Der Autor wurde 1954 als „Bauernbub“ in Bayern geboren, in seiner Kindheit erlebt er die Veränderungen der Landwirtschaft, die er dann in den Jahrzehnten seiner journalistischen Tätigkeiten durch investigative Reisen weltweit verfolgte.
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Bauern Sterben – wie die globale Agrarindustrie unsere Lebensgrundlagen zerstört
Zuleyka
Als Fan von Bernhardine Evaristo hatte ich die Erwartung, in diesem Buch etwas zu lesen, was originell und witzig ist, aber auch geprägt von der Lebenserfahrung einer Frau an der Schwelle zum Rentenalter. Vielleicht in Richtung Altersmilde?
Stattdessen lese ich von Zuleika, auf Arabisch: die Verführerin, einer strahlenden Schönheit mit den Gedanken eines meinungsstarken Teenagers. Sie macht sich über alle Erwachsenen lustig, die Eltern, aber vor allem über den reichen Römer, alt und fett, der sie, die Schwarze geheiratet hatte, als sie noch nicht einmal ein Teenager war. Und dann ist Alles noch in Versform geschrieben!
Sie lebt in Londinum, als die Stadt von den Römern besetzt war, ihre Eltern sind Migranten aus dem Sudan; der Vater ist ein inzwischen arrivierter Kaufmann, der stolz ist, seine Tochter so gut verheiratet zu haben.
Felix, der Gatte, ist meist geschäftlich unterwegs, sie langweilt sich in ihrem Palazzo, mit diesen ganzen Dienstboten. Sie lernt Latein, liest die Klassiker, die es 200 Jahre vor Christus gab—und macht gerne lateinische Einschiebsel in ihren Texten. Das Buch ist in Kapiteln geschrieben, die einzelne Gedanken ausführen, manchmal nur in der Länge eines Gedichtes. Den roten Faden muss die Leserin sich erspinnen.
In ihrem Netzwerk ist vor allem die Busenfreundin Alba, verheiratet und Mutter, und immer bereit zu Seitensprüngen, deren Schilderungen von Eroberungen sie gerne zuhört. Die findet:
„Ehrlich, kaum hat so‘n Mädchen bisschen Bildung,
wird gleich, das ganze Leben rasend kompliziert.
Du schürfst dermaßen tief, dabei ist die Lösung
ganz einfach: DU GEHÖRST MAL GUT GEFICKT!“
Das überzeugt Zuleika und sie sucht. Als sie sich in den Kaiser verliebt, der sie im Guildhall Theater lange und begehrend angeguckt hatte, wird darüber im „Dum vivimus, vivamus
(Solang wir leben, lasst uns leben)
ODER: GIRLS TALK
gesprochen, auch mit einer anderen Freundin, mit der älteren Venus, die sich gerne in Kneipen aufhält, in der „die Unterwelt“ verkehrt.
Derweil schickt der Kaiser ihr Blumen, die Tanio, der Diener, diskret überreicht. Sie hat bei Tanio etwas gut, hatte sie ihm doch die Frau vermittelt und ausgesucht, nach einer „Shortlist. meine Kriterien willkürlich angeordnet: Schönheit, Alter, Dispositio.“ Ein weiterer Vorzug von Mucia, der ausgesuchten Frau: „sie war schon so reif,
um die erkennbaren faschistischen Tendenzen
unseres versklavten Kleindiktators einzudämmen.“
Bei der Verliebten wird der Kaiser zum:
„Mein Legionarius: ich will dich auf zwei Weisen, leg den Lorbeerkranz ab, lass die lila Roben zu Boden und komm nackt zu mir als Mann…“
Sie lebt auf, gibt sich der Lust hin, in einem Gedicht gibt sie die Domina, die ihn fesselt und verlangt, dass er sie seine Herrscherin nennt, das bringt sie zum Höhepunkt.
Dabei weiß sie, dass Felix sie nun vergiften wird. Schon nach der Hochzeitsnacht spricht sie von Todessehnsucht. Und so kommt es, Tanio verabreicht ihr Arsen, und als Alba sie noch einmal besucht, ergibt sie sich dem Schicksal, als wäre sie eine griechische Tragödin. Und dann gibt es einen Epilog: Vivat Zuleika.
Obwohl ich nicht zur Zielgruppe zähle, fand ich es immer wieder, wie erwartet, originell und witzig.
Das Lesen in Versform bin ich nicht gewöhnt. Hat die Übersetzerin Tanja Handels es gut gelöst? Zufällig war ich in England und wollte das Buch „Zuleika“ einsehen, im gut sortierten Buchladen war es nicht bekannt.
Der Grund: Es ist 2001 unter dem Titel „The Emperor’s Babe“ erschienen und nicht mehr bekannt. Nun grübele ich über die Frage, was Frau Evaristo mit Vierzig dazu brachte, so einen Backfischroman mit Sehnsucht nach Männern zu schreiben, nachdem sie selbst viele Jahre lang weibliche Sexpartner hatte. Wie ein recycelter Teenager? Aber inzwischen weiß ich: die Übersetzung von Frau Handels ist wieder sehr gut!
Die deutschen Anarchisten von Chicago oder wie der 1. Mai entstand
1. Mai: “Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden, was wir wollen!” Natürlich verdanken wir den 1. Mai nicht einer oder mehrerer Personen, sondern einer Bewegung. Denn die Bewegung für den Acht-Stunden-Tages war international und bestand aus Anarchisten, Sozialisten, Kommunisten und christlichen Sozialreformern. Einige davon standen in Folge der Ereignisse des 4. Mai von 1886 in Chicago vor Gericht und wurden für etwas verurteilt, das sie nicht verbrochen hatten. Die anderen bekamen seither den 1. Mai dafür.
Die sog. Haymarket-Riots und ein fatales Urteil
Auf Grundlage des Buches von Horst Karasek arbeitet Friederike Hausmann die Ereignisse von Haymarket auf. Zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten explodierte eine Bombe auf dem Haymarket in Chicago und tötete einen Polizisten sofort, sechs weitere in Folge ihrer Verletzungen. Siebzig Polizisten wurden verletzt. Für den Tod verantwortlich gemacht wurden acht Anarchisten, deren exemplarische Lebensläufe in vorliegendem Buch abgedruckt sind sowie eine Vielzahl von Flugblättern, Fotos und Manifesten, die die Lektüre zusätzlich vorantreiben. Aber keinem von ihnen konnte wirklich anhand von Beweisen der Prozess gemacht werden, was dazu führte, dass nicht ihnen, sondern einer ganzen Bewegung der Prozess gemacht werden sollte, wie auch die Verteidigungsrede von August Spies, einem der Angeklagten, die ebenfalls hier abgedruckt ist, hervorarbeitet. Geschildert wird aber auch das soziale Milieu im Chicago der 18Achtziger Jahre (Stichwort: “Porkopolis“), wie sich unterschiedliche Ethnien trotz gleicher Diskriminierungen auch gegenseitig und untereinander bekämpften und später in die Bedeutungslosigkeit abspalteten. Etwa katholische Iren und protestantische Deutsche, die sich über die Auslegung der Sonntagsheiligkeit stritten: die einen wollten beten, die anderen lieber trinken.
Die Hierarchie der Verachtung untereinander
Die New York Times hatte damals eine beeindruckende Liste von Charakterisierungen für Streikende zusammengestellt. Die “Hierarchie der Verachtung” ließ auf die jeweils anderen Ethnien aber auch auf “roughs, hoodloms, rioters, mob, thieves, blacklegs, looters, rabble, labor-reform agitators, tramps, gangs, bummers, ruffians, loafers, bullies, vagabonds, brigands, robbers, riffraff, felons, idiots” herabblicken – hier wurden nur die vornehmsten aus der genannten Liste zitiert. Dabei taten die Streikenden ja nichts anderes als für 50 Cent mehr Lohn oder den Acht-Stunden-Tag zu “bummeln”. Aber die andere Seite des Klassenkampfes hatte sich schon im Vorfeld des 4.Mai 1886 schwer bewaffnet, während dem “armen Mann” nur mehr das Dynamit blieb. So standen sich zum Beispiel beim 1877er Eisenbahnstreik die Citizen Association mit 3 x 500 Mann, die Polizei mit mehreren Tausend, einige Kavallerieschwadrone, also die gesamte “gesetzmäßige Autorität” einem proletarischen Lehr- und Wehrverein von gerade einmal 1000 Mann gegenüber. Zudem verfügten erstere über die sog. Gatling Gun, den Vorläufer des Maschinengewehrs. “Aus der desillusionierenden Distanz des ausgehenden 20. Jahrhunderts wirkt der unerschütterliche Optimismus und die romantische Revolutionsbegeisterung geradezu naiv”, schreibt Hausmann/Karasek, “mit der die Chicagoer Sozialisten, alle großen Umwälzungen des Jahrhunderts für sich reklamierten”.
Der 1.Mai: Kampftag der internationalen Arbeiterschaft
Der Acht-Stunden-Tag wurde als Teil des New Deal von Franklin D. Roosevelt 1938 schließlich zum Gesetz. Der 1. Mai wird seit 1889 als Internationaler Kampftag der Arbeiter gefeiert. In den USA allerdings erst am Labor Day im September, wohl um gänzlich alle Erinnerungen an den Justizirrtum des 4. Mai 1886 zu tilgen. Denn die noch lebenden Verurteilten wurden sechs Jahr nach Urteillsspruch freigelassen und alle acht 1893 rehabilitiert. Sie waren unschuldig. Die Haymarket-Urteile gelten auch heute noch als Beispiel von Klassenjustiz wie auch die Urteile gegen Sacco und Vanzetti 1927.
Friederike Hausmann
Die deutschen Anarchisten von Chicago oder wie der 1. Mai entstand
WAT [862]
2023, 208 Seiten. Broschiert. Mit vielen Abbildungen.
ISBN 978-3-8031-2862-1
Wagenbach Verlag
15,– €
Die Doppelte Frau und das Rätsel Betty Steinhart
Die Doppelte Frau und das Rätsel Betty Steinhart. “Ach, das ist so lange her. Ich weiß es nicht mehr.” Das Foto-Atelier Carl Ellinger hat die harten Zeiten des Ersten Weltkriegs überlebt und reüssiert zum Porträtstudio der neu erstehenden Salzburger Festspiele. Seit den 20er Jahren der Inbegriff österreichischer Wesensart und Kultur sind die Festspiele mit ihren Stars zahlkräftige Kundschaft im Atelier. Aber wer machte eigentlich die Fotoporträts? Beate Thalberg weiß es!
Roman mit realer Vorlage
Regisseurin Beate Thalberg hatte sich schon im österreichischen Rundfunk ORF mit Betty Steinhart, der „Geschäftsfrau in Männertarnung“, erzählt von ihrer Enkelin und als Doku-Fiction-Serie beschäftigt. Die berühmten Fotografien seit dem Beginn der Salzburger Festspiele, die mit dem Namen Carl Ellinger signiert sind, wurden aber vielleicht von einer Frau gemacht: Betty Steinhart. Max Reinhardt, Sigmund Freud, Marlene Dietrich, alle will Ellinger vor der Linse gehabt haben, aber es war Steinhart. Viele der historischen Fotoaufnahmen von den Anfangszeiten der Salzburger Festspiele zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind signiert mit dem Namen Carl Ellinger. In der Schwarzstraße hatte der Fotograf sein Atelier. Doch Ellinger war bereits seit 1916 – im Ersten Weltkrieg – verschwunden. Betty Steinhart führte mit gerade einmal 24 Jahren das Geschäft unter seinem Namen weiter, während Ellinger im Krieg war. Als Frau hätte sie in dieser Branche wahrscheinlich keine Chance gehabt und so musste sie so tun, als ob alles so wäre wie gehabt.
Ein Noir aus der Festspielstadt Salzburg
Betty Steinhart führte das Geschäft 59 Jahre lang, später auch gemeinsam mit ihrer Tochter Ruth. Stets arbeiteten sie unter dem Namen Ellinger. Die vorliegende Noir Geschichte als Roman baut auf den tatsächlichen Ereignissen um Betty Steinhart auf und machte die Festspielstadt zu einem Schauplatz à la Der Dritte Mann. Die Szenerie und Atmosphäre und das Setting halten sich streng an die Formalien des Crime Noir oder auch Film Noir, einem besonders geglückten Genre in der Krimiwelt, die sich vor allem durch verzweifelte Männer und starke Frauen (Femmes fatales) charakterisieren lässt. Die Aussichtslosigkeit allen menschlichen Strebens nach dem Ende zweier Weltenbrände, die Ohnmacht gegenüber den Institutionen des Staates und die Verlorenheit in einer zerstörten Welt machten das Genre berühmt. Aber nun kommt eine weibliche Version, die von Beate Thalberg erzählt und von Lily Ammann illustriert wurde. Ein viel hoffnungsvollere Interpretation einer Epoche, die zwar das Leben der Männer für immer erschütterte, das Leben der Frauen aber durchaus bereicherte und in ihrer Rolle bestärkte.
Gelüftet: Ein jahrzehntelanges Geheimnis
Eine mysteriöse, verdächtig selbstbewusste Frau, ein Detektiv mit Vergangenheit und ein Zug voller Nazi-Gold stehen im Mittelpunkt der Romanadaption der Mini-Serie und Doku. Der vorliegende Krimi-Noir entfaltet vor der Kulisse der Festspielstadt eine rasante Story, die eine dunkle Welt zeigt, allerdings mit Licht am Ende des Tunnels. Geschickt wird Fiktion und Realität zu einer Geschichte verwoben, die die Salzburger Festspiele einmal von einer ganz anderen Seite zeigen. Betty Steinharts Geschichte blieb lange unbekannt, sie war auch von den Nazis inhaftiert worden. Das Geheimnis um ihre Fotografien stellt Beate Thalberg nun in den Mittelpunkt dieses reich illustrierten Krimi-Noirs im Stil des „Dritten Manns“. Im Anhang befinden sich neben dem üblichen Bild- und Quellenregister, einem Zitatenschatz auch Fotografien von Betty Steinhart. Die Illustration im Graphic Novel Stil von Lily Ammann sind ebenso bemerkenswert wie die Geschichte und Person der Betty Steinhart selbst.
Raus der Enge des Ateliers!
Dass das Werk und die Urheberschaft viele Fotografien des Ateliers Ellinger nach so vielen Jahren endlich ans Licht kommen ist ein großes Verdienst der Regisseurin Thalberg. Das eingangs erwähnte Zitat wird auch im Buch verwendet und stammt aus “Casablanca“, so wie einige andere Zitate, deren Quelle im Anhang erläutert wird. Zudem ergänzt auch ein Lebenslauf der Betty Steinhart aka Steinhardt aka Hvizdalek aka Platter das Leben der Pionierin, die auch vielen nachfolgenden Generationen von Frauen zeigte, dass sie es nicht nur genauso sondern sogar besser als die Männer können. Denn ihre Fotografien zeigen einen neuen, unmittelbaren Stil, künstlerischen Mut, das Spiel mit Licht und Bewegung sowie ein “Raus aus der formalen Enge des Ateliers“, so die Autorin treffend. Raus aus der formalen Enge des Ateliers und hin zum Menschen.
Beate Thalberg
Die Doppelte Frau und das Rätsel Betty Steinhart
2024, Hardcover mit SU, 13,5 x 19 cm; 192 Seiten
ISBN 978-3-222-15121-7
Molden Verlag
€ 26,00
Voyage, Voyage. Eine Reise durch die französische Popmusik
Voyage, Voyage. Sommerlektüre für den Sommer 2024: voyage, voyage. Der Kulturjournalist und Buchautor André Boße widmet sich darin auf mehr als 300 Seiten der französischen Pop- und Rockmusik. Von den Hits der Yéyé-Jahre über French Pop und Nouvelle Chanson bis hin zu Rock, Electro, Hip-Hop, und Raï. Mit dabei sind u.a. Jane Birkin, Jacques Dutronc, Mylène Farmer, Serge Gainsbourg, Françoise Hardy, MC Solaar, Vanessa Paradis, Zaz und viele andere mehr.
Voyage, Voyage: Nicht nur Chanson(s)
Der Musiktitel auf den der Buchtitel anspielt stammt von “Desireless”, zweifellos einer der beliebtesten französischen Popsongs in Deutschland, wie Boße anmerkt. Es geht darin um nichts anderes als eine Reise, eine Reise zu sich selbst. Ganz so wie der Autor auch in seine eigene Vergangenheit abtaucht, denn damals, als der Hit rauskam, war er gerade 13 und – natürlich – im Frankreich-Urlaub. “Das Herz von `voyage, voyage´ schlägt in Moll“, schreibt er und trifft damit den Punkt, was genau die französische Popmusik so speziell macht: die Melancholie. Fishbac, eine Sängerin dieser Szene drückte es in einem Interview mit dem Autor einmal so aus: “Die Melancholie ist ein bestimmendes Moment unserer kulturellen Identität, das zeige sich auch im französischen Kino und in der Literatur. Während im deutschen Schlager der Trost und bei den Songs des `Great American Songbook´ Träume vermittelt werden.” Einer der herausragendsten Vertreter des Genres ist zweifellos Serge Gainsbourg, sozusagen der Gran Maestro des französischen Pops, auf den sich einige Jahrzehnte auch der Rapper MC Solaar bezog: “Il était une fois dans l’Ouest encore sauvage/Un peintre armé de lettres, un vrai tueur-à-gage…“. Von Pop zu HipHop, Rai, Folk, Chanson, Pop, Rock und Punk reicht auch das Repertoire der vorliegenden Monographie zur Musik des liebsten deutschen Nachbarlandes, Frankreich. Natürlich stehen diese Musikrichtungen nicht ausschließlich für Melancholie, sondern im Gegenteil, auch für sehr viel gute Laune, Sonne, Strand und Meer. Nicht zuletzt wegen des “savoir vivre” wird Frankreich ja auch weltweit so bewundert.
Schmelztiegelsound der Vororte und mehr
Unvergesslich sind natürlich auch die Beiträge von Vladimir Cosma. Mit der Filmmusik zu “Alexandre, der Lebenskünstler” reüssiert er, um dann mit “La Boum – die Fete” durchzustarten und: abzuheben. Die beiden Lieder der ersten zwei Teile werden zu echten Gassenhauern und ohne sie hätte es wohl auch keine La Boum Génération gegeben, wie Boße betont. Immerhin 27 Millionen mal haben sich “Reality” und “Your Eyes” verkauft, allerdings – möchte man bemerken – wohl vor allem darum, weil sie auf englisch und nicht auf französisch gesungen werden. Die Geschichte der deutschen Singlecharts spricht dafür eine andere Sprache. Drei Lieder schafften es dort auf Platz eins: das bereits erwähnte titelgebende “Voyage, Voyage“, “Alors en danse” von Stromae und “Ella, elle l’a” von France Gall. Wer es lieber düsterer hat, wird sich bei Alain Bashung (“Novize”) oder Arno wohlfühlen, dem französischen Tom Waits. Sehr lebensbejahend und freundlich sind auch Les Negresses Vertes oder Les Rita Mitsouko, vor allem aber der Senkrechtstarter Manu Chao. Der Sänger von Mano Negra/Manu Chao wurde 1961 in Paris geboren. Der Sohn eines Intellektuellen, der vor dem Franco-Regime in Spanien nach Frankreich geflüchtet war, singt in “Patchanka”, dem Schmelztiegelsound der Vororte, also auf Französisch, Englisch, Spanisch. Eines der Schlusskapitel widmet sich auch den elektronischen Popphänomenen Daft Punk und Air. Mit “The Virgin Suicides” einem Soundtrack zu einem Coppola Film sei Air genau das gelungen, was die Kernkompetenenzen der französischen Musikkultur enthalte: “die verträumte, verschwommene Schwermut, in der trotz aller Traurigkeit auch ein wenig Hoffnung mitschwingt. Und sei es die Hoffnung auf den Tod“. Womit wir wieder bei der Melancholie wären, die offensichtlich ebenso zum Savoir Vivre gehört wie Sonne, Strand und Meer…
Boße, André:
Voyage, Voyage. Eine Reise durch die französische Popmusik
Originalausgabe
Klappenbroschur. Format 12,5 × 20,5 cm
2024, 352 S. · 27 Abb.
ISBN: 978-3-15-011468-1
Reclam Verlag
20,00 €
Illustrated by Reclam Verlag
Spiel, Satz und – Sieg? Coming-out im Profisport
Die Anthologie “Spiel, Satz und – Sieg? Coming-out im Profisport” thematisiert ein immer noch heikles und gesellschaftlich bedeutsames Thema: das Coming-out von Sportlerinnen und Sportlern im Profisport. Weiterlesen
Paradais
Wenn es eine Autorin mit zwei ihrer vier Romane auf die Short List des Internationalen Booker Price schafft, lässt das aufhorchen. Vielleicht geschah diese Huldigung auch ein Stück weit deshalb, weil Fernanda Melchor Mut hat. Obwohl sie an manchen Schauplätzen ihrer Romanhandlungen aus Angst um ihr Leben nicht recherchieren konnte, schreibt sie dennoch über all die brutalen Drogenkriege, die allgegenwärtigen Misshandlungen von Frauen und die deprimierende Ohnmacht gegenüber den endlosen Missständen in ihrer Heimat Mexiko. So tut sie es auch in „Paradais“. Weiterlesen
An und für sich
Dirk Bernemann präsentiert in seinem Werk »An und für sich« eine Sammlung von Beobachtungen, strukturiert nach Monaten, die sowohl zeitgeistige Phänomene als auch persönliche Erfahrungen im Kontext des neuen Jahres reflektieren. Der Autor übt scharfe Kritik an der Oberflächlichkeit und den widersprüchlichen Erwartungen der heutigen Gesellschaft. Weiterlesen
Jeder Schuss ein Treffer. Fussball-Krimis
Lutz Kreutzer ist bekannt als Herausgeber spannender Kriminalromane und erfolgreicher Reihen wie »Schaurige Orte …«. Eine der wesentlichen Fähigkeiten eines guten Herausgebers ist es, ein sicheres Gespür für Themen zu haben, die sich im Stil einer Anthologie oder eines Lesebuches sammeln lassen, und dazu die passenden Autoren zu gewinnen. Weiterlesen
Windungen. Sechs Erzählungen
Gerhard Richter, bisher als vielseitiger und tiefgründiger Journalist bekannt, legt mit »Windungen« ein beeindruckendes literarisches Debüt vor. In sechs höchst unterschiedlichen Erzählungen demonstriert er sein sprachliches Können. Weiterlesen
Einfach gärtnern! Naturnah und nachhaltig
Das Buch habe ich mit wachsender Freude gelesen: Erst kommt das Buch wie eine Liebeserklärung an seinen Garten daher: so, als wäre er seine Beziehungskiste, wie zu seinem Hund. Dann geht es um nichts weniger als die Liebe zur Natur, zu Pflanzen. Zu „Tiere(n) im Garten–Wie werde ich ein guter Gastgeber?“ heißt ein Kapitel. Und dass er sich als Junge zur Kommunion eine Magnolie gewünscht hatte—so etwas gefällt einer Oma.
Auf den Bühnen der Welt
Ludwig Frank spielt auf allen Opern- und Konzertbühnen der Welt mit, und es gibt kaum einen Spitzenmusiker, der ihn nicht bereits gehört hat. Dabei ist Frank nie persönlich präsent. Es sind seine Oboen, die mit ihrem Wohllaut die Herzen der Zuhörer erfüllen, denn Frank ist ein weltbekannter Instrumentenbauer. Mit seiner Autobiografie »Auf den Bühnen der Welt« legt er seine Erinnerungen vor. Weiterlesen
Die besten Weltuntergänge Was wird aus uns? Zwölf aufregende Zukunftsbilder
Das Cover spricht die Oma in mir an: im oberen Teil ein Wimmelbild in sanften Farben, mit fröhlichen Menschen, die sich, Generationen übergreifend, der sommerlichen Natur erfreuen. Die untere Hälfte dagegen surrealistisch und geheimnisvoll, das macht neugierig. Im Buch, mit Seiten, die größer als Din A 4 sind, nimmt der Text je ein Viertel ein, in den restlichen Flächen sind die wunderschön gemalten Bilder.
Illustrated by Klett Kinderverlag
Nirvana. 100 Seiten.

Nirvana. 100 Seiten
Nirvana. 100 Seiten. Am 8. April 1994 wurde die Leiche von Kurt Cobain in seinem Haus gefunden. Sein Todesdatum wurde auf 5. April vordatiert. Er hatte sich mit seiner Browning-Auto-5-Selbstladeflinte in den Mund geschossen. Im Abschiedsbrief zitierte er Neil Young: “It’s better to burn out than to fade away.”
Nirvana: Smells like …deodorant
Auch drei Dekaden nach dem Ende von Nirvana werden ihre Songs fleißig zitiert. Zuletzt etwa “Something in the Way” in The Batman (2022), “Rape Me” in der Erfolgsserie Succession (2018-2023) oder “Come as you are” in Captain Marvel (2019) und nochmals “Something in the Way” in der Serie Yellowjackets (2021ff). Der Leadsänger, der Sohn eines Automechanikers und einer Kellnerin, wuchs in Aberdeen, Washington, einem Kaff mit 20.000 Einwohnern auf, das hauptsächlich von der Holzwirtschaft lebte. Die Autorin beschreibt aber nicht nur den Hintergrund des Leadsängers und Texters von Nirvana, sondern auch jenes der anderen Mitglieder, denn wie sie betont, ist ihre Biographie eine der Band und nicht allein die des Sängers. Außerdem gibt es eigene Features zu den vier wichtigsten Alben von Nirvana, Fotos und nicht zuletzt eine Graphik, die zeigt, wie einflußreich Frauen für die Grunge-Band der Neunziger waren.
30 Jahre Todestag: Nirvana. 100 Seiten
Autorin Caldart unterstellt wiederum Kurt Cobain eine gewisse “Geschlechtsdysphorie”, die ihn auch zur Identifikationsfigur der späteren Queer-Bewegung macht.Immerhin trug er auch Frauenkleider, schminkte sich oder lackierte sich die Fingernägel. Das hatten – mit Verlaub – allerdings schon ein Mick Jagger oder David Bowie in den Siebzigern gemacht. In jedem Fall richtete sich Kurt’s Bestreben gegen den klassischen Rockdudemacho, der sich für ihn z.B. in Axl Rose verkörperte, worauf auch der Disput der beiden gründete. Vor allem das Verhalten von Rocktstars gegenüber Frauen störte Cobain. Böse Zungen behaupten zwar, dass er unter dem Pantoffel von Courtney Love, der Sängerin von Hole, stand, andere wiederum das Gegenteil. Verbürgt ist jedenfalls, dass Nirvana’s größter Hit einer Frau zu verdanken ist: Tobi Vail (Bikini Kill), die damals ein Deo namens “Teen Spirit” verwendete.
Grunge: zwischen Punk und Metal
Am 11. Januar 1992 geschah schließlich das Unmögliche. Das Album Nevermind verdrängte Michael Jacksons “Dangerous” von Platz eins er Billboard-Charts. Das war noch keiner Rockband gelungen, schon gar nicht einer, die in zerschlissenen Jeans und Holzfällhemden auftrat und sich um Konventionen wenig schiss. Dass “Smells like Teen Spirit” auf einem Riff von Bostons “More than a Feeling” beruhte, zeigte nur auf welchen Größen auch eine Band wie Nirvana aufbaute. Beim Reading Auftritt 1992 machten sie sich daraus einen Spaß und verarschten sich selbst mit einer gelungenen Persiflage. Auch das ist in Caldarts Biographie nachzulesen, die die Band zwar nie LIVE gesehen hat, dafür aber ein lebendiges Bild der Grunge-Ikonen in ihrer Reclam 100 Seiten Biographie auferstehen lässt. Nirvana waren so viel mehr als nur eine Band, denn sie veränderten nicht nur das Rockbusiness, sondern auch das Leben von Millionen von Jugendlichen. Umso fataler war wohl die Botschaft, die Kurt Cobain am 5. April 1994 aussandte: “It’s better to burn out than to fade away.”
Man sollte sich seine Vorbilder eben mit sehr viel Bedacht aussuchen. Mir gefiel ein Zitat aus seiner eigenen Feder viel besser: “Youth has to challenge things“. Und dafür stand auch Grunge: ein Lebensgefühl zwischen Punk und Metal, between a rock and a hard place…
Caldart, Isabella
Nirvana. 100 Seiten
2024, broschiert. Format 11,4 × 17 cm, 100 S., 13 Abb. und Infografiken
ISBN: 978-3-15-020711-6
Reclam Verlag
12,00 €
Hilda. Meine Großmutter, der Nationalsozialismus und ich
Hilda. Die Erkenntnis, dass die Väter- oder Großelterngeneration in der einen oder anderen Form in den Nationalsozialismus verwickelt war, trifft schmerzlich. Wie wohl man natürlich nicht genau sagen kann, wie man sich selbst in derselben Situation verhalten hätte. Mit einem fröhlichen „wir-Kramers-hatten-damit-eh-nichts zu tun“ beginnt die bekannte Jugend- und Kinderbuchautorin Irmgard Kramer mit ihrer Recherche zu ihrer Oma Hilda und dem Nationasozialismus.
Nationalsozialismus als (im-)materielles Erbe
Die Autorin ist keine Historikern und beschäftigt sich doch mit Geschichtswissenschaft. Denn das Thema Nationalsozialismus spielt eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung zwischen den Generationen, auch wenn die daran beteiligte Generation bald ausgestorben sein wird. Umso wichtiger ist es, jetzt darüber zu sprechen und neue Formen der Aufarbeitung zu verfolgen resp. umzusetzen. Irmgard Kramer hat einen sehr persönlichen Zugang gewählt und sich mit Hilfe ihres Vaters, eines Zeitzeugen, an die Vergangenheitsbewältigung ihrer Familie gemacht, was sicherlich großen Mutes bedarf.
Hilda: Schweres Erbe
Einerseits weil es persönlich betroffen macht, andererseits auch weil es nicht unbedingt begrüßt wird. Die Vergangenheit ist für viele vergangen und wer jetzt noch gräbt, wird gerne als Nestbeschmutzer ausgegrenzt. Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass öffentliche Initiativen, die vom Staat oder der Gemeinschaft auch gefördert werden, dieses Anliegen unterstützen und es ebenfalls thematisieren. Die Stadt Dornbirn hat darin mit einer Ausstellung zum Thema “Schweres Erbe” einen wichtigen Anfang gemacht. Bewohner:innen der Stadt brachten Objekt aus der verdrängten Zeit ins Museum und damit ans Tageslicht.
Erinnern: an Anpassung und Widerstand
Ähnlich macht Irmgard Kramar Verborgenes wieder sichtbar und erinnert auch an jene, die keine Opfer des Nationalsozialismus sein wollten, sondern Widerstand leisteten gegen den damaligen Zeitgeist. Aus ihrer Erzählung über ihre Heimatstadt in den Dreißiger Jahren wird eine Geschichte der Täter und Opfer, da sie ihre eigene Geschichte mit Biographien unterschiedlicher Beteiligter immer wieder unterbricht, um dann erneut den Faden wieder aufzunehmen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Dornbirner Marktplatz, der erst Dollfuß-Platz und dann in Adolf-Hitler-Platz umbenannt wurde, sowie die Sägerbrücke, die zum Exerzierfeld der Nazis wurde.
Familiengeschichte einmal anders
Irmgard Kramer erzählt auch von ihrem Gymnasium und fühlt sich – als spätere Absolventin desselben – in einer Art Re-Enactment in eine Schulklasse der Nazi-Zeit ein. Alle Siebtklässler seien damals zwar in die Wehrmacht eingezogen worden, aber alle verweigerten den – von der Obrigkeit gewünschten – Beitritt zur Waffen-SS. Auch eine Widerstandsgruppe namens AKO gab es im Lande und in Dornbirn. Nach dem Krieg wollte fast niemand mehr mit den Überlebenden sprechen. Die ehemaligen Blockleiter hatten weiterhin wichtige Stellen inne und eine Vergangenheitsbewältigung fand jahrzehntelang nicht statt. Dass der Austrofaschismus den Nationalsozialismus in gewisser Weise vorbereitete wurde lange verschwiegen, um die zweite Republik überhaupt erst zu ermöglichen…
Umso wichtiger sind solche persönlichen Zugänge, wie “Hilda”. Weder sollten die jüdischen Mitbewohner:innen je vergessen werden, die unschuldig getötet wurden, noch die AKO oder die Siebtklässler, die auf ihre Privilegien verzichteten. Auch das war nämlich Widerstand.
Irmgard Kramer
Hilda. Meine Großmutter, der Nationalsozialismus und ich
Erbschaft einer Stadt. Schriften des Stadtmuseums Dornbirn Band 1
2023, Taschenbuch, 128 Seiten
ISBN 9783854397342
Falter Verlag
€ 18,00
Illustrated by Falter