Politisches Terra incognita
In seinem neuen Roman «Pflaumenregen» beschäftigt sich der studierte Sinologe Stephan Thome mit der Geschichte Taiwans, die den historischen Hintergrund bildet für sein breit angelegtes Familienepos. Beginnend im Zweiten Weltkrieg über das Ende der japanischen Kolonialzeit und die wechselnden politischen Systeme bis hinein in die Gegenwart wird die Geschichte von Umeko erzählt. Die Achtjährige erlebt noch unter japanischer Herrschaft mit, wie die Armee ein Lager für Kriegsgefangene einrichtet, die in der örtlichen Kupfermine unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit eingesetzt werden. Nach damals vorherrschender japanischer Ideologie allesamt Feiglinge, denn nur ein feiger Soldat kann in Gefangenschaft geraten, der tapfere stirbt, bis zum letzten Atemzug kämpfend, für den Tenno.
Historisch weniger sattelfesten Lesern werden in einem informativen Vorwort die politischen Vorbedingungen erläutert, beginnend beim chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95, den China verlor, womit die Insel zu einer japanischen Kolonie wurde. Nach Ende des Pazifischen Krieges und der Machtübernahme der Kommunisten auf dem chinesischen Festland geriet Taiwan 1949 unter die Kontrolle der oppositionellen Nationalisten unter Chiang Kai-shek. Der errichtete einen autoritären Polizeistaat, ehe dort schließlich, erst im Jahre 1996, die ersten freien Präsidentschafts-Wahlen stattfinden konnten. Bis heute betrachtet China die Insel bekanntlich als chinesisches Territorium und strebt im Rahmen seiner ‹Ein-China-Politik› eine Wieder-Vereinigung an. Man kann nur hoffen, dass der Riesenstaat China dabei nicht die jüngst erfolgte gewaltsame, aber weitgehend folgenlose russische Annexion ukrainischen Staatsgebiets als nachahmenswertes Vorbild ansieht.
Der Roman beginnt mit nicht weniger als fünfzehn Seiten, auf denen minutiös ein Baseballspiel mit Umekos Bruder geschildert wird, man versteht kein Wort und fühlt sich nur einfach ‹im falschen Kino›! Umeko bedeutet übrigens Pflaumenkind, was denn auch den Romantitel erklärt. Auch wenn der Großvater noch immer chinesisch geprägt ist, hat sich die jüngere Familie an die japanische Lebensweise angepasst, spricht japanisch und verehrt den Tenno als gottgleichen Kaiser. Die Unterdrückung der Chinesen endet erst 1945 mit der japanischen Kapitulation, die Verhältnisse kehren sich schlagartig um, Umeko muss nun wieder ihren chinesischen Namen Hsiao Mei annehmen. In eindringlichen Bildern schildert der Autor in den zwanzig Kapiteln des Romans das Leben ihrer Familie, die ebenfalls von der staatlichen Willkür betroffen ist. Ihr Vater verliert seine Arbeitsstelle, der «dritte Onkel» verschwindet spurlos und ihr geliebter Bruder Keiji, der auf der Seite Japans gekämpft hat, verschwindet für zehn Jahre in einem Arbeitslager. In zeitlichem Wechsel werden diese Geschehnisse mit Episoden aus der Jetztzeit unterbrochen, als 2017 zum achtzigsten Geburtstag der Großmutter Umeko nicht nur die beiden älteren, sondern auch deren jüngster Sohn anreist, Professor Harry Chen aus den USA. Und auch Sohn Paul und Tochter Julie werden dabei sein. Damit verschiebt sich die Perspektive auf die Jetztzeit und auf die Enkelin Julie, die in Hongkong mit dem Engländer Dave zusammenlebt.
Harry plant ein Buch über Taiwans Geschichte und fährt deshalb mit seiner Mutter an den einstigen Heimatort Kinkaseki, ohne dabei jedoch viel Verwertbares aus seiner Mutter heraus zu bekommen, sie schweigt sich weiterhin aus über die scheinbar nicht so ruhmreiche Vergangenheit. Gleichwohl erfahren Harry und seine Tochter Julie doch so einiges über sie und auch über die brutale Auslöschung alles Japanischen aus dem Leben Taiwans, für die gewaltsam erzwungene Namens-Änderungen nur ein äußeres Zeichen sind. Ohne Zweifel ist dies ein stilistisch gekonntes, informatives, streckenweise aber leider deutlich zu breit angelegtes Buch über ein literarisch vernachlässigtes Land, dessen politische Zukunft auch heute noch ziemlich ungewiss ist.
Fazit: lesenswert
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