Nach Hause schwimmen

Alles andere als literarisch frigid

Mit seinem fünften Roman «Nach Hause schwimmen» ist der Schweizer Schriftsteller Rolf Lappert von der Jury des Frankfurter Buchpreises 2008 auf die Longlist gewählt worden, er wurde damit erstmals einem größeren Lesepublikum bekannt. Das Werk wurde im gleichen Jahr auch mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet, es ist sein bisher größter Erfolg. Auch sieben Jahre später war er mit «Über den Winter» Finalist in Frankfurt, thematisch verwandt sind beide Romane mit ihren wegen psychischer Defekte am Leben scheiternden Protagonisten.

Das Unglück verfolgt Wilbur, seit er geboren wurde. Seine Mutter stirbt bei der Frühgeburt, der Vater verschwindet spurlos, das Kind kommt ins Waisenhaus. Bis seine irischen Großeltern ihn zu sich holen und die Großmutter den kleinwüchsigen Jungen umsorgt. Als sie bei einem Unfall stirbt, kommt er zu puristischen Pflegeeltern, die ihn so gängeln, dass er irgendwann Feuer legt und in der Besserungsanstalt landet. Bis ihn dort schließlich Alice befreit, die nette Schwester, die ihn schon im Säuglingsheim geliebt hat und ihn nun adoptiert und nach Amerika holt. Was Wilbur widerfährt wird in einem hoch komprimierten Plot erzählt, der sich als ein wahres Füllhorn an Erlebnissen, Schicksalsschlägen und überraschenden Wendungen erweist. Orte der Handlung sind Amerika, Irland und Schweden, Erzählzeit sind die Jahre seit der Geburt Wilburs 1980 bis zu seinem zwanzigsten Geburtstag. Geradezu verschwenderisch wird da vom Ertrinken erzählt, vom Feuerlegen, von Suizidversuchen, von kriminellen Machenschaften in der Besserungsanstalt, vom Alkoholismus, sogar ein Goldschatz fehlt da nicht. Wilburs Inselbegabung lässt ihn mühelos zum besten Schüler werden, zum überaus talentierten Cellospieler zudem, aber auch zum begeisterten Buchleser, Bibliothekar, Cineasten und Verfasser eines dicken Buches über sein Schauspieler-Idol Bruce Willis, in dessen Actionthrillern voller Gewaltexzessen er sich begeistert mit dem Helden identifiziert.

Psychologisch klar nachvollziehbar wird in diesem Roman die Leidens-Geschichte eines körperlich gehandicapten Außenseiters geschildert. Dessen Wut gegen die Welt sowie seine partiell auftretende, emotionale Bindungs-Unfähigkeit stürzen ihn immer wieder in größte Probleme und lösen irrationale, verzweifelte Reaktionen aus. Ein stabiler Platz in der Gesellschaft scheint somit unerreichbar für den Hochbegabten, der sich fleißig und erstaunlich talentiert mit niederen Gelegenheits-Arbeiten weit unter seinem Niveau durchschlägt. Gleich zu Beginn treffen wir den zwanzigjährigen, lebensmüden Protagonisten in einer psychiatrischen Anstalt. Er erzählt aus der Ich-Perspektive, warum er der Welt so glücklos abhanden gekommen ist. «Glück ist dein Lieblings-Song aus dem Radio eines Autos, das an dir vorbeirast und in einen Abgrund stürzt», erklärt er resigniert. Parallel wird in einem zweiten Handlungsstrang, abwechselnd und zeitlich gegenläufig, auktorial von Wilburs Kindheit erzählt, bis die beiden Handlungs-Stränge am Ende zusammentreffen.

Dieser unterhaltsame Entwicklungs-Roman übertreibt es allerdings mit seinem extrem vielschichtigen Plot, in dem eine spannende Geschichte atemlos Schlag auf Schlag vorangetrieben wird, – weniger wäre da mehr gewesen. Als wahre Stärke erweist sich hingegen die bewundernswerte Fähigkeit des Autors, seine vielen Charaktere mit allen ihren schrulligen Eigenarten mit wenigen Worten anschaulich zu beschreiben, in ein paar Sätzen ihr ganzes Leben zu erzählen. Und dies auch bei Nebenfiguren, von jedem hat man ganz schnell erfasst, was für einen Menschen man vor sich hat. Aus den Figuren heraus werden stimmige Bilder erzeugt, entwickelt sich das turbulente Geschehen in diesem Pageturner. Erzählt wird stilistisch unprätentiös, angenehm lesbar und sprachlich durchaus kreativ, er sei «kulinarisch frigid», erklärt Wilbur beispielsweise mal. Wer nicht ‹literarisch frigid› ist, wird diesen komplexen Roman lieben.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Die morawische Nacht

Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens

In «Die morawische Nacht» erzählt Peter Handke von der selbstkritischen Lebensbilanz eines namenlosen Ex-Schriftstellers, in der sich zwar etliche Parallelen zum Autor zeigen, die aber kaum autobiografisch gedeutet werden können. Der Buchtitel bereits weist mit der Morava als Nebenfluss der Donau auf den Balkan hin, und so ist denn der Ort der Rahmenhandlung tatsächlich ein Hausboot, auf das jener Schriftsteller zu später Stunde sieben Freunde einlädt, um ihnen, da er ja nicht mehr schreibt, nun eben mündlich von seiner gerade erst beendeten, langen Reise durch Europa zu berichten.

Überraschend befindet sich auch eine, im allegorischen Sinn schöne Frau an Bord, die bei der Bewirtung hilft, deren Beziehung zu dem als frauenfeindlich geltenden Gastgeber aber im Dunkeln bleibt. Im Laufe der Nacht erzählt nun der «ehemalige Schriftsteller» den einzeln, an getrennte Tische platzierten Freunden, alles Männer natürlich, von seiner Reise, auf der er auch einige der Zuhörer getroffen hat. Die lösen ihn dann ihrerseits zeitweise als Erzähler ab und berichten von dem gemeinsam Erlebten. Einer der Gäste unterbricht immer wieder mal als vorlauter Zwischenrufer den Erzählfluss und stellt Fragen zu unklar gebliebenen Details. Die mit einem klapprigen, uralten Bus der österreichischen Post begonnene Reise aus der serbischen Enklave, wo das Hausboot vor Anker liegt, führt zunächst nach Belgrad. Von dort geht es weiter auf die fiktive Adriainsel Cordura, mutmaßlich Krk, wo Handke einst seinen ersten Roman geschrieben hatte. Nächste Station ist eine gottverlassene Hochebene in Spanien, wo ein Kongress über Lärm und Geräusche stattfindet. In Wien gerät der Erzähler zufällig in ein nicht minder merkwürdiges ‹Festival der Mundorgelspieler› aus der ganzen Welt, danach besucht er das Grab seines Vaters im Harz und fährt nach Kärnten, seiner als «Stammgegend» bezeichneten Heimat.

Die Rahmenhandlung dieser nicht nur von der Textmasse her üppigen Erzählung dient als Vehikel für eine großangelegte, radikale Selbstprüfung des «ehemaligen Autors» in Form einer «imaginierten Reportage». Voller Ironie werden dabei in ebenso lebendigen wie präzisen Bildern, oft phantastisch anmutend, markante Figuren gezeichnet, geheimnisvolle Orte beschrieben, wundersame Begebnisse geschildert. Mit vielen Fragezeichen durchsetzt ist diese handketypisch kleinteilige Prosa in Satzschnipsel zerhackt, üppig mäandrierend und immer wieder durch Ergänzungen, Zweifel, Klarstellungen unterbrochen, meist in Klammern gesetzt. Dieses Buch ist somit auch eine fragmentarische Erzählung über das Erzählen selbst, versinnbildlicht durch die ständigen Korrekturen des bereits Gesagten als untrennbar zum Prozess des Schreibens gehörig. Und bei diesem Prozess kann eine Frau ja nur stören. Schriftsteller zu sein und Liebhaber in einer Person, das erscheint somit völlig unmöglich. Es ist zumindest kontraproduktiv und kann im schlimmsten Fall sogar in Mord und Totschlag enden. Folglich ist die Frau im Buch nur anfangs in einer Nebenrolle sichtbar, ansonsten eher kurz mal als Vision, wie auch ganz am Ende.

Es ist müßig, abzuschätzen, inwieweit diese Selbstbefragung eines Schriftstellers wirklich nur den ‹ehemaligen› oder doch auch den nobelpreis-gekrönten Autor selbst betrifft, und wenn letzteres zutrifft, inwieweit sie ernstgemeint ist. Hier wird, oft meditativ anmutend, anhand von Erinnerungen, Reflexionen und präzisen Alltags-Beobachtungen beschrieben, wie einer mit sich selbst nicht klarkommt. Einer, der sich selbst im Wege steht, der keinen an sich heranlassen will, für den das Alleinsein höchstes Glück bedeutet, ein Misanthrop par excellence. Der am Ende seiner Reise dann auch kein Hausboot mehr vorfindet, alles ist weg. Er ist nun wunschgemäß völlig mit sich allein, seine Geschichte aber haben offensichtlich die Freunde aufgeschrieben. Als (selbstironische?) Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens ein intensives Leseerlebnis!

Fazit: lesenswert

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Genre: Erzählung
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Mädchen, Frau etc.

Dieses Buch fesselt von der ersten Seite an, es lebt von der aufmerksamen Beobachtung und Beschreibung der Protagonisten. Wir lernen mit Anteilnahme und Humor ein Dutzend britischer Frauen während der letzten hundert Jahre kennen, alle Generationen sind vertreten, viele kennen sich untereinander.

Manche kommen aus gutem Hause, andere hatten ledige Mütter, manche entdecken für sich den Feminismus der sechziger Jahre (Betty Friedan!), andere sind oder werden lesbisch, nie verschämt, mal kämpferisch. Amma etwa nimmt sich vor, nur einmal mit derselben zu schlafen, und als sie sich ein Kind wünscht, lässt sie sich von ihrem schwulen Freund Roland (künstlich!) befruchten. Die Tochter Yazz ist inzwischen eine Studentin, strotzt vor Selbstbewusstsein und wickelt ihre Eltern um den Finger; getrennt, versteht sich.

Wir lesen die Geschichte von Hattie, einer Gutsbesitzerin im Norden Englands, andere sind Lehrerinnen an Schulen, die sich in jungen Jahren an der Aussicht erfreuten, etwas zur Bildung gerade sozial Schwacher beizutragen, dies zeigt sich nach Thatcherschen Schul- und anderen Reformen als Illusion und führt zumindest bei Shirley zu Verbitterung. Dass ihre eigene Mutter sie auch noch mit ihrem Mann betrügt, erfährt sie zum Glück nicht. Es werden Vertreterinnen der weiblichen Linie bis zur Urgroßmutter vorgestellt, und die Spannungen zwischen den Generationen gespiegelt.

Das Buch ist geschrieben, wie man spricht, mit spärlicher Interpunktion, und unter Vermeidung direkter Rede. Es ist das Besondere des Stils, dass es weniger Dialoge gibt, aber dafür werden die Gedanken der Protagonistinnen aufgeschrieben, also auch das, was nicht gesagt wird. Ich habe es erst im englischen Original gelesen, die Übersetzerin ist tapfer, nicht immer gelingt es ihr, den frechen Stil der Autorin wiederzugeben, auch weil diese gerne Abkürzungen verwendet, wie bei der SMS Sprache.

Durchgängig ist im Buch Sex wichtig, jede entdeckt für sich, wie sie es am liebsten hat, ohne Details über erotische Techniken. Alter spielt dabei keine Rolle. Als Penelope sich mit über 70 einen neuen Lover sucht, erwägt sie, sich die Schamhaare färben zu lassen, ist dann aber nicht nötig…

Bei den ganz Jungen, wie Yazz, geht es um Gender-, auch Transgenderfragen, es geht auch darum, welchen Pronomina das selbst gewählte Geschlecht verlangt, hier ist die deutsche Sprache deutlich spröder als das Englische.

Der Aufbau des Buches ist folgender: Amma ist trotz ihrer aus Afrika stammenden Eltern eine erfolgreiche Dramaturgin am National Theater geworden. Heute Abend ist Premiere ihres Stückes und die meisten Menschen, die sie in ihren über fünfzig Jahren begleitet haben, werden kommen, auch danach zur Premierenfeier.

Das Theaterstück wurde vor zehn Jahren von Amma geschrieben, (und so lange dauerte es, bis sie es auf inszenieren durfte) über das vorkoloniale Benin, in dem der König, aus Angst vor männlichen Rivalen seine Sicherheitsgarde aus Frauen gebildet hatte. Mehrere Hundert waren es, formal mit ihm verheiratet, und sie durften von keinem Mann gesehen, geschweige denn, berührt werden. Irgendwann wenden sie sich gegen ihn, dann zueinander und genießen ihr lesbisch Sein.

Im Buch folgen nach Ammas Gedanken auf dem Weg zum Premierenabend die Biographien der (sie selbst eingeschlossen) zwölf Frauen, die alle afrikanische Vorfahren haben. Es geht um Kindheiten in Nigeria, auf Barbados und die schwierigen Eingewöhnungszeiten in England, die Diskriminierungen als Schwarze, die manche schon als Kinder, alle als Erwachsenen erfahren haben, werden präzise und ohne Larmoyanz beschrieben.

Die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen werden aufgeführt, in London werden Stadtviertel gentrifiziert, auf dem Lande erlebt Hattie die Industrialisierung der Landwirtschaft.

Und was ist mit den Männern? Sie gibt es als Väter, Brüder, Ehegatten und (Schwieger)Söhne, wie die Frauen sie wahrnehmen. Auch sie wurden als Kinder des britischen Empire irgendwann Briten. Anders verlief nur die Jugend von Hatties Mann Slim: er war ein US-Soldat aus Georgia, Nachfahre von Sklaven, der wegen Hattie in England blieb und die Engländer als viel respektvoller empfand: Niemand hier hat ihn je Boy gerufen. Ironie des Schicksals: in einem Geheimfach von Hatties Vorfahren findet er Dokumente, die belegen, dass Grundstock des Vermögens Sklavenhandel war. Und Hattie muss beobachten, wie die gemeinsamen Kinder Besuchern erzählen, ihr Vater wäre ein angestellter Landarbeiter.

Nur Rolands Gedanken werden uns, wie die der Frauen, im O-Ton beschrieben. Er ist von sich sehr angetan, immerhin gehört er zum Establishment als TV Promi, Prof. für Soziologie, und das als Einwandererkind, das mit zwei Jahren aus Gambia gekommen war! Leider will keiner der langjährigen Bekannten, die er auf der Premierenparty trifft, seine langen Predigten über das Theaterstück, oder Ergüsse zu anderen Aspekten des Lebens anhören. Es sind Szenen wie diese, die sich mit

Vergnügen lesen, weil Menschenkenntnis und Humor zusammentreffen.

Überhaupt ist die Premierenfeier, auf der reichlich Prosecco fließt, und wo so unterschiedliche Menschen zusammengewürfelt werden, ein Genuss, schon die Beschreibungen der Outfits, viele haben einen afrikanischen Touch. Erfrischend ist, welche Schlüsse gezogen werden, etwa, dass Frauen mit festem Schuhwerk wahrscheinlich lesbisch sind.

Und wir sehen, wie sich Menschen entwickeln können, wie alte Überzeugungen gepflegt, oder eben geändert werden. Nochmal zum Sex: Amma bevorzugt jetzt Dreier, gerne in langjährigen Beziehungen.

Das Buch ist spannend, flott geschrieben und überzeugt durch die klug gewählten und gut getroffenen Persönlichkeiten. Das ist einfach guter Stoff. Zum Schluss gibt es dann noch einen Epilog, mit dem sich ein Kreis schließt …


Genre: Frauenliteratur, Politik und Gesellschaft
Illustrated by Tropen Verlag

Taxi

Existenzielle Trostlosigkeit

«Taxi» von Karen Duve geht auf ihre Tagebücher aus mehr als 13 Jahren als Hamburger Taxifahrerin zurück. Sie hatte dieses Material zu einem als ihr Debüt geplanten 800-Seiten-Roman kompiliert, es fand sich jedoch kein Verleger dafür. Später hat sie ihre autobiografische Geschichte von den Erlebnissen der «Zwodoppelvier», wie sie im Jargon der Taxifunk-Zentrale mit der Kennnummer ihres Wagens immer nur genannt wurde, radikal gekürzt und mit großem Erfolg als ihren vierten Roman veröffentlicht, dessen Erzählzeit von 1984 bis 1990 reicht.

Die junge Alexandra, Ich-Erzählerin des Romans und Alter Ego der Autorin, meldet sich nach einer abgebrochenen Ausbildung kurz entschlossen auf eine Stellenanzeige als Taxifahrerin. Trotz mangelnder Ortskenntnisse besteht sie die Prüfung und kurvt fortan mit ihrem Taxi durch Hamburg, mit der gleichen Kennung 244, die einst auch der Wagen der Autorin hatte. Alex, wie sie von den Kollegen genannt wird, fährt von Beginn an nur Nachtschicht, weil da mehr zu verdienen ist. Sie versteht sich durchzubeißen in der sehr speziellen Welt der Taxler und gerät in einen munteren Kreis von ausschließlich männlichen Kollegen, die dem gängigen Klischee vom ‹Akademiker im Taxi› erstaunlich nahekommen. Da ist vor allem Dietrich, ein verkappter Kunstmaler, mit dem sie schon bald eine längere Affäre hat, ferner dessen bester Freund Rüdiger, ein Möchtegern-Philosoph, der als Frauenhasser ständig hitzige Diskussionen mit Alex führt. Ihr Privatleben wird als zielloses Dahinvegetieren mit ständigen Geldnöten geschildert, in dem außer ihren Männer-Geschichten nichts passiert. Wenn sie überhaupt mal ein Buch liest, dann eines über Affen, Dian Fossey fasziniert sie besonders. Zufällig trifft sie Marco wieder, einen kleinwüchsigen, ehemaligen Schulkameraden, der sich als guter Liebhaber erweist. Sie will sich aber keinesfalls in der Öffentlichkeit sehen lassen mit Marco, was zur Entfremdung zwischen ihnen führt. Schließlich hat sie noch eine heiße Affäre mit ihrem Nachbarn Majewski, einem windigen Journalisten und Frauenheld. «Sein Körper schob sich wie ein Sargdeckel über mich» heißt es lakonisch über das erste Mal.

Diese Männer-Geschichten bilden das spärliche Handlungs-Rückgrad des zweiteiligen Romans, der in 113 vignette-artigen Kapiteln Anekdote nach Anekdote aneinanderreiht. Die Fahrgäste bilden dabei ein Panoptikum verschiedenster Typen, die häufig auch aus dem Rotlichtmilieu stammen. Oft sind es Betrunkene, es gibt viel Ekliges wegzuwischen und Gestank zu ertragen, nicht nur von Rauchern. Alex erlebt den permanenten Kampf um den besten Standplatz und die lukrativste Tour, bekommt mal verschwenderisch viel und manchmal auch gar kein Trinkgeld. Sie muss gelegentlich sogar ihrem Geld hinterherlaufen, wenn der fiese Fahrgast nicht zahlen kann oder will. All diese Erfahrungen bewirken keine ‹Éducation sentimentale›, die Protagonistin wird nicht geläutert, «Taxi» ist auch kein Entwicklungsroman, sondern eine emotionslose Schilderung existenzieller Trostlosigkeit ohne erkennbaren Ausweg.

Mehr Authentizität als in diesem Roman ist fast nicht möglich, Karen Duve erzählt schonungslos und oft lakonisch mit dem Insider-Wissen aus mehr als einem Jahrzehnt. Sie schildert ganz unsentimental die für ihre Romane typische Antiheldin als antriebslos und entscheidungs-unfähig. Mit scharfem Blick für Details wird dabei unentwegt aus dem Alltag der Taxifahrerin berichtet, was durch ständige Wiederholungen allmählich doch ermüdend wirkt. Stilistisch dem Milieu angepasst, ist ihre Sprache eher karg, mit ironischem Unterton. Störend an diesem ambivalenten Roman ist ein, angesichts der Kongruenz Heldin/Autorin, peinlicher Narzissmus, der zum Beispiel beim Bruch mit Dietrich in dem Satz gipfelt: «Jemanden wie mich würde er nie wieder finden». Trotz eines geradezu albernen Shutdowns ist dieser Roman gleichwohl eine angenehme Lektüre, die zuweilen sogar mit ihrer Alltags-Philosophie zu überraschen vermag.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Eichborn Verlag

Die Stille

Die Stille im Kopf des Lesers

Der neueste Roman des Postmodernisten Don DeLillo mit dem deskriptiven Titel «Die Stille» wird oft als Dystopie missverstanden. Diese einen einzigen Tag des Jahres 2022 schildernde Erzählung ist eine nüchterne Zustandsbeschreibung, keine negative Zukunftsvision. Plakativ könnte man das so umschreiben: Nehmt doch mal allen Leuten ihre Smartphones weg und schaut, was dann passiert! Der amerikanische Autor hat den Bogen aber noch viel weiter gespannt, er nimmt einfach den Strom weg. Ein Zusammenbruch aller digitalen Systeme ist die Folge. Alle Bildschirme bleiben schwarz, früher oder später sind auch alle Akkus leer, und sämtlichen Notstrom-Aggregaten geht der Treibstoff aus.

In New York haben sich fünf Menschen verabredet, abends gemeinsam das Finale der American Football-League im Fernsehen anzuschauen. In ihrem Appartement warten die emeritierte Physik-Professorin Diane, Max, ihr footballsüchtiger Mann und Martin, einer ihrer Ex-Studenten mit Savant-Syndrom, auf ein befreundetes Paar, das rechtzeitig mit dem Flugzeug aus Paris zurückkehren will. Die farbige Tessa, eine Journalistin und Schriftstellerin, und ihr Mann Jim führen im Flugzeug eine banale, belanglose Konversation, sie starren auf die Bildschirme vor ihnen. Sowohl im Appartement als auch im Flugzeug werden die Protagonisten von außen bespaßt, sie reden nicht über sich, über ihre Erlebnisse, sie kommentieren nur die Bilder, die sie vorgespielt bekommen. Bis im Landeanflug die Displays plötzlich schwarz werden, die Maschine ins Trudeln gerät und zur Notlandung ansetzt. Leicht lädiert flüchten die Beiden aus dem havarierten Flugzeug und werden in eine Klinik gebracht, wo Jims Kopfverletzung ambulant versorgt wird. Da der Verkehr völlig zusammengebrochen ist, müssen sie zu Fuß zur Wohnung ihrer Freunde gehen. Was sollten sie auch sonst tun?

Vor dem schwarzen Bildschirm kommentiert der enttäuschte Max pantomimisch in allen Details ein fiktives sportliches Geschehen auf der Mattscheibe, einschließlich aller eingeblendeten Werbeclips. Diese makabre Reportage spiegelt eindrucksvoll die beängstigende Situation, auf die sich alle keinen Reim machen können, über die es allenfalls Mutmaßungen gibt. Betrifft der totale Crash die ganze Welt? Zusammenhanglos zitiert der inselbegabte Martin immer wieder aus Einsteins Relativitäts-Theorie, auch das Atakama Radioteleskop in Chile wird erwähnt. Es fallen Begriffe wie Krypto-Währung, Cyberangriff, Biowaffen, digitales Wettrüsten, autonome Drohnen. Gibt es womöglich bereits Menschen, denen ein Telefon implantiert wurde? «Wir werden zombifiziert», sagt Max, «wir werden verspatzenhirnt». Einprägsam ist dem schmalen Bändchen ein Zitat Albert Einsteins vorangestellt: «Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen».

In einem kammerspielartigen Setting dreht sich das nur wenige Stunden umfassende Geschehen um nicht weniger als den Sinn der menschlichen Existenz. Jeder der fünf Protagonisten offenbart in einem theatralischen Schlussmonolog auf seine Weise seine emotionale Leere in einer saturierten Gesellschaft. Die scheint auf mediale Zerstreuungen derart angewiesen zu sein, dass sich ein totaler digitaler Crash schon fast als Nicht-Sein im philosophischen Sinne erweist. Wo nur Äußerliches wichtig erscheint, wo das Menschsein als Gesprächsstoff nicht mehr taugt, wo nur üppiger Wohlstand Befriedigung zu verschaffen vermag, da enttarnt so ein Blackout das virtuelle Paradies als Schimäre, er markiert eine Zäsur. Die allesamt konturlos bleibenden Figuren gleichen leeren Hüllen, sie reden zwar, aber sie kommunizieren nicht miteinander. Um sie herum herrscht die titelgebende Stille, die aber letztendlich auch im Kopf des Lesers keine Spuren zu hinterlassen vermag. Dazu trägt nicht wenig auch das hier ins Extreme komprimierte Erzählen bei, das sich leider allzu oft auf vage Andeutungen beschränkt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Schutzzone

Einsames Nilpferd

Lobhudelei beim Feuilleton und überwiegende Ablehnung bei den Leserkritiken kennzeichnen den Roman «Schutzzone» von Nora Bossong, der 2019 immerhin für den Frankfurter Buchpreis nominiert wurde. Schon mit dem Titel, mehr noch mit dem treffend gewählten Titelbild, wird auf die Vereinten Nationen hingewiesen, und damit auf eine literarisch noch wenig erschlossene Thematik. Was denn wohl auch das große Interesse an diesem Buch erklärt, erzählende Literatur kann ja auf unterhaltende Art durchaus auch Horizonte erweitern. Erfüllt dieser Roman denn derartige Erwartungen?

Durch einen Zufall lernt Ich-Erzählerin Mira in New York einen UNO-Mitarbeiter kennen, der sie spontan als seine Assistentin engagiert. Schon bald wird sie mit anspruchsvolleren Aufgaben betraut, weil sie insbesondere die Gabe besitzt, zuhören zu können, was sie als Gesprächs-Partnerin für diffizile diplomatische Verhandlungen besonders auszeichnet. Fortan pendelt sie, mit den verschiedensten Aufträgen betraut, zwischen New York, Genf, Den Haag und Bujumbura in Burundi hin und her. Ausgehend vom Jahr 2017 erzählt die Autorin in ständig wechselnden Rückblenden bis ins Jahr 2003 von ihrer Arbeit in verschiedenen Krisenregionen, bis 1994 zurückreichend auch ein wenig aus ihrer freudlosen Kindheit. Damals wohnte sie nach der Trennung ihrer Eltern als junges Mädchen einige Monate bei guten Freunden ihrer Mutter in der Nähe von Bonn. Deren acht Jahre älteren Sohn Milan trifft sie dann später bei der UNO wieder. Zwischen ihr und dem inzwischen verheirateten Mann entwickelt sich eine von vornherein zum Scheitern verurteilte, kurze Liaison. Beruflich ist sie unter anderem in diplomatischer Mission im Zypernkonflikt engagiert, später aber auch in Burundi, wo sie sogar in Kontakt zu einem mächtigen Warlord kommt, der sie privat empfängt und ihr die Situation im Lande sehr drastisch aus seiner Sicht schildert. Durch diese enge Nähe zum Terror verstrickt sie sich in eine gewisse Mitschuld bei der unzureichenden Aufarbeitung des Genozids in diesem ärmsten Staat der Welt.

Mit hehren Kapitelüberschriften wie Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung und Übergang erzählt Nora Bossong von der Erfolglosigkeit der UNO, der sie das private Scheitern ihrer Protagonistin gegenüberstellt. Dabei begnügt sie sich auf das reine Beschreiben, sie schildert, was ist, ohne moralisierend Verlorenheit, Unvermögen und Machtgier in einem politischen Ränkespiel anzuprangern, das sie an einer Stelle als «politische Balztänze» bezeichnet. Köstlich ist das Nilpferd-Spiel, mit dem sie die Anarchie der verkrusteten UNO-Bürokratie eindrucksvoll entlarvt. Dabei schleusen Mitarbeiter in ihre offiziellen Berichte das völlig unsinnige Wort «Nilpferd» ein, das mit dem Vorgang selbst nicht das Geringste zu tun hat. Gewinner ist derjenige, dessen Ausarbeitung unbeanstandet durch alle Instanzen bis in die Hände des höchsten Vorgesetzten gelangt. Ein starkes Bild für die Inkompetenz dieser ohnmächtigen Mega-Bürokratie!

In einem einzigen inneren Monolog wird hier sachlich und nüchtern vom diplomatischen und persönlichen Scheitern erzählt, wobei ein in langen Sätzen artikulierter, elegischer Tonfall für eine äußerst depressive Stimmung sorgt. Die wenigen Figuren treten kaum in Dialoge miteinander, sie bleiben als Charaktere farblos, geradezu unnahbar, sie wirken fast schon wie Untote. Man erfährt wenig über sie und schon gar nichts, was sie sympathisch erscheinen lassen könnte, das pralle Leben also wird hier total ausgeblendet. Ebenso uneindeutig ist auch die Auseinandersetzung mit der Thematik selbst, weder die weltpolitische Organisation als solche noch die ethischen Fragen in den ständig neu aufbrechenden Konfliktherden werden hinterfragt. Letztlich bleibt von diesem handlungslosen Roman, dessen fast unsichtbare Heldin immer wieder nur sinnierend aus dem Fenster schaut, lediglich maßlose Langeweile zurück, ohne Bereicherung in der Sache, – sieht man mal von dem einsamen Nilpferd ab.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Das Lied von Bernadette

Denkwürdig

Der erfolgreichste Roman von Franz Werfel, «Das Lied von Bernadette», entstand aufgrund eines Gelübdes, das der österreichische Schriftstellers auf der Flucht vor den Nazis im Juni 1940, während seines kurzen Zwischen-Aufenthalts im Wallfahrtsort Lourdes, in großer Bedrängnis abgelegt hatte: Er würde einen Roman über das Wunder von Lourdes schreiben, wenn er das rettende Amerika erreicht. «Ich habe es gewagt, das Lied von Bernadette zu singen, obwohl ich kein Katholik bin, sondern Jude» hat er ein Jahr später beim Erscheinen seines Romans in Los Angeles angemerkt, wo er glücklich Zuflucht gefunden hatte. Die 1933 von Pius XI heiliggesprochene Bernadette Soubirous hatte als 14jähriges Mädchen zwischen 11. Februar und 16. Juli 1858 insgesamt 18 Visionen, die von Wissenschaft, Politik und Kirche zunächst argwöhnisch bezweifelt, später dann aber als Marien-Erscheinung gedeutet wurden.

Beim Holzsuchen erscheint Bernadette in der Grotte von Massabielle nahe dem Fluss Grave plötzlich eine wunderschöne Dame im weißen Kleid mit einem blauen Gürtel. Sie ist barfüßig, auf beiden Füßen befindet sich eine goldene Rose, sie lächelt freundlich, spricht aber kaum. Als Bernadette am nächsten Tag mit einigen Freundinnen wieder zur Grotte geht, gibt ihr die Dame zu verstehen, sie möge zwei Wochen lang täglich wiederkommen. Während der Begegnung mit der Dame bemerken die Freundinnen, die die Dame selbst nicht sehen können, eine wundersame Verklärung in Bernadettes Gesicht, sie ist in ihrer Ekstase der Umgebung völlig entrückt. Bei einem dieser Treffen flüstert die unnahbare Dame immer wieder nur «Buße, Buße, Buße». Schließlich fordert sie Bernadette auf, sie möge in der Grotte die Quelle suchen, aus ihr trinken und sich darin waschen. Und tatsächlich findet das Mädchen eine bisher unbekannte feuchte Stelle im Sand, von der niemand etwas wusste. Sie wird von den Bewohnern sogleich als überraschend ergiebige Wasserquelle gefasst. Kurz darauf ereignet sich an dem schwerkranken Nachbarkind die erste spontane Wunderheilung, nachdem die verzweifelte Mutter ihren kleinen Sohn in den Quelltopf getaucht hatte.

Franz Werfel erklärt im Vorwort: «All jene denkwürdigen Begebenheiten, die den Inhalt dieses Buches bilden, haben sich in Wirklichkeit ereignet». Und er ergänzt: «… ihre Wahrheit ist von Freund und Feind und von kühlen Beobachtern in getreuen Zeugnissen erhärtet». Mit einem stattlichen Figuren-Ensemble von mehr als 60 Personen aus Familie, Nachbarschaft und Amtsträgern von Staat und Kirche erzählt er neben der Geschichte seiner Seherin von den weitreichenden Auswirkungen ihrer mysteriösen Erscheinungen. In diesem fiktiven Teil seines Romans erweist er sich als begnadeter Erzähler, der besonders seine Figuren sehr lebensnah als Charaktere schildert, die viele Typen des Menschen-Geschlechts glaubwürdig verkörpern. Er nutzt vor allem die gelehrten Dialoge der verschiedenen Honoratioren und des Klerus für kontemplative Betrachtungen des Geschehens aus unterschiedlichsten Perspektiven, behält als Autor aber stets die nötige Distanz.

Auch wer als Atheist dem katholischen Mummenschanz ablehnend gegenüber steht, wird hier in Vorgänge und Usancen einer Weltreligion eingeweiht, die in Rom den Statthalter Christi auf Erden als unfehlbare Instanz etabliert hat. En passant erfährt man dabei faszinierende Details aus dem Klosterleben und von der pompösen Zeremonie einer Heiligsprechung. Besonders vergnüglich zu lesen sind die Ränkespiele zwischen Politik und Kirche, die an ein Schwarzer-Peter-Spiel erinnern, aus dem sich sogar Napoleon III tunlichst herauszuhalten versucht. Erstaunlich ist, dass es dem Autor trotz der weitgehend bekannten Fakten gelingt, einen Spannungsbogen aufzubauen, der bis zum Ende anhält. Bei der Heiligsprechung ist der als Erster durch Wunderheilung genesene Nachbarjunge als alter Mann unter den Besuchern im Petersdom, damit schließt sich äußerst elegant der Handlungsbogen einer denkwürdigen Geschichte.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Insel Taschenbuch

BL-Metamorphosen: Geheimnis einer Freundschaft 2

Vertiefung der Freundschaft

Zusammen stürzen sich die 17-jährige Schülerin und Buchverkäuferin Urara Sayama und die 75-jährige pensionierte Kalligrafielehrerin Yuki Ichinoi in das Abenteuer einer Manga-Messe. Beide unerfahren auf diesem Gebiet, aber voller Enthusiasmus überstehen sie lange Warteschlangen, unübersichtliche Hallen und die mehrstündige Verspätung ihrer Lieblingsmangaka. Das lange Warten, Erschöpfung und müde Beine lohnen sich: Sie können mit “ihrer” Mangaka ein paar Worte wechseln, ihr die Hand schütteln – und ihren neuesten Manga erwerben. Auch weiteres Lesefutter von Dojinshi-Zeichnerinnen ist hoch willkommen und sorgt gerade bei Urara für Überraschungen, denn Yuki interessiert sich durchaus für explizitere Manga mit ausnehmend hübschen Männern.

Wieder zuhause wird eifrig über die Messe diskutiert, eine monatliche Diskussionrunde ins Leben gerufen und auf Neuerscheinungen aufmerksam gemacht. Dabei kommt aber auch der Alltag nicht zu kurz: Ob das der überraschende Besuch von Yukis erwachsener Tochter ist oder der Liebeskummer von Uraras Sandkastenkumpel – sowohl Alltag als auch Hobby verbinden sich harmonisch, bieten Austausch- und Erfahrungsgelegenheiten und damit eine Vertiefung der ungewöhnlichen Frauenfreundschaft. Nur über eins traut sich Urara nicht zu sprechen: die Liebe. Denn das scheue Mädchen ist in der Liebe gänzlich unerfahren.

Harmonische Verbindung von Alltag und Hobby

Die harmonische Verbindung zwischen Alltag und Hobby setzt der Manga auch in der Panel-Gestaltung um: Die Schlüsselszenen des Lieblingsmangas der beiden Frauen tauchen in ruhigen Momenten immer wieder auf und gehen nahtlos über in die Alltagsszenen; eine Erzählung innerhalb der Erzählung. Auch der stressige Arbeitsalltag einer Mangaka wird angerissen und steht in deutlichem Kontrast mit dem friedlichen Dahinplätschern des Schülerdaseins von Urara und dem der Pensionärin Yuki. Die Mangaka lebt zwar ihren Traum, zahlt aber einen hohen Preis in Form von Stress und chronischer Schlaflosigkeit. Wohl ein Grund, warum ihre Freundin lieber Dojinshi-Zeichnerin bleiben und nicht ins Profi-Geschäft einsteigen will.

Dafür bietet die Mangaka durch ihre Geschichte Fans schöne Stunden allein und/oder gemeinsam, denn der Austausch über das Lieblingshobby fördert durchaus das soziale Miteinander. In jedem Fall fördert es die Freundschaft von Yuki und Urara, bietet aber auch Anlass zum Nachdenken für Uraras Sandkastenfreund, der unwillkürlich seine Kumpeline mit seiner Freundin vergleicht. Die Freundin selbst, obwohl hübsch und diszipliniert, fühlt sich der eher unscheinbaren Urara unterlegen, schafft es Urara doch, mit ihrem Freund ganz selbstverständlich umzugehen. Urara selbst weiß, dass sie eher einen Außenseiterstatus und es damit schwer hat und versteht die Reaktion des beliebten Mädchens nicht.

“Frauenbild einmal anders, bitte!” “Et voilà!” 🙂

Auch das ist in diesem Manga wohltuend anders: Neben einer Frauenfreundschaft, die trotz Schüchternheit mit Offenheit und Neugier auf die Welt Generationsgrenzen überwindet, sind die beiden weiblichen Hauptfiguren alles andere als dem Zeitgeist entsprechend hübsch.

Yuki ist sichtbar alt und damit per se schon eine Ausnahme in Manga und Comics, die als Hauptpersonen eher junge, hübsche Frauen, am besten sexy aufgemacht (v.a. in Comics und Mangas für männliche Leser) bevorzugen. Dass sie ihres Alters zum Trotz oder gerade deswegen (s. Erfahrung, Gelassenheit) nicht aufs Abstellgleis gehört, beweist Yuki immer wieder, obwohl die Alterserscheinungen sowohl ihres Körpers als auch ihres Hauses, die Alterswehwehchen und die damit einhergehenden Schwierigkeiten nicht verschwiegen werden. Geistig ist sie fit und offen für neue Erfahrungen, die ihre Lebensqualität spürbar verbessern und sie aus der Einsamkeit herausführen. Sie selbst lässt sich innerlich und äußerlich nicht gehen und besucht auch gern mal den Friseur.

Urara erinnert vom Äußeren her eher an eine schwarze, struppige Krähe und ihre winzigen Augen stehen dem asiatischen Schönheitsideal der runden, westlichen Augen in krasser Form entgegen. Urara erinnert ihre Mutter  an die schwarzen (niedlichen) Rußmännchen aus dem von Studio Ghibli produzierten Film “Totoro”. Dass ihre Mutter sie niedlich findet, ist allerdings auch das beste, was Urara bzgl. ihres oft auch männlich aufgemachten Äußeren von ihrer Umwelt erwarten darf. Ihr Sandkastenfreund schätzt noch ihre trotz ihres verschlossenen Gesichtsausdrucks freundliche Art. Beide Frauen machen sich nichts aus Äußerlichkeiten, auch bei anderen nicht, sodass Kommunikation möglich wird. Sie schauen hinter die für Asien so wichtige Maske. Yuki z.B. ist es völlig egal, was andere von ihr und ihrem Hobby halten.

Das doch oft sehr eindimensionale Frauenbild in Comics und Mangas wird so wohltuend erweitert und hat Vorbildfunktion!

Fazit

In wohltuend ruhiger, unaufgeregter Form wird eine ungewöhnliche Frauenfreundschaft, verbunden durch ein ungewöhnliches Hobby, warmherzig und liebevoll beschrieben. Das Frauenbild selbst hebt sich sehr positiv von dem der sonst üblichen Manga und Comics ab, sodass sich “echte” Frauen durchaus wiederfinden und den beiden weiblichen Hauptcharakteren nur fest die Daumen für eine lange, fruchtbare Freundschaft drücken können, die man sich auch im realen Leben wünschen würde.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Chronik eines angekündigen Todes

Mord und Moral

Zu den bekanntesten Werken des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel Garcia Márquez gehört der 1981 erschienene Roman «Chronik eines angekündigten Todes». Die Geschichte geht auf eine wahre Begebenheit zurück. Im Stil des Magischen Realismus geschrieben, zu deren wichtigsten Vertretern der ein Jahr später mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Autor zählt, gehört der schmale Band inzwischen zu den südamerikanischen Klassikern.

«An dem Tag, an dem sie ihn töten sollten, stand Santiago Nasar um fünf Uhr dreißig morgens auf, um das Schiff zu erwarten, mit dem der Bischoff kam». In diesem ersten Satz steckt bereits ein Teil der beißenden Kritik des Autors, Bischoff und Töten werden in einem Atemzug genannt, Ursache und Wirkung also einer rigiden katholischen Sexualmoral, die dem fragwürdigen Ehrenkodex einer naiven, dörflichen Bevölkerung zugrunde liegt. Es ist die Geschichte einer pompösen Hochzeitsfeier und ihrer Folgen. Der erst vor wenigen Monaten in das Dorf gekommene, reiche und charismatische Bräutigam hat sich spontan ein schönes, junges Mädchen zu Braut erwählt. Die ist aber gar nicht begeistert, da sie ihn kaum kenne und nicht liebe. «Auch die Liebe lässt sich lernen», hält ihr die resolute Mutter entgegen, die Eltern stimmen der geplanten Ehe erfreut zu. Als die Schöne ihrer Mutter gesteht, dass sie keine Jungfrau mehr sei, werden ihre Bedenken dahingehend zerstreut, es gäbe da einschlägige Hebammen-Tricks, um dem meist ja ziemlich betrunkenen Bräutigam die geforderte Unberührtheit vorzugaukeln. Die Sache geht schief, nach der Hochzeitsnacht bringt der Bräutigam seine Braut zu den Eltern zurück, als Reklamation quasi. Die wütende Mutter prügelt aus ihr den Namen des Verführers heraus, Santiago Nasar sei es gewesen, ein arabisch-stämmiger junger Mann aus der Nachbarschaft. Die Zwillingsbrüder der Braut führen sich verpflichtet, die Familienehre wieder herzustellen, indem sie den Verführer töten. Der Skandal ist da, jeder im Dorf weiß davon, und jeder weiß auch, was nun geschehen wird.

Der Ich-Erzähler kommt 27 Jahre später in sein Heimatdorf zurück und spricht mit vielen Beteiligten über das noch fest in der gemeinsamen Erinnerung verankerte Geschehen von damals. Die aus seiner Perspektive erzählte Geschichte erscheint nicht nur im Nachhinein völlig grotesk, es bleiben auch viele Fragen offen. Niemand habe das ahnungslose Opfer nachdrücklich vor den auf ihn lauernden Zwillingen gewarnt, keiner habe versucht, die Tat zu verhindern, die meisten aber nahmen die Drohung überhaupt nicht ernst. Die journalistisch knappe Erzählweise klammert beispielsweise die Vorgeschichte der Entjungferung ebenso aus wie das Geschehen in der Hochzeitsnacht. Nur vage wird angedeutet, dass der mit einer andern Frau verlobte Santiago Nasar mutmaßlich nicht der Verführer gewesen sei, was seine Sorglosigkeit erklärt, als er wenige Minuten vor dem Mord doch noch von der Drohung der Zwillinge erfährt.

Garcia Márquez legt den Fokus seiner Erzählung konsequent auf die Umstände vor der Tat, er blendet also alle für die Tat selbst nicht relevanten, voraus gegangenen Geschehnisse bewusst aus. Eine puristische, auf jegliche Spannung verzichtende Erzählweise, die den religiös indizierten, moralischen Irrwitz, der hier geradezu satirisch thematisiert wird, genau deshalb umso deutlicher bloßlegt. Dazu tragen insbesondere auch seine allesamt recht einfältig wirkenden Figuren bei, deren oft verschrobene, undurchsichtige Charaktere er nicht beschreibt, sondern durch ihr irreales Handeln verdeutlicht. Selbst die beiden Täter haben Zweifel an ihrer vermeintlichen Ehrenpflicht. Sie tun alles, um ihr zu entgehen, indem sie ihre Absicht lautstark ankündigen in der Hoffnung, jemand würde beherzt eingreifen und sie vom Tatzwang befreien. Ein fast kammerspielartiges Setting macht diesen kleinen Roman zu einem nachwirkenden Leseerlebnis, dessen offene Fragen den Leser noch lange beschäftigen, gerade weil sie so abstrus erscheinen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Wo wir waren

Zum Träumen einladend

Mit der Nominierung des Romans «Wo wir waren» für den deutschen Buchpreis 2019 hat Norbert Zähringer seine bislang größte Anerkennung als Schriftsteller gefunden. In diesem fünften Roman erweist er sich erneut als ein Autor, der sein ausuferndes erzählerisches Material virtuos in verschiedene Handlungsfäden zu überführen versteht. Es ist mal wieder ein Pageturner, perfekt konstruiert, den er da geschrieben hat, argwöhnisch beäugt vom Feuilleton, das ihn als thematisch überfrachtet hart am Rande des Kitsches verortet.

Narratives Zentrum des weitverzweigten Handlungs-Geflechts ist die Mondlandung 1969. Der Protagonist Hardy Rohn, dessen Leben den dominanten Handlungsfaden des Romans bildet, damals fünf Jahre alt, flieht in dieser Fernsehnacht aus einem schrecklichen Waisenhaus. Als er in aller Frühe plötzlich am Fenster des Science-Fiction-Autors Walther auftaucht, der euphorisch eine Mondlande-Party vor seinem Fernseher veranstaltet, nehmen sich Nachbarn spontan des Jungen an. Ein Jahr später adoptiert das kinderlose Paar den schweigsamen Hardy, und er erweist sich schon bald als wahres Wunderkind. Der ein ganzes Jahrhundert umfassende, vielschichtige Plot vereint so unterschiedliche Themen wie die Weltraumfahrt, die Gräuel zweier Weltkriege, Entdecker-Freude, Globetrotter-Sehnsüchte, Vietnamkrieg, die Dotcom-Blase und anderes mehr, aber eben auch so Banales wie das Spießertum in der Reihenhaus-Siedlung mit akkurat gestutzten Buchsbaum-Hecken. Hardys Mutter, die ihn im Zuchthaus geboren und sofort zu Adoption freigegeben hat, verbüßt eine lebenslängliche Strafe wegen Doppelmordes, sie erzählt in einem längeren Kapitel dem Psychiater in der Forensik ausführlich ihre tragische Geschichte. Mit großen Zeitsprüngen wechseln auch die Handlungsorte, vom beschaulichen Kleinstadtidyll im Rheingau ins Silicon-Valley, wo der von einem unbändigen Forscherdrang getriebene Hardy eine kometenhafte Karriere zuerst mit Computerspielen und dann mit einer neuartigen GPS-Software hinlegt. Mit einer Viertel-Milliarde Dollar als Erlös für seine von der Konkurrenz übernommene Firma sinnt der nimmermüde Tüftler und Entdecker auf neue Taten. Sein Lebenstraum, in das Weltall zu fliegen, scheint durch die Absicht der Russen realisierbar, private Gäste für läppische 25 Millionen Dollar an einem Raumflug teilnehmen zu lassen, Hardy bucht als Erster.

In eine überaus spannende, turbulente Geschichte, der man atemlos folgt, wurde hier sehr viel Weltgeschehen hinein gepackt. Über Raum und Zeit hinweg jagt dieser Roman, von Cliffhanger zu Cliffhanger, durch seine vielen episodisch erzählten Szenen. Ein stimmig geschildertes, vielköpfiges Figuren-Ensemble ist dabei in allerlei schicksalhafte Situationen verstrickt. Jeder sucht sich auf seine Weise zu verwirklichen, seinen ureigenen Weg zu finden in einem ebenso durch Zufall wie durch Vorprägung bestimmten Leben. Es geht um die Essenz menschlichen Daseins, die Norbert Zähringer anhand seiner unterschiedlichste Typen verkörpernden Figuren dahingehend deutet, dass sie ganz einfach in der ungeheuren Vielfalt der Möglichkeiten liegt. Seine permanenten Rückblenden unter dem Motto «Wo wir waren» verdeutlichen anschaulich diese These.

Es ist ein ironisches Märchen für Erwachsene, das den Leser hier mit einer abenteuerlichen Fülle von wundersamen Zufällen und glückhaften Wendungen bei Laune hält, so er denn bereit ist, die zahlreichen Klischees unkritisch zu akzeptieren als unverzichtbare Bestandteile von Märchenhaftem. Der in einem flüssig lesbaren Stil geschriebene Roman führt leichtfüßig durch ein komplexes Handlungs-Dickicht, in dem alles mit allem zusammen zu hängen scheint, er überwindet spielend kulturelle Grenzen und lädt ungeniert zum Träumen ein. «Vieles ist unwahrscheinlich, aber wenn wir nur an das Wahrscheinliche glauben, dann kommen wir nicht weit» heißt es im Roman. Und genau so sollte man auch als Leser herangehen an diese zum Träumen einladende Geschichte!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Der Weltenexpress 2: Zwischen Licht und Schatten

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“Kohle, Dampf und Magie”

“Endlich ist Flinn Nachtigall offiziell Schülerin im Welten-Express, dem magischen Internatszug. Doch dass sie eines Tages die Welt verändern soll, mag sie kaum glauben. Auch ihre Freunde Pegs, Kasim und Fedor reagieren mit gemischten Gefühlen. Denn der gesamte Zug ist in Gefahr: Ein geheimnisvoller Schatten treibt sein Unwesen und Maskierte sorgen für Chaos und Angst. Was ist los an Bord des Welten-Expresses? Auf der Suche nach Antworten steht Flinn plötzlich ihrem vermissten Bruder Jonte gegenüber. Doch etwas stimmt nicht mit ihm…” (Inhaltsangabe des Verlags)

Spannungsbogen, retardierendes Moment

Der 2. Band der Reihe wartet mit einer spannenden Fortsetzung auf. Ein paar der Geheimnisse des ersten Bandes (Was ist mit den verschwundenen Schülern, den Phantompfauen, passiert? Wo steckt Jonte? Bleibt Mme Florett weiterhin verschollen?) werden gelüftet, wobei die Spannung durch neue Fragen, die die Beantwortung dieser drängenden Fragen aufwerfen, erhalten bleibt. Ein retardierendes Moment trägt ebenfalls zur Spannung bei: Die zart erblühende Liebe zwischen Flinn und Fedor stagniert. Und sie stagniert wegen etwas Beziehungstypischem, nämlich einer Reihe von Missverständnissen. Ähnliches lässt sich bei Pegs und Kasim beobachten. Auch hier sind Missverständnisse die Hauptursache für ihre Beziehungsprobleme. Damit ist Identifikationspotential für jugendliche Leser*innen gegeben, die ebenfalls in dem Alter sind, in dem sie ihre erste Liebe erleben.

Diese im Buch anklingenden Missverständnisse zwischen den Geschlechtern setzen sich aber auch in der Realität und in den Beziehungen zwischen Erwachsenen fort. Hauptursache dessen sind systembedinge Abgrenzungen der Geschlechter voneinander, bedingt durch Rollenklischees, die zu (falschen) Mythen über das jeweils andere Geschlecht führen. Mehr echtes Interesse für das jeweils andere Geschlecht, vorurteilsfreie Haltung und viel, sehr viel ernst gemeinte Kommunikation würden das Gros dieser Probleme lösen. Genau das geschieht auch im Buch erst einmal nicht, sodass sich die Beziehungsprobleme zuspitzen. Natürlich trägt auch das zur Spannung bei, denn man fragt sich automatisch: Wie geht es mit Flinn und Fedor, Pegs und Kasim weiter?

Das Cover

Man könnte auf den ersten Blick meinen, dass das Cover wie das Cover des ersten Bandes aussieht. Tatsächlich ähnelt es diesem im Hauptaufbau des Bildes. Wieder stehen die Hauptpersonen an der Brücke, auf dem der Welten-Express fährt. Wieder sieht man die magischen Tiere, wieder die Hauptgegenstände, die im Buch eine Rolle spielen. Mit dieser Ähnlichkeit wird die Verbindung zum ersten Band auch über das Bild hergestellt.

Die Unterschiede sieht man auf den zweiten Blick. Der auffälligste ist der der Farbe. Das erste Cover hat die Farbe der Nacht, die runde Scheibe ist der Mond, die runden, glitzernden Sprengsel die Sterne. Das zweite Cover hat den gleichen Aufbau, aber durch den Farbunterschied ist die runde Scheibe die Sonne, die Sprengsel das Sonnenlicht. Die Gegenstände wechseln zum Bild von Mme Floretts Schwester, zu den Schulschals und zur Rabenmaske, die alle im Roman immer wieder vorkommen. Anstelle von Mme Florett sieht man in der Heldengruppe Jakub und seine Koffergeige, der ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Bezeichnend der Untertitel des zweiten Bandes: “Zwischen Licht und Schatten”. Das Cover unterstützt also optimal den Inhalt.

Diverses

Ansonsten sind natürlich auch hier wieder Anklänge an Harry Potter zu finden, da der Express Hogwards ähnelt. Steampunk-Fantasy wird durch die Verbindung von Technik, Magie und dem namengebenden Dampf angedeutet.

Die Hauptaussage des Buches scheint zu sein: “Glaube an dich selbst.” Flinn zweifelt an ihrer Bestimmung als weltveränderndes Tigerkind, sie zweifelt an der Beziehung zu Fedor, sie zweifelt an ihren Freunden, sie zweifelt an ihrem Bruder. Die Überwindung dieser Zweifel gehört bei ihr zur Charakterentwicklung.

Fazit

Eine gelungene Fortsetzung, die Lust auf den dritten Band macht.


Genre: Fantasy, Jugendroman
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Eine kurze Geschichte der RAF

Eine kurze Geschichte der RAF

Eine kurze Geschichte der RAF. Vor bald 51 Jahren wurde der 27-jährige Kleinkriminelle Andreas Baader bei einem Bibliotheksbesuch den staatlichen Behörden durch eine Befreiungsaktion entzogen. Er hätte gerade mal noch zwei Monate seiner wegen Brandstiftung gefassten Strafe zu verbüßen gehabt. Denn nach Verbüßung der Hälfte seiner Strafe hätte er die vorzeitige Entlassung auf Bewährung beantragen können. Aber an jenem 14. Mai 1970 begann ein beispielloser Amoklauf, der in der Geschichte der BRD hoffentlich einzigartig bleibt.

“Hitler’s Kinder”?

Die sogenannte Stadtguerilla oder Baader-Meinhof Bande und selbsternannte RAF war natürlich kein Einzelphänomen, wie Kellerhoff glaubhaft darstellt. Es gab auch die Bewegung 2. Juni oder andere terroristische Kommandos, die glaubten durch ihre Taten eine Art „Volkskrieg2 entfesseln zu können. Die Bilanz fällt allerdings weit nüchterner aus: zwischen 1970 und 1993 starben 34 unschuldig Opfer, 230 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. Auf Seiten der Terroristen starben fünf, sechs nahmen sich das Leben, zwei weitere starben bei misslungenen Anschlägen und bei Unfällen. Mit rund 40 Banküberfällen hatten sie insgesamt sieben Millionen Mark erbeutet. Durchschnittlich saßen die meisten RAF-Mitglieder, die zu lebenslänglich verurteilt worden waren, 20 Jahre in Haft. Seit 2011 ist kein früheres RAF-Mitglied mehr in Haft, schreibt Kellerhoff. Die von den Studenten zum „Schweinesystem“ ernannte Gesellschaft der Bundesrepublik hatte also durchaus Milde walten lassen. Zumindest stellt Kellerhoff dies glaubhaft so dar, genauso wie er bemüht ist, festzuhalten, dass stets die Terroristen zuerst schossen und immer die RAF das Feuer eröffnete. Ein Staat in der Defensive?

Prada-Meinhof und Radical Chic

Besonders beachtenswert ist an der Geschichte der RAF, dass nicht nur viele Anwälte anzog, sondern auch eine Reihe anderer Sympathisanten der Zivilgesellschaft. Ohne diese wäre der RAF wohl gar kein „Erfolg“ zuteil geworden, wenn man die Bewaffnung der Bundesrepublik und die Aufrüstung von Polizei und Militär denn als solchen werten möchte. Kellerhoff fasst in seiner kurzen und sehr lesenswerten Geschichte der RAF die wichtigste Ereignisse zusammen und gliedert sein Buch nach den drei Generationen der RAF, wobei letztere vielleicht sogar nur mehr ein Phantom war. Über weite Strecken liest sich seine Erzählung wie ein spannender Krimi, der allerdings real ist und keine Fiktion, wie die Western und Nouvelle Vague Filme, die die RAF in ihrer Jugend offensichtlich als Vorlage für ihren Amoklauf sichteten. Dass die Veränderung der Gesellschaft ein langsamer, evolvierender Prozess ist und keineswegs durch Gewalt erreicht werden kann, bleibt als Erkenntnis zurück. Aber dafür mussten zu viele Unschuldige sterben.

Kellerhoff erhielt 2012 den Ehrenpreis der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Zuletzt erschien bei Klett-Cotta sein Buch über „Mein Kopf“ und dessen Folgen. „Mein Kampf – Die Karriere eines deutschen Buches“, ist eine erste umfassende und allgemeinverständliche Aufklärungsschrift über das Machwerk Hitlers und natürlich auf dem Stand der aktuellen Forschung.

Sven Felix Kellerhoff

Eine kurze Geschichte der RAF

1.Aufl. 2020, 208 Seiten, Klappenbroschur

ISBN: 978-3-608-98221-3

18,00 EUR (D), 18,50 EUR (A)

Klett-Cotta

 


Genre: Politik, Zeitgeschichte
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Zuckerfrei gesünder leben

Die Ernährungs-Docs - Zuckerfrei gesünder leben

Zuckerarten, Zuckerfallen, Zuckerreduktion, Rezepte

Das vorliegende Sachbuch in der günstigeren Weltbild-Hardcoverausgabe befasst sich, wie der Titel schon andeutet, mit Zucker, welche Arten von Zucker es gibt, welche dieser Arten gesünder sind als andere, wie man Zucker in der Ernährung reduzieren kann. Dazu ein paar eindrückliche Zitate aus dem Buch:

“80% aller Lebensmittel, die wir im Supermarkt kaufen, sind ‘verzuckert’!”

“Im Durchschnitt konsumieren die Deutschen viermal mehr Industriezucker als die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt. Das kann der Körper kaum verkraften. Er wird krank und vorzeitig alt. Ein zu hoher Zuckerkonsum zählt zu den Top Five der Ernährungsfehler. Die Folgen sind dramatisch: Übergewicht, Diabetes Typ 2, Herzinfarkt.”

“… Karies, […], Bluthochdruck, Fettleber, Nierenschäden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und möglicherweise auch Krebs” sind weitere Schäden des zu hohen Zuckerkonsums. Die Autor*innen spüren im Buch den Zuckerfallen nach (auch denen, in denen man Zucker eher nicht oder wenig vermuten würde), erklären, wie Zucker gewonnen wird, und wieviel Zucker vertretbar ist. “Die […] WHO empfiehlt in ihrer aktuellen Richtlinie, in allen Lebensphasen höchstens 10 Prozent – am besten jedoch nur fünf Prozent – der täglichen Kalorien in Form von freiem Zucker aufzunehmen.”

Sie raten zur Vorsicht bei Light-Produkten, erklären, wo sich in den Zutatenlisten der Supermarktprodukte überall Zucker versteckt, lockern das Thema mit dem Exkurs “Kurioses und Wissenswertes” auf, bebildern einprägsam, wieviel Zucker in welchem Lebensmittel steckt und geben Tipps zum Zuckerentzug. Dabei vertreten sie das wohlbekannte Mantra der Bewegung und ausgewogenen Mischkost mit 3 Hauptmahlzeiten am Tag in einem gesunden Essensrhythmus. Sie geben Tipps zur erfolgreichen Ernährungsumstellung, zur ersten Hilfe gegen die Lust auf Süßes, erklären, wie es zu den zuckerbedingten Krankheiten im Detail kommt und raten zur natürlichen Süße.

Vertretene Tipps sind u.a.: sich zu den Hauptmahlzeiten mit viel Gemüse und ausreichend Eiweiß richtig satt essen, Essen frisch selbst zubereiten, gesunde Snacks, Wasser, ungesüßter Tee, insgesamt ausreichend trinken, sich überlegen: Wie kann ich mir Gutes tun, ohne Zucker zu essen?, Bitterstoffe als Appetitzügler. Ansonsten Naschen in den Alltag einplanen – erst gesund essen, dann den Nachtisch bewusst genießen. Damit sagt man den Leser*innen nichts wirklich Neues, aber die Zusammenhänge, die hergestellt werden, und die Detailgenauigkeit erhellen so manches, was einem vorher höchstens im Groben klar war.

Dem Ratgeberteil ist ein appetitlich bebilderter Rezepteteil angeschlossen, der auf Selbstgemachtes setzt. Die Rezepte sehen lecker aus und verführen zum Nachkochen. Dabei wird auf Vielfältigkeit gesetzt, um sowohl die täglichen Mahlzeiten als auch den Bedarf an Vitaminen und Co. abzudecken. Auch die Nachspeisen wurden nicht vergessen und treten zuckerreduziert auf. Die Kochzeit ist im Alltag aber doch länger als angegeben. Zudem steht dem gesunden Kochen meist der Zeitmangel (v.a. der der Frauen) gegenüber und der Fakt, dass vom Kita- über das Schulkind bis hin zum Berufstätigen die Menschen meist außerhalb essen (zumal die knappen Mittagspausen das Kochen und Essen eher nicht zulassen).

Fazit

Insgesamt gesehen erklärt das Buch gut verständlich und reich bebildert in übersichtlich aufgegliederten Themenbereichen , wie es zur Zuckersucht kommt, was der Zucker im Körper an Schäden anrichtet, welche Krankheiten daraus entstehen und wie man all dem entgegenwirken und sich gesünder im Alltag ernähren kann. Allerdings steht dem gesunden Lebenstil meist der Mangel an Zeit entgegen (v.a. der der Frauen und Familien), zumal die meisten Menschen, die Schule/Kita besuchen bzw. berufstätig sind, außerhalb essen.


Illustrated by Weltbild

Kleiner Mann, was nun?

Beklemmend aktuell

Mit dem Roman «Kleiner Mann, was nun?» gelang Hans Fallada 1932 literarisch der Durchbruch, der Bestseller wurde schon ein Jahr später verfilmt, sein Titel wurde zum geflügelten Wort. Eine ungekürzte Neuauflage mit einem informativen Nachwort ist 2016 erschienen. Wie sich zeigte, war die bisher verbreitete Buchfassung um fast ein Viertel gegenüber dem überraschend aufgetauchten Manuskript gekürzt, vor allem um politisch und moralisch ehedem bedenkliche Textpassagen. Als großartiger Zeitroman zeugt diese im Stil der Neuen Sachlichkeit erzählte Geschichte von der Fähigkeit seines Autors, Lebenswirklichkeit literarisch stimmig zu erfassen.

Der kleine Mann des Romans heißt Johannes Pinneberg, er arbeitet als Buchhalter und verliert durch eine Intrige seine Stellung. Als seine Freundin «Lämmchen» schwanger wird, heiratet er sie kurz entschlossen, das verliebte Paar freut sich trotz seiner bitteren finanziellen Nöte auf den «Murkel», wie sie das Ungeborene nennen. Pinnebergs Mutter, mit der er schon vor Jahren gebrochen hat, lädt die Beiden ein, zu ihr nach Berlin zu kommen, sie könnten bei ihr wohnen, und für eine Stellung würde sie auch sorgen. Wie von ihm befürchtet, geraten sie bei ihr jedoch in ein zweifelhaftes Etablissement. Jachmann allerdings, der zwielichtige Freund der Mutter, besorgt Pinneberg tatsächlich eine Stellung als Verkäufer in einem großen jüdischen Kaufhaus. Auch in diesem Job wird er aber nach einem Jahr fristlos gekündigt, das Paar mit dem inzwischen geborenen Sohn wohnt schließlich illegal in der Gartenlaube eines Freundes. Lämmchen verdient mit Näharbeiten ein wenig Geld, Pinneberg bekommt eine spärliche Arbeitslosen-Unterstützung. Am Ende des Romans muss er erleben, dass ihn ein Polizist vom Bürgersteig vor den eleganten Geschäften wegjagt, weil er dort als «Gesindel» nur stört. Er verliert dadurch schlagartig jede Selbstachtung. Als er völlig verzweifelt in die Laubenkolonie zurückkehrt, richtet ihn Lämmchen wieder auf. «Du bist doch bei mir, wir sind doch beisammen». Der versöhnliche letzte Satz lautet: «Und dann gehen sie in das Haus, in dem der Murkel schläft.»

In einem Brief hat Hans Fallada seinen Romanhelden als «Garnichts» bezeichnet, als einer von sechs Millionen dahin vegetierenden Arbeitslosen, von dem er erzähle, «was er fühlt, denkt und erlebt». Das sozialkritische Werk hatte während der Weltwirtschaftskrise den Nerv der Zeit getroffen, auch die Machtergreifung der Nazis warf bereits ihre Schatten voraus. Das Figuren-Ensemble enthält die verschiedenartigsten Typen: die Mutter als Lebedame, ihr Freund Jachmann als sympathischer, hilfsbereiter Krimineller, den netten, großzügigen Arbeitskollegen und FKK-Anhänger, die freundlichen Schwestern im Entbindungsheim, die fiesen Vorgesetzten, die desinteressierten Beamten. Von den beiden Protagonisten erweist sich Lämmchen als die Stärkere, ihr Lebenswille bleibt ungebrochen. Sie schöpft trotz der vielen Schicksalsschläge auch im ständigen sozialen Abstieg immer wieder neuen Mut und vermag ihrem verzagten «Jungen» ebenfalls Zuversicht einzuhauchen.

Hans Falladas Geschichte ist voller harter Lebenswahrheiten, die auch für sozial Abgehängte unserer Zeit, die heutigen »Garnichtse», unverändert gelten. Seine beklemmend aktuelle Kapitalismus-Kritik verdeutlicht er eindrucksvoll am Umgang der Unternehmer und Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern. Die sind ihrer Willkür und ihren Launen hilflos ausgeliefert angesichts einer jederzeit verfügbaren «Reservearmee» Arbeitsloser. Pinneberg träumt wegen des ewigen Kampfes ums Geld und des Ringens mit einer abstrusen Bürokratie, angeregt durch Robinson Crusoe, von einem Rückzug in die innere Emigration. Das Ehepaar findet sein stilles Glück daheim bei ihrem Murkel, immer ehrlich bleiben ist ihre Maxime, allen Anfeindungen zum Trotz. Der in einer leicht lesbaren Sprache geschriebene, in vier Teile gegliederte und chronologisch erzählte Roman ist in seiner Thematik beklemmend aktuell geblieben.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie

Thomas Bernhard: Die unkorrekte Biografie

Wer bleibt denn da überhaupt übrig, den Sie nicht für einen Idioten halten?“ – „Na keiner, das ist es eben.“ In 99 rasant-komischen Bildern wird die Biographie des am 12. Februar 1989 in Gmunden verstorbenen enfant terrible Österreichs erzählt. Dazu einige der besten und humorvollsten Zitate der „Zwiderwurzn“, die auch heute noch das Herz erwärmen. Dieses Jahr jährt sich sein Geburtstag am 9. Februar zum 90. Mal. Schade, dass er nicht mehr lebt und die Gemüter erhitzt. So wie damals.

Den Nagel auf den Kopf getroffen, die Österreicher ins Herz

1. Thomas Bernhard muss Burgtheater-Direktor werden, 2. Es ist alles sehr kompliziert, 3. Ich nehme zur Kenntnis, dass Kurt Waldheim nie bei der SA war, sondern nur sein Pferd“. Diese pointierte Zusammenfassung der Innenpolitik der Achtziger stammt vom damaligen österreichischen Bundeskanzler Fred Sinowatz. Das Theaterstück „Holzfällen“ von Thomas Bernhard schlug in dieses innenpolitische Klima ein wie eine Bombe und machte den Schriftsteller zum meistgehasstesten Mann Österreichs, aber gleichzeitig auch zum Aushängeschild eines Landes, das seine Vergangenheit so lange wie möglich verdrängt hatte. Aber ich den Achtzigern kam alles hoch und Bernhard schwamm auf einer Welle, die ihn bis ganz nach oben brachte. Im oberösterreichischen Ohlsdorf hatte er sich einen Denk- und Schreibkerker eingerichtet, von wo aus er nicht nur die Republik, sondern auch ihre Bewohner regelrecht beschimpfte.

Gegen Männer, Nationalsozialismus und Katholizismus

Dabei war sein Hass auf Österreich vor allem auch ein Selbsthass: „Ich habe die Wiener Kaffeehäuser immer gehasst, weil ich in ihnen immer mit Meinesgleichen konfrontiert gewesen bin… Ich ertrage mich selbst nicht, geschweige denn eine ganze Horde von grübelnden und schreibenden Meinesgleichen.“

Auch die Männer an sich kamen bei ihm nicht gut weg. „Ich vertrage Männer nicht. Männergespräche halte ich nicht aus. Die machen mich narrisch. Männer reden immer das gleiche. Über ihren Beruf oder über Frauen. Da sind mir schwätzende Frauen noch lieber.

Sein abwesender, alkoholkranker Vater und sein Heranwachsen in den Vierzigern hatten auch seinen Hass auf den Nationalsozialismus und den Katholizismus bestärkt. Beides erkannte Bernhard als kennzeichnende Wesensmerkmale des Österreichers. Und lehnte sich zeitlebens dagegen auf. Nicolas Mahler hat einige von Bernhards besten Zitaten aufgespürt und mit seinen Bildern versehen, die auch ein Schlaglicht auf den Menschen Bernhard werfen. Bernhards Preise und Skandale, seine Krankheit, sein Lebensmensch Hedwig Stavianicek oder das Verhältnis zu seinem Verleger Siegfried Unseld: Nicolas Mahler lässt nichts aus.

Nicolas Mahler

Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie

2021, Hardcover, suhrkamp taschenbuch 5125, Gebunden, 119 Seiten

ISBN: 978-3-518-47125-8

D: 16,00 € / A: 16,50 € / CH: 23,50 sFr

Suhrkamp Verlag


Genre: Biographien, Comic
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main