Das Polykrates-Syndrom

Der ungewöhnlich vielseitige österreichische Schriftsteller, Essayist und Dramatiker Antonio Fian, Meister der kleinen Form, hat 2014 mit «Das Polykrates-Syndrom» nach 22 Jahren seinen zweiten Roman veröffentlicht. Er wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und war 2019 Basis für den Spielfilm ‹Glück gehabt›. Der Titel des ursprünglich als Drehbuch geplanten Romans weist auf den Tyrannen von Samos hin, von dem Herodot überliefert hat, er habe in seinem Leben so viel Glück gehabt, dass er am Ende einen grausamen Tod sterben musste. Schiller thematisiert dies in seiner berühmten Ballade mit der idealisierenden These, je größer das Glück, desto tiefer ist der nachfolgende Absturz. Im Roman nun erlebt ein junges Ehepaar, wie über ihren wohlgeordneten Alltag schicksalhaft ein schreckliches Geschehen hereinbricht.

Der weder ehrgeizige noch anspruchsvolle Historiker Artur jobbt in einem Wiener Kopierzentrum, verdient sich zusätzlich Geld mit Nachhilfestunden und schreibt nebenbei ziemlich platte Sketche, die keine Sendeanstalt haben will. Seine Frau Rita hingegen ist als Lehrerin auf der Erfolgsspur und hat gute Aussichten, schon in wenigen Jahren die jüngste Direktorin einer Wiener Schule zu werden. Als Ich-Erzähler schildert Artur detailreich und mit köstlichem Humor, wie er in seiner monotonen Ehe häufigen Vorwürfen durch seine burschikose Frau ausgesetzt ist. Der sympathische Schluffi erträgt all das aber äußerst gelassen, er kennt ihre Psyche und weiß immer im Voraus, womit sie ihn nun wieder gängeln wird. Aber die beiden wissen sehr wohl auch, was sie aneinander haben, und so findet zu guter Letzt denn auch regelmäßig eine Versöhnung im Bett statt. Mit dem Besuch einer attraktiven jungen Frau im Copyshop kurz vor Ladenschluss beginnt für den sympathischen Protagonisten Artur ein aufregendes Abenteuer, welches sich im Verlauf der Handlung zu einem wahren Höllenritt entwickelt.

Der in den 1990er Jahren angesiedelte Plot hat die Zäsur in Arturs Leben zum Thema, schicksalhaft heraufbeschworen durch das Zusammentreffen mit der hübschen Alice. Denn eher harmlos als draufgängerisch veranlagt, steigt der brave Langeweiler nun plötzlich dieser geheimnisvollen Frau nach, einzig beseelt von dem Wunsch, sie ins Bett zu bekommen. Was ihm schließlich auch gelingt, sein erster Fehltritt nach mehr als zehnjähriger Ehe. Dieser für ihn überraschende Ausbruchsversuch krempelt sein ganzes Leben um und entwickelt sich zum Alptraum. «In der kurzen Zeit, in der ich Alice kannte, hatte ich mich völlig verändert. Ich betrog meine Frau, belog meine Mutter, leistete Beihilfe zum Diebstahl, schaffte Leichen weg und hatte keinen anderen Gedanken, als dass Alice bald wieder mit mir schlafen würde». Die zunächst harmlos dahinplätschernde Geschichte wird zunehmend spannender und absurder und endet sehr gekonnt, – überraschend, aber völlig unspektakulär.

Diese mit viel schwarzem Humor locker erzählte Geschichte ist als Parodie auf einen Ehebruch konzipiert, der durch seine drastischen Details satirisch kräftig überhöht wird und in einigen Horror-Szenen einem Splatter-Roman gleichkommt. Besonders gelungen und immer wieder zum Schmunzeln, aber auch zum lauten Lachen anregend sind die pointiert angelegten, schlagfertigen Dialoge, die als verbale Fechtkunst mit ihren geistreichen Wortattacken geradezu lustvoll ausgefochten werden. Das anschaulich geschilderte Wiener Lokalkolorit bereichert wirkungsvoll diesen gut durchdachten Totentanz, der als Mischung aus Grauen und Humor auffallend nüchtern erzählt wird. So wenn zum Beispiel über Arturs Versicherungen berichtet wird, dass er sie nur abschließe, weil er meint, dann würde ja ganz im Sinne der Assekuranz wahrscheinlich niemals mehr etwas passieren. Und was genau denn Sex in Eichhörnchen-Stellung ist, darüber lässt der Autor den Leser listig im Dunkeln. In dieser burlesken Story wird lakonisch Pointe auf Pointe abgefeuert, Antonio Fian lotet gewissermaßen die Grenzen seiner abgründigen Geschichte bis zur Neige aus.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Beinahe Alaska

 

Die Ich-Erzählerin ist unglücklich. Sie hat mehrere Schicksalsschläge hinter sich. Sie geht auf eine so genannte Expeditionskreuzfahrt und setzt sich ihren Mitreisenden aus. Die sind alt und krank, wie George, der nach drei Schlaganfällen am Stock geht und von seiner steinernen Gattin Agnes gemanagt wird. Oder sie sind herrisch-zappelig, wie die rothaarige Österreicherin, absolut nichtssagend, wie ein Mutter-Tochter-Gespann aus Deutschland oder weltgewandt-weise, wie der mit feiner Ironie gesegnete Herr Mücke. Und da ist auch der Journalist Lewis, der seine eigene Zeitbombe mit sich herumträgt.

Es menschelt an Bord, während die MS Svalbard ihre geplante Route in Angriff nimmt: “… von der Südspitze Grönlands nach Norden (…) bis zur Diskobucht, dann westwärts über den Atlantik und durch das arktische Labyrinth der kanadischen Küste bis nach Alaska.” Einhundert Passagiere auf einer umgebauten Autofähre, die Reise soll zweieinhalb Wochen dauern. Der Alltag an Bord besteht aus den Mahlzeiten, die die menschenscheue Ich-Erzählerin manchmal schwänzt, unvermeidlichen, dann auch wieder überraschenden Gesprächen, Vorträgen, Landausflügen. Zwischendurch hilft nur ein langer Blick aufs Meer, doch sogar dieses Schauen aufs Wasser will gelernt sein (freundlicher Hinweis von Herrn Mücke). Obwohl es schmerzt, lässt sich die Ich-Erzählerin auf die Geschichten einzelner Einheimischer ein, denen sie in Labrador bei Stippvisiten an Land begegnet: im heruntergekommenen Hopedale – hier leben hauptsächlich Inuit – oder im schöneren Makkovik, wo vor allem Norwegischstämmige angesiedelt sind.

Die Geister vergangener Arktis-Expeditionen sind natürlich mit von der Partie – Amundsen, Franklin, Wegener. Ausgehend von deren Leiden und Fährnissen stellt sich für die irritierte Ich-Erzählerin die Frage: “Warum waren die Menschen immer und immer wieder in die Arktis gefahren, auch nachdem längst bekannt war, dass die Seewege nicht wirtschaftlich sein würden? Die Expeditionen kosteten ein Heidengeld. Ein Schiff nach dem anderen ging verloren.” Und daraus folgend die beinahe ebenso oft wie der Blick aufs Meer wiederholte Selbsterforschung: “Was will ich eigentlich hier?”

Offiziell reist die Ich-Erzählerin im Auftrag ihrer Verlegerin, sie soll Arktis-Feeling einfangen. Also photographiert sie den Himmel in all seinen phantastischen Verwandlungen, das Wasser, den Boden, dessen angepasste Vegetation in der Arktis als Wald durchgeht. Sie notiert und malt. In seelischer Hinsicht nutzt sie die Kreuzfahrt – im Grunde eine teurere Variante der Busgruppenreise – um sich im Nachvorneschauen zu üben. Wie die pflegende Agnes ist sie lange “im Zug des Lebens mit dem Rücken zur Fahrtrichtung” gesessen.

Das Schiff wird ihr Trainingscamp: unmöglich, sich hier allem und allen zu entziehen, keine Chance, hier die Einsiedlerin spielen zu dürfen. Gehst du nicht zu den Menschen, dann kommen sie zu dir. Dein einsames Herumsitzen, zumal als Frau, wird nachgerade als Aufforderung zur Kommunikation gedeutet. Die betuchte Französin Edith, zum Beispiel, gibt der Ich-Erzählerin reichlich von ihrer Erfahrung mit verheirateten Männern mit auf den Weg. Am Tisch im Speiseraum bekommt es unsere Reisende mit der hyperaktiven, notorisch nörgelnden Influencerin Karen Peng aus China zu tun. Und schließlich sind da die an ADHS leidenden Outdoor-Menschen, stets bereit, in ihren Windjacken “wie orange Blattläuse” arktische Waldvegetation niederzutrampeln, um als erste auf einem Ausflugsgipfel, an einer Ausgrabungsstätte oder wieder im Tenderboot zu sein. Im Bus buhen sie einen aus, falls man zu spät kommt.

Als dann der hohe Norden anfängt, die gewohnten Rhythmen durcheinander zu wirbeln – Körper, Schlaf, Handys – liegt der allgemeine Abenteuergeist darnieder. Auch Tiere haben sich, entgegen allen Verheißungen der Veranstalter, nicht gezeigt: nur einmal ein verwaschener Eisbär in der Ferne, ein andermal ein brauner Pelzhintern. Den Polarfuchs hören die Passagiere höchstens in ihren Träumen bellen.

Und dann ereignet sich das Skandalon schlechthin für Geltungs- und Servicekonsument*innen: Es. Wird. Nicht. Geliefert. Die Prophezeiung im Buchtitel erfüllt sich – die zu durchquerende Bellotstraße ist vereist, die MS Svalbard wird Alaska nicht erreichen. Während das Schiff wendet und wieder Richtung Süden fährt, hat sich den Enttäuschten bereits ein Anwalt empfohlen. Das ist kein Spoiler, denn – wie gesagt – diese Wendung wird im Buchtitel angedeutet und im Text vorbereitet. Als klar wird, dass die Reise mit dieser Antiklimax zu Ende geht, hat das für die Ich-Erzählerin eigentlich schon keine Bedeutung mehr. Anders als der Blick aufs Meer.

Arezu Weitholz ist Journalistin und Textdichterin u.a. für Herbert Grönemeyer, Die Toten Hosen, Udo Lindenberg und 2raumwohnung. “Beinahe Alaska” ist ihre erste längere literarische Veröffentlichung. Bei diesem Text haben wir es mit einer selten gewordenen Form von Alltagsrealismus zu tun, im besten Sinne gemeint; die emotionale Färbung stimmt, keine große Fanfare, es werden genau die Noten gespielt, die es braucht. In den Beschreibungen von Wetter, Meer, Natur zeigt sich das Auge der visuellen Künstlerin, die Arezu Weitholz auch ist.

Anton Cechov hat mal geschrieben: “Die Leute gehen nicht zum Nordpol. Sie gehen ins Büro, streiten sich mit ihrer Frau und essen Suppe!” Arezu Weitholz widerlegt in “Beinahe Alaska” Cechovs ersten Satz – die Leute streben sehr wohl zum Pol, sie versuchen es zumindest – aber sie zeigt auch, dass sie es genau in Stimmung und Modus von Cechovs zweitem Satz tun: also im Grunde ohne das eigene Wohnzimmer zu verlassen. Leidvolle Momente, zumal jene aus der Vergangenheit der Ich-Erzählerin, werden nicht unmäßig aufgeladen. Wir folgen ihrem niedergeschlagenen, irritierten, dann wieder hellauf begeisterten Blick. Zusammen mit ihr lernen wir (oder dürfen uns daran erinnern), dass man unweigerlich auf Leiden stoßen wird, sowie man sich dazu entscheidet, den Small Talk zu unterlaufen und einem anderen Menschen wirklich zu begegnen. Und dass das immer auch ein Risiko birgt. 

Die vom Leben gebeutelte Ich-Erzählerin macht eine Entwicklung durch. Wie Ursus mit dem Bullen steckt sie zunächst noch verbissen fest in einem SloMo-Ringkampf mit der Welt. Doch zu reisen heißt, sich zu bewegen, und das ist gut gegen quälende Blockaden. Die in mehreren Abwandlungen gestellte Frage, warum denn so viele in den Norden fahren, wird auf jeden Fall beantwortet. Sie wird nicht ausformuliert, aber die Antwort steckt im Buch. Eher in seinen weißen Bereichen.


Illustrated by Marebuchverlag Hamburg

Miss Bohemia

Roman im Roman

Letzter Teil der Berlin-Trilogie von Mathias Nolte ist der Roman «Miss Bohemia», der, vom Feuilleton weitgehend ignoriert, in der Leserschaft eine einhellig positive Aufnahme fand. Zweifellos handelt er sich um grandiose Unterhaltungs-Literatur mit einer schon im Buchtitel anklingenden, verheißungsvollen Thematik. Es geht um eine wahrhaft unkonventionelle, schöne junge Frau, die als Femme fatale bei den Männern allerlei Verheerungen anrichtet. Wobei es sich bei den Männern um Schriftsteller handelt, was ja Literatur affine Leser per se schon mal neugierig macht.

«Ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Gedanken an Tara zu verschwenden», lautet der erste Satz. Der Ich-Erzähler Lukas, ein mittelmäßiger Roman-Schriftsteller, entdeckt in der New York Times eine Meldung, die über den Tod des bekannten Schriftstellers Philipp Bach berichtet. Auf dem Foto von der Verteilung seiner Asche im Meer erkennt er Tara. Lukas hatte sich vor zwei Jahren für seinen neuen Roman ein Ferienhaus auf Key West gemietet, um in Ruhe arbeiten zu können. Überraschend hatte ihn dort sein erfolgreicher Kollege Philipp Bach besucht, zusammen mit seiner wesentlich jüngeren Freundin und Muse. In Rückblenden erzählt Lukas, wie ihn schon am ersten Morgen die attraktive Tara zu einem Strandausflug überredet hat, um dort den Sonnenaufgang zu erleben, ihr Lover hat noch tief geschlafen. Und an dem menschenleeren Strand hat sie Lukas dann auch verführt, – sie war die Aktive, er wusste gar nicht, wie ihm geschah.

In einem raffinierten Konstrukt entwickelt Matthias Nolte auf verschiedenen Zeitebenen seinen Plot um eine Menage à trois im Schriftsteller-Milieu. Tara hat ihre Examens-Arbeit über den hoch dekorierten DDR-Schriftsteller Franz Krohn geschrieben, und der wiederum war Mentor von Philipp Bach. Kurz nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann hat Krohn über seine guten Beziehungen zur Staatsführung Bach sogar zur Flucht in den Westen verholfen. Dort hat Bach dann mit «Miss Bohemia» seinen äußerst erfolgreichen Debütroman veröffentlicht. In häufigen, durch die Kapitel-Überschriften aber deutlich zugeordneten Zeitsprüngen erzählt Matthias Nolte seine Geschichte mit mehreren, kunstvoll verflochtenen Handlungs-Strängen. Seine drei Protagonisten sind sehr eigenwillige Typen. Der dem Autor biografisch ähnelnde Lukas ist ein ewiger Zweifler, der fast alles geduldig hinnimmt, von dem man ansonsten aber wenig erfährt. Er arbeitet an dem Roman, den wir in Händen halten, und lässt den Leser an seinen Recherchen und am Schreibprozess teilhaben, eine reizvolle ‹Roman im Roman›-Konstellation. Freund und Nebenbuhler Philipp Bach ist ein überheblicher, unsympathischer und cholerisch veranlagter Schriftsteller, der ein dunkles Geheimnis birgt. Nach seinem Debüt schreibt er nun seit vielen Jahren an dem gigantischen Werk «Der Roman des Jahrhunderts». Tara ist eine selbstbewusste, schlagfertige und lebenskluge Frau, die besonders im unkonventionellen Umgang mit ihrer Sexualität verblüfft und es im Übrigen mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Von Lukas nach ihren bisherigen festen Freunden gefragt, erklärt sie ihm beispielsweise, es gab bisher nur einen: «Nach Johnny kam nichts Festes mehr, nein. Nach ihm habe ich à la carte gelebt». Auf seine verblüffte Nachfrage ergänzt sie: «Oder glaubst du, nur weil ich nicht den richtigen Kerl gefunden habe, […] habe ich mich in Verzicht geübt? Ich gebe meinem Körper, was ihm gut tut, und er dankt es mir jeden Tag».

Dieser aufregende Roman ist schwungvoll erzählt, wobei die Ironie darin unübersehbar ist. Trotz des nicht unbeträchtlichen Wirrwarrs, das die Geschichte mit ihren vielen Andeutungen erzeugt, folgt man ihr gerne, zumal die Spannung immer mehr steigt, was denn nun hinter all dem steckt. Übertrieben hat es Mathias Nolte allerdings mit den vielen Zufällen, auf denen sein Plot aufbaut. Überzeugend und angesichts der trickreichen Verflechtungen hilfreich ist, dass er das Erzählte häufig rekapituliert. Und nicht wenige Leser dürften sich zudem an der üppigen Intertextualität erfreuen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Deuticke Wien

Das Schlupfloch

Bei vielen Aufenthalten an diversesten Orten dieser Welt hat es sich für mich als netten Einstieg ins Lokalkolorit erwiesen, ein Buch eines Schriftstellers aus der Region zu lesen. Man erfährt viel über die Kultur, die Denke, den sprachlichen Slang und bekommt nebenher manchmal auch Tipps für angesagte Cafés, gute Restaurants und aktuelle In-Locations. Besonders eignen sich Krimis mit ihren meist rasch wechselnden Schauplätzen. So auch die Intention bei Mike Nicols Roman „Das Schlupfloch“. Nicol lebt in Kapstadt und gilt sogar international als zunehmend beachteter Autor im Genre Kriminalromane. Weiterlesen


Genre: Kriminalliteratur, Kriminalromane
Illustrated by btb Verlag

Vernichten

In dem dicken Roman Vernichten ist alles zu finden, was ich bei Houellebecq lesen möchte: Wir genießen es, in Frankreich zu sein. Wir essen, trinken und vögeln gut und gerne, wie immer, und dann gibt es noch neue Seiten zu entdecken.

Es kommen präzise Betrachtungen der Politik, die manchmal prophetisch erscheinen. Hier geht es um Bruno Juge, dem Wirtschaftsminister und seinen Vertrauten, Paul Raison, beide Absolventen der Grandes Ecoles, Bruno (Richter, wie wir auf Deutsch sagen würden) kommt von der Polytechnique und Paul (Recht, oder Vernunft) von der Verwaltungsuni. Die gute Arbeitsbeziehung wurde zur Männerfreundschaft in einer Hotelbar in Addis Abeba, wo Bruno stolz ist, wieder einige Atomkraftwerke vermittelt zu haben, aber dann klagt, er hätte mit seiner Frau seit 6 Monaten nicht mehr Liebe gemacht. Paul könnte berichten, dass es beim ihm schon an die zehn Jahre sind.

Zurück in Paris im Jahr 2027 sind Wahlkampfzeiten, es wird von einer Profiwerbefrau die Wahlkampagne designed, Bruno soll als Kandidat fit gemacht werden, er ist anerkannt, aber nicht beliebt. Er bekommt die junge Raksaneh als persönlichen Coach zugeteilt, die in seiner Dienstwohnung ein Laufband aufstellt und ihn Episches von Corneille zitieren lässt, beides hilft seinem Auftreten: “er strotzt vor Energie“. Später wird er dann doch nicht Präsidentschaftskandidat, für den Spannungsbogen ist das aber nicht mehr von Bedeutung.

Wichtiger ist die Serie von erst virtuellen, dann realen Sabotageaktivitäten. Im Netz kommen unverständliche geometrische Zeichen, die auch im Buch aufgemalt sind, und dann ein Video, indem Bruno von einer Guillotine, auch aufgemalt, geköpft wird. Das ist ein Fall für die DGSI (Direction générale de la sécurité en France) wo Pauls Vater früher eine Rolle gespielt hatte. Es werden Geheimdienstler und andere Spezialisten dazu befragt, wer könnte so etwas machen? Primzahlen spielen eine Rolle, Schiffe gesenkt, eine Samenbank in Dänemark wird zerstört, warum machen Menschen so etwas? Nachfolger des Unabombers? Ultralinke oder fundamental Katholische, später spricht manches für Satanisches. Geschmückt werden die Informationen über das Vernichtende von Werbung für sexy Miederwaren…

Als Kind der deutsch-französischen Freundschaft warte ich gerne auf seine kurzen Blicke nach Deutschland: Hier ist es, passend zum verstörenden „Vernichten“, der Alte Fritz, der Menschen als eine verdorbene Rasse (race méchante) bezeichnete, und sich dann mit seinen geliebten Windspielen beerdigen ließ.

Das ist so treffend ausgemalt, wie wir es von Houellebecq kennen, und dann kommt Neues, es menschelt. Pauls Vater liegt nach einem Schlaganfall im Koma, die Familie ist gefragt. Die kleine Schwester Cécile übernimmt das Kommando, sie unterstützt Madeleine, die Gefährtin des Vaters, die erst die Pflegehelferin und dann Geliebte des Witwers wurde. Cécile ist Hausfrau, streng katholisch, ihr Mann Hervé unterstützt sie, wenn es schwierig wird, kann er sich Hilfe bei seinen Freunden, den Identitären, holen. Pauls Vater erholt sich und ist dank Madeleine gut versorgt, aber das Elend der anderen Bewohner wird deutlich. Wie in Deutschland auch, werden die Seniorenwohnheime von Gewinn orientierten Ketten betrieben.

Vielleicht ist es dem Zusammensein mit seinen Geschwistern geschuldet, Paul möchte seine Beziehung zu seiner Frau Prudence wiederbeleben. Sie teilen zwar die Traumwohnung, mit Blick auf den Parc Bercy, jedenfalls so lange wie sie sie noch abbezahlen. Sonst gehen sie sich aus dem Weg. Angefangen hat es damit, dass Prudence ihn zum Vegetarier machen wollte, und seine Mahlzeiten, die er im gemeinsamen Kühlschrank lagern wollte, gar weggeschmissen hatte, vor vielen Jahren.

Aber, was tun? Ob er überhaupt noch Liebe machen kann? Er scheut keine Mühen, es wieder zu erlernen und leistet sich eine Edelprostituierte im 16. Arrondissement, deren Spezialität der Blow Job ist. Es geht noch!

Und kurz danach klappt es wieder, sie vögeln dann täglich und Paul erzählt uns seine Vorlieben (seitlich), Prudence, die er schon als „asexuell und vegan“ geschimpft hatte, entwickelt sich zu seiner und auch ihrer Zufriedenheit.

Dann bekommt Paul Mundhöhlenkrebs. Er beschreibt kenntnisreich die zu absolvierende Diagnostik, nimmt seine Diagnose gefasst auf, durchläuft die aufklärenden und beratenden Gespräche, wägt Strahlentherapie, Chemo und/oder Operation ab. Mit den üblichen Leitfäden, die zur seelischen Bewältigung empfohlen werden, kann er nichts anfangen. Er träumt dystopisches, so wie immer in seinem Leben, wenn es schwierig wird. Oft hilft ihm ein Spruch von Blaise Pascal, Philosophie ist nicht sein Ding, er hat mal ausgerechnet, dass er sich weniger als 2 Jahre mit ihr befasst hatte, damals, zum Abitur.

Ist Houellebecq nun altersmilde, hat er die Bedeutung von Frauen entdeckt? Sie sind tatkräftig, stehen ihren Mann, natürlich gibt es auch Schlampen, Schwägerin Indy etwa, die feministische, erfolglose Journalistin, oder die Gewerkschafterin im Altersheim, die die Versorgung von Pauls Vater schwierig macht. Aber Madeleine, Cécile, Prudence und auch deren Schwester, die aus Kanada zurück nach Frankreich zieht, um den verwitweten Vater zu versorgen, füllen ihre Rollen. Und mit Cécile kann man sogar über Glaubensfragen sprechen!

Mehrere hundert Seiten lang glaubte ich, dass Houellebecq an seinem Frauenbild gearbeitet hätte, bis ich den Bechdel Test machte: Er dient der Bewertung von Filmen, zur Frage, ob im Film mindestens zwei Frauen ein vernünftiges Gespräch führen, und in dem es nicht um Männer geht.

Im Buch sprechen die Frauen darüber, wie sie die kranken und alternden Männer versorgen können. Das Schicksal hat es ja so gewollt, dass Pauls und Prudences Väter Witwer wurden, und Prudence es bald sein wird. Als die Krankheit fortschreitet, sind Sabotageakte, oder gar die Präsidentschaftswahl kein Thema mehr. Es geht darum, trotz der Einschränkung gut zu vögeln. Und, der Zufall will es, Bruno und Raksaneh tun es inzwischen auch.

Auch in seiner Danksagung regt er an, Schriftsteller sollten mehr Recherchearbeit leisten. Neben Ärzten, die ihn zu den behandelten Themen beraten hatten, wird eine Frau hervorgehoben, die selbstlos ihren kranken Mann pflegt.

Den Übersetzern gelingt es, den Ton zu treffen, mit dem Houellebecq sein erotisches Begehren zum alltäglichen Anliegen macht.

Ich bin schon gespannt auf den nächsten Houellebecq. Wie der Schlingel es doch immer schafft, selbst mich alte weiße Frau zu überraschen!


Genre: Erotik
Illustrated by DuMont

Hoffen und Scheitern

Hoffen und Scheitern

Unter dem Titel «Vom Versuch, einen silbernen Aal zu fangen» hat die Schriftstellerin Janine Adomeit ihren Debütroman geschrieben, er handelt von den Hoffungen von Menschen am Rande der Gesellschaft. Der in der Jetztzeit angesiedelte Plot beschreibt die neu aufkeimende Hoffnung einer herunter gekommenen, kleinen Gemeinde an der Ahr, zum einstigen Wohlstand als Ort einer Heilquelle zurückzufinden, aus der speziellen Sicht der sogenannten kleinen Leute.

Die etwa 5000 Einwohner von Villrath haben bessere Zeiten erlebt, ihre Kleinstadt war einst das Tor zum Ahrtal, hatte mit ihrer Heilquelle viele Touristen angezogen und 1987 sogar einen Preis für die schönste Innenstadt erhalten. Durch ein Erdbeben ist diese Quelle aber vor 17 Jahren versiegt, seither liegt die Gemeinde im Dornröschenschlaf und verkommt zusehends. Die Politiker waren untätig, man hatte die Stadt schlicht vergessen. Thematik des Romans ist die Hoffung, die in der Bevölkerung nach dem langen wirtschaftlichen Niedergang aufkeimt, als im Wald bei Bauarbeiten für eine neue Bahntrasse urplötzlich wieder eine neue Quelle aufbricht. Geschildert werden diese Erwartungen am Beispiel verschiedener Protagonisten, die ganz unterschiedlich betroffen sind von den neuen Möglichkeiten, die sich nun ergeben.

Da ist etwa die ehemalige Friseuse Vera, aus deren Perspektive zu weiten Teilen erzählt wird. Als Wirtin einer wüsten Kneipe trinkt sie selbst gerne, unter anderem auch, weil sie mit ihrem übergewichtigen, nichtsnutzigen Sohn Johannes große Probleme hat. Sie träumt davon, das marode Haus samt schlechtgehender Kneipe zu verkaufen und den örtlichen Frisiersalon zu übernehmen. Ein Investor sucht alte Häuser wie ihres und will auch das ehemalige Kurhaus erwerben und zu einem Hotel mit ländlichem Charakter ausbauen. Um die Quelle zu erhalten müsste aber die bereits fertig geplante Bahntrasse verlegt werden, wofür die Gemeinde die Kosten zu übernehmen hätte. Das wiederum wäre aber nur durch den Verkauf des Kurhauses zu finanzieren, an dem aber hängen nun mal viele nostalgisch empfindende, aber einflussreiche Alte in der Gemeinde, – ein schwer zu lösendes Dilemma für den Bürgermeister. Der 16jährige Johannes ist ein grottenschlechter Schüler, der sich als Hilfskraft eines, wie sich herausstellt kriminellen Schrottsammlers Geld dazuverdient und von einem eigenen Motorrad träumt. Dritter Protagonist der Geschichte ist der 80jährige Kamps, ein ehemaliger Schlossermeister, der nach dem Tod seiner Frau immer neue, herum streunende Katzen bei sich aufnimmt, etwa dreißig sind es inzwischen. Er führt einen erbitterten Kampf mit der Gemeinde, weil er die zunehmende Vermüllung insbesondere des Friedhofs, aber auch der Straßen nicht akzeptieren will, und die häufigen Einbrüche ebenso. Er ist entschlossen, selbst gegen die Einbrecher vorzugehen und lässt sich sein im Schützenhaus deponiertes Gewehr unter dem Vorwand aushändigen, dass er es verkaufen will.

«Es war zu warm für die Jahreszeit, auch sonst stimmte nichts» lautet lapidar der erste Satz. Der Roman wird in einer dem geschilderten Milieu stimmig angepassten Alltags-Sprache erzählt, wobei die Autorin ihre verschiedenen Handlungsstränge immer wieder geschickt zusammenführt. Auch der Umweltschutz fehlt übrigens nicht, verkörpert einerseits von dem Saubermann Kamps, aber vor allem durch einen Trupp von Aktivisten, die im Wald ein Protestcamp errichtet haben, um den drohenden Kahlschlag des Waldes durch die Bahn zu verhindern. Symbolisch für das Hoffen und Scheitern steht hier die Quelle. Durch ihre distanzierte Erzählweise lässt Janine Adomeit allerdings keinerlei Empathie beim Leser aufkommen für ihre schrulligen Figuren. Mit Sicherheit aber ist ihre Geschichte auch entschieden zu lang geraten, man quält sich als Leser teilweise durch die geschilderten Banalitäten des Alltags in dem Kaff namens Villrath. In Anbetracht dessen wirkt der überraschende Countdown mit einer Feuerwehr-Sirene im Hintergrund schlussendlich denn doch ziemlich aufgesetzt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Komm, gehen wir

Unvergesslich?

Mit dem Titel seines Romans «Komm, gehen wir» spielt Arnold Stadler auf dessen Eingangs-Kapitel an, das geradezu symptomatisch ist für den Anfang dieser Geschichte. Es geht darin um eine ungewöhnliche, gemischt hetero-homosexuelle Ménage à trois, die in Italien ihren Anfang nimmt. Einen Hinweis auf autobiografische Bezüge bietet der Name des Protagonisten Roland, der als Anagramm den Vornamen des Autors enthält, es gibt zudem weitere Gemeinsamkeiten, die solche Schlüsse zulassen, wie Stadler in einer Stellungsnahme bestätigt hat. Seine vor allem auch von katholischen Einflüssen geprägte Geschichte behandelt, narrativ unbeirrt von vielerlei Banalitäten, das Thema Liebe und die daraus folgenden Seelen-Zustände.

Der Hochzeits-Termin von Roland und Rosemarie steht fest, die beiden 23jährigen Studenten haben den 22. November 1978 gewählt und verbringen im August ihre «vorgezogene Hochzeitsreise» auf der italienischen Trauminsel Capri. Am Vortag ihrer Abreise liegen sie nackt an einem illegalen FKK-Strand, als ein gutaussehender, junger Amerikaner, der sich als Jim aus Florida vorstellt, sie um einen Schluck Wasser bittet. Sie kommen ins Gespräch, «und nach zwei weiteren Stunden wissen sie schon so viel von einander, dass Roland zu ihm sagt: ‹Come on, let’s got!›», aber verwirrt «go» meint, «Komm, gehen wir!». Denn Jim hat keine Bleibe für die Nacht, also laden sie ihn in ihre Pension ein. Beide sind fasziniert von ihm und nehmen ihn dann auch mit nach Deutschland. Aber schon bald beginnt es auch zu kriseln. Als beispielsweise Rosemarie ihre beiden Lover nackt auf dem Bett erwischt, wie sie sich ein Pornoheft ansehen, schreit sie wütend: «Ich fasse es nicht – was seid ihr doch für Drecksäue!». «Das war Rolands ungewaschene Erinnerung an die Liebe», heißt es im Roman, der Student träumt nun wieder davon, Schriftsteller zu werden, «um alles festzuhalten und das Unbeschreibliche zu beschreiben».

Es geht hier um drei Lieben, jede mit anderen Anziehungs-Kräften, Sehnsüchten und Erwartungen, jede mit ihrem eigenen Glücks- und Unglücks-Potential. Roland hatte sein Studium der Agrarökonomie nach einem Semester abgebrochen, und über eine anschließende Ballettausbildung, die seine Eltern nicht ganz zu Unrecht ziemlich beunruhigt hat, heißt es im Roman: «Tanzen hieß zu Hause soviel wie: Er lässt sich jetzt ficken». Aber auch diese Karriere ist mangels Talent gescheitert, und als ihn eine Fahrt an Tübingen vorbeiführt, geht es ihm durch den Kopf: «Aus jeder Klasse war der Oberspinner nach Tübingen gegangen, um entweder Philosophie oder Theologie, Psychologie oder Soziologie zu studieren, um nach zwanzig Semestern entweder als Professor, Taxifahrer oder Politiker zu enden». Und untüchtig wie er ist endet Roland als Studienabbrecher der Philosophie und versucht sich lange vergeblich als Schriftsteller. Von allen drei Protagonisten erzählt der Autor auch ausführlich ihre jeweilige Vorgeschichte. Rosemarie macht später eine steile Karriere als Ärztin, Jim verschwindet wieder in die USA und fristet dort eine fragwürdige Existenz, der Kontakt zu ihm wird immer spärlicher. Und für alle geht auch in der Liebe alles schief, was schiefgehen kann.

Mit vielen Abschweifungen erzählt Arnold Stadler eine wenig plausible Geschichte voller Leerstellen und ins Nichts führender Gedankengänge. Da liest man zu Beispiel, dass die Liaison seines Trios gerade mal so lange gedauert habe wie das Pontifikat von Johannes Paul I., was in diesem Zusammenhang nicht nur befremdlich, sondern auch völlig unmotiviert wirkt. An anderer Stelle erwischt eine Mutter in Amerika ihren Sohn und Jim, den sie bei sich aufgenommen hat, am 6. Juni 1978 – «dem 103. Geburtstag von Thomas Mann» – in flagranti und wirft Jim hinaus. Was für eine geradezu an den Haaren herbei gezogene Assoziation! Und es gibt mehr, was den Leser verstört zurücklässt. Wenn also im Buch die Frage «Woran erkenne ich ein Kunstwerk?» beantwortet wird mit «Daran, dass es unvergesslich ist», dann liegt hier wahrlich kein Kunstwerk vor!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

The Travel Episodes – Band 5: Von Abenteuern in der Ferne und vor der Haustür

Nach dem Reisen ist vor dem Reisen. Und die Zeit dazwischen kann unendlich lang werden. Nicht nur während einer Pandemie, sondern vielleicht sogar schon zwischen zwei Wochenenden. Das trifft natürlich nicht auf alle Menschen zu, aber auf jeden Fall auf all die mit dem Reise-Gen, die Horizont-Süchtigen, die Fernweh-Kranken. Diese Krankheiten heilt Johannes Klaus mit seinen Travel Episodes nicht, er bietet allenfalls das Methadon, die Ersatzdroge. Genau genommen befeuert er die Symptome sogar, wenn er verschiedene Autoren bittet, ihre jeweiligen Erlebnisse, Abenteuer, Erfahrungen, Bilder und Gedanken in Worte zu fassen. Frauen und Männer, die an irgendeinem Ort rund um den Globus waren oder sich vielleicht sogar noch dort befinden und mit ihren Berichten und Erzählungen bei der gesamten Leserschaft Kopfkino vom Feinsten über die mentale Leinwand flimmern lassen. Weiterlesen


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Reisen
Illustrated by Piper Malik Kabel München

Chinese Propaganda Posters

Chinese Propaganda Posters by  Stefan R. Landsberger (Hg.)

Die Olympischen Spiele in China sind in aller Munde: Willkommen in der kommunistischen Utopie! Die vorliegende Publikation des Kölner TASCHEN Verlages zeigt im XL-Format chinesische Propagandaposter aus der Zeit des kommunistischen Aufbruchs. Die vorliegenden Bilder, entstanden zwischen der Gründung der Volksrepublik 1949 und den frühen Achtzigerjahren. Sie zeigen die utopischen Träume Rotchinas sowie seiner Kampagnen, um die Hirne und Herzen der Bevölkerung zu gewinnen. Weiterlesen


Genre: Comics, Grafikdesign, Politik
Illustrated by Taschen Köln

Carolin Summer – Die WeltenWechsler Akten I: Narrenlauf

Carolin Summer - Die WeltenWechsler Akten I: Narrenlauf

(Copyright Cover: Carolin Summer / Copyright Foto: Das Bambusblatt)

 

»Narrenlauf« ist der erste Band der Urban Fantasy Krimi Tetralogie »Die WeltenWechsler Akten« von Carolin Summer. In der Erstauflage erschien er bereits im Januar 2018. Inzwischen gibt es eine neue Auflage, ebenso wie Sondereditionen zu jedem Band. Veröffentlicht wurde die Reihe im Selfpublishing über Tredition. Weiterlesen


Genre: Roman, Urban Fantasy Krimi
Illustrated by tredition

My Roomate is a Cat 7

Verantwortungsvoller Umgang mit Tieren

Der introvertierte Schriftsteller Subaru hat unter seiner Terrasse Katzenbabys gefunden. Die möchte er jetzt in gute Hände vermitteln. Allerdings fällt es ihm schwer, Zettel mit Infos zu den Kätzchen zu verteilen, da er kontaktscheu ist. Aber er bekommt überraschend Hilfe von Verkäufer*innen, die seine Zettel bei sich aushängen. Schon bald darauf melden sich Interessent*innen, die zwei von den drei Katzenbabys mitnehmen – auch wenn die Vermittlung nicht immer glatt verläuft. Und Subaru überlegt, ob er das letzte Kätzchen nicht selbst behalten soll.

 

Selbstüberwindung und Elternqualitäten

Der 7. Band erzählt wieder sowohl aus der Perspektive von Mensch als auch Katze die Geschichte und bietet dabei unterschiedliche Blickwinkel. Katze Haru hat alle Pfoten voll zu tun, die kleinen Energiebündel in Schach zu halten, während Subaru seine Scheu erneut überwinden muss, um den Katzenbabys zu helfen. Haru lernt auch hier, ein gutes Vorbild zu sein, während Subaru erfährt, dass die Außenwelt besser und hilfsbereiter ist als er angenommen hat. Insgesamt wird auch in diesem Band wieder ein stiller Optimismus vermittelt, der wie warme, weiche Wattewolken die Leser*innen einhüllt. Dieser Optimismus ist zwar nicht unbedingt realistisch – es gibt an jeder Ecke Menschen mit schlechtem Charakter, für die Charaktere wie Subaru ein willkommenes Opfer sind – aber wer Realität von Fiktion unterscheiden kann, ist mit dieser liebevollen Geschichte über Selbstfindung und Tierliebe gut bedient. Allerdings muss man dazu sagen, dass die Sicht der Katzen sehr menschlich ist und daher eher keine echte Katzenperspektive bietet. Die Serie erscheint in Japan seit 2015, in Deutschland sei 2020. Seit 2019 gibt es sie auch als Anime.


Genre: Katzen, Manga, Schriftsteller*innen
Illustrated by Carlsen Manga!

Carole & Tuesday

Selbstverwirklichung

Die 17-Jährige Tuesday hat nur einen Wunsch: Sie will Musik machen! Aber innerhalb ihres strengen Elternhauses ist das nicht möglich. Deshalb reißt sie von zuhause aus und versucht ihr Glück in der Mars-Hauptstadt Alba City. Dort trifft sie zufällig auf Carole, die als Straßenmusikerin versucht, ein wenig Geld in die Kasse zu spülen. Tuesday ist von Caroles gefühlvollen Keyboardklängen begeistert und hat sofort einen Liedtext im Kopf. Sie zieht bei Carole ein und beide versuchen mit ihren Stimmen, der Gitarre und dem Keyboard sich anzunähern. Um die Akustik zu testen, spielen sie ihr neues Lied schließlich illegal in einer Konzerthalle. Dort nimmt ein Mitarbeiter ein Video der beiden auf, das sofort viral geht. Die Zuhörer*innen spüren trotz aller Anfängerfehler sofort die Seele (den Soul) der Musik, der durch die KI-produzierten Lieder abhandengekommen ist.

Der Soul der Musik

Der 1. Band der Reihe, die auf dem gleichnamigen Anime beruht – ansonsten ist es meist umgekehrt, denn zuerst wird der Manga veröffentlicht, auf den bei Erfolg ein Anime folgt – ist eine Mischung aus Science-Fiction-Manga und einem Manga über das Künstler*innendasein, in dem Fall über Musikerinnen und die Schwierigkeiten, einer Leidenschaft nachzugehen und damit auch noch Geld zu verdienen. Er zeigt schon im ersten Band, welche Hindernisse überwunden werden müssen, um bekannt zu werden. Dabei geht es hauptsächlich um das Künstlerische; die Science-Fiction bildet nur den Rahmen der Geschichte.

Bemerkenswert finde ich, dass nicht nur zwei Frauen die Hauptfiguren stellen, sondern dass eine der beiden auch noch dunkelhäutig ist. Das findet man in Manga, v.a. als Hauptperson, selten. Aufgrund der vielen Hautfarben, die es schon seit jeher gibt, und wenn man bedenkt, dass die helle Hautfarbe eigentlich nur eine Mutation der dunklen ist, um sich an nordische Klimaverhältnisse anzupassen, sowie weiter sinniert, dass die Vorfahren der Menschheit aus Afrika stammen, sollte es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass man diese Vielfalt an menschlichem Dasein auch in der Literatur abbildet. Dem ist aber leider nicht so; es gibt hier noch viel Handlungsbedarf.

Spinnt man den Faden weiter, ist es aufgrund der düsteren Geschichte nicht selbstverständlich, dass eine dunkelhäutige und eine weißhäutige Figur quasi sofort eine Freundschaft eingehen. Sie bilden zwar ein schwarz-weißes Duo, aber dieses ist nicht im Sinne des engstirnigen Schwarz-Weiß-Denkens zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil wie die beiden sich ergänzenden Teile des Yin und Yang.

Ebenfalls ein wichtiges Thema ist die Seele der Musik (Soul). Man denke an die Musikrichtung Soul, die mit afroamerikanischen Menschen verknüpft wird. Da schon in der Gegenwart Musik gern technisiert wird, nimmt der Manga diesen Trend auf und führt ihn in letzter Konsequenz ad absurdum: Technik, selbst wenn sie noch so ausgefeilt ist, kann menschlichen Soul nicht ersetzen. Wenn der Soul fehlt, ist die Musik letztlich leer und bietet keine Seelennahrung, was eigentlich ihre Aufgabe ist.

Insgesamt ein gelungener, schöner Manga zum Thema Musik und Künstler*innendasein im Setting der Science-Fiction.


Genre: Manga, Musik, SF

Die Jahre der wahren Empfindung

Vom Scheintod der Literatur

Helmut Böttiger hat mit «Die Jahre der wahren Empfindung» und dem ergänzenden Untertitel «Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur» ein grandioses neues Sachbuch vorgelegt. Es dürfte für all Jene eine ergiebige Informationsquelle sein, die sich über den Deckelrand ihres Buches hinaus auch für Literatur als Kunstgattung interessieren. Für Leser also, die Näheres wissen wollen über die Schöpfer jener fiktiven Welten, die sie als Lektüre bereichern und im günstigsten Fall auch erfreuen. Und die schließlich sogar noch wissen wollen, unter welchen äußeren Bedingungen und in welchem kreativen Prozess diese Kunstwerke entstehen, – wenn es denn welche sind!

Es beginnt mit einem «Vorspiel», in dem darlegt wird, dass Enzensberger, Johnson und Grass Ende der 1960er Jahre drei «sehr unterschiedliche politisch-literarische Kraftfelder» vermessen hätten, die vieles enthielten, was sich dann nach 1968 entladen sollte. Politisch gehörte dazu auch die «Kommune 1» in Berlin, die damals in der Wohnung von Uwe Johnson ihr «Pudding-Attentat» plante. Das von Enzensberger herausgegebene «Kursbuch» habe mit seiner berühmt gewordenen Nummer 15 in der allgemeinen Wahrnehmung den «Tod der Literatur» apostrophiert. Im nächsten der 27 Kapitel widmet sich der Autor anschließend der Erzählung «Lenz» von Peter Schneider und deutet sie als Fanal: «Der auf sich selbst zurückgeworfene Einzelne – das wurde zum großen Thema der siebziger Jahre». Vom Tod konnte da nun wirklich keine Rede mehr sein, im Gegenteil, es folgte eine «wilde Blütezeit» mit neuen Autoren, Verlagen, Buchhandlungen und Literatur-Zeitschriften. Kreativ, wagemutig und unkonventionell wurden die literarischen Prozesse dem veränderten Bewusstsein angepasst, wurden neue Themenfelder besetzt. Eine radikale Politisierung vor allem, aber auch die Abrechnung mit den Nazi-Vätern, das Eindringen von Beat-Elementen, der lauter werdende Feminismus, die vorbehaltlose Einbeziehung der Subkultur, eine Durchmischung von Tragik und Komik setzten ganz neue Akzente in der Literatur dieses Jahrzehnts. Und sogar in der DDR gab es damals Lockerungen, die dann allerdings 1976 mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann ein jähes Ende fanden.

In großartigen Porträts erzählt Helmut Böttiger von der Neuen Innerlichkeit als beherrschende Literatur-Strömung der siebziger Jahre, die sich bei allen diese Epoche prägenden Schriftstellern in verschiedenen Spielarten artikuliert. Unter anderen werden Karin Struck und Ingeborg Bachmann als typische Vertreterinnen der schreibenden Frauen gewürdigt, es folgt der junge Peter Handke. Sodann stehen Bernward Vesper und Christoph Meckel exemplarisch für die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, und die Trennung der Verlage Klaus Wagenbach und Rotbuch wird unter dem Stichwort «Linke Verwerfungen» behandelt. Ein Kapitel ist Wolf Biermann gewidmet, es folgt das «Nicht Druckbare» in der DDR, sodann wird Christa Wolf als Lichtgestalt der DDR-Literatur gewürdigt. Weiter geht es mit Heiner Müller, gefolgt von dem aufmüpfigen Fritz Rudolf Fries. Als «heraus gemeißeltes Jahrhundertwerk» feiert Helmut Böttiger «Die Ästhetik des Widerstands» von Peter Weiss, dessen zentrale Aussage die «Mehrdeutigkeit der Kunst» sei. Nicht ohne Spott werden schließlich die schwierigen Beziehungen zwischen Marcel Reich-Ranicki und Martin Walser sowie die desaströsen zwischen  Siegfried Unselt und Thomas Bernhard geschildert. Es folgen Uwe Johnson mit »Jahrestage» und die Nobelpreisträger Heinrich Böll und Günter Grass mit ihren Werken aus diesem Zeitraum, und auch Arno Schmidt mit «Zettels Traum» wird ausführlich gewürdigt.

Diese anekdotenreichen Porträts sind als lehrhafte Chronik für ambitionierte Leser äußerst nützlich. Zudem vermittelt die oft amüsante Lektüre en passant eine Fülle von Interna der Branche und verdeutlicht Prozeduren zum besseren Verständnis einer Kunstgattung, die den Intellekt fordert wie keine zweite, und all das wird dann auch noch sehr unterhaltsam erzählt!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Sachbuch
Illustrated by Wallstein Göttingen

Leben mit dem Stern

Leben mit dem Stern. “Gestern wurde ich 53 Jahre alt, denn ich bin so alt wie dieses seltsame Jahrhundert“, schrieb Weil 1953 an einen Freund. Diesen Satz liest man mit Freude, denn so weiß man sogleich, dass der Autor sowohl die nationalsozialistische als auch die stalinistische Katastrophe “dieses seltsamen Jahrhunderts” überlebt hat. Für bedeutende tschechoslowakische Schriftsteller wie Josef Škvorecký, Ladislav Fuks, Ivan Klíma oder Jiří Kolář ist Jiří Weil heute ein großes Vorbild. Allerdings galt er in der ehemaligen Tschechoslowakei, seit der Veröffentlichung seines hier vorliegenden Romans 1949 bis zu seinem Tod 1959, als Unperson, ja sogar als “Schädling“.

Zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus

Wer diesen Roman “Leben mit dem Stern” liest, wird alsbald verstehen warum. Die totalitäre Katastrophe, die er in seinem Roman beschreibt, könnte sowohl eine kommunistische als auch eine faschistische Diktatur meinen. Tatsächlich saß der Autor schon in den Dreißiger Jahren in der Sowjetunion im Gulag, später dann als Jude im “Protektorat Böhmen und Mähren” ebenso in der Falle, wenn auch nicht im Lager, dem er sich zu entziehen wusste. 1933, vom Kommunismus begeistert, ging er nach Moskau, um dort als Journalist und Übersetzer marxistischer Literatur zu arbeiten. Nach dem Ausschluss aus der Partei und der Deportation nach Mittelasien im Zuge der ersten stalinistischen Säuberungen kehrte Weil 1935 dann aber doch wieder nach Prag zurück. “Leben mit dem Stern” beschreibt minutiös den Zeitraum der Umsiedlung bis zur Flucht in den Untergrund des Protagonisten Josef Roubíček. Dabei geht es aber vor allem um den Bewußtwerdungsprozess, ob er sich – so wie die anderen – in sein Schicksal fügen soll oder doch dagegen aufstehen soll. Hätte Jiří Weil es dann nicht getan, könnten wir dieses unglaubliche Zeugnis der wohl größten Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts heute nicht mehr lesen. Wie sich dann der Protagonist Josef Roubíček entscheidet, erfahren Sie auf den letzten Seiten des Romans. Jiri Weil gelang es durch einen vorgetäuschten Selbstmord.

Erschütternd authentisch über den Alltag des Holocaust

Philip Roth nannte “Zivot s hvezdou“, so der tschechische Originaltitel, “einen der herausragendsten Romane über das Schicksal der Juden unter den Nazis. Ich kenne keinen vergleichbaren“. Weils Roman ist nämlich nicht nur ein sprachlich exzellent geschriebener Roman, sondern auch ein großes Stück Literatur mit seltenem Tiefgang. Josef Roubíček, ein ehemaliger Bankangestellter, darf aufgrund der Rassengesetze im besetzten Prag nicht mehr arbeiten. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich sein Essen zum Überleben selbst zu organisieren. Da es ein kalter Winter ist, verheizt er nach und nach alle Möbel seiner kleinen Mansarde am Stadtrand. Zigaretten dreht er sich aus gefundenen Kippenresten und getrocknetem Laub, als Angehörige hat er nur noch einen Onkel und eine Tante, die im Prager Zentrum leben. Tagsüber ist er mit der Essensbeschaffung beschäftigt, abends füttert er einen ihm zugelaufenen Kater und träumt von Růžena. Sie kann nicht bei ihm sein, da sie verheiratet ist. Es wird aber nie ganz klar, ob sie nicht nur ein Tagtraum ist. Auch wenn sie es ist, die ihm stets rät zu fliehen. Rührend ist die Geschichte von seinem Kater, den er den (ungläubigen) Thomas nennt. Denn ebenso ungläubig und absurd ist das, was Josi (so nennt ihn Růžena) jeden Tag passiert. Auf allem liegt ein feiner Hauch von (absurdem) Humor und das, obwohl Jiří Weil das Schrecklichste beschreibt, was Menschen anderen Menschen je angetan haben. Angesichts des unglaublichen Leids, das ihm und anderen Verfolgten widerfahren ist, staunt man über die feine Feder dieses Schriftstellers, der beschreibt ohne anzuklagen, ohne Wut oder Hass, aber mit sehr viel Liebe und Verständnis für die Seinigen.

Gemeint: Totalitarismus von links und rechts

Die Sprache in der Jiří Weil den Weg in den Untergang des jüdischen Volkes schildert ist sehr schön und steht in krassem Widerspruch zur Handlung. Denn die Dystopie, die er beschreibt ist präzise beobachtet und könnte  in jedem Jahrhundert in jedem Land der Welt spielen. Natürlich ist das Protektorat und die deutsche Besetzung der Tschechoslowakei gemeint, aber stets vermeidet es Weil, die Deutschen direkt anzusprechen. Selbst wenn er von “ihrer Sprache” spricht, nennt er “sie” nie beim Namen. Dieser dramaturgische Kniff macht seine schreckliche Gegenwart zu einer noch erschreckenderen Zukunftsvision als etwa “1984” oder “Fahrenheit 451”. Der Totalitarismus und die Verfolgung einer Minderheit, im vorliegenden Fall die Juden, ist austauschbar und könnte überall passieren: Es kann jeden treffen. In der Absurdität der Anordnungen der Behörden liegt der eigentliche Terror und Schrecken. Die Besetzer behandeln die Bewohner der besetzten Gebiete wie Tiere, ihr Interesse und ihre Gier gilt allein ihren “Dingen”. Sie sehen keine Menschen, sondern nur Mittel zur Bereicherung und wen sie daran beteiligen, der wird mitkorrumpiert. “Teile und herrsche” wird zu einem Schreckensszenario des Alltags und schuld daran ist nur die “Hoffnung“. Und das perfideste daran ist, dass jene, die Widerstand leisten, zu den eigentlichen Schuldigen erklärt werden. So funktioniert eine totalitäre Gesellschaft.

Jiří Weil arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg am Jüdischen Museum in Prag. Als Redakteur und Autor, war er in seiner schriftstellerischen Tätigkeit durch ein siebenjähriges Publikationsverbot stark eingeschränkt. Erst 1956 wurde er rehabilitiert, starb aber leider schon drei Jahre später an Leukämie. Aber seine Stimme ist immer noch zu hören: in seinen Büchern. Seit 2020 wird an einer ersten Gesamtausgabe seines Werkes in Prag gearbeitet. Im Wagenbach Verlag ist auch sein Buch “Mendelsohn auf dem Dach” erschienen und hoffentlich bald auch seine anderen Werke, wie etwa “Moskau – Die Grenze” (1937) u.a. Ein großes Werk, das mehr Beachtung verdient.

Jiří Weil
Leben mit dem Stern
Aus dem Tschechischen von Gustav Just
2020, Broschur, 256 Seiten
ISBN 978-3-8031-2825-6
Wagenbach Verlag
14,– €


Genre: Holocaust, Nationalsozialismus, Protektorat, Roman, Stalinismus, Tschechoslowakei
Illustrated by Wagenbach