie Georges Bernanos konterkariert. Die mündliche Rede schwankt permanent zwischen primitiver Grobheit und intellektuellem Feingefühl. Zusätzlich wechseln auch noch ständig die Erzähl-Perspektiven, was dann, nicht nur wegen der fehlenden Zeichensetzung, oft schwer durchschaubar wird. Da spricht einerseits ja die senile Mutter, also die mehr als neunzigjährige Montse, dann die ihr zuhörende und sie (in Klammern eingefügt) zuweilen korrigierende Tochter als Bericht-Erstatterin, und ferner auch noch der in langen, grafisch abgesetzten Zitaten ebenfalls mit einbezogene, katholizismus-kritische Schriftsteller mit seiner unverhohlenen Wut auf die bigotte Amtskirche. Störend sind zudem die vielen Einsprengsel in spanischer Sprache, die zwar im Glossar übersetzt werden, die aber den Lesefluss erheblich stören. Bleibt also als Benefit eine Geschichts-Stunde über den Spanischen Bürgerkrieg.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Blessing München

K-Pop Confidential

Der Traum, ein Star zu sein

“Candace kann singen – und zwar richtig gut. Nur weiß kaum jemand davon. Genauso wenig wie von ihrer Begeisterung für K-Pop. Heimlich nimmt die 15-Jährige an einem Casting teil – und ergattert prompt einen Trainee-Platz bei der weltgrößten K-Pop-Schmiede in Seoul. Eine Riesenchance!

Doch die Ausbildung ist hart, mit strengen Regeln und unerbittlichen Trainern, die Candance an ihre Grenzen bringen. Und als sie YoungBae kennenlernt, den sie wegen des strikten Dating-Verbotes eigentlich nicht treffen darf, beginnt sie zu zweifeln. Kann sie sich selbst treu bleiben und gleichzeitig ein K-Pop-Star werden?” (Inhaltsangabe des Verlags)

Unmenschlicher Drill

Die in sich abgeschlossene deutsche Erstausgabe hat es in sich, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Das Cover deutet es schon an: Das, was man in der Öffentlichkeit zu sehen bekommt, ist leichtfüßig und soll gute Laune verbreiten – damit die Kasse klingelt. Wie das Pink und helle Blau im Cover ist es aber nur ein Bruchstück dessen, was K-Pop ausmacht: Der größte Teil (im Cover dunkel bis schwarz) ist der harte Teil des Trainings eines Trainees und später des unter (Knebel-)Verträgen stehenden Pop-Stars, dem letztlich keine Rechte zugesprochen werden. Er gehört buchstäblich seinem Label und seinen Fans.

Die Trainingsmethoden kann man ungeschminkt als Folter bezeichnen: permanenter Schlaf- und Essensentzug sollen vordergründig fitte und schlanke Tänzer*innen hervorbringen, hintergründig sorgen sie aber durch den permanenten Hunger und die Erschöpfung für ein Verhalten, das Aufbegehren unmöglich macht. Ebenso das konsequente Anbrüllen und Entwerten der Trainees, das ihnen das Selbstbewusstsein rauben und sie zu widerstandslosen Puppen machen soll. Der Schlaf- und Essensentzug ist perfide und gesundheitsschädlich: Nur 4 Stunden Schlaf pro Nacht wird den Jugendlichen zugestanden! Den Rest des Tages (und der Nacht) verbringen sie mit Unterricht und stundenlangem harten Training. Und das angeblich gesunde Essen besteht (v.a. für die Mädchen) aus Ei und Süßkartoffeln zum Frühstück, in der harten Variante nur aus einer Süßkartoffel, weil gerade die Mädchen angeblich zu fett sind!

Das muss man sich mal vorstellen: Die sich im Wachstum befindlichen Jugendlichen (v.a. die Mädchen, die sich entwickeln und ihre Periode bekommen) verhungern wegen Mangelernährung vor aller Augen bei den wenigen Kalorien, die sie zu sich nehmen dürfen und die sofort durch das extrem harte Training wieder verbraucht werden! Die Jungen werden zwar auch nicht mit Samthandschuhen angefasst, scheinen aber trotzdem mehr Privilegien zu genießen als die Mädchen. Diskiminierung ist anscheinend Alltag in der K-Pop-Schmiede. Der Psychoterror, dem die Trainees permanent unterliegen, tut sein Übriges zu der alles andere als gesunden Arbeitsatmosphäre, bei der jedes Menschen- und Kinderrecht, allen voran das der Würde, gebrochen wird. Mir kamen beim Lesen unwillkürlich Vergleiche mit den Arbeitslagern der diversen Ideologien.

Dazu ein paar Zitate aus dem Buch:

“Obwohl ich in meiner ersten Woche bestimmt nicht mehr als drei Stunden pro Nacht geschlafen habe, kann ich eigentlich nicht behaupten, dass ich müde bin. Ein Gefühl der Panik versetzt mich ständig in höchste Alarmbereitschaft.”

“Mr Choi gibt uns das Gefühl, Puppen zu sein, mit denen er spielt.”

“Ich fühle mich so beurteilt. Grelle, heiße Scheinwerfer sind auf mich gerichtet, ein berühmter Modefotograf verweist auf meine Makel, mustert jede meiner Bewegungen und Gesichtsausdrücke. Keines der anderen Mädchen macht den Mund auf und Managerin Kong ebensowenig: Sie tippt auf ihrem Handy herum. Doch der Hauptgrund: Ich bin verdammt hungrig und erschöpft. Diese ganze Schönheitssession hat so lange gedauert, dass wir Mittag- und Abendessen haben ausfallen lassen, und ich bin kurz davor umzukippen.”

“Niemals würde sie sich anmerken lassen, dass ihr vom vielen Bleichen die Kopfhaut brennt, ihr von den Kontaktlinsen die Augen jucken und sie unter den vielen Schichten ‘Natural Look’-K-Beauty-Makeup aussieht, als hätte sie seit Wochen nicht geschlafen – denn das hat sie nicht.”

“Dann dämmert es mir: K-Pop ist kein bisschen anders als Hollywood; es ist immer die Frau, die die Konsequenzen tragen muss. One.Js Namen wird nicht von Hatern skandiert, aber QueenGirl musste sich auflösen. Für HyunTaek und RubiKon läuft alles weiter wie bisher, während Iseuls Kariere ruiniert ist und WooWee nur verzweifelte Versuche unternehmen kann, um zu überleben.”

Erinnern an die Menschenrechte

Candace’ Mutter, von der ihre Tochter anfangs wenig hält, die sich aber im Laufe des Romans als starke Frau entpuppt, gibt ihr die entscheidenen Worte mit auf den Weg:

“Wenn dich hier irgendjemand schikaniert oder verletzt, dann finde bitte einen Weg, es mir zu sagen.”

“Vergewissere dich, dass sie dich wie jemanden behandeln, der das Wichtigste in jemandes Leben ist. Denn das bist du.”

Daran hält sich Candace. Sie beobachtet das Ganze, macht es bis zu einen gewissen Grad auch mit, bis sie erkennt, dass man  andere Menschen so nicht behandeln darf und beschließt, ein solch menschenverachtendes System nicht mehr zu stützen. Damit ist sie Vorbild, um den Teufelskreislauf der “Hoffnungsfolter” (Hwemang Gomun) zu durchbrechen. Dieser Begriff meint, “dass die Hoffnung auf Erfolg aufrecht erhalten wird, einem aber immer mehr und mehr abverlangt wird, und man am Ende dennoch nicht weiß, ob man sein Ziel erreicht.” Auf dieser Hoffnungsfolter gründet das ganze ausbeuterische System der K-Pop-Industrie, das der Roman wunderbar offenlegt.

Durch die Figur von Candace verfolgen die Leser*innen bis ins Detail, wie die menschenverachtende K-Pop-Maschinerie funktioniert, wie sie am Laufen gehalten wird  – und wie sie gebrochen werden kann. Denn auch die Fans sind Teil der Maschinerie, die das System am Laufen halten.

Fazit

Der Verdienst dieses Buches: Es macht den dunklen Sumpf, die üblen Missstände (im Buch bildlich dargestellt durch die von der Außenwelt abgesperrte Trainee-Etage, die einem trostlosen Bunker gleicht) sichtbar, dem die Trainees und Idole (v.a  die weiblichen) permanent hilflos ausgesetzt sind. Die Hauptfigur Candace macht es vor, wie man sich verhalten sollte, wenn einem alle Rechte geraubt werden: Sie begehrt dagegen auf, prangert in aller Öffentlichkeit die Missstände an und steigt genauso öffentlichkeitswirksam aus.  Sie nutzt ihre Beliebtheit, die sie sich schon erworben hat, um für Menschlichkeit zu kämpfen. Candace’ Mutter ist ebenso mutig: Sie stellt sich wie eine kampfbereite Bärin vor ihre Tochter, als der wütende CEO ihr an den Kragen will. Die Branche verhält sich gegenüber Frauen und Mädchen diskriminierend und im Buch sind es (wie im wahren Leben) die Frauen, die Stärke beweisen.


Genre: Jugendroman
Illustrated by Carlsen Hamburg

Bauern, Land: Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang

Der Untertitel des Buches Bauern, Land: Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang von Uta Ruge verspricht viel, aber, um es gleich zu sagen, nach der Lektüre der 470 Seiten weiß ich wirklich mehr über Land, Leute und globale Zusammenhänge in der Landwirtschaft. Es gibt auch ein Glossar.

Uta Ruge wurde als Tochter eines gut bestellten Bauern auf Rügen geboren, die Familie floh, als die Höfe zu LPGs vergesellschaftet wurden. So bald wie möglich bewarb sich der Vater um einen freiwerdenden Hof in der Nähe der Nordsee und wurde Moorbauer. Es wird detailliert vom Aufwachsen auf dem Lande gesprochen, von langen Arbeitstagen und von Armut bei den Bauern. Zu den Berichten aus ihrer Kindheit heißt es im Klappentext: „Aber auch davon, wie man sich gegenseitig unterstützt und hilft und zusammen feiert, von dem Eifer der kleinen Kinder, die den Eltern zur Hand gehen und lernen, dass gegen Arbeit nichts hilft, außer sie zu tun.“

Dazwischen gibt es zeitgenössische Texte von den Zeiten, als Ackerland mühselig der Natur abgerungen wurde, in denen manche Bauern Leibeigene waren. Einzelschicksale aus allen Jahrhunderten werden dargestellt. Es gibt nicht nur Dokumente, auch Goethe kommt zu Wort. Und dazu gibt es eine Zitierweise, so als wäre dies eine wissenschaftliche Arbeit.

Der Aufbau ist so: nach einigen Kapiteln Erfahrungen kommen historische Details. Hier macht Geschichte Spaß: In der Schule hatte ich einen langweiligen Unterricht; es ging um Männer und Zahlen, hier geht es um Menschen und Zusammenhänge, also: wie sie lebten.

Nach etlichen Kapiteln im Wechsel zwischen Erfahrungen und Historie kommt ein „Zwischenspiel“, es werden vier: Mit ihrem Freund Krischan, der mit ihr aufgewachsen war, trifft sie sich und sie besprechen, wie die jeweiligen Epochen die Kunst prägten. Für Kunstausstellungen ist ihnen kein Weg zu weit und wir erfahren, dass auf Brueghels Bildern die Gemetzel der Kriegszeiten, in denen er lebte, zu erkennen sind. Am meisten beeindruckt sie Van Gogh, dessen Bilder muss ich mir daraufhin nun nochmal angucken …

Bruder Waldemar hat den väterlichen Hof geerbt, obwohl er jünger ist, ein bisschen gewurmt hat sie das schon, aber dafür hat und hatte sie ein bunteres Leben. Waldemar bewirtschaftet den Hof mit Anna und Sohn Hannes. Uta Ruge fährt mehrmals im Jahr hin und verfolgt so die Entwicklung. Natürlich führen verschiedene Lebensentwürfe zu  Wahrnehmungsunterschieden zwischen Städtern und Landwirten etwa zum Vermaisierungs-oder zum Wolfsblick.

Als Städterin und Leserin grün/ökologischer Schriften bin ich (die Rezensentin) gut informiert, wie wichtig die Rückkehr der Wölfe auf deutschen Landen wäre. Und dass Geschädigte Ausgleichzahlungen erhalten. Nun weiß ich, aus Gesprächen, die Frau Ruge mit Betroffenen führte, dass Bauern es anders sehen: Sie müssen Zäune errichten, dann beweisen (mit DNA Analysen), dass das gerissene Tier nicht etwa vom bäuerlichen Hofhund angegriffen wurde, und nur wenn der Zaun hoch genug ist, gäbe es Zahlungen. Zunehmend werden nicht nur Schafe und Ziegen, sondern auch Rinder gerissen, für sie wird es bald keine Weidehaltung mehr geben.

Zurück in die Vergangenheit: Eine weitere gute Quelle sind Jahresberichte der Dorflehrer, die über Jahrhunderte gesammelt wurden. Anfangs hielten die Bauern, so wie Krischans Vater, Lesen für Zeitverschwendung. Während des 2. Weltkriegs wurde die Schule geschlossen, und danach, als viele Flüchtlinge in den Dörfern untergebracht wurden, zeitweise über 60 Personen, gibt es als Beruf der Mütter: Witwe, oder auch Flüchtling. Irgendwann gibt es keine Chroniken mehr, 1957 hört der Lehrer auf, in dem Jahr, als es den ersten Trecker gab. Und dann wird auch die Zwergschule aufgelöst und die Kinder werden mit Bussen zur Schule gefahren, manche von weit her.

Wir lesen von den Reformen vergangener Zeiten, auch gescheiterten, etwa von den Bauernkriegen, bei denen Martin Luther auffordert, Bauern totzuschlagen „wie einen tollen Hund.“ Erstmalig habe ich verstanden, dass die napoleonische Besetzung obskure Macht- und Abhängigkeitsstrukturen der Bauern beendet hatte. Oder dass es Albrecht Philipp Thaer war, der in Preußen in Ansätzen die Landwirtschaft auf wissenschaftliche Basis gestellt hatte, die auch Reformen im russischen Zarenreich beeinflusst hatten. Auch was unter Lenin für Bauern geschah und wie Stalin das wieder zunichte gemacht hatte. Nicht so unbekannt waren mir die Weizenfelder im Mittleren Westen der USA, deren Ackerboden so ausgelaugt war, dass die Erde wegwehte und es zum Dustbowl wurde.

Nicht immer ist es mit diesen Plänen für größere Betriebe und großen Maschinenparks gelungen, die Erträge zu erhöhen, auf den Prärien im Midwest werden jetzt wieder Büffel eingeführt, in Russland ist der Aralsee versandet, mit dessen Wasser bewässert worden war.

Auch die GAP (Gemeinsame Europäische Agrarpolitik) versucht, Landwirtschaft möglichst groß zu machen, wir lesen über Sicco Mansholt, der sie betrieben hatte, später erkannte er, dass kleinere Betriebe eher eine Zukunft hätten.

Das 48. Kapitel 1970er Jahre
Mansholt ist gegen seinen eigenen Plan.
Die Bauern werden weniger, die Kühe mehr

ist das Ahaerlebnis: Nachdem Mansholt auf Steigerung der Produktion landwirtschaftlicher Produkte gedrängt hatte, gab es nun subventionierte Überproduktionen (Butterberg), die Mansholt von nun an verhindern wollte. Seine Vorschläge wurden verwässert, eine Zeit lang gab es Quoten, inzwischen müssen auch EU-Bauern versuchen, zu Weltmarktpreisen zu produzieren. Denn nur die zahlen die Lebensmittelketten.

Heute kann nur der Bauer überleben, der sich die neuesten Geräte anschafft, wahrscheinlich auf Kredit. Googeln Sie mal Melkroboter! Damit kann man etwa 60 Kühe täglich zweimal melken. Preis für neue auf Anfrage, ein fünf Jahre alter bringt es immerhin auf fast €140 000. Und das mit Erzeugerpreisen für Milchbauern, die schwanken, aber nie die 30 Cent pro Liter erreichen, die nach Hannes‘ Meinung den Bauern Sicherheit brächten.

Während ca. 100 Kühe, so wie Hannes sie hält, vor 10 Jahren noch ein Großbetrieb gewesen wären, spricht man heute von Großbetrieb bei mindestens 500 Kühen, die zweimal am Tage vier Stunden lang gemolken werden. Im Beispiel von rumänischen Gastarbeitern, die inzwischen ihre eigenen Stiefel und Schürzen bringen müssen, da sie sie gerne mitgenommen hätten, das wäre dem Besitzer zu teuer gekommen …

Beim letzten Zwischenspiel geht sie mit Krischan in die Domäne Dahlem, wo Städtern und vor allem deren Kindern gezeigt wird, wie schön es auf dem Land sein kann. In einem Saal, gesponsert von Lebensmittelkonzernen (!), erfahren sie, wie schön die Lebensmittel im Laden aussehen. Von den Mühen der Arbeit, oder auch nur von leidenden Tieren ist nichts zu sehen …

Wie sähe der Traummilchbauernhof aus, der nachhaltig Zufriedenheit schaffte? Frau Ruge und Krischan denken an etwa 50 Kühe, die könnte man ohne Hilfskräfte und ohne sich zu erschöpfen, als Bauernfamilie betreiben, wenn dann der Milchpreis stimmte.

Ich würde gerne mal zu so einem Zwischenspiel mitkommen, selbst wenn ich nichts sagen dürfte, nur Zuhören wäre sicher interessant …


Genre: Landwirtschaft, Politik und Gesellschaft, Umwelt
Illustrated by Verlag Antje Kunstmann

James Bond. 100 Seiten

25 James Bond wurden bisher abgedreht. Einer davon dem Publikum noch nicht gezeigt. Die Pandemie sorgte schon für eine zweimalige Verschiebung. Um das Warten auf die Veröffentlichung so angenehm wie möglich zu machen, hat der Reclam Verlag vorliegende 100 Seiten Fibel zum Agenten im Geheimauftrag seiner Majestät auflegen lassen. Der Autor, Wieland Schwanebeck, ist anglistischer Literatur- und Kulturwissenschaftler an der TU Dresden und lehrt und forscht u.a. zu Männlichkeit, Hochstapelei, Humor und britischer Filmgeschichte.

Skyfall und Fireball

Willing Suspension of Disbelief” nennt sich die Formel von Samuel Taylor Coleridge, der sich jeder Bond-Fan freiwillig ausliefert, denn nur wer seine Skepsis zurücksteckt wird den vollen Genuss haben. Die von Ian Fleming erfundene Kunstfigur bestreitet teilweise ja haarsträubende Abenteuer, das tut seiner Beliebtheit aber keinen Abbruch. Sogar ein literaturwissenschaftliches Prinzip komme bei Bond zur Anwendung: Tschechows Gewehr. Wenn im 1. Akt ein Gewehr über dem Kamin hängt, wird es spätestens im 3. Akt abgefeuert werden. Was aber nicht bedeutet, dass jeder Bond vorhersehbar wäre. Er folgt nur einer bestimmten Formel. Als größter bisheriger Bond-Blockbuster führt übrigens Daniel Craig die Liste mit „Skyfall“ (2012) an, gefolgt von „Fireball“ (1965) und „Spectre“ (2015). Was uns zu den Bond-Darstellern führt, die allesamt ja schon bekannt sein dürften. Neben dem eben Genannten und – wider Erwarten – wohl Erfolgreichsten waren dies Barry Nelson, Sean Connery, George Lazenby, Roger Moore, Pierce Brosnan, Timothy Dalton. Schwanebeck erzählt von jedem dieser Bonds die Höhe- und Tiefpunkte und verrät einige der bestgehüteten Geheimnisse von 007.

Eye-Candy oder doch Kunst?

Eine Liste aller kuriosen Premieren und Momente in der Bond-Reihe hat Schwanebeck ebenso unter seinen Text gemischt, wie viele weitere andere interessante Infografiken. Dass Bond auch etwas von dem antiken Helden Odysseus hat und Moneypenny seine Penelope sein könnte ist aber nur eine von vielen Erklärungen seines Erfolgs. Die Bond-Formel ist in jedem Fall ohnehin unverwüstlich. Der Autor bezeichnet sie auch als Baukastenprinzip. „Die Bond-Filme müssen nämlich nicht nur das Kunststück vollbringen, eine zumeist vorhersehbare Geschichte auf spannende Art und Weise zu erzählen, sondern auch noch den Markenfimmel der literarischen Vorlagen in eine malerische Galerie der Schauplätze und Luxusgüter übersetzen“, Eye Candy würden das die Anglophilen nennen, also „Naschkram fürs Auge“, wie der Übersetzer es nennt. Was uns dann auch zum vermittelten Frauenbild der Bonds bringt, denn bis Eva Green als Vesper Lynd, gab es noch keine wirklich starke Frau in einem Bond, die nicht den herkömmlichen Frauenidealen (Stichwort: Eye-Candy) entsprach. Ganz zu schweigen vom vermittelten Rassismus natürlich.

Aber auch James Bond hat sich mit den Jahren verändert. Bald schon wird ohnehin der neue Bond erscheinen. Sein Titel: No time to die. Bis dahin haben wir aber wohl noch More time to die, wie Spötter schon bei der zweiten Verschiebung verlauten ließen.

Wieland Schwanebeck

James Bond. 100 Seiten

Broschiert. Format 11,4 x 17 cm

100 S. 15 Abb. und Infografiken

ISBN: 978-3-15-020577-8

10,00 €

Reclam  Verlag


Genre: Krimi, Thriller
Illustrated by Reclam Verlag

Stilles Venedig

Stilles Venedig. Ein seltenes Privileg wurde den beiden französischen Publizisten Luc und Danielle Carton, die seit 2005 in der Serenissima leben, zuteil. Sie erlebten die schönste Stadt der Welt ohne Touristen. Und beinahe auch ohne Bewohner.

Venedig: Fotos wie Illusionen

Während der Ausgangsbeschränkungen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie im März, April und Mai 2020 war Venedig wie viele andere Städte menschenleer. Vermutlich das erste Mal in seiner langen Geschichte, die 2021 übrigens mit der 1600 Jahr Feier gewürdigt wird. Luc und Danielle Carton haben die Stadt in ihren Sestieri (Sechstel) besucht und bei langen Spaziergängen und einem herrlichen Licht für die Nachwelt festgehalten. Denn eines ist klar: dass man Venedig einmal so menschenleer sieht, das würde einem später, in der Zukunft, niemand mehr glauben. Die Fotografien, die sie in vorliegender Ausgabe im Format 21.5 x 28 cm mit ihren Leserinnen und Lesern teilen, sind für die Ewigkeit. Das Licht ist so wie es an einem Frühlingstag nur in Venedig sein kann: strahlend blauer Himmel und starke Konturen bei den Gebäuden, die das Dreidimensionale sogar noch betonen und scheinbar extra stark (aus dem Wasser) hervorholen. Venedig war ja schon seit jeher eine Augenweide, aber in vorliegendem Fotoband betritt man einen Märchenpalast, dessen einzig der Himmel würdig ist ein Dach zu geben.

Momente des Glücks im Stillen Venedig

Die Ausflüge führen uns also nach San Marco, Dorsoduro, Santa Croce, San Polo, Castello und Cannareggio. Die Giudecca, die zu Dorsoduro gehört, aber auch andere Inseln wurden allerdings ausgelassen, das heißt es geht wirklich ausschließlich um das, was Venedig ausmacht. „Wertvolle Momente des Glücks“, schreiben die beiden in ihrem Vorwort, „in denen das Unmögliche und das Unvorstellbare Wirklichkeit wurden: Venedig ganz für sich allein sehen und haben, wie in unseren verrücktesten Träumen. Venedig, wie wir es uns nie vorzustellen gewagt hätten“. Wer Venedig also schon länger einmal besuchen wollte, der kann es während der Pandemie mit vorliegendem Bildband tun. Denn so viel Venedig war noch nie in einem Venedig-Buch, schließlich sieht man auf den Bildern ausschließlich Gebäude und das Wasser, keine Menschen oder Tiere und vor allem keine einzige Taube. Venedig – wie Sie es noch nie gesehen haben! Eine einzigartige Reportage.

Luc & Danielle Carton

Stilles Venedig

2021, Hardcover, 192 Seiten, Maße: 21.5 x 28 cm

ISBN: 978-2-36195-485-7

€ 35,00 [D] € 36,00 [A] 47.90 CHF

Jonglez Verlag


Genre: Städte
Illustrated by Jonglez Verlag

DAVE

In ihrem zweiten Roman «DAVE» entwickelt die österreichische Schriftstellerin Raphaela Edelbauer eine verstörende Dystopie, bei der es um Künstliche Intelligenz geht. Die gigantisch angewachsene Menschheit erhofft sich mit Hilfe eines Supercomputers, der technisch alles Dagewesene bei weitem übertrifft, den selbst verursachten Zusammenbruch aller Lebens-Grundlagen zu überwinden. Was diesen Roman aus der Masse von Science-Fiction heraushebt, ist eine in jeder Hinsicht eigenwillige, alle narrativen Konventionen sprengende Sprache, in der da erzählt wird. Damit wird eine hohe Hürde aufgebaut, an der viele Leser scheitern dürften.

DAVE also soll’s richten, und zwar mit Hilfe der KI. Tausende von Nerds schuften in einem streng von der verwüsteten Außenwelt abgeschirmten Entwicklungs-Zentrum wie Sklaven. Auch Syz, 28jähriger Ich-Erzähler der Geschichte, produziert als kleines Rädchen im Getriebe Scripts am laufenden Band. Er schläft nur wenige Stunden, den Rest seiner Zeit sitzt er vor dem Computer. Oder redet mit seinen Freunden, und zwar immer wieder nur über technologische Probleme. In dieser elitären Denkfabrik nun bildet DAVE den Mittelpunkt, eine gottähnliche Maschine, die demnächst den Menschen an Intelligenz weit übertreffen wird und in ihrer Allmacht alles steuern kann, sogar bis tief ins Universum hinein. Man ist in einer Entwicklungsphase angelangt, wo die noch vorhandene Limitierung des Superhirns durch das Einspeisen von menschlichen Emotionen überwunden werden soll. Die muss DAVE sich nach und nach in einem Selbstlern-Prozess einverleiben, um nach diesem Muster sein eigenes Bewusstsein zu entwickeln. Und Syz ist der Auserwählte, dessen Ego in diesen Computer integriert werden soll. Er berichtet nun in endlosen Nacht-Sitzungen von seinen Erfahrungen, Erlebnissen, Ängsten, Empfindungen, – quasi von allem, was mit dem Menschsein korreliert, und all das wird der Maschine unentwegt einprogrammiert. Es gibt aber zwei Störfälle, die das Ganze ins Wanken bringen. Syz verliebt sich, was in dieser aberwitzigen Techno-Welt nicht vorgesehen ist, und ihm kommen Zweifel an den Hintergründen für das gigantische Projekt und an seinen unbekannten Nutznießern.

Die Autorin baut viele existenzielle Fragen ein in ihre surreale Geschichte, sie arbeitet mit literarischen Verweisen, es gibt aber auch diverse popkulturelle Anspielungen, die allenfalls Eingeweihte verstehen. Besonders krass stürmt das gleich am Anfang auf den Leser ein, er wird mit Neologismen, absurdem Fachjargon und akademisch abgehobenem Vokabular regelrecht zugeschüttet, alles völlig sinnfrei. Die narrative Form des unzuverlässigen Erzählers trägt zusätzlich zur Verwirrung bei, es ist eiserner Wille erforderlich, um da weiter durchzuhalten. Denn auch eine Handlung, die einen gewissen Lesesog erzeugen könnte, ist nicht mal ansatzweise vorhanden. In dieser durchgeknallten Nerd-Welt begegnet man fast ausnahmslos zombiehaften Figuren, die keinerlei Empathie zu wecken vermögen mit ihrem an Roboter erinnernden Habitus. Überlagert ist dem allen eine Tristesse, die in einer allmächtigen digitalen Klassengesellschaft begründet ist, deren diktatorischen Triebkräften der Romanheld irgendwann nicht mehr traut.

Raphaela Edelbauer, die in Wien Sprachkunst studiert hat, arbeitete mehr als zehn Jahre an diesem Roman, wie sie im Interview erklärt hat, zweimal habe sie ihn umgeschrieben. Bei ihr sind dann auch schon mal «belatzhoste» Arbeiter am Werke, für Sprachkunst ja durchaus exemplarisch! Was da als Science-Fiction geboten wird, überwindet nicht nur mühelos die Grenzen von Zeit und Raum, sondern auch die der Erzählinstanzen, man ist immer wieder im Zweifel, ob da noch ein Erzähler spricht oder schon der Computer selbst. Denn bald, wird behauptet, könnten ja die Computer schon ganze Romane schreiben. Spätestens dann aber muss ich mir ein neues Steckenpferd suchen, die Literatur also an den Nagel hängen und eine Computersprache lernen, – zum Beispiel.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Artgerechte Ernährung – Das Kochbuch

Artgerechte Ernährung Kochbuch

Essen als Medizin

Ernährungs-Doc Dr. Matthias Riedl schreibt (nach jahrzentelanger Erfahrung und auf zahlreiche Studien gestützt), dass “die meisten Krankheiten verhindert, gelindert oder geheilt werden können, wenn wir die Ernährung als Schlüsselelement in der Therapie begreifen. In dem Moment, in dem sie artgerecht und auf die Bedürfnisse unseres Stoffwechsels angepasst sind, wird unser Essen zur Medizin[…] Es lohnt sich! Selbst im mittleren Alter können durchaus 10-15 Jahre längeres Leben im besseren Gesundheitszustand für Sie hinzukommen.”

Falsche Ernährung begreift er nach Hippokrates als Hauptursache von Krankheiten. Fast jede*r dritte Deutsche sei zu dick. Fast 80% aller Krankheiten seien durch ein Verhalten erworben, dass den Bedürfnissen des  Stoffwechsels widerspricht. Bei Krebs seien es schon fast 40%. Industriegefertigte Nahrung ist mit den Suchtstoffen Zucker und Salz viel zu stark versetzt. Zu viele ungünstige Fette und Zusatzstoffe machen die Sache nicht besser, ebenso das Snacken von Ungesundem, Diäten mit Jojo-Effekt, Bewegungsmangel und vieles Sitzen. Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bestimmte Krebserkrankungen sind die Folge.

Empfohlene Maßnahmen:

  • (Grobe) Orientierung am BMI
  • sichere Eigendiagnose: Bauchumfang und Hüftumfang
  • Lernen von den gesündesten Ländern der Welt (hochwertige Lebensmittel, darmfreundliches Essen, wenig Fleisch am besten von Weidetieren, gesunde Fette, gemüsereiches Essen, viel Bewegung, Fisch aus nachhaltigem Fang, Bildung, saubere Umwelt, gemeinsame Mahlzeiten, bestens ausgestattetes Gesundheitssystem…)
  • “Die Grundlage aller Mahlzeiten bilden neben viel gesunden Ölen überall Gemüse und eher zuckerarmes Obst mit einer geringen Energiedichte, dafür aber einer hohen Nährstoffdichte.” => Beurteilung von Lebensmitteln nach ihrer Wirkung auf den Blutzuckerspiegel
  • langsam und genussvoll essen => Sättigungsgefühl nach ca. 20 Minuten
  • viel Wasser trinken
  • Grundregel Kohlenhydrate: “Gemüse muss, Kartoffeln und Co. können gegessen werden, denn sie sind zum Verbrennen da. Wer sich also wenig bewegt, braucht sie nicht, denn Gemüse, Obst und sogar Fleisch enthalten genug Kohlenhydrate.”
  • regelmäßige Entspannung
  • Hülsenfrüchte als Grundnahrungsmittel

Das Buch bietet viele weitere Tipps und Zusatzinfos zum gesunden Essen.

 

Infoteil und Kochbuch

Das Buch ist aufgeteilt in einen Informationsteil, in dem der Autor ausgehend von seinem anderen Buch “Artgerechte Ernährung”, das die vorgestellten Tipps ausführlicher behandelt, Ursachen und Krankheitsbilder erklärt und wie man ihnen mit einer gesunden Lebensweise und v.a. gesundem Essen entgegenwirkt oder schon vorhandene Krankheiten abmildert.  Der Infoteil ist aufgrund des schon erschienenen Buches kurz gehalten, vemittelt aber trotzdem anschaulich und verständlich die wichtigsten Ernährungsfallen und Ernährungstipps.

Mir kam beim Lesen des Buches immer wieder der Gedanke, den evtl. auch andere Haustierbesitzer*innen haben: Es gibt so viele Tipps für die artgerechte Haltung und Ernährung unserer Haustiere, aber wir selbst halten uns aufgrund von Bequemlichkeit oder Zeitmangel selbst wenig an unsere eigene artgerechte Ernährung… Andererseits machen viele das nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht können. Zeitmangel, Erschöpfung wegen Überlastung, wenig Geld und damit der Griff zum günstigen “Dosenfutter” oder der Gang zur mittäglichen Kantine (weil keine Zeit, in der halbstündigen Mittagspause zu kochen) torpedieren gesundes Essen nachhaltig.

Trotzdem gilt: Essen kann nicht nur krank, sondern auch gesund machen.

Der Rezepteteil nimmt den größten Umfang des Buches ein. Er ist aufgegliedert in “Artgerecht frühstücken”, “Artgerechte Hauptgerichte”, “Artgerechte Desserts und Snacks” und “Artgerecht trinken”. Die Rezepte enthalten immer Infos zum heilenden Gehalt bestimmter Zutaten. Die Rezepte sehen schmackhaft aus, für mich sind sie es im Großen und Ganzen auch (allerdings bin ich auch offen für Neues), meinem 9-jährigen Sohn schmecken sie eher nicht. Da habe ich zum Glück andere gesunde Rezepte, die ihm eher munden. Familiengerechte Rezepte, die auch Kindern schmecken, wären für dieses Buch empfehlenswert.

Um ehrlich zu sein müsste sich jemand, der bisher v.a. von Fertigessen und Fast Food gelebt hat, radikal umstellen, auch von seinen Geschmacksnerven her. D.h. es gibt eine Gewöhnungsphase an das neue Essen, die erst einmal durchgehalten werden muss. Ich persönlich würde empfehlen, das alte mit dem neuen Essen übergangsweise zu vermischen und immer mehr auf gesunde Alternativen umzusteigen, um den Übergang sanfter zu gestalten. Es gibt auch andere Kochbücher und Kochkurse für gesundes und schmackhaftes Essen, die einem vielleicht mehr zusagen.

Die Rezepte selbst sind ausgelegt für 2 Personen, wobei große Leute wie ich schon fast das 2-Personen-Rezept allein packen. Die Zubereitungszeit ist etwas optimistisch, man sollte schon ein paar Minuten mehr dazurechnen, denn die Zutaten müssen erst einmal rausgesucht und geschnitten werden. Natürlich wird bio empfohlen; wer es sich leisten kann, sollte auch bio kaufen. Da liegt aber wieder der Hund begraben: Für die Menschen, die es wohl am meisten betrifft, ist gesundes Essen nicht gerade günstig…

 

Fazit

Übersichtliches, anschauliches, informatives Buch mit zwei Teilen: Infoteil und Rezepteteil, wobei Letzteres den Großteil des Buches ausmacht. Die Rezepte sind Geschmackssache. Eine gewisse Offenheit für neue Geschmackserlebnisse wird vorausgesetzt, ebenso wie ein Geldbeutel, der sich die Zutaten leisten kann, und die Zeit, die man zum Kochen benötigt.

Hauptbotschaft: Essen kann nicht nur krank machen, sondern auch heilen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das stimmt. Von daher ist ein Umstieg auf gesunde Ernährung und das Wissen dazu, das auch in diesem Buch vermittelt wird, in jedem Fall empfehlenswert.


Illustrated by Weltbild