Vater und ich

Wortlos verbunden

Die mit ihren deutsch-türkischen Glossen in der Berliner Zeitung bekannt gewordene Journalistin Dilek Güngör wurde mit ihrem dritten Roman «Vater und ich» für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiert. Sie behandelt darin das Verhältnis von Eltern und Kindern zueinander, was ja spätestens dann schwierig wird, wenn die Eltern den heranwachsenden Kindern anfangen peinlich zu werden. Eine Thematik, die eher selten zu finden ist in der Literatur. In dem vorliegenden Band wird dieses Problem noch angereichert mit generationsbedingt unterschiedlichen Migrations-Erfahrungen, die von Sprachbarrieren und ungleichem Bildungs-Niveau herrühren, was sich folglich dann auch in einem unterschiedlichen sozialen Status niederschlägt.

Die in Berlin erfolgreiche Journalistin Ipek nutzt den mehrtägigen Wellness-Urlaub ihrer Mutter, um den Vater zu besuchen. Als erwachsene Tochter hofft sie, die schon lange andauernde, bedrückende Sprachlosigkeit zwischen sich und dem Vater überwinden zu können, wenn sie mit ihm mal allein ist und ungestört, ohne Ablenkung durch die quirlige Mutter, einige Tage nur mit ihm verbringt. Schon am Bahnhof wird das gestörte Verhältnis deutlich, denn der Vater wartet auf dem Parkplatz im Auto auf sie, statt sie auf dem Bahnsteig zu empfangen, wie es üblich ist, wenn ein seltener und willkommener Gast zum Besuch eintrifft. Ist das Gedankenlosigkeit oder ein Indiz für die fehlende Beziehung zur Tochter? Dilek Güngör nähert sich dieser Frage durch Rückblenden auf die Vorgeschichte der Familie. Der Vater ist in den siebziger Jahren als Gastarbeiter nach Schwaben gekommen, die Mutter hat zunächst als Putzfrau gearbeitet. Als später bei Bekannten ein kleines Haus mit Laden zum Verkauf anstand, hat das Ehepaar ihre bescheidene Eigentums-Wohnung verkauft und sich selbständig gemacht. Vater mit einer eigenen Polster-Werkstatt, Mutter mit einer Änderungs-Schneiderei im ehemaligen Laden. Im Obergeschoss befindet sich ihre Wohnung, in der die Ich-Erzählerin Ipek groß geworden ist.

Es ist eine schwierige Annäherung der Tochter an einen Vater, dem sie früher doch so besonders nahe gestanden hat. Die Beiden haben sich heute aber nichts mehr zu sagen, sie schweigen sich gegenseitig an. «Kann nicht das Schweigen unsere Sprache sein» fragt sie sich an einer Stelle des Romans verzweifelt. Obwohl Ipek als Radio-Journalistin Reportagen mit Menschen macht und dabei die unterschiedlichsten Leute zum Sprechen bringen muss, findet sie zum eigenen Vater keinen Zugang. Sie scheitert an seiner Einsilbigkeit und am eigenen Unvermögen, locker und unbeschwert mit ihm zu reden. Trennend hat zum einen gewirkt, dass die Unbefangenheit des Vaters beim Kuscheln und Herumbalgen mit der Tochter religiös bedingt schon recht früh, während der Pubertät, verloren ging und einem förmlichen Umgang gewichen ist, man gibt sich allenfalls noch die Hand beim Begrüßen. Insbesondere aber, das wird ebenso klar, ist daran auch die Sprache schuld. Besonders der Vater ist dem Türkischen treu geblieben, während für die in Deutschland geborene Ipek die Heimatsprache Deutsch ist. Türkisch spielt nur familienintern noch eine Rolle, was beim Vater besonders erschwert wird durch seinen schwer verständlichen Dialekt. Für die in bescheidenen Verhältnissen lebenden Eltern führt Ipek in Berlin ein unbeschwertes Luxusleben, auch das bietet einiges Konfliktpotential, ihr fehle es an Demut, hat der Vater ihr mal vorgeworfen.

Der in direkter Rede, in Du-Form an den Vater gerichtete Text schildert auf beklemmende Weise eine Entfremdung, für die es scheinbar viele Ursachen gibt. Allerdings lässt es die Autorin offen, warum es denn überhaupt so weit kommen musste. Auf subtile Weise, das kann man immerhin zwischen den Zeilen lesen, verstehen sich die Beiden ja doch, viele kleine Gesten deuten darauf hin. Das gilt vor allem für die intimste Szene ganz am Schluss des Romans, als Ipek dem Vater kurz vor ihrer Abreise noch schnell die Haare schneidet.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Verbrecher Verlag

In der Männer-Republik: Wie Frauen die Politik eroberten

In der Männer-Republik: Wie Frauen die Politik erobertenProminente Männer wurden von Torsten Körner schon oft beschrieben, von Heinz Rühmann über Beckenbauer zu Willy Brandt gibt es Biografien. Dabei ist als Beifang so viel Material über in der bundesdeutschen Politik aktive Frauen zusammengekommen, dass es nun ein eigenes Buch brauchte. Es erschien 2020, inzwischen gibt es auch den Film Die Unbeugsamen, der im Mai 2021 herauskam.

Um die Sicht der Frauen zu erfassen, las Körner verfügbare Aufsätze und Biografien, wenn möglich, interviewte er Protagonistinnen, manche waren über neunzig Jahre alt. Die Literaturliste umfasst sieben Seiten. Als Bildmaterialien dienen ihm für die Zeit der Gründung der Bundesrepublik die Wochenschauen. Diese waren, wie zur Nazizeit, staatliche Medien und Adenauer, mit dem es begann, wusste sie zu nutzen.

Frauen brauchte er nicht zum Regieren. Als ein Sitzstreik der weiblichen CDU/CSU Abgeordneten ihn zwang, 1961 als Alibi die Ministerin Dr. Elisabeth Schwarzkopf im Kabinett zuzulassen, redete er sein Kabinett weiterhin als „seine Herren“ an.

Die Darstellung geht chronologisch vor, in 18 Kapiteln werden die Frauen vorgestellt, mit einer Fülle von Zitaten, wie mit und über sie gesprochen wurde. In den Anfangsjahren geht es um die Familienpolitik von Wuermeling, die Körner als: „Familie als Vätergenesungswerk, als Vorschein des Paradieses für Männer auf Erden“ beschreibt. Wie Frau Schwarzkopf die Sicht der Herren, in einer Ehe müsse der Mann das Sagen haben, präzise hinterfragt, ist nur ein Beispiel dafür, wie Frauen das Niveau der Debatten erhöht hatten.

Manchen Kapiteln werden Merksätze vorgestellt, etwa „Was Du erbst von deinen Müttern, das musst du bewahren. Du musst weitermachen, damit es fest ist.“ von Ursula Männle (CSU), deren Biografie in Buch und auch im Film Raum erhält.

Sie war eine Sarghüpferin: wie damals oft, wurden Frauen in der Liste weiter hinten geführt und rutschten ins Parlament, wenn der Platzhalter gestorben war. Ihre Haltung war parteienübergreifend frauenfreundlich, früh begann sie, sich mit anderen Frauen zu treffen, mit Renate Schmidt (SPD) und Waltraut Schoppe (Grüne), erst im Büro, später öffentlich in der Kantine. Da dies argwöhnisch von den Männern beäugt wurde, hat irgendwann Renate Schmidt Frau Männle angeboten: „Soll ich Dich mal wieder beschimpfen, damit deine Männer dir wieder vertrauen?“

Als die Grünen Frauen das Feminat gründen, gratuliert sie brieflich und wird dafür von ihrer Partei gerügt. Die SPD-Frauen fremdeln eher. Und Joschka Fischer schrieb: „Wie kann man nur so verdiente und profilierte Leute wie Petra Kelly und Otto Schily abwählen und—doppelt verrückt—an deren Stellen sechs Frauen wählen?“ Er war, übrigens, auch einer der abgewählten Verdienten und Profilierten.

Andere Kapitel zeigen Zeitgeschichte: Erinnern sie sich noch an den Internationalen Frühschoppen? Oder den Mut einer Abgeordneten, im Hosenanzug zu erscheinen? Ausführlich werden die Abwahl Schmidts und die neue Koalition behandelt, in deren Folge mehrere der FDP-Frauen, ihre Partei verließen.

In „Auf dem Standesamt“ kämpft Ingrid Matthäus-Maier 1974 um ihren Doppelnamen. Der nicht informierte Standesbeamte verabschiedete sie als Frau Maier, und glaubte der Juristin nicht, dass nun Doppelnamen möglich wären. Sie weigert sich, das Standesamt zu verlassen, was der Hochzeitsgesellschaft peinlich ist. Oder es wird dokumentiert, wie Rita Süßmuth die Verhüllung des Reichstags gegen geballte Männerformationen durchsetzt.

„Sie auch …“ ist der Titel des Kapitels, in dem bearbeitet wird, wie Sexismus auch von den Frauen verschwiegen wurde, da sie wussten, man hätte sie selbst als Ursache für Anzüglichkeiten oder Angriffe ausgemacht. Als eine Abgeordnete in einem Länderparlament sich als lesbisch bezeichnete, wurde ihr auf dem Flur zugeraunt, sie könne Mann ja noch nicht einmal vergewaltigen.

Und wie anregend dagegen die Rede von Waltraut Schoppe über Ehebettroutinen inklusive Penetration, und vorzuschlagen, gemeinsam mit Kanzler Kohl andere sinnlichkeitsstiftende Formen der Erotik zu entwickeln. Dies wird als ein Wendepunkt beschrieben, der mit bewirkte, dass dann 15 Jahre später die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde. Als hätte er dies Ergebnis schon geahnt, schwänzte Helmut Kohl diese Sitzung.

Mehr als den Anspruch, Fakten zu dokumentieren, gibt es weitergehende Gedanken, so wie immer wieder über Macht und Charisma: Wie anderes war das Charisma einer Petra Kelly als das von Willy Brandts?

Die Schicksale von Hannelore Kohl und Petra Kelly, die im Film zusammen als Opfer auf dem Altar der Männerrepublik behandelt wurden, sind hier einfühlsam beschrieben.

Im Vorwort schreibt Körner: „Wer als Mann die Chance hat, die Grenzen des eigenen Geschlechts und Denkens im Dialog mit anderen zu begreifen, auch zu verstehen, worin die Zumutungspotenziale des eigenen Sprechens und Schreibens liegen mögen, welche Gewalt von Männern bewusst oder unbewusst ausgeht, sollte die Möglichkeit nutzen.“ Er versteht es, sie zu nutzen und macht das Lesen zu einem wachsenden Vergnügen. Fast poetisch wird er, wenn er männliche Selbstdarstellung parodiert. Das hätte keine Frau besser gekonnt. Ich werde das Buch oft verschenken.


Genre: Frauen, Politik
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Über Menschen

Mehr Essay als Roman

Niemand bedient den aktuellen literarischen Trend des Dorfromans so erfolgreich wie Juli Zeh, die fünf Jahre nach ihrem Erfolg mit «Unterleuten» nun mit «Über Menschen» wieder das Großstadtleben Berlins dem Landleben in einem öden brandenburgischen Kaff gegenüberstellt. Dieser Gesellschafts-Roman konzentriert sich, anders als sein Vorgänger von 2016, auf nur wenige Figuren aus einem fiktiven Ort namens Brackendorf. Thematisch widmet er sich außer dem Corona-Wirrwar dem latenten Alltags-Rassismus und einem missionarisch betriebenem Umweltschutz. Sie hoffe, hat die Autorin erklärt, dass ihr Buch helfe, Barrieren zu überwinden.

Zeitlich ist der Roman im ersten Lockdown Anfang 2021 angesiedelt, als die 36jährige Werbetexterin Dora sich von ihrem Freund trennt, der als glühender Klima-Aktivist immer abstrusere Thesen vertritt und ihr damit den Alltag vergällt. Zusätzlich genervt von den Einschränkungen des Lockdowns, hat sie kurz entschlossen ein schon lange leerstehendes Haus in dem 285-Seelen-Dorf gekauft und ist mit ihrer Hündin, die transgender-gemäß den Namen «Jochen-der-Rochen» trägt, in das auch für sie so verheißungsvolle Landleben geflüchtet. Wie nicht anders zu erwarten wird sie jedoch als Städterin sogleich mit den profanen Alltagsproblemen des Landlebens konfrontiert, aber auch mit mentalen Hürden, die es im Zusammenleben mit den wenigen Nachbarn zu überwinden gilt. Ihren ersten Kontakt hat sie über die hohe Trennmauer hinweg mit ihrem direkten Nachbarn, der wütend ist, weil ‹Jochen› im Kartoffelbeet gegraben hat, weshalb er die Hündin nun im hohen Bogen über die Mauer zurückwirft auf Doras Grundstück. Er sei übrigens der Dorfnazi, erklärt er ihr lapidar, und werde von allen ‹Gote› genannt. Im Wald trifft Dora auf Franzi, die, wie sich herausstellt, Gotes zehnjährige Tochter ist und beim Vater lebt. Ferner macht sie Bekanntschaft mit dem Floristen Tom und dem Kabarettisten Steffen, einem schwulen Männerpaar, das dekorative Pflanzen-Gestecken herstellt. Der Verkauf floriert, in Zukunft wollen sie damit auch im Internet tätig werden, wobei die inzwischen arbeitslos gewordene Dora ihnen helfen soll. Der Nachbar Heinrich von gegenüber, der den Spitznamen R2-D2 trägt, macht sich ungefragt über Doras verwilderten Garten her, während Gote, der früher Schreiner war, ihr unaufgefordert Möbel baut und in ihr leeres Haus stellt. Und Sadie schließlich steht mit einem Sack Saatkartoffeln vor der Tür, die beim Händler derzeit nirgends zu bekommen sind, und erzählt beim Kaffee, dass sie als alleinerziehende Mutter permanent in Nachschicht arbeiten muss, um finanziell über die Runden zu kommen

Soweit die Dorfidylle mit ihren vielen Klischees, die den Hintergrund bilden für die sozialen Verwerfungen, die Juli Zeh mit ihrem Roman aufzeigen will. Als Hauptübel entlarvt sie die permanente Unzufriedenheit der Menschen, die fast alles haben, sich aber trotzdem ständig an irgendwas stören, über irgendwas aufregen, anderen unbedingt ihre Meinung aufzwingen wollen. Schon kleinste Beeinträchtigungen des Wohlergehens werden da als Katastrophe wahrgenommen und erbittert bekämpft. Mit analytischem Scharfblick zeigt die Autorin durch ihr obskures Figuren-Ensemble nicht nur, wie solch verhärtete Fronten entstehen, sondern auch, wie sie sich fast von allein auflösen, wenn Menschlichkeit ins Spiel kommt, die ja schließlich in jedem stecke. Das gerät ihr allerdings oft gar zu rührselig und märchenhaft, aber Empathie für ihre Figuren kommt trotzdem nicht auf.

Irritierend ist am Ende die erkennbare Absicht der Autorin, die Untaten ihres Protagonisten Gote durch seine tückische Erkrankung zu relativieren. Und dass nun ausgerechnet Doras Vater dafür als medizinische Koryphäe in der Charité gilt, strapaziert den Zufall denn doch zu arg. Das Gedankengut dieses Romans wäre besser in einem brillant formulierten Essay verarbeitet worden, für einen Roman nämlich fehlt neben dem Impetus vor allem ein tragfähiger Plot.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Pflaumenregen

Politisches Terra incognita

In seinem neuen Roman «Pflaumenregen» beschäftigt sich der studierte Sinologe Stephan Thome mit der Geschichte Taiwans, die den historischen Hintergrund bildet für sein breit angelegtes Familienepos. Beginnend im Zweiten Weltkrieg über das Ende der japanischen Kolonialzeit und die wechselnden politischen Systeme bis hinein in die Gegenwart wird die Geschichte von Umeko erzählt. Die Achtjährige erlebt noch unter japanischer Herrschaft mit, wie die Armee ein Lager für Kriegsgefangene einrichtet, die in der örtlichen Kupfermine unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit eingesetzt werden. Nach damals vorherrschender japanischer Ideologie allesamt Feiglinge, denn nur ein feiger Soldat kann in Gefangenschaft geraten, der tapfere stirbt, bis zum letzten Atemzug kämpfend, für den Tenno.

Historisch weniger sattelfesten Lesern werden in einem informativen Vorwort die politischen Vorbedingungen erläutert, beginnend beim chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95, den China verlor, womit die Insel zu einer japanischen Kolonie wurde. Nach Ende des Pazifischen Krieges und der Machtübernahme der Kommunisten auf dem chinesischen Festland geriet Taiwan 1949 unter die Kontrolle der oppositionellen Nationalisten unter Chiang Kai-shek. Der errichtete einen autoritären Polizeistaat, ehe dort schließlich, erst im Jahre 1996, die ersten freien Präsidentschafts-Wahlen stattfinden konnten. Bis heute betrachtet China die Insel bekanntlich als chinesisches Territorium und strebt im Rahmen seiner ‹Ein-China-Politik› eine Wieder-Vereinigung an. Man kann nur hoffen, dass der Riesenstaat China dabei nicht die jüngst erfolgte gewaltsame, aber weitgehend folgenlose russische Annexion ukrainischen Staatsgebiets als nachahmenswertes Vorbild ansieht.

Der Roman beginnt mit nicht weniger als fünfzehn Seiten, auf denen minutiös ein Baseballspiel mit Umekos Bruder geschildert wird, man versteht kein Wort und fühlt sich nur einfach ‹im falschen Kino›! Umeko bedeutet übrigens Pflaumenkind, was denn auch den Romantitel erklärt. Auch wenn der Großvater noch immer chinesisch geprägt ist, hat sich die jüngere Familie an die japanische Lebensweise angepasst, spricht japanisch und verehrt den Tenno als gottgleichen Kaiser. Die Unterdrückung der Chinesen endet erst 1945 mit der japanischen Kapitulation, die Verhältnisse kehren sich schlagartig um, Umeko muss nun wieder ihren chinesischen Namen Hsiao Mei annehmen. In eindringlichen Bildern schildert der Autor in den zwanzig Kapiteln des Romans das Leben ihrer Familie, die ebenfalls von der staatlichen Willkür betroffen ist. Ihr Vater verliert seine Arbeitsstelle, der «dritte Onkel» verschwindet spurlos und ihr geliebter Bruder Keiji, der auf der Seite Japans gekämpft hat, verschwindet für zehn Jahre in einem Arbeitslager. In zeitlichem Wechsel werden diese Geschehnisse mit Episoden aus der Jetztzeit unterbrochen, als 2017 zum achtzigsten Geburtstag der Großmutter Umeko nicht nur die beiden älteren, sondern auch deren jüngster Sohn anreist, Professor Harry Chen aus den USA. Und auch Sohn Paul und Tochter Julie werden dabei sein. Damit verschiebt sich die Perspektive auf die Jetztzeit und auf die Enkelin Julie, die in Hongkong mit dem Engländer Dave zusammenlebt.

Harry plant ein Buch über Taiwans Geschichte und fährt deshalb mit seiner Mutter an den einstigen Heimatort Kinkaseki, ohne dabei jedoch viel Verwertbares aus seiner Mutter heraus zu bekommen, sie schweigt sich weiterhin aus über die scheinbar nicht so ruhmreiche Vergangenheit. Gleichwohl erfahren Harry und seine Tochter Julie doch so einiges über sie und auch über die brutale Auslöschung alles Japanischen aus dem Leben Taiwans, für die gewaltsam erzwungene Namens-Änderungen nur ein äußeres Zeichen sind. Ohne Zweifel ist dies ein stilistisch gekonntes, informatives, streckenweise aber leider deutlich zu breit angelegtes Buch über ein literarisch vernachlässigtes Land, dessen politische Zukunft auch heute noch ziemlich ungewiss ist.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

One Room Angel
by Harada

Von echten Werten und der Rückkehr des Lebensmutes

Eines Tages wird der 30-jährige Tagelöhner Kouki, der kein glückliches Leben führt, bei der Arbeit von randalierenden Jugendlichen niedergestochen. Er überlebt, aber als er wieder in seine Ein-Zimmer-Wohnung zieht, hat er überraschend einen neuen Mitbewohner: Ein Engel hat sich bei ihm eingenistet. Dieser kann sich nicht mehr an seine Vergangenheit erinnern und weiß nicht, wo er hinsoll. Also nimmt der gutherzige Mann den jungen Engel bei sich auf und hilft ihm schließlich, dem Geheimnis seiner Vergangenheit auf die Spur zu kommen.

Der in sich abgeschlossene Manga spricht viele Themen an: Freundschaft, Verlust von Lebensfreude und Wiedergewinnung von Lebensmut, harte Lebensbedingungen im Alltag, Wahrnehmungen über die offiziell geltenden wissenschaftlichen Theorien hinaus, innere Werte versus Aussehen, Erinnerungen, die einen Menschen ausmachen, und die Leere, wenn sie fehlen. Kouki und auch der Engel schöpfen in der gegenseitigen Unterstützung neuen Mut. Kouki erfährt, dass jemand seinen guten Charakter erkennt, obwohl er wie ein Rowdy aussieht. Es entwickelt sich trotz gegenseitiger Frotzeleien eine Freundschaft zwischen den beiden unterschiedlichen Charakteren, die über das Leben hinaus hält. Aber auch schwierige Themen wie Mobbing, Vorurteile, Ausgrenzung und Selbstmord werden angesprochen – und was sie mit einem Menschen anrichten, der davon betroffen ist. Der Manga ist bittersüß in seiner inhaltlichen Ausgestaltung, und er tut auch weh, denn er erinnert an eigene unglückliche Zeiten. Trotzdem wird immer mehr ein vorsichtiger Optimismus spürbar bis hin zu immer mehr glücklichen Momenten, die den Protagonisten den Lebensmut trotz hartem Alltag zurückgeben. Empfohlen.


Genre: Lebensmut, Manga, Werte
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Alice Faymorgan – Keine Geschichte eines Helden: Sammelband 1

Alice Faymorgan - Keine Geschichte eines Helden: Sammelband 1

(Copyright Cover: Alice Faymorgan / Copyright Foto: Das Bambusblatt)

»Keine Geschichte eines Helden« von Alice Faymorgan erschien am 29. Oktober 2021 als Selfpublishing-Titel über den Distributor Tredition. Es ist der erste Kurzgeschichten-Sammelband einer Reihe, die im Genre der Funtasy angesiedelt ist. Das Hardcover, das auch auf dem Foto zu sehen ist, bekommt ihr für 21 €, das Taschenbuch schon für 13 €. Das Ebook kostet euch 7,99 €. Das Buch kommt mit 312 Seiten und einigen passenden Illustrationen daher. Weiterlesen


Genre: Funtasy, Kurzgeschichten
Illustrated by Selbstverlag

Oh William

Auf der Suche nach dem Bindemittel

In ihrem neuen Roman «Oh William» thematisiert die US-amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout das Wesen zwischenmenschlicher Beziehungen am Beispiel eines älteren Paares, das, seit Jahrzehnten getrennt, noch immer geheimnisvollen Bindungs-Kräften unterliegt. Es ist das Anliegen der Autorin, die mit der Zeit zugedeckten Mechanismen zu ergründen, die wider jede Vernunft weiterhin so offenkundig wirksam sind zwischen den Beiden. Wie beim Häuten einer Zwiebel entfernt sie Schicht um Schicht, um zum Kern dieser mysteriösen Kraft vorzudringen. Könnte es sein, dass sie auf diese Weise wirklich das Geheimnis lebenslanger Bindungen entdeckt?

Die Schriftstellerin und Ich-Erzählerin Lucy Barton hat als Studentin in New York den sieben Jahre älteren Biologie-Professor William Gerhardt geheiratet und ihm zwei Töchter geboren. Nach zwanzig Jahren hat sie ihn verlassen und die Scheidung eingereicht. Später dann hat sie zum zweiten Mal geheiratet, den körperlich gehandicapten Cellisten David, mit dem sie eine sehr glückliche Ehe geführt hat. Zu Beginn der Erzählung ist Lucy in Trauer, ihr David ist seiner schweren Krankheit erlegen, und William ist gerade von seiner inzwischen dritten Frau verlassen worden. Lucy hatte den Kontakt zu ihrem Exmann über all die Jahre nie verloren. In größeren Abständen haben sie sich immer mal getroffen oder auch nur miteinander telefoniert, wenn Lucy sich aussprechen oder wenn William seine Probleme mit jemand teilen wollte. Ihre beiden wohlgeratenen Töchter waren dabei eines der Bindeglieder für den nie abgerissenen, losen familiären Zusammenhalt.

Der Roman führt den Leser tief hinein in die typisch weibliche Gedankenwelt von Lucy, deren Erzählweise oft sehr sprunghaft ist und die angerissenen Themen auch nicht immer zu Ende führt, somit also reichlich Raum lässt für eigene Ergänzungen und Interpretationen. Während Lucys Herkunft und Kindheit mutmaßlich wenig erfreulich war, worüber man aber nichts erfährt, gibt es um Williams verstorbene Mutter Catherine ein Geheimnis. Estelle, die dritte Exfrau von William, macht ihn darauf aufmerksam, dass es inzwischen ja Internet-Dienste gebe, die Nachforschungen in familiären Angelegenheiten anbieten. Und tatsächlich stellt sich heraus, dass Williams Mutter ein dunkles Geheimnis hatte, dem er nun auf einer gemeinsamen Reise mit Lucy auf den Grund gehen will, womit die Autorin geschickt Spannung aufbaut, ehe es dann zu dem vorhersehbaren Showdown kommt.

Elizabeth Strout hat einen ganz eigenen, beiläufig wirkenden Erzählstil entwickelt, welcher einem intimen persönlichen Gespräch ähnelt, unter Frauen, versteht sich! Die obligaten Kleidungsfragen werden da genau so behandelt wie der Einrichtungsstil von Wohnungen, im Vordergrund aber stehen natürlich die Männer mit ihren (allseits bekannten) Fehlern und Schwächen. Ihre Erzählhaltung bleibt vage, oft enden Sätze mit den Worten «ich sage nichts weiter dazu», beginnen mit «Um ganz ehrlich zu sein» oder «Was ich auch noch sagen wollte». Einen Absatz über ihren zweiten Mann leitet sie mit den Worten ein: «Aber lassen Sie mich nur noch eines über diesen Mann sagen», und über William sagt sie: «Mein Gott, war der Mann mir ein Trost». Das ist es dann auch, was sie als Essenz aus all ihren Überlegungen zum Thema Zweisamkeit herausdestilliert hat: Wenn die erste, die große Liebe abgeklungen ist, wenn die Normalität die Oberhand gewonnen hat, dann ist das Gefühl der unbedingten Verlässlichkeit das entscheidende, Halt gebende Bindemittel. Was natürlich nicht ausschließt, dass Lucy immer wieder mal einen Stoßseufzer zum Himmel schickt, wie er so schön im Buchtitel zum Ausdruck kommt: «Oh William». Was verzweifelt klingt, aber oft spöttisch gemeint ist und nostalgisch zurückweist in vergangene Zeiten. Besonders kennzeichnend ist die offensichtliche Menschen-Freundlichkeit der Autorin, auch wenn sie zuweilen lakonisch, geradezu kopfschüttelnd von ihnen erzählt.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Illustrated by Luchterhand

Reise mit Clara durch Deutschland

Das glücklichste Buch

Der im Original 2010 erschienene Roman des spanischen Schriftstellers Fernando Aramburu schildert das Entstehen des Berichtes über eine Reise durch Deutschland. Den Reiseführer schreibt Clara, die Frau des Ich-Erzählers, die sich für den Auftrag ihres Verlags ein Jahr Auszeit als Lehrerin genommen hat, der Vorschuss für das Buch macht’s möglich. Ihren Mann, selbst Schriftsteller, hat sie gebeten, sie auf ihrer Recherche-Reise zu begleiten. Er soll ihr neben seinen Diensten als Chauffeur auch beim Sammeln des Materials helfen, soll insbesondere das Fotografieren für sie übernehmen. Nach dem Riesenerfolg von «Patria», der den ETA-Terror behandelt, ist dieser vorher entstandene Reise-Roman Aramburos nun ebenfalls auf Deutsch erschienen, er bleibt literarisch aber weit unter dem Niveau des Bestsellers von 2016.

Erste Station der Reise im Hitzesommer 2003, die in der Nähe von Wilhelmshaven beginnt, ist Tante Hildegard in Cuxhaven. Die stellt dem kinderlosen Ehepaar mittleren Alters kostenlos ihre Wohnung in Bremen zur Verfügung, in die sie anschließend fahren, um die Hansestadt zu erkunden. Es folgt ein Abstecher nach Hamburg mit Hafenrundfahrt und Striptease auf der Reeperbahn, weiter geht es zur Insel Rügen, zur ehemaligen Künstlerkolonie Worpswede, und auch das Arno-Schmidt-Haus in Bargfeld bei Celle wird besucht. Schließlich geht es noch nach Goslar, Göttingen und Berlin. Dort endet die Reise abrupt, denn Goethe ist erkrankt, der bei einer Nachbarin während der Reise untergebrachte Hund der Beiden.

Mit ihrem mageren Plot kann die in der Tradition des Schelmen-Romans geschriebene Geschichte leider nicht überzeugen. Es fehlt jede Spannung, das Erzählte ist so banal wie der Alltag der vielen Menschen, denen das Paar begegnet. Gleichwohl werden die Figuren stimmig geschildert mit ihren teils schrulligen Eigenarten, werden in Aussehen und Verhalten detailliert beschrieben. Allerdings ohne dass dabei irgendwelche regionaltypischen Besonderheiten herausgestellt werden, die Land und Leute charakterisieren könnten. Erzählerisch markant sind nur die beiden Protagonisten selbst, deren gemeinsames Merkmal jedoch darin besteht, dass sie als Roman-Figuren keinerlei Emotionen erzeugen, sie bleiben einfach nur unsympathisch. Einzig die ironische Schilderung ihres Ehe-Alltags mit all den Neurosen und Macken, die der Autor verschmitzt immer aufs Neue als erzählerischen Trumpf aus dem Ärmel zieht und genüsslich vor dem Leser ausbreitet, machen diese Lektüre zumindest stellenweise amüsant. Auf Distanz bedacht, enthält der Autor sich dabei aber strikt jeder moralischen Wertung, denn die Fronten sind klar: Clara ist eine Nervensäge, die ihre dominante Rolle in der Beziehung so geschickt nutzt, dass «Maus», wie sie ihren Mann zuweilen nennt, immer klein beigibt, egal wie absurd ihr Ansinnen jeweils ist. Und «Mäuschen», so die Steigerungsform seines Kosenamens, geht jedem Dissens tunlichst aus dem Weg, er ist der Prototyp eines trägen Weicheis und knickt immer sofort ein, wenn es ernst wird.

Was der Ich-Erzähler in dem voluminösen Roman zu sagen hat, ist kaum von Belang, allzu platt sind die episodenweise erzählten Szenen geraten. Sie gehen spannungslos ineinander über, ihre Motive laufen ins Leere, statt näher beleuchtet zu werden und Erkenntnisse daraus zu ziehen. Äußerst platt ist auch der Humor, der das einzig markante Merkmal dieses Romans ist, er erinnert in seiner Vorhersehbarkeit aber eher an Klamauk als an brillanten Witz. Und auch wer als Leser erwartet, durch dieses Buch-im-Buch-Konstrukt literarische Einblicke zu erhalten, wird enttäuscht, denn was die «Frau Schriftstellerin» zu Papier bringt, das bleibt offen, einzig ihre Schreibblockaden werden erwähnt. Es gibt auch kaum nennenswerte intertextuelle Bezüge, die bei Schriftstellern als Protagonisten sich ja geradezu aufdrängen. Was Fernando Aramburu als sein «glücklichstes Buch» bezeichnet hat, wird seine Leser jedenfalls kaum glücklich machen.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Mediterrane Küche – 200 herzgesunde Rezepte zum Genießen: Genuss und Chance für Ihr Herz

Titelbild Broschüre BluthochdruckBewegung ist Leben, Lebensmittel sind Mittel zum Leben

Schon länger ist bekannt, dass die mediterrane Küche gesund für das Herz sein soll. Koch und Autor Gerald Wüchner erläutert diese These in seinem Buch, indem er seinen Rezepten einige Infos zu dieser Küche vorschaltet.

Zunächst zählt er die Risikofaktoren für einen Herzinfarkt auf: Stress, Diabetes, Rauchen, erhöhte Blutfette, Bewegungsmangel, Bluthochdruck, Übergewicht, überhöhter Alkoholkonsum. Aber diese Risiken verbindet er sofort mit den jeweiligen Chancen: Bewegung und Entspannung, Mediterrane Küche und Bewegung, sofortiges Einstellen des Rauchens, Olivenöl und Bewegung, Mittelmeerküche und Bewegung, moderater Alkoholgenuss. Die Bewegung ist ihm, wie man unschwer erkennen kann, enorm wichtig. Er unterstreicht dies mit dem Satz „Bewegung ist Leben“, denn regelmäßiger Ausdauersport z.B. hilft, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu vermeiden. Bewegung hilft außerdem, Stress abzubauen, kräftigt die Muskeln, die damit widerstandsfähiger und besser durchblutet werden, senkt das schlechte LDL-Cholesterin und stärkt das gute HDL-Cholesterin. Die Anzahl der Killerzellen steigt an, die so besser gegen Bakterien, Viren und auch Krebszellen vorgehen können. Das gesamte Herz-Kreislauf-System wird leistungsstärker. Das Herz erholt sich besser, lebt länger, der Ruhepuls sinkt. Die Lunge und der gesamte Körper werden mit mehr Sauerstoff versorgt. Die Bauchspeicheldrüse muss nicht mehr so viel Insulin produzieren. Die Körperzellen werden gegenüber dem blutzuckersenkenden Insulin empfindlicher, was das Risiko mindert, an Altersdiabetes zu erkranken.

Leider wird der natürliche Bewegungsdrang schon früh gebremst durch das Sitzen in der Schule und später am Arbeitsplatz. Zeitmangel bedingt, dass die Küche zuhause kalt bleibt, obwohl die Fernsehsendungen bzgl. gesundem Essen zunehmen. Daraus folgen Probleme, die Ratschläge für gesunde Ernährung auch umzusetzen. Aber unser Körper muss ständig in Bewegung bleiben, denn ab dem 30. Lebensjahr bauen unsere Muskeln wieder ab. Das heißt, wir müssen sie trainieren und benutzen, damit sie erhalten bleiben. Gerade in der zweiten Lebenshälfte ist es wichtig, auf genügend Bewegung und eine gesunde Ernährung zu achten.

300 Tage im Jahr gesundes Essen, dann darf man die restlichen Tage auch mal ungesund schlemmen. Das ist die Devise des Autors und sie hört sich vernünftig an. Er hat dazu eine Lebensweisheit: „Wir laufen jahrelang auf Kosten unserer Gesundheit dem Geld und dem Erfolg hinterher mit der Folge, dass wir in späteren Jahren unser gesammeltes Geld wieder investieren müssen, um Gesundheit und Vitalität für den Rest unseres Lebens zu erlangen.“

Herzgesunde mediterrane Küche

Die traditionelle mediterrane Küche, v.a. laut Autor die kretische, fördert Langlebigkeit und Gesundheit, weil sie eine gesunde Mischkost ist und mit hochwertigen Fetten zubereitet wird. Die Mittelmeerküche ist leicht in den Alltag zu integrieren und eignet sich für die Ernährung der ganzen Familie. Dabei schmeckt sie gut – was der Autor als wichtig erkannt hat, damit man eine Ernährungsumstellung durchhält.

Vorweg sei gesagt, dass diese Aussagen des Autors tatsächlich stimmen, jedenfalls für mich und meinen Sohn. Sogar der Kindsvater, obwohl eher kein Gemüsefan, mag die Gerichte. Wüchner hat sehr viele Rezepte im Buch, die schnell oder recht schnell zuzubereiten sind, deren Zutaten man im Supermarkt bekommt und die tatsächlich schmecken – nicht nur mir, sondern auch meinem Sohn, was besonders wichtig ist, denn Familien werden leider wenig berücksichtigt in zu vielen Kochbüchern. Und meinem Sohn schmecken die Gerichte nicht nur, er ist sogar begeistert. Das hat Seltenheitswert!

Das Gegenargument, dass manche so viel Gemüse nicht vertragen, entkräftet Wüchner mit einer individuell angepassten Ernährungsumstellung. Der Verdauungstrakt muss sich schlicht umgewöhnen. Diese Umgewöhnung garantiert mehr Gesundheit, denn die sekundären Pflanzenstoffe sind die Hausapotheke auf dem Teller. Viele Pflanzen sind bzgl. ihrer biologisch aktiven Wirkstoffe noch nicht untersucht, aber man weiß z.B., dass Knoblauch, Zwiebeln und Lauchgemüse Phytonzide, also natürliche Antibiotika, enthalten. Menschen, die viel Obst und Gemüse essen, erkranken seltener an Krebs und das Risiko für Herz-Kreislauf- bzw. Stoffwechselerkrankungen sinkt. „Lass das Essen deine Medizin sein“ sagte schon Hippokrates.

Die traditionelle mediterrane Küche als immaterielles Kulturerbe der UNESCO besteht aus frischem, roh oder wenig verarbeitetem Gemüse und Salat aus der Region, Hülsenfrüchten, regionalen Nüssen und Samen, vielen frischen Kräutern und Knoblauch, Oliven- und Rapsöl, mäßigen Mengen an Milchprodukten, Fisch, Geflügel, bedarfsgerechtem Verzehr von kohlehydratreichen Lebensmitteln, wenig rotem Fleisch und Eiern. Die meisten Vitalstoffe hat frisches oder tiefgekühltes Gemüse.

Außerdem erzählt der Autor noch viel Wissenswertes über Oliven- und Rapsöl. Seine Rezepte decken den ganzen Tag ab, zudem sind sie unterteilt in Salate, Dressings, Vorspeisen, Suppen, Soßen, Gemüse, Getreide/Kartoffeln/Reis, Fisch, Vegetarische Gerichte, Geflügel, Fleisch. Es ist also für so ziemlich jede*n etwas dabei. Das Buch ist verständlich und mit Herzblut geschrieben, denn der Autor brennt sichtbar für die Mittelmeerküche und deren positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Das will er den Leser*innen im wahrsten Sinne des Wortes schmackhaft machen, und das gelingt ihm auch. Zur Anschaulichkeit tragen viele schöne Fotos bei. Die Rezepte selbst sind von der Vorbereitungszeit recht realistisch, von der Zutatenliste überschaubar und mit ebenso realistischen Schwierigkeitsgraden versehen. Außerdem gibt es Tipps z.B. für verschiedene Zubereitungsvarianten eines Gerichts und Verweise zu anderen Rezepten, die mit dem gerade ins Auge gefassten Gericht kombinierbar sind.

Fazit

Das vorliegende Buch über Mittelmeerküche und herzgesundem Essen ist reichlich mit gut verständlichen Infos, Bildern und Rezepten zu jeder Tageszeit und für jeden Geschmack (von vegetarisch über Fisch bis Fleisch, von salzig bis süß) ausgestattet. Der Anspruch des Autors, leichte, gut schmeckende Rezepte mit überall erhältlichen Zutaten für die ganze Familie zu präsentieren, ist meiner Ansicht nach gelungen – selbst meinem Sohn schmecken die Gerichte. Die Rezepte sind jetzt Bestandteil meiner Alltagsküche.

Titelbild Broschüre Bluthochdruck


Genre: Herzgesundheit, Kochbuch, mediterrane Küche, Sachbuch
Illustrated by Deutsche Herzstiftung

Ein von Schatten begrenzter Raum

Kunst als Ersatzheimat

Die türkischstämmige Schauspielerin und Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar hat mit «Ein von Schatten begrenzter Raum» nach 17 Jahren wieder einen Roman veröffentlicht, der als autofiktionales Werk eine Bilanz ihres Lebens zieht. Gleich zu Beginn hält sich die Ich-Erzählerin, auf der Flucht vor den politischen Verhältnissen in Istanbul, 1971 auf einer der türkischen Inseln auf, von der aus Lesbos zu sehen ist. Dort sei Europa, erklärt ihr ein Einheimischer, dort werde es niemals dunkel. Der fiktionale Anteil des Romans wird schon bald deutlich, als ihr nämlich die Krähen auf der Insel dringend davon abraten, als Schauspielerin nach Deutschland zu gehen. «Auf einer deutschen Bühne ist eine türkische Frau eine türkische Frau, und eine türkische Frau ist eine Putzfrau. Das ist die tägliche Realität. Du kannst in Deutschland am Theater nur als Putzfrau Karriere machen», erklären ihr die schwarz gefiederten, visionären Unglücks-Boten, – und formulieren damit eines der Leitmotive dieses Romans.

Kann man als jemand, der die geografische Heimat verloren hat, in der Kunst seine Heimat finden, lautet die Kernfrage, ein weiteres Leitmotiv, das in diesem Roman in vielen Facetten, wenn auch oft ironisch, thematisiert wird. Die Protagonistin geht zunächst nach West-Berlin und arbeitet, zwischen West und Ost pendelnd, als Regieassistentin ihres Mentors Benno Besson an der Ostberliner Volksbühne. Ihre endlosen Streifzüge durch das «Kriegsinvalidenberlin» sind ein erster erzählerischer Höhepunkt des Romans. Mit scharfem Blick für die allgegenwärtigen Kriegsspuren an den zerschossenen Häusern nennt sie die zerstörte Metropole fortan «Draculas Grabmal». Man höre dort gleichermaßen das Schweigen der Täter wie auch die Stimmen der Opfer, für sie ein eher destruktives künstlerisches Arbeitsklima. Ab 1979 spielt sie dann am Schauspielhaus Bochum unter Matthias Langhoff, Intendant dort wird damals gerade Claus Peymann. Bis sie schließlich Benno Besson nach Paris holt, um an seiner Inszenierung von Brechts «Der kaukasische Kreidekreis» mitzuwirken.

Wesentlich stärker noch als die Berlin-Passagen prägen die endlosen Beschreibungen von Paris den Roman. Dabei stören schon bald die häufigen, oft wortwörtlichen Wiederholungen der immergleichen Szenen das Lesevergnügen. Sei es im Café, in der Metro, zuhause bei den diversen Freunden, die ihr selbstlos Unterkunft gewähren, beim Beschreiben der Eigenarten von deren Katzen oder dem täglichen Besuch eines psychopathischen Nachbarn, der Leser beginnt sich zu langweilen und schließlich zu ärgern. Hinzu kommt eine schwer zu bewältigende Fülle von erzählerischen Details, seien es die unüberschaubar vielen Figuren, denen die Protagonistin begegnet, oder die dauernd wechselnden Orte des Geschehens, die schiere Menge all dessen überfordert den Leser schlichtweg.

Die Art und Weise, wie die Autorin die vielen, in sich abgeschlossenen Szenen ihres Romans mit durchaus auch dokumentarischem Anspruch aneinander reiht, das erinnert an die Techniken von Bühne und Film. Besonders überzeugend sind dabei die ins Mystische weisenden Szenen, wenn Tiere oder Gegenstände plötzlich zu reden beginnen, oder wenn die Romanheldin immer wieder mal auf dem berühmten Pariser Friedhof Père Lachaise am Grab von Edith Piaf zu der Sängerin spricht, ihr das Herz ausschüttet. Man kann diesen Roman auch als Versuch interpretieren, das libertäre Lebensgefühl einer Epoche herauf zu beschwören, um damit die gegenwärtige Leere, «Ein von Schatten begrenzter Raum», glücklich zu überwinden. Dabei wird nicht nur Vergangenheit und Gegenwart angenähert, es wird im Rückblick sogar, mit dem Terrorangriff auf Charlie Hebdo beispielweise, Jahrzehnte früher eine schreckliche Zukunft in den Text mit eingebunden. Weniger gelungen ist die traumatische Liebesgeschichte im letzten Drittel dieses in Teilen erfreulichen, dickleibigen Künstler-Romans, der als Ganzes aber nicht überzeugt, weil er mehr will, als er tatsächlich leistet.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Devil in a Coma

“Devil in a Coma. A memoir” von Mark Lanegan

Devil in a Coma. A Memoir. “It’s hard to know where you are when you’re trying to read a map by the light of a falling star.” Kurz vor Mark Lanegans Tod erschien seine Autobiographie “Sing backwards and Weep” (deutsch bei KIWI) und vorliegendes “memoir”, so der Untertitel. “Devil in a Coma” beschreibt Lanegans Covid-Erkrankung  und die (vorläufige) Genesung. Der Text ist einerseits Prosa, andererseits Poesie, denn einige seiner letzten Gedanken schreibt er in Gedichtform. Bei Erscheinen des Buches 2021 war noch nicht klar, dass er (so schnell) an den Folgen der Pandemie sterben würde.

Abschied von einer Legende

A memoir” ist insofern ein gut gewählter Untertitel, weil er noch einmal daran erinnert, welchen großen Künstler die Welt in Mark Lanegan versorgen hat. Als Sänger der Seattle-Band “Screaming Trees” wurde er bekannt, durchgesetzt hat sich sein Talent aber vor allem in seinen Soloalben und unzähligen Kollaborationen mit den besten Künstlern der Rock- und Undergroundszene des 20. und 21. Jahrhunderts: Kurt Cobain, Pearl Jam, Marianne Faithfull, Moby,  Queens of the Stone Age, UNKLE, Greg Dulli, PJ Harvey oder Isobell Campbell, to name only a few. Legende sind aber auch nicht nur seine Alben und seine Reibeisenstimme, sondern auch sein Drogenkonsum, den er in “Alles Dunkel dieser Welt” (KiWi 2021/22) ebenso lakonisch wie lässig ausgiebig beschrieb.

Devil in a Coma. A memoir.

Aber beim Verfassen seiner Autobiographie und von “Devil in a Coma” war dies alles lange her, 15 Jahre schreibt er an einer Stelle und fügt gleich hinzu, dass ihm das sowieso niemand glauben würde. Seit Saint Paddy’s Day 2021 war Lanegan in der Kerry Klinik in Irland interniert. Neben der schwachen Lungenfunktion und Nierendysfunktion von nur mehr 30% litt er unter Gehunfähigkeit, Verlust des Geschmacksinns, was ihn 25 Pfund verlieren ließ, sowie Taubheit. Als lebensrettende Maßnahme hätte ein Luftröhrenschnitt (Tracheotomie) durchgeführt werden soll, wozu seine Frau Shelley aber die Zustimmung verweigerte. “Whatever was in this shitwagon I’d caught a ride on, it was no fucking joke“, kommentiert Lanegan seinen körperlichen und bald auch seelischen Zustand. Denn instinktiv begreift er, dass “this is clearly the fall I won’t get up from“. Erschwerend hinzu kam, dass all die niedrigen Dosen der Schmerzmittel, die ihm verordnet wurden, nichts mehr bewirkten, da sein Körper schon von seinem Vorleben Elefantendosen davon gewohnt war.

Devil in a coma: “I finally made it home

“Devil in a coma” wird zu einem erschütternden Bericht eines Menschen, der sich vom Leben lossagen muss, obwohl er gerade erst seine Heimat in Irland gefunden hatten. Obwohl er das kalifornische Klima vermissen würde, war sein erster Gedanke bei der Ankunft in Irland: “I felt like I hat finally made it home“. Absurderweise stammte auch seine Ursprungsfamilie väterlicherseits aus dieser Gegend Irlands, aber sie wanderten nach Amerika aus. Eigentlich wollte Mark mit Shelley noch weiter nach Portugal, um sich dort endlich niederzulassen, aber das Schicksal hielt ihn am Ort seiner Wurzeln fest. “Music was no longer my friend“, so schlecht ging es ihm und er macht sich Gedanken über seine Beziehungen in denen er immer verlassen wurde, aber stets war er sofort wieder in einer anderen Geschichte: “as one thing ended I was already into something else. I was natural at losing (…).”

The Darkest Part. A memoir.

Mark Lanegan spricht offen über seine schlechte Beziehung zu seiner Mutter, aber auch zur Welt an und für sich. “I’ve always had a bad habit (…) the tendency to mirror my surroundings with my mood“. “Lanegan is the Titanic, you’d better get off before he goes down”, warnte sein Manager schon vor Jahren eine Freundin von ihm. “The truth is I could turn brilliant sunlight dark as the grave with my deadly Powers of Perzeption. I guess it’s all in how you choose to Look at things.” Letzteres mag vielleicht auch ein Rat gewesen sein, es nicht so wie er zu machen. In einem Gedicht, The Darkest Part, bringt er es noch pointierter: “(…)I’ve struggled to love life/ (…) and though I have often failed /and will again/God knows the Better Part of me.

Pete Townshend School of Thought

This is the price I have paid for stubbornness and recalcitrance“, schreibt er, in his “endless search what I was never going to find“. Aber er bedankt sich noch bei jenen, die immer für ihn da waren, egal wie dumm er sich benommen hatte. In einer Erinnerung beschreibt er eine Begegnung als Kind mit seiner Mutter. Als sie ihre Großmutter in einem Heim besuchte, erkannte ihn eine Bridgepartnerin seiner Mutter, die im Rollstuhl saß und sich Hilfesuchend an seinem Arm festhielt. Sie hatte ihn erkannt und wollte raus dort, sie wollte nicht dort sterben oder verschwinden oder untergehen. Mark Lanegan hatte ebenso die Pete Townshend school of thought, wie er es nennt, bevorzugt: “I hope I die before I get old“.

Mark Lanegan starb am 2.2.22 im Alter von 57 Jahren in seinem Heim in Irland. RIP. May his soul rest in peace.

Mark Lanegan
Devil in a Coma
2021, Hardcover, 160 Seiten, Format 200 x 132mm
ISBN 9781399601849
£12.00
White Rabbit Books

 


Genre: Autobiographie
Illustrated by White Rabbit Books

Regeln für einen Ritter

Regeln für einen Ritter – Ethan Hawke

Schauspieler Ethan Hawke ist auch ein Autor, das hat er mit schon vier Romanen (auf deutsch alle bei KiWi) schon ausreichend bewiesen. Sein fünftes Buch, Regeln für einen Ritter, ist kein Roman, sondern vielmehr ein Brief an seine Kinder. Aber nicht von Ethan Hawke, sondern von Ritter Sir Thomas Lemuel Hawke, ein angeblicher Vorfahre Ethans, der an seine Kinder Mary-Rose, Lemuel, Cvenild und Idamay aus Cornwall schreibt.

Die Ewigkeit in der Stille

Du bist wie diese überlaufende Tasse Tee“, sagte sein Großvater zu Thomas, “Du kannst nichts aufnehmen und festhalten. Es geschieht viel zu viel auf einmal, und du spritzt in alle Richtungen und verbrennst, was immer du berührst”. Auch Ritter Sir Thomas, war einmal jung, aber er hatte Gottseidank einen weisen Großvater: “Wenn du nicht ruhig und leer bis, kannst du nie etwas festhalten“. Wie die Tasse, nicht wie der Tee also. “In der Stille können wir die Ewigkeit spüren, die in uns schlummert“, heißt es im ersten Kapitel, “Einsamkeit”, das von einer Feder geziert wird, die Ethans Frau Ryan gezeichnet hat. In jedem von uns wohnen zwei Wölfe, aber es kommt eben darauf an, welchen du fütterst. Auch Demut (Kapitel 2) ist eine gute Übung für einen künftigen Ritter. Zu allem was gewesen ist sagt ein Ritter “danke”, zu allem, was kommt, sagt er “ja”. Das ist die Dankbarkeit in Kapitel 3, die hier mit einem Kranich vorgestellt wird und mittels einer kurzen Geschichte erklärt wird. Ebenso das Kapitel IV, der Stolz, der aus Würde und Selbstachtung wächst, nicht aus Unsicherheit, wie der Hochmut. Sei stolz, nicht hochmütig! Zusammenarbeit wird mit einer Zeichnung einer Vogelschar verbildlicht und dem Vergleich oder der Konkurrenz eine Absage erteilt. Sind doch alle Talente nur Ausdruck ein und derselben universellen Kraft. Deswegen ist es unnütz sich mit anderen zu vergleichen und Eitelkeit und Verbitterung herbeizuführen. Beides ist wertlos.

Ballade vom Hirschen mit Vierzig-Ender-Geweih

Ein Freund leibt dich, weil du dir selbst treu bist, weil du ihm zustimmst. “Der wahre Geist einer Freundschaft wird im Alltag des Lebens geschmiedet.“, meint Sir Thomas im Kapitel Freundschaft, das ein wichtiger Bestandteil des Lebens eines Ritters ist. Auch Vergebung gehört zu diesen positiven Eigenschaften eines Ritters: “Suche das Beste in dir und den andren!” Ehrlichkeit, Mut, Haltung, Geduld, Gerechtigkeit, Großzügigkeit, Disziplin, Hingabe, Rede, Glaube, Gleichheit und schließlich Liebe und Tod werden von Ritter Sir Thomas mit einer kurzen Geschichte erklärt und nachvollziehbar gemacht und zuletzt folgt noch die Ballade vom Hirschen mit dem Vierzig-Ender-Geweih, das jeden Veganer freuen wird. Ritter Sir Thomas Lemuel Hawke steht am Vorabend einer großen Schlacht des Jahres 1483 und keiner weiß, ob er sie überleben wird. Aber er weiß, was er seinen Kindern hinterlassen möchte. Eine gerechte Welt in der alle gütig zueinander sind.

Im Gewand eines mittelalterlichen Handbuchs für Ritter, versehen mit zwanzig feinen Zeichnungen seiner Ehefrau Ryan, erzählt Ethan Hawke die verzaubernde Geschichte von seinem Vorfahren, der wusste, worum es im Leben wirklich geht. In 20 kleinen Geschichten über Schönheit, Werte wie Dankbarkeit, Freundschaft und Ehrlichkeit und das Zusammenleben an und für sich. Alles Lebensweisheiten, die bis heute Gültigkeit haben und jede/r mal ab und zu wieder nachschlagen sollte. Denn was ist wirklich wichtig im Leben?

Ethan Hawke
Regeln für einen Ritter
Der letzte Brief von Sir Thomas Lemuel Hawke
Übersetzt von: Kristian Lutze
Mit Illustrationen von Ryan Hawke
2016, Hardcover, 192 Seiten
ISBN: 978-3-462-31583-7
KiWi Verlag


Genre: Ratgeber
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Noir Burlesque

Enrico Marini: Burlesque Noir

Noir Burlesque. Zuletzt mit Eagles du Rome” (“Adler Roms”) bei Carlsen aufgefallen, zeichnet der Italiener Enrico Marini inzwischen auch schon mal einen Batman, aber auch Vampire, Raubtiere oder den Edel-Western “L’Etoile du Désert” (“Der Stern der Wüste”) und die zwölfbändige Serie “Der Skorpion”. Seine Vielseitigkeit zeigt sich auch in vorliegendem Werk, das sich an den Film Noirs der Vierziger und Fünfziger orientiert. Auch etwas von Sin City ist mit dabei in diesem knallharten Gangsterepos um den Ex-Boxer, Spieler und Kriegsveteranen Terry Slick und seinen Gegenspieler den Nachtclubbesitzer Rex McKinty.

Die Farbe Rot: Noir Burlesque

Ganz in Schwarz/weiß zeigt Marini die Häuserschluchten und Schlupfwinkel der “großen Stadt”, bei der es sich eigentlich nur eine handeln kann. Die Stadt. New York. New York in den Fünfzigern um genauer zu sein. Ein Haifischbecken in dem es für kleine Gangster wie Slick schwerer zu überleben ist, als für die Großen. Aber es gibt einen guten Grund überleben zu wollen. Und dieser Grund hat einen Namen: die Femme fatale Caprice ist die einzige, die Farbe trägt in diesem Comic Noir aus den dunkelsten Winkeln des Big Apples. Ihre Haare sind so rot wie ihr Auto oder ihre Schuhe. Aber das Rot ihrer Lippen, das wird Slick nie mehr vergessen können. Denn das war so nahe an seinen Wangen, dass er es fast gewagt hätte danach zu schnappen. Nach dem Rot. Nicht nach den Lippen. Caprice hat eine Burlesque-Show in einem Nachtclub, dem Rex Night Club. Auch die Mädchen dort tragen rote Kleider und Mützchen. Aber nur die, die bedienen. Die auf der Bühne tragen nicht einmal das. Caprice hat von Lily St-Cyr die Kunst des Striptease gelernt. Dieser Beruf hat nichts mit Prostitution zu tun. Nur Kretins glauben das. Aber Slick will Caprice nur provozieren, als er ihren Beruf so abwertet, denn er ist eifersüchtig das sie bald ganz dem Boss, Rex McKinty, gehören wird. Rex war früher auch sein Auftraggeber, bevor er ins Kittchen musste, weil ein Mitarbeiter von ihm ihn im Stich ließ. Das trägt er Rex nach. Aber Rex braucht ihn. Außerdem hat Slick noch Schulden bei ihm. Resp. sein Bruder.

Ménage à Trois im Gangstermilieu

Während sich Caprice ihre Strümpfe runterrollt, um sich in einer Badewanne mit Champagner auf einer Bühne des Rex damit ansaugen zu lassen, stellt Rex Slick ein Ultimatum: 24h, um die fehlenden 5000 Dollar aufzutreiben. Stattdessen tröstet sich Slick aber lieber mit ein paar Drinks, Zigarren und einer netten Brünetten. Zumindest bis es an die Tür klopft und Caprice davor steht. Auch sie will ihren Anteil von Slick. Sie holt ihn sich in Naturalien. Na wenn das einmal gut ausgehen wird! Eine Menage a Trois im Gangstermilieu. Die Zeichnungen von Marini, der auch den Text verfasst hat, sind im klassischen Noir Stil, Sonnenblenden, Halbschatten, Metallbetten und typisch amerikanische Diners, in denen der Kaffee besser schmeckt als in der Wirklichkeit. Gelungen ist auch Slicks Rettung vor Rex’ Häschern durch eine streunende Katze, die gerade rechtzeitig auf seiner Feuerleiter steht und an sein Fenster klopft. Ein Filmplakat “The Big Shoot-Out” mit Amber Moon und Phil Xavier auf einer Straßenkreuzung zeigt den Plot en miniature, dazu Jazz in einem Tanzlokal und heiße Küsse auf dem Parkett. Ein Comic Noir der nichts zu wünschen übrig lässt. Außer dass die Fortsetzung hoffentlich bald erscheint!

Enrico Marini
Noir Burlesque 1/2
2022, Hardcover, 104 Seiten, Format: 223 mm x 300 mm
ISBN: 978-3-551-76390-7
Carlsen Verlag
24,00 €


Genre: Graphic Novel, Krimi
Illustrated by Carlsen Comics

Good Talk -Erinnerungen in Gesprächen

Demokratie? Echt? Und wenn ja: Für wen?

Weiße, jüdische Schwiegereltern, die Donald Trump gewählt haben und trotz dunkelhäutiger Schwiegertochter, dunkelhäutigem Enkelsohn und jüdischem Hintergrund weiterhin Schilder für Trump hochhalten. Eine indische Ursprungsfamilie, die dunkelhäutige Inder*innen wie die Autorin als Menschen zweiter Klasse ansieht. Ein jüdischer, weißer Ehemann, der unsensibel auf die Fragen seines sechsjährigen Sohnes reagiert und die Autorin mit der Erziehung eines ebenfalls dunkelhäutigen Kindes in einer rassistischen Welt ziemlich allein lässt. Weiße, männliche Radiomoderatoren, die das Buch der Autorin über Diversität nach männlich-weißen Denkmustern überarbeiten wollen. Weiße, weibliche Reiche, die vor Vorurteilen gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe strotzen, das aber nicht wahrhaben wollen. Menschen verschiedener Hautfarben und mixed-race-Familien, die Wunden durch den ständig präsenten alltäglichen Rassismus davontragen und allmählich den Glauben an das Gute im Menschen verlieren. Rassismus und Sexismus haben viele hässliche Gesichter und stecken subtil oder sichtbar, bewusst oder unbewusst in jeder Ecke des Alltages. Sie sind in einem schlechten Sinne so divers wie die Menschen selbst, was dieser hervorragende Comic anschaulich beschreibt.

Sexismus, Rassismus, Mehrfachdiskriminierung nach dem Motto „Und täglich grüßt das Murmeltier“

Der als Graphic Novel verarbeitete Erfahrungsbericht zeigt anhand alltäglicher Situationen, wie tief Rassismus und Sexismus in jede erdenkliche Ecke der Gesellschaft hineinreichen und wie schwer es Menschen haben, die nicht weiß und nicht männlich sind – also der Löwenanteil der Gesellschaft. Wenn man es genauer betrachtet, hält sich also nur ein kleiner Teil der Menschen für privilegiert: die weißen Männer. Und sie wollen bewusst oder unbewusst bestimmen, was für die Mehrheit der Gesellschaft zu gelten hat bzw. machen sich wenig bis keine Gedanken über andere und wie es ihnen mit all den Diskriminierungen geht.

Was die Graphic Novel aber auch zeigt – und das allein anhand der bloßen Darstellung der vielfältigen Alltagssituationen – Diskriminierung aller Art ist nicht nur ein ernstes Problem der weißen, christlichen Männer. Sie kommt überall vor, sogar dort, wo man es nicht vermutet. Die Autorin zeigt z.B. ihre indische Ursprungsfamilie, die streng zwischen hell- und dunkelhäutigen Inder*innen unterscheidet. Die dunkelhäutigen Inder*innen gelten als Menschen zweiter Klasse. So auch die Autorin, die im Gegensatz ihrer hellhäutigen, indischen Familie dunkelhäutig geboren wird. Das überträgt sich auch auf ihren Sohn: Ihre Großmutter hofft, dass das Kind der Autorin hellhäutig sein wird, betont aber trotzdem, dass es als Mischling in der Hölle schmoren wird. Und Mira Jacob kommt immer wieder in Erklärungsnöte, wenn ihr sechsjähriger Sohn nachhakt, weil er verstehen will, wie diese Welt funktioniert. Dass sie rassistisch funktioniert, will die Autorin ihm weitgehend ersparen, was sie in Erklärungsschwierigkeiten bringt.

Zitate aus dem Buch, dass dies u.a. veranschaulicht: „Jemand – ich glaub Kiese Laymon – hat gesagt, dass weiße Menschen schlafwandeln, wenn es um Rassismus in Amerika geht. Sie sehen es nicht, also glauben sie, es existiert nicht mehr. Sie dazu zu zwingen zu sehen, dass es passiert, hier und jetzt, ist wie einen Schlafwandler aufzuwecken. Sie werden orientierungslos, wütend auf dich, anstatt auf den Rassismus selbst.“

„ ‘Gott, bin ich froh, dass ich gerade kein Kind hab. Ich wüsste nicht, was ich sagen sollte.‘ ‚Aber was kann man sonst sagen? Z fragt nach, weil diese Dinge passieren! Leute, die so aussehen wie er, werden verprügelt, Leute feuern das an, Leute sitzen daneben und gucken zu, Leute sagen: ‚Zeig mir das nicht, ich will es nicht sehen.‘ – Das alles formt in ihm eine große Frage. Wie könnte es auch nicht?‘ “

„ ‚Ich bin nicht der Feind.‘ ‚Ich bin kein weißer Mann.‘ ‚Du redest mit mir, als wäre ich irgendein Typ aus den 50ern, der darüber noch nie nachgedacht hat.‘ ‚Ich rede mit dir wie mit jemandem, der darüber nicht nachdenkt, weil er es nicht musste. Wie jemand, der gerade gesagt hat, ich muss einfach selbstbewusst sein.‘ “ Dieses Mann-Frau-Gespräch macht deutlich, wo der Hund begraben liegt: Der Mann ist sich der Diskriminierung nicht bewusst, will es vielleicht auch gar nicht sein und gibt der Frau auch noch die Schuld, wenn sie versucht sich zu behaupten: Sie soll einfach selbstbewusst sein. Wenn sie es nicht ist, selbst schuld. Aber wie soll frau selbstbewusst sein, vor allem einfach, wenn das Patriarchat tunlichst jegliches frauliche Selbstbewusstsein auslöscht, weil es für die männlichen Machtansprüche gefährlich ist?

„Als ich auf der Highschool war, wusste ich, dass man eigentlich verliebt sein musste, um miteinander rumzumachen, damit man keine Schlampe war, aber sich zu verlieben war schwer.“ Auch hier schwingt zwischen den Zeilen mit, dass freie Sexualität der Frau nicht zugestanden wird. Es gibt noch nicht einmal einen männlichen Gegenbegriff für „Schlampe“. Im Gegenteil: Der Mann ist der „tolle Hecht“, wenn er viele Frauen hat, die Frau dagegen eine „Schlampe“. Das Patriarchat fürchtet die freie Sexualität der Frau, wie die Autoren des Buches „Die Wahrheit über Eva“ herausgearbeitet haben, denn diese lässt den Mann bezüglich seiner Kinder und seiner Beziehung zur Frau und seinen Besitzansprüchen im Unklaren.

„Sogar wenn man verliebt war, konnte es seltsam werden. ‚Denkst du, du schmeckst anders als andere Mädchen?‘ ‚Ich glaube nicht. Warte, ich schmecke anders als andere Mädchen?‘ ‚Schwer zu sagen.‘ “

Tja, da bleiben einem die Worte weg. Und die Graphic Novel ist voll von diesen Erfahrungen einer einzigen Person, die sich über jeden Lebensbereich erstrecken. Sie zeigt auch, dass Sexismus und Rassismus eng miteinander verwoben sind. Frauen sind sowieso Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt, was dieses Buch ebenfalls sehr deutlich bis ins kleinste Detail zeigt.

Der Titel „Good Talk“ ist mehrdeutig. Er deutet zum einen an, wie wichtig es ist, miteinander zu kommunizieren: „Denn wenn du zu einem Menschen heranwächst, der sich fragt, wer er ist, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und was wir tun können, um sie besser zu machen, hast du immer noch Hoffnung für diese Welt. Und wenn du noch Hoffnung hast, mein Liebling, habe ich sie auch.“ Damit beendet die Autorin ihr Buch mit unausgesprochenen Gedanken für ihren Sohn, die sie ihm wohl mitteilen wird, wenn er alt genug ist, sie zu verstehen. Denn auch da liegt ein Großteil der Schwierigkeit: Das kindliche Hirn ist noch nicht entwickelt genug, um Dinge umfassend verstehen zu können, auch wenn Kinder vieles mitbekommen. Das macht es für Eltern, v.a. für Mütter, an denen die meiste Erziehungsarbeit immer noch hängt, so schwierig, komplexe Dinge einfach zu erklären. Das geht im Grunde gar nicht.

Zum anderen ist es wichtig, Diskriminierungen und alles andere, was schiefläuft, immer und immer wieder anzusprechen, möglichst laut und deutlich, damit sich etwas zum Besseren ändert. Denn Schweigen und Ducken spielt nur Despoten, diskriminierenden Systemen, Regimes und Religionen in die Hände!

Fazit

Äußerst gelungene Graphic Novel zum Thema Diskriminierung, Sexismus und Rassismus. Sie zeigt auf, wie tief Diskriminierungen aller Art immer wieder an jeder Ecke täglich aufs Neue in Gesellschaften lauern und verankert sind – und dass Frauen immer wieder täglich aufs Neue mehrfach diskriminiert werden. Selbst dort, wo man es eher nicht vermuten würde, lauern mannigfaltige Diskriminierungen. Die Graphic Novel sensibilisiert dafür, indem sie Alltagserfahrungen für sich sprechen lässt.


Genre: Diskriminierung, Graphic Novel, Rassismus, Sexismus
Illustrated by Carlsen graphic novel

Das Versprechen

Irrlichternde Erzählerstimme

Als dritter südafrikanischer Autor hat Damon Galgut mit seinem Roman «Das Versprechen» 2021 den britischen Booker Prize gewonnen. Der Titel bezieht sich auf das uneingelöste Versprechen der Mutter einer weißen Familie, die auf dem Totenbett ihrem Mann das Versprechen abgenommen hat, ihrer farbigen Dienstbotin die baufällige Hütte auf dem Farmgelände zu übereignen, in der sie wohnt. Im vorangestellten Motto wird Federico Fellini mit einer Anekdote zitiert, der von einer ziemlich überdreht auftretenden Frau gefragt worden sei: «Warum gibt es in ihren Filmen nicht einen einzigen normalen Menschen?» Ist das als Hinweis auf die Roman-Figuren gedacht?

Zeugin des Versprechens war Amor, die jüngste, damals 13jährige Tochter des Ehepaares Swart. In dem vierteiligen Roman ist jeweils ein Teil der Mutter, dem Vater, der ältesten Tochter und dem Sohn gewidmet. Die enden jeweils mit ihrem Tod, Ma stirbt an Krebs, Pa am Biss einer Kobra, Astrid wird ermordet und Anton erschießt sich, weil seine Farm hoffnungslos überschuldet ist. Der Roman berichtet von den tief reichenden Konflikten der auseinander driftenden Familie vor dem politischen Hintergrund der südafrikanischen Geschichte, ausgehend vom Tod der Mutter 1986 und über das Ende der Apartheid hinweg bis zur Auflösung der ‹Kleptokratie› von Präsident Zuma. In den vier Romanteilen wird in teils drastischen Bildern vom langsamen Verfall einer Familie erzählt, deren Probleme bei der Sinnsuche von Religions-Übertritten, Ehezwist, Versagensängsten oder Alkoholismus bestimmt sind. All das wird zudem überschattet von desillusionierenden Erfahrungen in der Nach-Apartheid-Ära, in der die Gewissheiten der weißen Bevölkerung von einst zunehmend verloren gehen.

Durch den gesamten Roman zieht sich als alleiniger Spannungsbogen, geradezu gespenstisch im Hintergrund bleibend, das im Titel apostrophierte Versprechen, welches weder der Vater einlöst noch der Sohn, der die Farm nach dessen Unfall-Tod übernimmt. Zur Schlüsselfigur wird die erzählerisch im Hintergrund bleibende jüngste Tochter Amor, die jahrzehntelang vergebens die Einlösung des Versprechens fordert. Sie ist als Kind nur knapp dem Tod entronnen, als ein Blitz dicht neben ihr eingeschlagen ist. Dieses Erlebnis hat sie zweifellos geformt und besonders sensibel gemacht. Sie hat sich völlig von der Familie gelöst und findet in der Arbeit als Krankenschwester ihre Erfüllung. Nach einigen gescheiterten Beziehungen bleibt sie alleinstehend und ist oft auf Jahre hin für die Familie nicht erreichbar. So auch beim Tod ihres Bruders, erst am Tage der Trauerfeier erfährt dessen Frau zufällig, dass Salome, die Dienstbotin, ihre aktuelle Telefonnummer hat. Als Amor verspätet eintrifft, findet sie das Manuskript des Romans, an dem Anton seit vielen Jahren schrieb, und wie sie an den wenigen fertigen Seiten erkennt, ist er auch daran gescheitert. Amor übernimmt es als letzten Liebesdienst, wunschgemäß Antons Asche auf dem Grundstück zu verstreuen.

Damon Galgut stellt dem nicht eingehaltenen Versprechen der Familie, das wie ein Fluch über den Protagonisten liegt, die ebenfalls nicht eingehaltenen Versprechungen der Politik gegenüber. Und er lässt seine Figuren oft recht drastische Töne anschlagen: «Anton steht [betrunken] in der Toilettenkabine und pisst. Er weiß zwar nicht genau, wie er hierher gekommen ist, aber Pissen ist eine grundsätzlich ehrliche Tätigkeit. Kacken auch. Da kann man sich nicht hinter gesellschaftlichen Umgangsformen verstecken. Diplomatie sollte grundsätzlich auf dem Scheißhaus stattfinden». Der in den ersten zwei Dritteln eher holprig erzählte Roman mit unkonventionell irrlichternder Erzählerstimme liest sich erst im letzten Drittel flüssiger, zumal auch das Geschehen erkennbarer auf ein Ziel hinsteuert und dann sogar in ein unerwartet poetisches Ende mündet. Und das, obwohl ansonsten alle Emotionen konsequent ausgespart bleiben von einem zu seinen Figuren sarkastisch Abstand haltenden Autor.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand