Utopia

Triumph der Vernunft

Das unter dem Namen «Utopia» publizierte Buch von Thomas Morus weist bereits im Titel auf seinen satirischen Charakter hin, ein im Englischen homophones Sprachspiel um die griechischen Begriffe Outopia und Eutopia, deutsch ‹Nichtort› und ‹Glücksort›. Das im Original auf Latein verfasste Werk wurde auf Betreiben seines Freundes Erasmus von Rotterdam erstmals 1516 in den Niederlanden herausgegeben. Morus hatte bei ihm während einer diplomatischen Mission mehrere Wochen als Gast gewohnt und bei dieser Gelegenheit den entscheidenden Teil dieses Werkes geschrieben, das den thematisch zentralen Reisebericht umfasst, hin zu jener unbekannten, wundersamen Insel.

Mit dem später entstandenen ersten Teil fügte der Autor trickreich eine Rahmengeschichte hinzu, in der er in persona als Gesprächspartner eines Seefahrers namens Hythlodeus auftritt. Der erzählt von seinen weiten Reisen und schwärmt insbesondere von der unbekannten Insel Utopia, die südlich des Äquators liege. Morus nimmt dabei, aus gutem Grund, nur die Rolle eines kritischen Gesprächspartners ein, der aus reiner Höflichkeit dem euphorischen Lobgesang nicht widerspricht. Die staatskritische Thematik seines Buches nämlich war sehr gefährlich, er musste deswegen offenbar literarisch deutliche Merkmale einbauen, um das Fiktionale des Ganzen zu betonen. Denn wie sich später zeigte, wurde er als Lordkanzler unter Heinrich VIII wegen Aufmüpfigkeit ja kurzerhand zum Tode verurteilt, – Rübe ab, schon war er Märtyrer, so schnell ging das! Seine vorsorglich manifestierte, ironische Distanz drückt sich bereits im Namen des Seemannes aus, der übersetzt ‹Possenreiter› bedeutet. Andererseits ist Thomas Morus aber auch neugierig und bedeutet Hythlodeus, ihm die gesamte Geschichte von seinem fünfjährigen Aufenthalt in Utopia zu erzählen. Mit seinem ausführlichen Bericht, der den zweiten Teil dieses satirischen Romans bildet, kommt der ‹Possenreiter› diesem Wunsch erkennbar gerne nach.

Geschildert wird ein idealtypisches Staatsgebilde, das man als basisdemokratisch organisierten Kommunismus freier Bürger bezeichnen könnte. Der ganz ohne Geld auskommt, in dem alles allen gehört und jeder gerechterweise das zugeteilt bekommt, was er benötigt. Es gibt also kein Eigentum, aber auch keine Privilegien, alle herausgehobenen Ämter werden, nach einem Rotationsprinzip ständig wechselnd, nur auf Zeit verliehen. Alle arbeiten als Bauern oder Handwerker sechs Stunden am Tag, werden gemeinsam verpflegt und tragen einheitlich eine zweckmäßige Kleidung aus eigener Produktion. Da das viele Gold, das sie besitzen, als Material für sie keinerlei praktischen Nutzen hat, fertigen sie ihr Nachtgeschirr daraus. Es gibt noch viele weitere derart wunderliche Verhaltensweisen und soziale Regeln, dass seit Erscheinen des Buches immer wieder allerlei Deutungen und philosophische Dispute heraufbeschworen wurden über die faszinierende Ideenwelt von Utopia. Unwillkürlich stößt man beim Lesen dieses inzwischen fünfhundert Jahre alten Textes häufig auf Gedanken, die eigentlich naheliegend sind und viele Probleme mit einem Schlage lösen könnten, auch die unserer heutigen Welt. Wenn dem nicht jener aus dem Selbsterhaltungstrieb resultierende Eigennutz unausrottbar im Wege stände. Genau das hatte auch Karl Marx nicht berücksichtigt. Das Glück der Utopier nämlich liegt im Ideellen, nicht im Materiellen. Sie nutzen die reichlich vorhandene Zeit, um den Geist zu bereichern, für alles andere ist ja bestens gesorgt, alle sind gleichermaßen zufrieden mit dem, was sie haben.

Die liebevoll editierte Menasse-Ausgabe von 2004 lässt sich in der Übersetzung von Jacques Laager trotz der anspruchsvollen Thematik sehr flüssig lesen. Dabei hilft zum Verständnis der umfangreiche, erschöpfend Auskunft gebende Anmerkungsapparat. Als zeitloser Klassiker kann man diesen Roman, wie ich es getan habe, auch wiederholt lesen, man wird immer wieder erneut bereichert von diesem utopischen Triumph der Vernunft.

Fazit: erstklassig

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Fazit:   erstklassig   ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Manesse Verlag München

Dorfroman

Märkische Behaglichkeit am Niederrhein

Im Titel «Dorfroman» hat Christoph Peters die Genrebezeichnung seines neuen Buches bereits benannt, Handlungsort ist nämlich ein kleines Dorf am Niederrhein, nähe Kalkar. Und mit dem Ort wird auch gleich die Thematik deutlich, es geht um den Schnellen Brüter, jenen neuen Kernreaktortyp, der in den 70er Jahren an diesem Standort gebaut wurde. Und wie an den anderen Brennpunkten im Kampf gegen die Atomlobby, so entsteht auch in der kleinen Ortschaft ein improvisiertes Lager streitbarer Atomkraftgegner, direkt gegenüber dem Bauplatz des Atommeilers, auf der anderen Rheinseite.

Der in Berlin lebende Ich-Erzähler besucht seine Eltern in Hülkendonck, dem Ort seiner Kindheit, beide sind schon lange im Ruhestand. Bereits bei der Anfahrt mit dem Auto werden beim Anblick vieler vertrauter Plätze manche Erinnerungen wieder in ihm wach. Vieles hat sich zwar verändert, seit er vor dreißig Jahren dieses Kaff verlassen hat, aber manches ist ihm immer noch wohl vertraut. In seinem ehemaligen Kinderzimmer stößt er dann auf all die Dinge, die dort noch immer für ihn aufbewahrt werden, und mit jedem einzelnen verbinden sich irgendwelche Geschichten aus seinem Leben damals. Sein Vater war Meister in einem Betrieb für Landmaschinen, ist in dem bäuerlich geprägten Dorf geboren und kennt fast jeden. Die Mutter stammte aus der Stadt, als Lehrerin aber ist sie hier schon bald ebenfalls eng verwurzelt. Der geplante Bau des Reaktors spaltet die Dorfgemeinschaft nun in zwei Lager. Der Vater des Ich-Erzählers gehört als Kirchenvorstand, anders als seine Kollegen dort, entschieden zu den Reaktor-Befürwortern. Durch ihren Beschluss, das der Kirche gehörende Baugelände nicht zu verkaufen, blockiert eine deutliche Mehrheit im Kirchenvorstand aber den Verkauf, die Auseinandersetzungen im Dorf eskalieren. Die meisten versprechen sich neue Arbeitsplätze, und die Kirchenoberen freuen sich schon auf das viele Geld, mit dem dann auch die uralte Kirche saniert werden könnte.

Der Roman schildert sehr anschaulich das behütete Leben des Helden, das familiäre Zusammenleben, die Nachbarn, Freunde und all die Bauern, die das Dorfleben prägen. Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders mit ihrer spießigen Nierentisch-Romantik. Eine geistige Ödnis, zu der vor allem auch ein naiver Katholizismus beiträgt, von dem er sich aber in der Pubertät allmählich immer mehr abwendet. Entscheidend ist dabei Juliane, eine sechs Jahre ältere Aktivistin aus dem benachbarten Protestcamp, in die er sich als fast Sechzehnjähriger unsterblich verliebt hat und mit der er schließlich auch seine Initiation erlebt. Als Schmetterlings-Sammler mit dem schwärmerischen Berufswunsch ‹Tierschützer› á la Grzimek oder Sielmann entwickelt er sich unter Julianes Einfluss zum Atomkraftgegner. Seinem drögen Leben in dörflicher Idylle wird im Roman mit dem ‹Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll› der skurrilen Typen des Protestcamps ziemlich brutal ein alternativer Lebensentwurf gegenüber gestellt. Der Roman lebt vor allem von diesem extremen Spannungsfeld.

Mit seiner ruhigen Erzählweise erinnert der Autor ein wenig an Fontane, anschaulich schildert er das ländliche Milieu einer wohlversorgten Familie aus dem Mittelstand und die Sitten und Gebräuche am Niederrhein. Die Sprache ist der kindlichen Perspektive seines jugendlichen Helden stimmig angepasst, wobei vor allem dessen naive Naturliebe, die ja in krassem Widerspruch steht zum ökologischen Wahnsinn des Atomreaktors, in wunderbaren Naturbeschreibungen zum Ausdruck kommt. Nicht ganz verständlich ist, warum im Roman von Calcar geredet wird, obwohl die kleine Stadt seit 1936 offiziell Kalkar heißt. Und dass der Heranwachsende mit seiner promiskuitiven Geliebten sich selbst unverändert als Kind bezeichnet ist ebenfalls fragwürdig. Von den Figuren wirkt besonders der Vater als ein stimmig beschriebener, kantiger Charakter fontanescher Prägung überaus sympathisch, märkische Behaglichkeit also auch am Niederrhein!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut.

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“Kein Mensch kann den anderen von seinem Leid befreien, aber er kann ihm Mut machen, das Leid zu tragen.” Selma Lagerlöf

Der Leidensweg der Autorin Melanie Garanin beginnt, als ihr Sohn Nils anfängt, lange zu kränkeln und zu fiebern, sodass er ins Krankenhaus muss. Die niederschmetternde Diagnose: Leukämie. Die Familie versucht draufhin alles, um Nils zu retten. Er nimmt sogar an einer Studie teil. Die Blutwerte verbessern sich und die Familie schöpft Hoffnung. Aber Nils’ schlimme Bauchschmerzen wollen nicht verschwinden. Die Ärzte vertrösten die Eltern und verharmlosen Nils’ Schmerzen. Schließlich stirbt der kleine Junge mit nur drei Jahren. Weiterlesen


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Carlsen graphic novel

Norbert und das Geschenk

Norbert und das GeschenkDer Drache Norbert wirkt trotz zwei vorstehender messerscharfer Reißzähne und einem flaschengrünen Schweif, auf dem rote Zacken fackeln, friedlich und freundlich. Der Leser muss ihn einfach liebhaben, diesen Drachen zum Kuscheln, den Ingrid Bürger in Wort und Bild erschaffen hat. Sein erstes Abenteuer besteht der kleine Drache, als er ein Geschenk überbringen möchte. Weiterlesen


Genre: Bilderbuch, Kinderbuch
Illustrated by Graphiti

Die Kunst des Zeichnens – Die große Zeichenschule: praxisnah und gut erklärt

TOPP Die Kunst des Zeichnens Neuauflage 2020

240 Seiten enthält dieses großformatige Hardcoverbuch, das für sich in Anspruch nimmt, praxisnah zu sein und gut zu erklären. Eines vorneweg: Hier wird nicht zu viel versprochen. Die Sätze sind kurz und die Sprache gut verständlich. Die reichhaltige Bebilderung folgt wie der Text einer Art Schritt-für-Schritt-Anleitung und garantiert so die Übersichtlichkeit und das Verständnis. Der einzige Wehrmutstropfen hierbei ist die oftmals sehr kleine Schrift zu den im Vergleich riesigen Bildern, welche der Text eigentlich erklären will.

Der Übersicht dient auch, dass das Buch bei den grundlegenden Dingen anfängt und am Schluss ein extra Kapitel zum Nachschlagen anfügt: Welches Material brauche ich wirklich? Welche Basistechniken sollte ich üben? Wie lerne ich mit den Augen einer Zeichnerin / eines Zeichners zu sehen und das Gesehene zu skizzieren? Was muss ich grundlegend über Anatomie wissen? Wie schraffiere ich? Welches Grundwissen über Perspektiven brauche ich? Welches über Grundformen? Wie plaziere ich Motive? Wie verkürze ich richtig? Wie zeichne ich Licht und Schatten? Wie halte ich Hand und Stift beim Zeichnen? Vieles wird mit Übungsbeispielen vervollständigt.

Ansonsten gleicht der Aufbau dem der Schöpfung und deckt damit fast alles ab, was man zeichnen könnte: Das Buch beginnt mit den Pflanzen, macht bei den Tieren weiter und endet beim Menschen. Einzig das Kapitel “Stilleben und Studien” befindet sich noch vor dem Kapitel “Zum Nachschlagen”.

Bezüglich des Unterkapitels “Aktzeichnen” dominiert allerdings die männliche Sicht. Nachdem ich im Register nachgeschaut habe, stammen die Aktzeichnungen tatsächlich von einem Mann. Das weibliche Model wird recht detailliert nackt von vorne und von hinten mit Gesicht dargestellt (einzig die Scham ist bedeckt), während die einzige Zeichnung eines Mannes in der wenig zeigenden seitlichen Bauchlage mit einem nur angedeuteten, unvollständigen Gesicht und längst nicht so detailliert ausgearbeitet präsentiert wird. Nachtigall, ik hör dir trapsen! Das erinnert mich doch sehr an die Werbung, in der nackte Körper genauso in männlich und weiblich unterteilt werden und man vom Manne grundsätzlich weniger sieht als von der Frau. Vielleicht sollte man grundsätzlich darauf hinweisen, dass sich auch Männerkörper für detailierte Aktzeichnungen eignen…

Gut allerdings, dass nicht nur junge, hübsche Menschen dargestellt werden, sondern alle Altersklassen, wobei aber auch hier Frauen und Mädchen überwiegen. Ein paar mehr Männer und Jungen als Zeichenbeispiele wären für ein ausgewogenes Verhältnis schön gewesen.

Insgesamt aber bekommt man für 18 Euro ein gutes, übersichtliches Buch über fast alle Themengebiete, die sich zeichnerisch darstellen lassen.


Illustrated by frechverlag GmbH / Weltbild

Die Dame mit der bemalten Hand

Esoterischer Kosmos

Forschungsreisen sind in der Literatur ein beliebtes Thema, auch Christine Wunnicke greift es auf in ihrem neuen Roman «Die Dame mit der bemalten Hand». Anders als bei Christoph Ransmayr oder Daniel Kehlmann jedoch geht es bei ihr um kulturelle Werte, steht das west-östliche Missverstehen im Vordergrund der pittoresken Geschichte einer gescheiterten Expedition. Schon das Titelbild deutet mit dem Kometen auf die Astronomie hin. Und wie man im Buch dann erfährt, erkannten europäische Wissenschaftler im Sternbild der Kassiopeia deutlich das Abbild jener ‹Dame› aus der griechischen Mythologie, während östliche darin allenfalls deren ‹bemalte Hand› zu erkennen vermochten.

Auf Anregung eines skurrilen Göttinger Professors und finanziert durch den dänischen König bricht 1764 eine sechsköpfige Expedition in den Orient auf, vornehmlich um Überlieferungen der Bibel durch Funde vor Ort zu verifizieren, aber auch um möglichst viele unbekannte Details über Land und Leute in den besuchten Gebieten zu sammeln. Erzählt wird mit dem Fokus auf Carsten Niebuhr, einem dreißigjährigen Mathematiker aus Bremen, der für die Kartografie und Vermessungen zuständig ist. Als einziger Teilnehmer übersteht er die Strapazen der Reise und bringt allein die nicht sehr ergiebigen wissenschaftlichen Aufzeichnungen der Expedition zurück, – soweit die Fakten. Die darüber hinaus fiktional üppig angereicherte Geschichte lässt den Romanhelden weit über das Ziel Arabien hinausschießen, er landet in Indien und besichtigt die berühmte Flussinsel Elephanta bei Bombay. Die gehört übrigens heute mit ihren in den Fels gehauenen, hinduistischen Tempeln zum UNESCO-Weltkulturerbe. Dort also trifft Niebuhr auf den schon etwas älteren, persischstämmigen Astrolabien-Produzenten Musa aus Jaipur, der eigentlich auch ganz woanders sein wollte und auf dem Weg nach Mekka einen Abstecher hierher gemacht hat. Beide haben das Schiff verpasst, das sie zurückbringen sollte, und sitzen nun fest auf der Insel. Das kleine astronomische Messinstrument, das Musa baut, weckt Niebuhrs Interesse und verbindet beide trotz aller sprachlichen Hürden. Während sie auf ein Schiff warten, das sie irgendwann aus ihrer misslichen Lage befreit, führen sie äußerst anregende Gespräche.

In zwölf Kapiteln wird abwechselnd von den beiden Männern und von ihrem unfreiwilligen Aufenthalt erzählt. Die öde Bettlerinsel wird von einigen armseligen Gestalten in primitiven Hütten bewohnt, es gibt viele Ziegen dort und eine große Affenpopulation. In den wenigen Tagen, die sie dort gemeinsam verbringen, dreht sich ihr Gespräch zunächst um Astronomie. Wobei sie den sprachlichen Hürden durch ein wenig Arabisch und viel Intuition begegnen, um sich einigermaßen verständlich machen zu können. Sie erzählen sich auch gegenseitig von ihrem Leben und den Umständen, die sie hier hergeführt haben, wo sie gar nicht sein sollten. Besonders Musa weiß nach orientalischer Tradition blumig zu erzählen, so manche seiner vielen Geschichten dürfte allerdings seiner lebhaften Phantasie entsprungen sein. Er kümmert sich auch besorgt um Niebuhr, als der, von Fieberschüben geplagt, zeitweise ins Delirium sinkt.

Die Autorin nutzt das babylonisch anmutende, sprachliche Wirrwarr für allerlei eingestreute, linguistische Vergleiche, vor allem aber für das Hinterfragen scheinbarer Gewissheiten auf beiden Seiten. Nicht nur werden da wissenschaftliche Thesen diskutiert, auch kulturelle und religiöse Unterschiede führen zu allerlei von Missverständnissen befeuerten Disputen. All das wird in einer spielerisch anmutenden Weise erzählt, die lebhaft fabulierend vieles in der Schwebe hält und eine schillernde, pittoreske Welt erschafft. Der so entstandene esoterische Kosmos, geradezu das Markenzeichen von Christine Wunnicke, dürfte auch hier wieder nur bestimmte Leser ansprechen, andere hingegen, durch die Platzierung auf der diesjährigen Shortlist des Frankfurter Buchpreises neugierig geworden, aber ziemlich enttäuschen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Berenberg Verlag

Fackeln im Baumwollfeld


Bei einem gemütlichen Schwätzchen im friedlichsten Kaff von Kansas erlebt Lucky Luke eine faustdicke Überraschung: Er soll Erbe der größten Baumwollplantage Lousianas sein!

“Quatsch!”, denkt Luke und will das Ganze als Scherz abtun. Mrs. Constance Pinkwater aber beliebte ganz und gar nicht zu scherzen, denn sie war ein großer Fan des einsamen Cowboys – inklusive Fanartikel.

Lucky Luke bleibt also nichts anderes übrig, als seine Erbschaft anzutreten. Aber die will er so schnell wie möglich wieder loswerden. Also beschließt er, die Baumwollplantage unter den Arbeitern, ehemaligen Sklaven, aufzuteilen. Die allerdings sind sehr misstrauisch ihrem neuen Arbeitgeber gegenüber. Kein Wunder, haben sie doch alles andere als gute Erfahrungen mit den Weißen gemacht.

Lucky Luke, der nur redliche Absichten im Sinn hat, bekommt es umgehend mit den rassistischen Nachbarn der Plantage zu tun – inklusive Ku-Klux-Klan. Auch die Daltons dürfen nicht fehlen, die mal wieder aus dem Gefängnis ausgebrochen sind. Das könnte eine sehr haarige Angelegenheit für den treffsicheren einsamen Cowboy werden, käme nicht unvermutet Verstärkung: Lukes alter mit allen Wassern gewaschener Kumpel Bass Reeves, seines Zeichens der beste Marshal westlich des Missisippi, eilt ihm zu Hilfe.

Rassismus – ein leider immer noch aktuelles Thema

… wie folgenes Zitat zeigt: “Die neugewählte republikanische Kongressabgeordnete Marjorie Taylor Greene aus Georgia verlost ein Halbautomatikgewehr aus ihrem eigenen Bestand. “Verteidigen Sie Ihre Familie, wenn Black Lives Matter/Antifa-Terroristen vor Ihrer Haustür stehen!”, schreibt sie dazu. Anfang September hatte Greene mit der Waffe neben einem Foto von drei demokratischen Kongressabgeordneten posiert, die daraufhin Morddrohungen bekamen, und war dafür von Facebook gesperrt worden. Auf Parler haben den Beitrag innerhalb von fünf Stunden 1,4 Millionen Menschen gesehen.” (Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-11/parler-donald-trump-unterstuetzer-plattform-facebook-twitter-fake-news/seite-2)

Die Gräben zwischen Weißen und Menschen anderer Hautfarben sind in den USA historisch tief verwurzelt. Das nimmt der Comic auf und zeigt auf (schwarz-)humorige Weise, wie Rassissmus und Vorurteile gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe sowohl im sprichwörtlichen als auch im ganz realen Sinn Brände auslösen können. Dabei wird der Titel klug eingesetzt, denn er spielt auf die Serie “Fackeln im Sturm” an, die u.a. ebenfalls den Rassenkonflikt zum Thema hat. Im wörtlichen Sinne wirbelt ein Sturm (ein Hurrikan) den Konflikt im Comic völlig durcheinander, sodass nach dem Sturm ein Neuanfang möglich ist.

Der ist im Westen laut Comic schon gegeben: Im verschlafenen Örtchen Nitchvoga (übersetzt “Siebenschläfer dösen ermattet in der Dämmerung”) sitzen Lucky Luke, ein Cherokee und später Bass Reves einträchtig nebeneinander und halten ein Schwätzchen. Das kommentiert der rothaarige Barkeeper so: “Ein schwarzer Sheriff, der Indianersprachen spricht! Da könnte man glatt an den ‘amerikanischen Traum’ glauben.”

Der wird am Ende des Comics wieder von den Kindern aufgenommen: “Ich will später Marshal werden wie Bass Reeves”, sagt der eine. “Und ich Journalistin”, meint ein schwarzhäutiges Mädchen, das als Oprah vorgestellt wird. “Ich Präsident der Vereinigten Staaten”, wünscht sich ein Junge namens Barack. Da ist er, der Traum, der als “blühende Fantasie” erst einmal wohlwollend von den Familienmitgliedern abgetan wird, sich aber schon im Comic andeutet durch Bass Reeves, den ersten schwarzen Hilfsmarshal. Über Reeves und schwarze und hispanische Cowboys berichtet der Comic im Extra.

Reeves als Comicfigur spielt auf Martin Luther Kings berühmte Rede an: “Ich hatte einen Traum, Luke… Ich habe geträumt, dass die Schwarzen eines Tages ebenso behandelt werden wie alle Amerikaner… Ich habe geträumt, dass sie endlich ‘freier als ihre Schatten’ leben.” Daraufhin erwidert Luke: “Ein schöner Gedanke. Das solltest du dir notieren…”

Beendet wird der Comic durch das amerikanische Spiritual “Let my people go”, das auf den Auszug aus Ägypten, und damit aus der Sklaverei, anspielt. Auch Tom Sawyer und Huckleberry Finn haben unterwegs einen Gastauftritt.

Fazit

Sehr gelungener Comic, der ein hochaktuelles Thema anspricht und nicht mit cleveren Anspielungen spart.


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa Media

Annette, ein Heldinnenepos

Leserherz, was willst du mehr?

Mit «Annette, ein Heldinnenepos» setzt Anne Weber der französischen Rebellin Anne Beaumanoir schon zu Lebzeiten ein Denkmal. Die 1923 geborene Ärztin engagiert sich bis heute auf Vorträgen gegen Unheil stiftenden Nationalismus ebenso wie gegen rassistischen und religiösen Fanatismus. Bei einem solchen Vortrag hat die Autorin sie persönlich kennengelernt, ihre Gespräche mit der betagten Dame sowie deren jüngst auf Deutsch erschienene Autobiografie dienten ihr als Vorlage. Für ihr Engagement während der Judenverfolgungen im besetzten Frankreich erhielt die Widerstandskämpferin den von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem verliehenen Ehrentitel «Gerechte unter den Völkern». Dieses Sujet nun wird narrativ in der nicht gerade alltäglichen Form eines Prosagedichtes umgesetzt, was aber, anders als befürchtet, den Lesefluss in keiner Weise stört. Vielmehr wird dadurch ganz subtil das Heldische ihrer Geschichte betont.

Schon als Jugendliche engagiert sich Annette in der kommunistischen Gruppe der Résistance und wird mit allerlei Botendiensten betraut. Bei einer von ihr allein durchgeführten, spontanen Aktion kann sie zwei Juden in letzter Sekunde vor den Nazis retten. Von ihrer Organisation aber wird sie gerügt, weil sie bei ihrem unkoordinierten Alleingang gegen die strengen Sicherheitsregeln für die Untergrundarbeit verstoßen hat. Nach dem Krieg studiert sie, heiratet einen Arzt, mit dem sie drei Kinder hat, und arbeitet als Professorin für Neurologie. Bis sie schließlich Mitte der fünfziger Jahre während des Algerienkriegs Partei ergreift für die von Ben Bella gegründete FLN und erneut in den Untergrund geht. Die hehren Werte der ‹Grande Nation›, liberté-egalité-fraternité, werden damals geradezu mit Füßen getreten, sie unterstützt deshalb ohne Rücksicht auf private und familiäre Interessen den Freiheitskampf. Mutmaßlich durch Verrat fliegt sie irgendwann auf, wird verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, kann aber vor Haftantritt nach Tunesien fliehen. Von dort aus ist sie wieder eingebunden in die Befreiungs-Bewegung und nimmt nach Ausrufung der nationalen Unabhängigkeit einen hohen Posten ein im Gesundheitswesen des neuen Staates Algerien. Bis 1965 schließlich durch einen Militärputsch Boumedienne die Macht übernimmt und Annette erneut fliehen muss. Da sie in Frankreich per Haftbefehl gesucht wird, geht sie in die Schweiz, wo sie in Genf bis ins Rentenalter als Leiterin einer neurophysiologischen Klinik arbeitet. Nach der lang erwarteten Amnestie siedelt sie sich schließlich in Dieulefit an, einem kleinen Ort im Südosten Frankreichs, wo sie heute noch lebt.

Annette ist rückblickend im Zweifel, ob sich ihr Einsatz, all ihre Entbehrungen denn wirklich gelohnt haben. Was ihr Engagement für die Résistance anbelangt hat sie keine Zweifel, was aber aus Algerien geworden ist nach der Befreiung, das sieht sie mit Sorge. Und es gibt dort politisch ja auch bis heute keinen Lichtblick, ‹Arabischer Frühling› hin oder her! Am Ende wird Camus zitiert, der die Sache weise zurechtrückt: «Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen».

«Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt», schreibt die Jury des Deutschen Buchpreises 2020 in ihrer Begründung zur Preisverleihung. Und in der Tat stellt die Sprache die größte Überraschung dar in diesem untypischen Epos so ganz ohne strahlende Heldin. Ohne Verklärung, aber auch ohne Ironie wird hier locker erzählt, wobei die Erzählerstimme sogar den Klappentext mit einbezieht und amüsante Abschweifungen einstreut: «Kaum ist der Indochinakrieg zu Ende und Frankreich (ohne Annettes Zutun) um eine Kolonie kleiner…» Durch historische Einblicke bereichert, durch eine spannende Geschichte gut unterhalten, durch eine virtuose Sprache höchst erfreut, stellt sich hier die literarische Urfrage: Leserherz, was willst du mehr?

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Matthes & Seitz

Malé

Wenn ihr so weitermacht

Das neue Buch von Roman Ehrlich mit dem Titel «Malé» erinnert daran, dass der Menschheit neben dem weltweiten Corona-Desaster auch noch die Klimakatastrophe bevorsteht, ein weitaus schlimmeres Menetekel, dessen Auswirkungen unser Leben gründlich umkrempeln wird. In seinem Albtraum-Roman greift der Autor einen unübersehbaren Aspekt der vom Menschen verursachten Erderwärmung auf, das Ansteigen der Meeresspiegel. Und dessen verheerende Auswirkungen legt er am Beispiel von Malé, der Hauptstadt der Malediven, seinem dystopischen Roman als Szenario zugrunde. Darin ist der einstige touristische Sehnsuchtsort, als Staat längst untergegangen, von der Bevölkerung verlassen und dem Verfall preisgegeben, zum Zufluchtsort von allerlei Aussteigern geworden.

Der zeitlich in einer nahen Zukunft angesiedelte Roman handelt von Abenteurern, Utopisten, Weltverbesserern, Zivilisations-Flüchtlingen und auch von Verfolgten, die sich aus vielerlei Gründen dort verstecken, ein Whistleblower ist auch dabei. Dabei ist die Insel als nach außen abgeschlossener Raum ein bevorzugter Platz für Aussteiger und Realitäts-Flüchtige, die in den verfallenen Gebäuden ein alternatives Leben führen wollen. Einige von ihnen hätten, wie sie bekennen, gerne auch im Berlin der Nachwendezeit gelebt, wo bauliche Leerstände zeitweilig zur illegalen ‹Zwischennutzung› dienten. Er könne diesen Eskapismus gut verstehen, hat der Autor im Interview erklärt. Und hinzugefügt: «Die eigentliche Sehnsucht ist die Einschließung. Man will eingekapselt sein und alles an einem Ort haben, um dann Herr über diesen Ort sein zu können. Viele erhoffen sich das auch von der Insel – und je kleiner sie ist, desto besser».

Die Regierung ist durch einen Putsch von bewaffneten Milizen hinweggefegt worden, die «Eigentlichen» haben ihr Hauptquartier auf einem stillgelegten Kreuzfahrtschiff eingerichtet und sind in der Stadt fast nie zu sehen. In dem breit angelegten Figuren-Ensemble gibt es einen Vater, der auf der Insel nach seiner angeblich tot aufgefundenen Tochter sucht, eine bekannte Schauspielerin. Die hatte dort mit einem deutschen Lyriker eine Affäre. Inzwischen ist der Poet aber verschwunden und wird von einer amerikanischen Literatur-Wissenschaftlerin für ihre Forschungen dringend gesucht. Zum skurrilen Personal gehört ferner ein Professor, der als von allen respektierter Führer der Aussteigerclique gilt und in der Wohnung über der Bar «Blauer Heinrich» wohnt. Der Grill «Hühnersultan» dient als beliebter Treffpunkt der auf Malé Gestrandeten. Es gibt ferner eine athletische schwedische Schwimmerin, die nach einem Suizidversuch von ihrem platonischen Verehrer rundum bewacht wird. Sie träumt davon, aus dem am Strand reichlich angeschwemmten Plastikmüll die Basis für schwimmende Inseln zu schaffen, die künftig als Ersatz für die versunkenen Inseln des Archipels dienen sollen.

So lobenswert die Thematik des Romans ist, so zweifelhaft ist dessen narrative Umsetzung. Durch ständige Wiederholungen nerven die Beschreibungen des unsäglichen Chaos auf der Insel schon bald. Müll, Dreck, Ungeziefer, Leichen, Verwesung, Überflutung, und keine der vielen Matratzen in dem Buch ist nicht ‹versifft›. Auch die abenteuerlich benannten Figuren sind grotesk überzeichnet, ihre pathetisch vorgetragenen Lebensgeschichten sind es nicht minder. Halbe Seiten lange Passagen werden zudem wortwörtlich wiederholt, man reibt sich verwundert die Augen, weil man merkt, dass man genau das doch schon mal gelesen hat! Ein Plot ist nicht vorhanden, die Szenen sind fragmentarisch aneinandergereiht. Und alles bleibt vage, nichts wird zu Ende erzählt. Mit seiner eigenwilligen Erzählweise bleibt Roman Ehrlich immer kühl distanziert, man könnte hinter seiner apokalyptischen Szenerie sogar eine versteckte Ironie vermuten, frei nach dem Motto: ‹So könnte es euch gehen, wenn ihr so weitermacht›. Für Ironie aber gibt es keine Anzeichen, er meint es so, wie er es schreibt!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Der Goldene Hinkelstein

Wettstreit der Barden

Barde Troubardix will an einem Wettstreit für Barden teilnehmen. Aber der Weg zum Wettbewerb ist lang und gefährlich. Asterix und Obelix werden von Majestix abkommandiert, Troubardix zu begleiten. Nicht umsonst, denn General Eucalyptus will den Sieger des Wettbewerbs entführen lassen. Er soll ihm die Langeweile vertreiben.

Durch ein Missverständnis halten die Römer Troubardix für den Gewinner und entführen ihn. Das können unsere beiden tapferen Krieger natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Sie machen sich auf zum Römerlager Babaorum, um Troubardix zu befreien.

“Ein wiederentdeckter Schatz” (Egmont Ehapa)

Die Geschichte erschien schon 1967 in Form eines Schallplattenbuches (dessen Originalseiten als Extra im Heft abgebildet sind). Deshalb war ich auch überrascht, keinen “echten” Comic in Händen zu halten, sondern die schriftliche Übertragung eines Hörspiels. Dieses bietet der Verlag als Neuaufnahme unter www.asterix.com als solches zum Herunterladen an. Wer Spaß daran hat, kann die Geschichte in verteilten Rollen vorlesen oder ein eigenes Hörspiel aufnehmen; es würde sich auch als Theaterstück eignen, da die Rollen wie bei einem Theaterstück schon vorformuliert sind.

Der Verlag hat im Gegensatz zum Original die Seiten übersichtlicher und damit besser lesbar gestaltet, mit Augenmerk auf großformatige Zeichnungen. Diese sind dem Original entnommen. Als Extra ist die Entstehungsgeschichte des Originals beigefügt. Die Ausgabe gibt es sowohl als Hard- als auch als Softcover.

Die Geschichte selbst ist nicht unbedingt komplex, aber unterhaltsam, wenn auch etwas vorhersehbar. Für Fans eine nette Ergänzung.


Genre: Comic, Hörspiel
Illustrated by Egmont Ehapa Media

Unsere Farben 1


Oberschüler Sora trägt schon lange schwer an seinem Geheimnis: Er ist schwul. Und weil er die negative Reaktion seiner Klassenkameraden auf das Thema Homosexualität kennt, hat er sich dazu entschossen, seine wahre Identität geheim zu halten. Deshalb verschweigt er auch seinem Klassenkameraden Yoshioka, dass er ihn liebt. Selbst seine Sandkastenfreundin Nao weiß nichts von seinen sexuellen Neigungen.

Um im Alltag zu bestehen, hat sich Sora eine Maske aus Ausreden, Schweigen und Lügen aufgebaut. Diese Maske bekommt einen großen Riss, als sein Schwarm Yoshioka mit den anderen Schwule auslacht. Ab diesem Erlebnis ändert sich Soras Leben langsam, aber nachdrücklich. Erst gesteht ihm ein älterer Mann, dass er ihn mag, dann erkennt Sora, dass er ertrinken und ersticken würde, wenn er nicht endlich zu sich steht. Und als er dem älteren Mann in dessen Café folgt, findet er nicht nur neuen Mut, sondern auch ein neues Zuhause, in dem er sein darf, wie er ist.

Homosexualität

Dieser Manga widmet sich endlich dem Thema Coming Out und beschreibt sehr detailiert und einfühlsam, welchen Schwierigkeiten sich ein homosexueller Mensch (nicht nur in Japan, aber dort u.a. besonders) gegenübersieht, wenn er sich outen will. Er beleuchtet Soras Gefühlswelt und seine Maske, sowie die Einsamkeit und das vermeintlich Normale, das so verletzend wirken kann. Es ist ein Enwicklungsmanga, der den Weg Soras zu seinem wahren Ich warmherzig und empathisch nachvollzieht. Soras Schlüsselerlebnis für sein eigenes Comig Out ist das Liebesgeständnis eines anderen Mannes. Das gibt ihm dem Mut, zuerst diesem Mann und dann seiner besten Freundin seine Homosexualität zu gestehen. Er fängt mit Menschen an, die ihn verstehen könnten, und gewinnt dadurch an Sicherheit, mehr Selbstbewusstsein und einen Schutzraum.

Farben

Die Farben spielen in diesem Manga eine wichtige Rolle. Sora und seine Freundin Nao sind in der Kunst-AG. Allein das weckt schon Assoziationen bzgl. eines empfindsamen Menschen. So soll Sora im Café auf einer Wand ein Bild malen. Er fängt an mit den Gesichtszügen Yoshiokas, löscht diese aber wieder. Das spiegelt seine widerstreitenden Gefühle gegenüber seines Schwarms wider. Sora sieht die Welt einerseits mit den Augen eines Künstlers und beschreibt detailiert die Farben des Himmels und des Meeres, die er sieht. Andererseits bilden die Farben den Zustand seiner Gefühle ab. Das führt zu der Farbe Blau und zum Meer. Beides gilt als Symbol des Unterbewussten und der Emotionen. Sora hat das Gefühl, im Meer seiner unterdrückten Gefühle zu ertrinken. Der Himmel beschreibt das Transzendente, aber auch das Gefühl der Freiheit, das Sora letztlich empfinden will.

Es gibt noch eine weitere Komponente: Die Farben des Regenbogens sind u.a. die Farben der Homosexualität. Farben werden in diesem Manga also in die Tiefe gehend und damit vielschichtig eingesetzt.

Aussehen

Im Gegensatz zu den meisten BL-Mangas sehen die Figuren in diesem Manga nicht extrem schön, sondern wohltuend alltäglich aus. Auch Sora, selbst eher unscheinbar, hat sich in einen Mann verliebt, der alles andere als hübsch ist. Auch das vermittelt wichtige Botschaften: 1. Aussehen ist nicht alles. 2. Homosexuelle sind Menschen wie du und ich. Es müsste mehr Mangas geben mit alltäglich aussehenden Menschen.

Der Autor

Gengoroh Tagame ist Mangaka, Art Director und hat Romane geschrieben und illustriert. 2014 veröffentichte er den 4-bändigen Manga “Der Mann meines Bruders”, der für Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Beziehungen wirbt und internationale Erfolge feierte. Tagame bekam dafür u.a. den Eisner-Award. 2018 wurde die Reihe als Fernsehserie adaptiert. Außerdem nahm der Autor an vielen Ausstellungen in Paris, Berlin und New York teil.

Fazit

Einfühlsamer Manga über die Schwierigkeiten, denen sich homosexuelle Menschen im Alltag und beim Coming Out gegenübersehen.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Herzklappen von Johnson & Johnson

Der Schmerz ist das zentrale Thema des dritten Romans der österreichischen Schriftstellerin Valerie Fritsch, der in seiner vier Generationen umfassenden Geschichte die Frage aufwirft, wie Schmerz und Schuld den Menschen formen. Seine Protagonistin Alma spürt darin einem Familiengeheimnis nach, das sie als Trauma seit frühester Kindheit verfolgt und ihr keine Ruhe lässt. Alles andere als ein Wohlfühlroman also, fußt sein Impetus doch auf der zivilisatorischen Zäsur, die der Zweite Weltkrieg mit seinen Gräueln bedeutet hat. Deren Folge war die weitverbreitete Sprachlosigkeit einer ganzen Generation, zu der auch Almas Großeltern gehören. Ist es möglich, dass derart traumatische Erfahrungen über Generationen hinweg weiterwirken, und ist Empfindungslosigkeit vererbbar?

Alma wächst in einem klinisch sauberen Haushalt auf, in einer wenig anheimelnden Atmosphäre, die ihr mitunter geradezu kulissenartig vorkommt. Ihr Großvater kam aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück und leidet seither daran, dass ausgerechnet er als einer der wenigen überlebt hat und viele seiner Kameraden nicht. Er hat sich in das Schweigen geflüchtet, denn durch seine Mitwirkung bei grausamen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung ist er zum Mörder geworden. Anders als er erzählt die kranke Großmutter, die das Haus nicht mehr verlässt und sich völlig in ihre Häuslichkeit zurückgezogen hat, Alma von der schicksalhaften Vergangenheit. Damit löst sie bei ihrer Enkelin jedoch Ängste aus, die sich zunehmend auf die Persönlichkeit der weltabgewandten, jungen Frau auswirken, die als Illustratorin arbeitet. Als sie Mutter wird, stellt sich schon bald heraus, dass ihr Sohn unter einer genetisch bedingten Analgesie leidet, dem krankhaften Fehlen von Schmerzen. Damit fehlt ihm der somatische Selbstschutz, die Warnfunktion des Schmerzes also, was auf seinen Körper verheerende Auswirkungen hat. Seine Mutter wird ständig in Atem gehalten, weil er sich dauernd irgendwo verletzt, ohne es zu merken. Sie muss ihm den Schmerz deshalb rein verbal demonstrieren, die Sprache fungiert dabei als Stellvertreter.

Mit Schmerz und Leid geht natürlich auch die Empathie-Empfindung einher. Valerie Fritsch versucht hier quasi, psychische und physische Gefühllosigkeit und das daraus resultierende Schweigen als Antipoden in eine Metapher zu binden. Sie stellt dem Schweigen des Großvaters die Sprachlosigkeit des Kindes gegenüber, das sich nicht beklagt, weil es nichts spürt. Der Großvater stirbt schließlich, «Er schwieg sich davon», heißt es im Buch, «Sein innerer Winter ergriff vollends von ihm Besitz». Drei Tage später erschießt sich die Großmutter. Nach der Doppel-Trauerfeier beginnt Alma, nacheinander die Orte der Vergangenheit zu besuchen, erst die in der Nähe, dann die entfernten. Und schließlich will sie auch nach Kasachstan, zum Gefangenenlager des Großvaters. Der Roman wirft plötzlich alle Statik ab und mutiert in den letzten zwei der zehn Kapitel zur Road Novel. Ihr Mann hat einen Auftrag bekommen zum Fotografieren von Industrie-Brachen und Fabrik-Ruinen in den Ländern des Ostens. Sie wird mitfahren und diese Reise dann bis nach Kasachstan ausdehnen. Es folgt eine wochenlange Autofahrt durch endlose Weiten, armselige Dörfer und quirlige Großstädte, jeden Tag gibt es Neues zu sehen. Und plötzlich sind sie da. «Was immer sie erwartet hatte, trat nicht ein. Der letzte Vorhang fiel nicht» heißt es am Schluss.

Stilistisch bleibt Valerie Fritsch sehr zurückhaltend, sie zeigt mehr, als dass sie beschreibt in ihrer geschliffenen, kargen Prosa. Ihre Figuren bleiben sprachlos, sie wirken, ganz ohne direkte Rede, wenig lebendig. Das wichtigste narrative Element, die medizinisch extrem seltene Schmerzlosigkeit des Sohnes, ist arg weit hergeholt, erzählerisch wenig glaubhaft umgesetzt und zudem eher beiläufig in diese Geschichte eingebaut. Das gilt am Ende auch für die spontane Reise, die thematisch ambivalent neben dem zentralen Thema der Analgesie steht.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

LTB Sonderedition: Literatur aus Entenhausen 1

Inhalt

“Die tragische Geschichte von Don-Romeo und Julia” basiert auf einem kätzischen Missverständnis. “Ducklet” hingegen muss sich mit seinem Onkel herumschlagen, der ein Opfer des Zaubertrankes Halluzinus geworden ist. Die sich daraus ergebenden Verwicklungen kosten ihn fast seine Liebe zu Odesia. Als Minnie nach langer Zeit wieder in “Nussknacker und Mäusekönig” ihre alte Tante auf dem Land besucht, erzählt sie ihr von einem seltsamen Traum. “Die Verwandlung des Gregor Ducksa” beschreibt den allseits bekannten Pechvogel Donald, wie er wieder einmal eine verhängnisvolle Pechsträhne hat. Aber ausnahmsweise gibt es für Donald diesmal eine Revanche. “Graf Phantula” hingegen treibt sein Unwesen bei den Frauen und macht sie verrückt auf rote Beete. “Gittas Sommernachtstraum” entpuppt sich leider nicht für Gitta als wahrgewordener Traum, sondern für eine Rivalin. “Der Schatz auf der Bohnenranke” endet für Onkel Dagobert nicht so wie erhofft. In “Des Widerspenstigen Zähmung” gelingt es Gitta endlich, sich ihren Wunschprinzen zu angeln. Aber ob da wirklich Liebe im Spiel ist?

LTB Literatur aus Entenhausen Nr. 1

Literatur neu interpretiert

Man ahnt es schon, diese Sonderedition knöpft sich Bekanntes aus der Weltliteratur vor und verduckifiziert sie gnadenlos. Das kann man, je nach Geschmack, gut oder schlecht finden. Die einen werden in der z.T. sehr freien Interpretation der Originale eine Verschandelung sehen. Die anderen, zu denen auch ich gehöre, finden es sehr amüsant, die Originale  mit den Adaptionen zu vergleichen und sich Gedanken darüber zu machen, wo es Unterschiede gibt und was diese bezwecken. Dabei geht die Skala bzgl. der Ableger von “noch überraschend nah am Original” bei “Graf Phantula” über “das Original als Ausgangspunkt für eine Weiterführung der Story genutzt” bei “Gittas Sommernachtstraum” bis hin zu “ui, das ist jetzt doch recht frei” (und im Gegensatz zum alptraumhaften, depressiven, pessimistischen Kafka-Original wohltuend bissig optimistisch) in “Die Verwandlung des Gregor Ducksa”. Humorvoll sind sie allesamt allemal, selbst wenn wie in “Graf Phantula” sogar die Farben an das düstere Original erinnern.

Davon einmal abgesehen bergen solche Adaptionen die Chance, Kinder spielerisch an die Weltliteratur heranzuführen und sie auf die Originale neugierig zu machen. Meinem Sohn jedenfalls gefallen die Geschichten, und im Fall des Märchens mit der Bohnenranke ist ihm auch schon der ein oder andere Unterschied zum Original aufgefallen.

Fazit

Adaptionen, egal wie frei sie sind, bieten die Chance auf Neues, Neugier auf die Originale, amüsante Vergleiche mit den Originalen. Und sie holen so manches Stück Weltliteratur, das allmählich in Vergessenheit gerät, wieder aus der Mottenkiste hervor. Allein dafür lohnt sich schon die Anschaffung.


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa Media

I had that same dream again 2

I had that same dream again 2

“Das Leben ist eben wie eine Wassermelone” (Nanoka)

Immer noch auf der Suche nach dem, was eigentlich Glück ist, erfährt die 10-jährige Nanoka auch das Gegenteil: Nachdem ihre neue Freundin Minami ihr eindringlich das Versprechen abgenommen hat, dass sich Nanoka wieder mit ihren Eltern vertragen soll, ist Minami wie vom Erdboden verschluckt. Nanoka spekuliert mit ihrer mütterlichen Freundin Frau Abazure, dass ihr ein Geist erschienen sei. Später stellt sich heraus, dass die Lebensgeschichte der beiden jungen Frauen recht ähnlich ist. Mit Frau Abazure spricht Nanoka aber auch über die beiden Jungen aus ihrer Klasse, die ihr viel bedeuten. Der eine liest wie sie gern und ist beliebt, der andere ist ein begabter Maler, aber ängstlich und verschlossen. Auch Frau Abazures Vorstellung von Glück gibt sie an Nanoka weiter.

Mit ihrer Eratzoma spricht Nanoka, als sie ein wunderschönes Gemälde bei ihr mit der Unterschrift “live me” entdeckt, über ihren malenden Freund Hikari, der von den anderen Jungen gemobbt wird. Die ältere Frau erklärt ihr, dass manche Menschen besonders sensibel sind und besonders tief empfinden. Trotzdem ist Nanoka enttäuscht, als sie sich in Absprache mit ihrer Lehrerin für ihren verschlossenen Freund einsetzt und von ihm dafür Hassgefühle erntet. In ihrer Klasse wird sie für ihren mutigen Einsatz danach wie Luft behandelt. Besonders verletzt sie, dass ausgerechnet der kluge Bücher lesende Ogiwara dafür verantwortlich ist, dass Hikari ständig angegriffen wird.

Traurig berichtet sie Frau Abazure von ihren schlimmen Erlebnissen, die ihr daraufhin von einem immer wiederkehrenden Traum erzählt.

Mütterliche Freundinnen

Nanoka hat vier ältere Freundinnen, die schon ihre Lebenserfahrungen gemacht haben und diese an Nanoka weitergeben. Im Gegenzug dazu bereichert Nanoka sie mit ihrer kindlichen Weltsicht und bricht so alte Strukturen auf. Beides ermöglicht für alle Beteiligten Weiterentwicklung. Minami, Frau Abazure und Nanokas Klassenlehrerin, sowie die ältere Frau erinnern an das weibliche göttliche Dreigestirn des Mädchens (Minami), der Frau (Frau Abazure und die Lehrerin) und der weisen alten Frau (die Ersatzgroßmutter), die in verschiedenen Lebensphasen stehen und der Frau beistehen.

Bewusst oder unbewusst wird hier das uralte Muster der Frauenfreundschaft aufgegriffen, das Frauen und Mädchen durch das weibliche Netzwerk Schutz und Geborgenheit bietet. Dabei wird nicht verschwiegen, dass das Leben wie eine Wassermelone ist, deren Fruchtfleisch (das Gute) man schnell verschlingt, die Kerne (das Negative) aber aussortiert. Aber auch in den Tiefen der schlimmen Erlebnisse kann man noch einen Schatz heben und daran wachsen: Wenn man die Kerne sammelt und einpflanzt, anstatt wegzuwerfen, erwachsen daraus neue Pflanzen. Oder anders ausgedrückt: Aus gemeisterten Problemen erwächst eine gestärkte Persönlichkeit.

Hochsensibilität

Die Psychologin Elaine Aron prägte in den 90ern den Begriff der Hochsensibilität /Hochsensitivität für Menschen, die besonders tief empfinden können und eine besonders hohe Verarbeitsungsdichte von Informationen haben, was sich sehr positiv auf Empathie, Kreativität und die Analyse und Interpretation des Lebens auswirkt. Diese Hochsensibilität wird von der älteren Frau im Manga entsprechend positiv dargestellt, um Nanokas negative Sicht auf den vermeintlichen Feigling zu relativieren. Nanoka befindet sich allerdings noch in einem Entwicklungsprozess, sodass sie Hikari nur teilweise versteht und für sein Verhalten verurteilt.

Mobbing

Mobbing ist ein grundlegendes Problem der Gesellschaft, das sich durch alle Zeiten hinweg überall zeigt, sowohl auf der Arbeit, als auch in der Schule oder Freizeit. Jede(r) kennt wohl z.B. Ausenseiter/innen in der Klasse, mit denen man nicht gern gesehen werden wollte. Wie auch in dem Manga gut dargestellt, geht Mobbing zurück auf eine engstirnige Weltsicht, auf Ignoranz, auf Vorurteile, auf Lust am Quälen anderer, auf Gerüchte, auf Rufmord, auf das Aufbauen des eigenen (niedrigen) Selbstbewusstseins, indem man sich selbst erhöht und andere dafür erniedrigt. Nanoka stellt sich dem entgegen und erntet dafür den kompletten Ausschluss aus der Klasse. Das Herdentier Mensch mag es eben nicht, wenn man gegen den Strom schwimmt. Das bekommt auch Nanoka schmerzlich zu spüren, nachdem sie sich auf die Seite des Außenseiters gestellt hat. Sie beweist Mut und zeigt mit ihrem Verhalten, dass dieser Mut den anderen fehlt. (Mangelnde) Zivilcourage ist immer noch ein heißes Eisen in der Gesellschaft. Der Manga legt den Finger auf diese Wunde.

Außerdem dreht Nanoka mit ihrem Verhalten das traditionelle Rollenmuster um: Sie beschützt einen Jungen (und  nicht umgekehrt). Das weckt Urängste vor einer starken Frau, die Nanoka von ihren männlichen Klassenkameraden prompt gespiegelt bekommt.

Träume (s. Titel des Mangas)

Träume, Mythen, Märchen bedienen das Unterbewusste. Dementsprechend erzählt Frau Abazure Nanoka ihr Leben in Form eines Traumes. Nanoka erfasst unbewusst den Kern und Frau Abazure wird zurückversetzt in eine Schlüsselszene ihrer Kindheit. Außerdem erzählt sie, was passiert, wenn man sich selbst enfremdet.

Fazit

Der 2. Teil setzt das hohe Niveau des 1. Bandes fort. Man darf gespannt sein auf den 3. und abschließenden Band!

 


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Goldene Jahre

Ironisches Requiem

Mit «Goldene Jahre» ist kürzlich das zwölfte Buch des Schweizer Schriftstellers Arno Camenisch erschienen, freudig bejubelt von seiner Fan-Gemeinde. Auch die Juroren des diesjährigen Frankfurter Buchpreises waren so beeindruckt, dass sie den 100-Seiten-Band auf die Liste der Nominierten gesetzt haben. Wie in vielen seiner Bücher geht es auch hier thematisch um die Vergänglichkeit, ein Abgesang also auf Gewohntes, Liebgewonnenes. Aber das Besondere daran ist wieder die Sprache, in der da erzählt wird, dieses spezifische, rätoromanisch durchsetzte Camenisch-Idiom. Davon schwärmen besonders jene Leser, die den Autor in Lesungen selbst erlebt haben.

Handlungsort des Romans ist ein Kiosk in einem Dorf in der Surselva, der Talschaft des Vorderrheins in Graubünden. Mit seiner Leuchtreklame auf dem Dach ist er weithin sichtbar, und mit seiner Zapfsäule ist er auch die einzige Tankstelle im Ort, ein zentraler Treffpunkt für dessen Einwohner. Margrit und Rosa-Maria hatten ihn 1969, im Jahr der Mondlandung, eröffnet, und vor kurzem erst haben sie ihr fünfzigstes Jubiläum gefeiert. Die beiden inzwischen über siebzig Jahre alten Damen haben ihre festgelegten Rituale, vor allem halten sie ihren Kiosk blitzblank. Und es hat sich über die Jahre auch kaum etwas geändert an ihrem Tagesablauf, alles ist bestens eingespielte Routine. Über sich selbst geben sie rein gar nichts preis. Eine Familie haben sie wohl beide nicht, und ob sie Schwestern sind oder nur Freundinnen, das bleibt offen.

Dieses nostalgische Narrativ von einer Welt im Wandel wird allein dialogisch vorgetragen, durch das nicht abreißende, vor sich hinplätschernde Gespräch der Beiden an einem typischen Arbeitstag. Beginnend am frühen Morgen mit dem Aufschließen, Fegen des Bürgersteigs, Fensterputzen, Herauslegen typischer Mitnahmeartikel auf die breite Ablage am Fenster. Zu den historischen Ereignissen, über die da getratscht wird, gehört die Mondlandung, der Dreh für einen James Bond-Film mit Roger Moore, aber auch die Tour de Suisse. Die hatte nämlich einmal durch den Ort geführt, was heute nicht mehr möglich wäre, dafür ist die Dorfstrasse in einem viel zu schlechtem Zustand. Mit der Umgehungsstrasse ist dann auch das Geschäft zurückgegangen, aber es reiche ja noch für sie, sagen die Beiden. Einmal hatte eine Kundin mit einem Los von ihnen 500 Fränkli in der Lotterie gewonnen. Es gab auch Prominenz als Kunden, diverse Liebesgeschichten und Skandale werden da durchgehechelt, und Ereignisse wie Tschernobyl oder der Mauerfall in Deutschland sind noch gut in Erinnerung. Die Zwei reden über Hochwasser, Lawinen und den nicht mehr zu übersehenden Klimawandel. Früher war der Kiosk ja schon mal bis übers Dach zugeschneit, heute aber falle kaum noch Schnee. Am Kiosk flitzen jetzt ältere Damen auf ihren Elektro-Fahrrädern vorbei wie einst Eddy Merckx, und die prominenten Gäste schweben mit dem Helikopter ein. Bei allem Klatsch sind Margrit und Rosa-Maria jedoch äußerst diskret, kein Mensch wird je erfahren, welche Art von Lektüre der Pfarrer gelegentlich bei ihnen kauft.

Arno Camenisch hat seinen Dörflern als Chronist sich ändernder Zeiten sehr genau ‹aufs Maul geschaut›. Die beiden unentwegt schwätzenden, einfältigen Kiosk-Damen kommen vom Stöckchen zum Hölzchen in ihrem Tratsch. Denn der schließt letztendlich alles ein, vom belanglosen Dorfklatsch bis hin zum großen Weltgeschehen, das auch in diese alpenländische Idylle hineinwirkt. Es gibt keine Handlung, ihr Zwiegespräch wird auch von keinem Kunden unterbrochen, alles entwickelt sich in Rückblenden allein aus dem Dialog. Es wird also quasi in Echtzeit erzählt, man braucht als Leser für die knapp hundert Seiten dieses kleinformatigen Büchleins kaum zwei Stunden. Und da ist es bei den Damen, die zu Beginn der Geschichte morgens ihren Kiosk aufschließen, ja noch nicht mal Mittag. Dieses ironische Requiem auf den Kiosk als solchen ist mit seinem amüsanten, alpenländischen Idiom eine angenehm unterhaltende Lektüre.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Engeler-Verlag