Der Prozess

Jahrhundertwerk

Aus dem «nächtlichen Gekritzel» von Franz Kafka sind drei unvollendete Romane hervorgegangen, einer davon ist «Der Prozess». Anfang 1915 hatte er notiert «Ich kann nicht mehr weiter schreiben» und die Arbeit resigniert abgebrochen. Nach dem frühen Tod des Autors hat der von ihm eingesetzte Nachlaßverwalter, sein Freund Max Brod, 1925 das unvollendete Manuskript posthum veröffentlicht, gegen Kafkas ausdrücklichen Willen. Mit diesem Vertrauensbruch hat er der Literatur jedoch einen nicht hoch genug einzuschätzenden Dienst erwiesen. Im Nachwort zur Erstausgabe hatte Brod angemerkt, dem publizierten Roman fehle nichts Wesentliches. Das inzwischen längst kanonische Werk erlangte im deutschen Sprachraum aber erst in den fünfziger Jahren seine bis heute andauernde Bedeutung, sein Autor gehört zu den weltweit meistgelesenen Schriftstellern in deutscher Sprache.

«Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet». Bereits im ersten Satz dieses Romans ist vieles von dem enthalten, was seine bedrückende Thematik ausmacht. Der Prokurist einer Bank erhält am Morgen seines dreißigsten Geburtstags Besuch zweiter Männer, die ihm erklären, dass er verhaftet sei. Er sieht sich plötzlich in den Fängen einer ominösen Gerichtsbarkeit, die nur in einer Schattenwelt zu existieren scheint, kann aber weiter seiner Arbeit nachgehen. Während der gesamten Prozessdauer, und damit während des gesamten Romans, erfährt Josef K. nicht, wessen er beschuldigt wird. In einem surrealen Szenarium wird er dann sonntags ohne Zeitangabe telefonisch zu einer ersten Untersuchung geladen, die im Dachboden einer schäbigen Mietskaserne stattfindet. Nach einem unergiebigen Palaver verlässt er mit der unbestimmten Ladung zu einer weiteren Untersuchung diese skurrile Sitzung. Mit allen Mitteln versucht er nun, mehr über das rätselhafte Gericht zu erfahren. Als sein Onkel von dem Verfahren erfährt, bringt er ihn zu einem Advokaten, der in seiner Angelegenheit tätig werden soll. Dessen Hausmädchen macht ihm eindeutige Avancen und bietet sich ihm zudem als Informantin an. Von einem anderen Klienten mit langjähriger Erfahrung bekommt er wichtige Hinweise, ein «Gerichtsmaler» will ihm ebenfalls zur Seite stehen mit seinen Kenntnissen der Gerichts-Interna, und die Frau eines Gerichtsdieners schließlich ist ihm ebenfalls gewogen und will helfen. Trotz aller Bemühungen aber gelingt es ihm nicht, irgendeinen Zugang zu diesem äußerst merkwürdigen Gericht zu finden oder auch nur einen Hinweis über den Stand seines Verfahrens zu erhalten. Zuletzt stellt sich ihm ein Geistlicher im Dom als Gefängniskaplan vor, der von seinem Prozess weiß und ihn über seine hoffnungslose Situation mit Hilfe einer Parabel aufzuklären versucht. In der kann Josef K. allerdings keine Parallelen zu seinem Fall erkennen.

Die verstörende Problematik des Romans lässt vielerlei Deutungen zu, Kafkas absurde Geschichte beschäftigte diverse Interpreten, die sich intensiv damit auseinandersetzten und verschiedenste Erklärungsmuster zu erkennen glaubten. Besonders einleuchtend als Intention ist die harsche Kritik an einer unmenschlichen, die Freiheitsrechte missachtenden Bürokratie. Leitmotivisch wird dementsprechend in diesem Roman das Bett verwendet als Rückzugsort vieler der Figuren, aber auch Türen spielen als behütende Barriere häufig eine wichtige Rolle.

Kafkas absurde Geschichte wird in nüchterner Sprache aus der Perspektive des Protagonisten in der dritten Person erzählt. Diese durchgängige Sachlichkeit gibt dem absurden Geschehen einen täuschend realen Anstrich, dem Leser wird somit das Mysteriöse, Unerklärliche als Tatsache suggeriert. Eine derart rätselhaft bedrohliche Thematik wird heute allgemein als kafkaesk bezeichnet, ihr Schöpfer hat somit literarisch eine nach ihm benannte, eigene Form geschaffen. Für Fachleute zählt er unangefochten zu den Jahrhundert-Schriftstellern, sein Werk dürfte die Zeiten überdauern.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Anaconda

Amerika

kafka-1Homo homini lupus

Manchmal erweist es sich als äußerst segensreich, wenn Nachlaßverwalter einen Wunsch des Verstorbenen ignorieren. Im vorliegenden Fall war es Max Brod, der mit einer posthumen Veröffentlichung vieler Werke seines Freundes Franz Kafka gegen dessen erklärten Willen gehandelt hat. Neben vielem Anderen wurden so auch die in der Reihenfolge ihres Entstehens aufgezählten drei Romane «Amerika», «Der Prozeß» und «Das Schloß» veröffentlicht. Ein Jammer, wenn dies nicht geschehen wäre! Ersterer wird heute auch unter dem Titel «Der Verschollene» verlegt, was zu dem Erzählten, wie ich es interpretiere, in der tatsächlich vorliegenden fragmentarischen Form keinesfalls besser passt als der von Brod gewählte Titel «Amerika».

Verschollen nämlich ist hier niemand, der tragische 17-jährige Held des Romans, Karl Roßmann, wird von seinen Eltern in die USA geschickt, weil er sich von einem doppelt so alten Dienstmädchen hat verführen lassen, die dann prompt auch schwanger wurde. Er wird also regelrecht abgeschoben von seinen Eltern, um als Auswanderer, wie schon so viele andere vor ihm, in der Neuen Welt sein Glück zu machen. Aber was er dann erlebt im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», das ist alles andere als Glück, er findet sich auf einer permanenten Abwärtsspirale wieder, seine Situation wird immer unerfreulicher und beklemmender, obwohl er sich als bescheidener, fleißiger und aufgeweckter junger Mann alle Mühe gibt, obwohl er sich für keinen Job zu schade ist.

Kafkas literarische Ausdrucksform, dieser typisch lakonische, rätselhafte und bedrohlich wirkende, aber glasklare Schreibstil erzeugt eine albtraumartige Stimmung beim Leser, der unwillkürlich mit dem Protagonisten mitfühlt, ungewollt tief hineingezogen wird in die Verstrickungen der Geschichte und ihrer traumatischen Wendungen. Der Held erscheint uns wie jemand, der ins Moor gefallen ist und nun durch jede seiner Bewegungen, mit denen er sich retten will, immer tiefer hinein sinkt. Dieses typische dem Unrecht und der Schikane ausgeliefert sein des gutwilligen Individuums, das sich ähnlich auch in den beiden anderen Romanen der Trilogie findet und hier wie dort zu gleichermaßen bedrohlichen wie grotesken Situationen führt, hat das sogar dudenwürdige Adjektiv kafkaesk entstehen lassen, dem Autor somit ein weiteres Denkmal setzend über sein Werk hinaus.

«Homo homini lupus», so hat der englische Philosoph Thomas Hobbes kurz und knapp in seiner berühmten Staatstheorie mit dem Titel «Leviathan» seine Prämisse formuliert, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. «Amerika» nun, – ich bleibe bewusst bei diesem Romantitel, weil er perfekt passt zu dieser Geschichte -, ist der schlagende Beweis für die Richtigkeit der These, sei es in der Fiktion dieses Romans oder in der heutigen Wirklichkeit eines Staates, dessen Rüpelhaftigkeit nicht nur durch den aktuellen Skandal um den US-Geheimdienst NSA demonstriert wird. Eine Nation, in der es mehr Schusswaffen gibt als Einwohner, genau deren raue Mentalität hat Kafka in seinem Roman gekonnt benutzt, um sein Thema zu verdeutlichen, er hätte sich keinen besseren Handlungsort aussuchen können. Bestens passend dazu ist die Schilderung der gigantischen Handelsfirma des reichen Onkels wie auch das nicht minder riesenhafte Hotel «Occidental», und die Krone dieser Monstrositäten ist im letzten Kapitel das «Naturtheater von Oklahoma», für das in einer ebenso kitschigen wie absurden Anwerbeveranstaltung massenhaft Leute gesucht werden. Mit hunderten Posaune blasenden Engeln und Teufeln am Eingang eine deutliche Metapher für das Jenseits, denn trotz aller Gespräche und Prüfungen steht eines vorab schon fest: Genommen wird jeder! Ein toller Roman für Leser, die Absurdes nicht irritiert, die den Faden der Handlung gerne selbst weiterspinnen und sich durch das Fragmentarische mit Wonne zu eigenen Gedankengängen inspirieren lassen möchten.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Anaconda

Vor dem Gesetz

Im Mittelpunkt dieser kleinen Kunstsammlung steht Franz Kafkas Parabel \”Vor dem Gesetz\”, die seinem Roman \”Der Process\” entstammt. Wie so oft bei Werken dieses Autors lässt der Text den Leser zunächst einigermaßen ratlos zurück, denn er bekommt keine einfachen Lösungen geboten, sondern muss schon selbst das Gehirn einschalten und dann lohnt sich das auch.

Passend zum Thema findet man 21 kritische Karikaturen des französischen Illustrators Honoré Daumier, allesamt gelungen, wenn auch wenig schmeichelhaft für die Jurisprudenz.

Der Herausgeber Rupi Frieling höchstselbst hat ebenfalls eine Geschichte beigesteuert; \”Die Sprengung\”, ein reichlich kafkaesker Text, der somit natürlich perfekt in den Rahmen passt.

Abgerundet wird diese anspruchsvoll gelungene Zusammenstellung von Kleinodien durch interessante Kurzbiografien der Beteiligten; es bleiben also keine Wünsche offen.


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin