Pfaueninsel

hettche-2Ein leises Buch

Als (schon etwas älteres) Berliner Kindl hat mir der Romantitel «Pfaueninsel» schöne und ferne Erinnerungen an ein beliebtes Ausflugsziel wachgerufen, die ich mit dem neuen Roman von Thomas Hettche nicht nur wieder auffrischen, sondern auch um viele interessante Details ergänzen konnte. Der Mythos der Insel in der Havel dient dem Autor als exotischer Hintergrund seiner Biografie des kleinwüchsigen Schlossfräuleins Marie. Die Vorlage für seine Protagonistin bildet die historisch belegte Schlossjungfer Marie Strakow (1805-1878), deren Grabstein sich auf dem Friedhof Nikolskoe in Berlin-Wannsee befindet.

Marie Strakon, wie sie im Roman heißt, kommt als Kind mit ihrem kleinwüchsigen Bruder auf die Insel und verbringt dort ihr ganzes Leben, ohne sie je wieder zu verlassen. Nur an einem einzigen Tage ist sie, als ältere Frau schon, zu einem kurzen Besuch in Berlin, einer frisch aufgeflackerten Liebe wegen, die sich aber als Illusion erweist. Schockierend und sie ihr ganzes Leben verfolgend ist gleich zu Beginn der Geschichte eine überraschende Begegnung ihres Bruders mit Königin Luise, die ihm auf der Suche nach einem verschlagenen Ball im Wald plötzlich gegenübersteht und ihn erschrocken «Monster» schimpft.

Den preußischen Königen diente die Pfaueninsel als Refugium, das sie zu einem künstlichen Paradies umgestalten ließen nach den naiven Vorstellungen der damaligen Zeit. Dazu gehörten denn auch neben den dort angesiedelten Pfauen und einer Vielzahl anderer freilebender Tiere eine Bepflanzung mit exotischen Gewächsen aus aller Welt sowie eine Menagerie. Hettche schildert in seiner auf umfangreichen Recherchen basierenden Geschichte die stetige Fortentwicklung dieser Insel im Neunzehnten Jahrhundert, erzählt von den Mühen und Rückschlägen bei dem Unsummen verschlingenden Versuch, mit Gewalt der Natur ins Handwerk zu pfuschen.

All dies ist eng mit der Lebensgeschichte von Marie verwoben, die als Zwerg zusammen mit ihrem Bruder ebenso zu der Kuriositätensammlung des Königs gehört wie ein Riese und ein Mohr. Es ist beklemmend zu lesen, wie Marie ihr Leben lang unter dem Fluch des bösen Wortes der Königin steht, als «Monster» eine Sonderrolle einnimmt. Als sie vom Neffen ihres Ziehvaters schwanger wird und einen gesunden Buben zur Welt bringt, muss sie enttäuscht erleben, wie sie allein gelassen wird, später wird ihr sogar das Kind weggenommen. Es gelingt Thomas Hettche, das subtile Beziehungsgeflecht seiner vielen, anschaulich geschilderten Figuren einfühlsam darzustellen, sie alle erscheinen geradezu leibhaftig vor dem Auge des Lesers.

Flora und Fauna nehmen einen breiten Raum ein in diesem ruhig erzählten Entwicklungsroman, in dem es um Naturfrevel, Schönheit, Menschenwürde und Seelenleben, aber auch um das Verrinnen der Zeit geht. Hettches minutiöse Naturbeschreibungen dürften allerdings nicht jedermanns Sache sein, und besonders langatmig wirken detaillierte Inventarlisten des Zoos mit Arten, die allenfalls Biologen etwas sagen. Absolut überflüssig aber und als Fremdkörper wirkend sind meiner Meinung nach die Gott sei Dank wenigen voyeuristischen Passagen, inzestuöse Spiele zwischen den beiden Zwergen zum Beispiel oder eine Orgie beim König, der sich mit Fellatio beglücken lässt. Das prächtige Palmenhaus der Pfaueninsel ist am Ende Schauplatz für den Tod der achtzigjährigen Marie. Sie trifft dort ein letztes Mal auf Peter Schlemihl, jener Figur von Chamisso gleich, dem Mann ohne Schatten, im Bunde mit dem Teufel. Ein verheerendes Feuer bricht aus, in dem Marie umkommt. Hettches Prosa lässt den Leser bei seinem Ausflug in eine fremde Welt ziemlich betroffen zurück, aber auch auf angenehme Weise bereichert von einem so wunderbar «leisen» Buch.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Eine Jugend

modiano-3Genese einer humanitären Befreiung

«1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, das muss mich, wie andere meines Alters, sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen gemacht haben» hat Patrick Modiano 2014 in seiner Nobelpreisrede erklärt. Und so steht auch sein 1985 auf Deutsch erschienener Roman «Eine Jugend» unter der Maxime einer «Pflicht der Erinnerung», mit der Übersetzung und Protektion von Peter Handke wurde der Schriftsteller dann einem breiteren deutschen Publikum bekannt. Trotz hoher literarischer Ehrungen aber blieb die Rezeption seines beachtlichen Œuvres eher verhalten, ein Schicksal, welches er mit vielen anderen großen Schriftstellern teilt.

«Die Kinder spielen im Garten, und bald ist es Zeit für die tägliche Schachpartie». Mit diesem Satz beginnt der Roman, geschildert wird eine Familienidylle in den Bergen. Es ist der Tag vor Odiles 35ten Geburtstag. In dem Chalet von Louis und seiner Frau haben sie bislang ein Kinderheim betrieben, sie wollen es jetzt aber allein benutzen, eventuell einen Schuppen zum Restaurant umbauen. «In Saint-Lô, in jenem Herbst vor fünfzehn Jahren, regnete es tagelang» heißt es dann nach zehn Seiten, der gesamte Rest des Romans ist ein Rückblick auf ihre gemeinsame Zeit in Paris.

Nach dem Militärdienst in Saint-Lô lernt Louis den deutlich älteren Jean-Claude Brossier kennen, der ihm Arbeit bei seinem Freund in Paris vermittelt, einem zwielichtigen Geschäftsmann namens Bejardy. Louis arbeitet als Aufsicht in dessen Garage und macht Botendienste für ihn. Eines Tages lernt er Odile kennen, eine angehende Sängerin, die nach dem Selbstmord ihres Förderers Bellune völlig aus der Bahn geworfen wird. Durch seine Protektion wurden Chansons für sie geschrieben und eine Schallplatte aufgenommen, mit der sie sich bei den Plattenfirmen bewerben konnte. Als die Neunzehnjährige – nach dem Recht der 1960er Jahre eine Minderjährige – nachts von der Polizei aufgegriffen wird, verlangt der Kommissar von ihr, der Polizei als Lockvogel bei der Verhaftung eines gesuchten Vergewaltigers zu helfen. Schließlich findet sie auch einen Musikagenten, der ihre Probeaufnahmen anhört und ihr eine Anstellung im Varieté vermittelt. Als er sie darauf – als Gegenleistung sozusagen – in seinem Büro auszieht, wehrt sie sich nicht, ist ihm zu Willen. Nachdem Louis und Odile ein Paar geworden sind, verschafft Brossier ihnen eine Wohnung und stellt ihnen seine schöne äthiopische Freundin vor, eine Studentin, mit der er auf dem Campus wohnt. Schließlich erhalten sie von Bejardy den Auftrag, eine halbe Million Franc nach England zu schmuggeln, getarnt als Mitglieder einer Reisegruppe Jugendlicher zu einem Englischkurs im Seebad Bournemouth. Als sie zurückkommen, erfahren sie von Brossier, dass er sich mit Bejardy überworfen habe. Von dessen Freundin hören sie, er werde sich in Kürze nach Argentinien absetzen. Durch Zufall lernen Louis und Odile in einer Café einen Künstler kennen, in dessen ehemaligem Atelier sie jetzt wohnen, und der erzählt ihnen, Bejardy sei als Mörder verhaftet gewesen, mangels Beweisen aber freigesprochen worden. Als letzten Auftrag – Bejardy hat seine Wohnung bereits aufgelöst – sollen Louis und Odile für ihn wieder eine halbe Million Franc schmuggeln, diesmal nach Genf. Sie aber besteigen den Zug nach Nizza.

Bruchstückhaft wird in diesem kurzen Roman der Erinnerung über soziales Alleinsein erzählt, über eine nebelhafte Zeit der Selbstfindung, dem Leser wird reichlich Gelegenheit für eigene Reflexionen und Phantasien gegeben. Der auktoriale Erzähler zeigt seine jugendlichen Protagonisten auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Dabei stellt er sie wie emotionslose Statisten auf seine atmosphärisch dicht beschriebene, literarische Bühne. Er enthält sich jedweder psychologisierenden Deutung, charakterisiert seine Figuren vielmehr ausschließlich über das äußere Geschehen, die hindernisreiche Genese einer humanitären Befreiung.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Eden Summer

Eden Summer“Wenn wir Eden nicht finden, werde ich mir nie, nie verzeihen, was letzten Samstagabend passiert ist.” Obwohl die schüchterne Jess und die allseits beliebte Eden so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht, kann nichts die beiden trennen. Bis Eden eines Tages spurlos verschwindet! Die Suche nach der vermissten Freundin konfrontiert Jess bald mit dunklen Kapiteln ihrer eigenen Vergangenheit, und dann ist da noch Liam, Edens Freund, mit dem Jess mehr verbindet als sie wahrhaben will.

Die 15 jährige Jess und ihre beste Freundin Eden sind extrem unterschiedlich und trotzdem wie Pech und Schwefel. Während Eden mit Ihrer großen und schlanken Figur, der gebräunten Haut und den langen blonden Haaren eher einem Model ähnelt, ist Jess klein, mager und bleich. Sie wechselt ständig ihre Haarfarbe z.b von blau zu knallrot, hat Piercings und ist tätowiert.

Eines Morgens erreicht Jess die schreckliche Nachricht dass Eden nicht nach Hause gekommen und spurlos verschwunden ist. Was ist passiert? Wo ist Eden?

Die Geschichte wird in verschiedenen Zeitebenen aus Jess´ Ich-Erzählperspektive erzählt. Während die Hauptebene chronologisch abläuft und mit dem Tag nach Edens verschwinden beginnt, werden Kapitelweise immer wieder Rückblicke der letzten Jahre eingestreut.

In diesen Kapiteln erfährt man viel über Jess´ und Edens Freundschaft und man erfährt auch was für schlimme Dinge beide bereits durchleben mussten. Diese Dinge bekommt man von der Autorin allerdings sehr gekonnt nur häppchenweise serviert, so dass die Geschichte immer spannender wird und man unbedingt wissen möchte was den beiden wiederfahren ist und ob diese Ereignisse mit Edens Verschwinden im Zusammenhang stehen…

An dieser Stelle möchte ich auch unbedingt noch auf das Erscheinungsbild des Buches eingehen denn eigentlich ist mir das Cover und die Aufmachung eines Buches immer völlig egal denn es kommt ja schließlich auf den Inhalt und nicht auf die Aufmachung an, aber diesmal möchte ich doch etwas dazu sagen.

Das Cover ist einem freundlichen und hellen Blau gehalten, es zeigt eine Kinderzeichnung und der Innenteil des Buches ist knallig grün. Alles deutet auf eine leichte Jugendgeschichte hin und auch der Titel „Eden Summer“ lässt nicht wirklich auf den Inhalt schließen.

Die Gestaltung des Buches steht nämlich im ziemlichen Kontrast zur Geschichte (was ich wirklich klasse finde, ist auf jeden Fall mal eine interessante und ungewöhnliche Idee) denn die Geschichte ist eher düster, schwermütig und melancholisch. Das Buch ist für Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren gedacht und dieser Altersempfehlung kann ich gut zustimmen, nur sollte man keine flockig leichte Jugendliteratur erwarten.

Bei diesem Buch handelt es sich um einen Jugendthriller über Freundschaft, Trauer, Hoffnung, Liebe, Loyalität, Werte, Individualismus und noch einiges mehr. Eine sehr vielschichtige Geschichte die ich auf jeden Fall empfehlen kann!

Ein wirklich gutes Buch!

Liz Flanagan hat in verschiedenen Positionen, in diversen Kinderbuchverlagen gearbeitet. Sie promoviert zurzeit in  Creative Writing an der Leeds Trinity University und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in West Yorkshire.

 


Genre: Kinder- und Jugendbuch
Illustrated by Aladin

Rainbow Days 1-3

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Inhalt Band 1-3: Natsuki möchte seiner Freundin gefallen und gibt für sie viel Geld aus. Aber zu Weihnachten stellt er fest, dass er ihr nur etwas Günstiges kaufen kann. Er entscheidet sich für einen preiswerten, aber schicken Schal. Der aber kommt bei ihr leider gar nicht gut an. In seiner Trauer über den misslungenen Heiligabend schenkt er den Schal einer Fremden – und stellt ein paar Tage später fest, dass sie ihn trägt und auch noch an derselben Schule ist, die er besucht! Seitdem ist Natsuki an ihr interessiert, aber da seine Angebetete recht kühl und unnahbar ist und er außerdem ein paar peinliche Auftritte bei ihr hinlegt, läuft es erstmal nicht so gut. Trotzdem gibt Natsuki nicht auf, denn er will bei Anna unbedingt einen guten Eindruck hinterlassen. Außerdem kann er auf die Unterstützung seiner Freunde zählen, die ihn immer wieder aufmuntern. Währenddessen findet Frauenaufreißer und Schönling Tomoya Annas Freundin Mari süß. Da er gewohnt ist, dass die Mädchen ihn toll finden, rüttelt ihn Maris aggressives Verhalten Jungen gegenüber wach. Er will wissen, warum sie so ist und ihr näherkommen. Das ist bei Maris Kratzbürstigkeit aber alles andere als einfach. Außerdem scheint sich Mari in Anna verliebt zu haben. Natsuki hat derweil Ärger mit einem Jungen, der ihn schon früher drangsaliert hatte. Außerdem steht das Schulfest an, das auch in Liebesdingen geplant sein will. Weil Natsuki schlecht nein sagen kann, muss er jetzt an einen Wettbewerb teilnehmen, an dem sich Jungen und Mädchen als das jeweils andere Geschlecht verkleiden. Der Haken: So kann er seine Verabredung mit Anna nicht einhalten. Als endlich die Sommerferien da sind, werden diese doch nicht so entspannt wie gedacht, denn Natsuki, Tomoya und Keiichi müssen wegen ihrer schlechten Noten in den Förderunterricht gehen. Als Belohnung für all den Stress wollen sie sich einen Tag am Meer gönnen. Tsuyoshis Freundin Yukiko bekommt Wind davon und will mit ihren Freundinnen mit ans Meer kommen. Das wirbelt die Planungen der Jungen ganz schön auf. Natsuki allerdings will die Gelegenheit nutzen, Anna ein Liebesgeständnis zu machen, aber wie immer läuft alles schief. Bei Keiichi scheint es besser zu laufen: Er begegnet endlich einem Mädchen, das seine speziellen Vorlieben in Liebesdingen teilt.

Dieser Shojo-Manga ist insofern ungewöhnlich, als dass er die Liebes- und Freundschaftsgeschichten aus der Sicht der Jungen erzählt (und damit auch für eine männliche Leserschaft interessant wird). Der etwas rauere Umgangston zwischen Jungs nach dem Motto „hart aber herzlich“ ist gut getroffen. Situationskomik kommt auch nicht zu kurz (z.B. die Verkleidung als das jeweils andere Geschlecht). Andeutungen über weibliche Homosexualität gibt es auch, da Mari Anna offensichtlich anhimmelt und eifersüchtig auf jeden Jungen reagiert, der sich ihr annähert. Leider baut der Manga ein ärgerliches Klischee ein, das es auch in Mangas über homosexuelle Liebe zwischen Frauen gibt: Mari verlegt sich deshalb auf Frauen, weil sie schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht hat. Homosexualität wird damit nicht als etwas Natürliches gesehen (sie kommt seit Menschengedenken und sogar im Tierreich vor), sondern als etwas, das sekundär ausgelöst worden ist. Damit wird eine mindestens verfremdende, eigentlich schon falsche Sicht auf Homosexualität geboten. Sehr schade. Mal abgesehen davon ist der Manga aber gelungen, denn er zeichnet ein heiteres Bild der Schulzeit und der ersten Liebe, ohne die Problem(chen), die dabei auftauchen, zu verschweigen. Damit bietet er Identifikationspotential für seine LeserInnen. Extras: Sticker, Zusatzmangas, Kalender (dieser stimmt bzgl. der Tage im Monat März nicht).


Illustrated by Egmont Ehapa

Kikaninchen Magazin

Kikaninchen_Cover
Das neue Magazin „Kikaninchen“ (Ausgabe 1) für Kinder im Alter zwischen 3 und 6 Jahren entspricht im Großen und Ganzen den Erwartungen, die man als Eltern an ein solches Magazin stellt. Das als Extra beigelegte und teilweise auszuschneidende Angelspiel war für meinen Sohn (5 Jahre) sofort interessant, wobei er es (in diesem und jüngerem Alter typisch) ein wenig entfremdet hat. Nicht schlimm, Hauptsache, es macht Spaß, zumal die Mama mitmacht.

Eigentlich ist das sogar ein Pluspunkt, denn je multifunktionaler Spielzeug ist, desto vielfältiger, interessanter und anregender ist es auch. Nur für Kleine ist das Angelspiel zu diffizil; es würde wahrscheinlich bei deren grobmotorischen Fähigkeiten schnell kaputtgehen. Die Geschichte vom Laster und Schneemann fand ich persönlich nicht so gut, aber mein Sohn wollte, dass ich sie ihm mehrmals vorlese, von daher in Ordnung. Rätsel macht er eigentlich auch ganz gern, aber momentan ist er in einer Phase, in der ihn die Vorschulsachen nicht so interessieren. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass er jetzt ein Vorschulkind ist, im Kindergarten genug dergleichen gemacht wird und er zuhause solche Sachen nicht auch noch machen will. Zum Singen ist er zuhause eher selten zu bewegen, weshalb die Lieder im Magazin komplett uninteressant für ihn waren. Er singt allerdings in der Frühförderung, weshalb er zuhause darauf wohl auch keine Lust hat. Die Bastelsachen sind für ihn ebenfalls uninteressant; er hat auf Basteln und Malen nur im Alter zwischen 2 und 3 Jahren Wert gelegt, seitdem macht er das nur noch im Kindergarten, wenn er dazu aufgefordert wird. Für ihn fehlen mir im Heft Bewegungsangebote, denn die macht er sehr, sehr gern, da er definitiv ein Bewegungskind ist. Die Rätsel an sich sind für diese Altersspanne schwer zu planen, denn für die ganz Kleinen sind sie noch zu schwer (aber mithilfe der Eltern, die sie für ihre Kinder vereinfachen, zu lösen), für die Größeren schon zu einfach. Insgesamt ist das Magazin aber gelungen. Man kann ja nicht jedes Kind erreichen, dafür sind die Kinder zu unterschiedlich. Außerdem picken sich die Kleinen sowieso das raus, was ihnen am meisten gefällt.

Fazit: Das Magazin könnte mehr Bewegungsspiele (v.a. im Sinne der Psychomotorik) beinhalten, aber ansonsten ist die Mischung recht vielseitig, sodass eigentlich jedes Kind das ein oder andere gut finden wird.


Vielleicht Esther

petrowskaja-1Google sei Dank

Die in Kiew geborene, russischsprachige Autorin Katja Petrowskaja hat mit «Vielleicht Esther» ein Buch vorgelegt, das ausdrücklich nicht als Roman firmiert, sondern der Rubrik «Geschichten» zugeordnet ist. Mit der gleichnamigen Geschichte aus diesem Band hat sie 2013 das Wettlesen um den renommierten und hochdotierten Ingeborg-Bachmann-Preis der Stadt Klagenfurt gewonnen. «Ich habe alles so aufgeschrieben, wie es passiert ist. Es ist leider eine wahre Geschichte» erklärte die seit 1999 in Berlin lebende Autorin, die mit ihrer Kolumne «Die west-östliche Diva» in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als Journalistin bekannt geworden ist.

Es geht in ihrem Debüt um ihre Herkunft und Biografie, um die Geschichte ihrer Familie, die sich unversehens zu einem ergreifenden Spiegelbild einer ganzen Epoche erweitert, dem unheilschwangeren zwanzigsten Jahrhundert, dem Säkulum der Massenmorde. In einer hartnäckig verfolgten Recherche, die sie in Berlin beginnend nicht nur nach Warschau, Moskau und Kiew führt, sondern auch nach Auschwitz und Mauthausen, stöbert sie, alle modernen Mittel der Kommunikation nutzend, nimmermüde entfernte Verwandte und Zeitzeugen auf, ehemalige Nachbarn, Kollegen, Mithäftlinge, durchforscht staubige Archive ebenso wie das Internet. «Google sei Dank» heißt denn auch gleich die Überschrift der als Einleitung fungierenden ersten Geschichte, die sich am Berliner Hauptbahnhof abspielt. «Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht» schreibt sie an einer Stelle, und in der Tat, die Erinnerungen sind brüchig nach so vielen Jahren und bedürfen fiktionaler Ergänzung.

So erinnert sich ihr Vater nicht mehr genau an den Namen der Urgroßmutter. «Vielleicht Esther» sagt er, und die Autorin erzählt die beklemmende Geschichte, wie die von ihrem Vater nur Babuschka genannte Greisin 1941 bei der Flucht vor den deutschen Truppen, weil sie dafür schon zu gebrechlich war, ganz allein in der Wohnung in Kiew zurückgelassen werden musste. Und wie «Vielleicht Esther» dann dem Aufruf der Besatzer zum Abtransport nachkommen wollte, einen Soldaten auf Jiddisch ansprach und gleich auf offner Straße erschossen wurde, während alle anderen ihren Tod in Babi Jar fanden. Es waren 33.771 Juden, die in dieser Schlucht am 29. und 30. September erschossen wurden, wie die Nazis mit groteskem buchhalterischem Eifer notierten. In dem aufsehenerregenden Roman «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littell, sei hierzu noch angemerkt, wird das schreckliche Geschehen dort aus der Täterperspektive beschrieben. Und nicht minder grauenvoll sind die Untaten während der Ära Stalins, von denen Katja Petrowskaja auch berichtet. Damals hätte man eifrig versucht, erfahren wir, durch Pfropfen neue Apfelsorten zu züchten, «gleichzeitig wurde zielstrebig an der Reduzierung der Menschentypen gearbeitet». Ihr Großonkel verübte 1932, dem Herostratos-Syndrom erliegend, ein Attentat auf einen deutschen Botschaftsrat in Moskau, der aber nur verletzt wurde. Nach einem gut dokumentierten Prozess wurde der meschugge Onkel zum Tode verurteilt, die wahren Hintergründe aber wurden nie aufgeklärt. Ein Urgroßvater wiederum gründete in Warschau ein Waisenhaus für taubstumme jüdische Kinder, über mehrere Generationen hinweg waren deshalb viele Vorfahren der Autorin als Lehrer solcher Kinder tätig.

In sechs Kapiteln mit 72 erfreulich schnörkellosen Geschichten entsteht das mosaikartige Familienbild einer eifrigen Ahnenforscherin, die klug und mit fein durchscheinender Ironie aus dem Abstand vieler Jahrzehnte erzählt, was eigentlich unerzählbar ist. Und ernüchtert feststellt: «Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen». Man folgt der Autorin gerne bei ihren spannenden Recherchen, sie zieht darüber hinaus ihre Leser mit einer assoziationsreichen Sprache in Bann, die noch lange nachklingt.

Fazit: erfreulich

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Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Reise im Mondlicht

szerb-1Was noch geschehen kann

Er wolle nicht als Literaturhistoriker gesehen werden, sondern als Schriftsteller, «dessen Thema vorübergehend die Literaturgeschichte war», notierte Antal Szerb in sein Tagebuch; bis heute ist er einer der meistgelesenen ungarischen Autoren des 20ten Jahrhunderts. Sein belletristisches Œuvre ist überschaubar klein und wurde erst spät auch in Deutschland entdeckt, als sein bedeutendstes episches Werk gilt der vorliegende, 1937 in Ungarn veröffentlichte Roman, der erst 40 Jahre später auf Deutsch herausgegeben wurde, in Neuübersetzung dann 2005 unter dem Titel «Reise im Mondlicht». «Szerb nicht gekannt zu haben ist ein Versäumnis» hieß es in der Süddeutschen Zeitung. Nach der Lektüre kann ich dem nur beipflichten, soviel vorab.

Mich an den Spielfilm «Brot und Tulpen» erinnernd geht auch hier auf einer Reise durch Italien die Frau verloren, nur ist es diesmal eine Hochzeitsreise. Der 36-jährige Mihály erzählt während der Fahrt seiner frisch angetrauten Erzsi von der Jugendzeit, von den Rollenspielen mit den Geschwistern Támas und Éva im Hause der Familie Ulpius, die ausnahmslos vom Tod handelten in immer neuen Varianten. Auf der Fahrt nach Rom steigt er nach einer Kaffeepause in den falschen Zug und landet allein in Ravenna. Schon in Venedig hatte er gemerkt, dass Erzsi seine große Begeisterung für die antiken Kulturen nicht teilen konnte, und so besichtigt er jetzt die berühmten Mosaiken in Ravenna allein. Er beschließt sogar kurzerhand, auch alleine weiter zu reisen, seine Sehnsucht nach Italien voll auszuleben, den bürgerlichen Konventionen und Zwängen vollends zu entfliehen, sein früheres Bohemeleben wieder aufzunehmen. So kommt er also nicht nur seiner Frau abhanden, sondern auch sich selbst, auf der Suche nach seiner wahren Identität einer rebellischen Jugendzeit nachtrauernd, die der angepasst lebende Unternehmersohn nach der Heirat nun endgültig entschwinden sieht.

In seiner Weltfremdheit zwischen Traum und Realität herumirrend, diffus einer «Reise im Mondlicht» gleichend, holen ihn seine Jugendträume immer wieder ein. Während seine Frau Erzsi die Realität verkörpert, steht sein bester Freund Támas für alle Utopien, seine Gedanken kreisen häufig um dessen Freitod. Er besucht seinen ins Kloster gegangenen Jugendfreund Ervin, trifft schließlich in Rom Éva wieder, seine Jugendliebe, die auch jetzt unerreichbar bleibt. Szerb baut um seine Protagonisten eine Reihe von wunderbaren Randfiguren auf, liebevoll gezeichnet und stimmig in die Handlung integriert. Es sind allesamt markante Typen wie der «Taschendieb» und Luftikus János Szepetneki, der als «brennender Tiger» erscheinende persische Potentat, der überaus verständnisvolle englische Arzt, die naive amerikanische Studentin, der exzentrische Religionswissenschaftler, schließlich Vannina, das magere römische Mädchen, die hellseherische Fähigkeiten zu haben scheint und ihn am Ende als Kindspate in die Realität zurückholt im Verlaufe einer typisch italienischen Familienfeier. Die wahrhaft klassisch zu nennende Katharsis endet mit den Worten: «Und solange man lebt, weiß man nicht, was noch geschehen kann».

Antal Szerb erzählt seine sentimentale Geschichte über die Zwänge des Lebens, über Liebe und Tod in einer klaren, unverschnörkelten Sprache, die so perfekt gegliedert ist, dass Kapitel und Abschnitte in fast schon mathematischer Logik stets punktgenau aufeinanderfolgen. Einen derart perfekt aufgebauten Plot erlebt man nicht so oft als Leser, man merkt ihm an, dass da ein Wissenschaftler am Werke war. Es ist eine Menge Lebensweisheit drin enthalten, viel Alltagsphilosophie bei einer sehr realitätsnahen Suche nach dem Sinn des Lebens, die sich oft in überaus stimmigen Dialogen artikuliert. Eine besinnliche Lektüre mithin, die viele Leser nicht unberührt lassen dürfte, was übrigens auch für die mitreißende Beschreibung von Bella Italia gilt, die mich in ihrer ehrfürchtigen Bewunderung unwillkürlich an Goethe erinnert hat.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Stoner

williams-1Kompliment an die Literatur

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Wiederentdeckungen gehören für mich zu den erfreulichsten Ereignissen in der Welt der Literatur, weil sie, oft ja erst post mortem, ein Geständnis sind, dass einem vergessenen Autor mutmaßlich Unrecht widerfahren ist von Seiten der Leserschaft. Der Roman «Stoner» von John Williams, bei seinem Erscheinen 1965 wenig beachtet und erst mehr als vierzig Jahre später in den USA neu publiziert, ist mal wieder ein Beispiel dafür. Erfolg ist launisch und unberechenbar, der plötzlich ausbrechende Hype um dieses Buch hat die als «worst case» angenommene Auflage von 4000 Exemplaren für den 2013 erstmals ins Deutsche übersetzten Roman auf weit über zweihunderttausend hochschnellen lassen, wie man einem Interview mit der Lektorin entnehmen konnte. Und «Stoner» ist plötzlich in aller Munde, warum eigentlich?

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Dieser Roman ist doch nur die schlichte, keine Besonderheiten aufweisende Biografie eines Mannes, der als Bauernsohn aus einfachsten Verhältnissen kommend an der Universität von Missouri Agrarwissenschaft studieren soll. Er entdeckt seine Liebe zur Literatur, wechselt das Fach und bleibt dann zeitlebens dort, wird Professor der literaturwissenschaftlichen Fakultät. Insoweit kann man auch von einem Campusroman sprechen, der Unibetrieb nimmt jedenfalls einen breiten Raum ein in dieser Lebensgeschichte eines eher linkischen, wenig zugänglichen Mannes. In 17 Kapiteln begleiten wir William Stoners mühsamen Weg zum angesehenen Hochschullehrer, der oft allerlei Anfeindungen und Querelen ausgesetzt ist, sich allzu häufig desinteressierten Studenten gegenübersieht und seine wissenschaftlichen Ambitionen bald schon dem kräftezehrenden Lehrbetrieb opfern muss, in dem er ebenfalls unauffällig bleibt, jede Karrierechance für sich ausschlagend. Sein Privatleben ist ähnlich unglamourös, er findet eine merkwürdig gehemmte Frau, heiratet sie und bekommt eine Tochter, die er weitgehend alleine großziehen muss, weil die psychisch labile Mutter sich wenig um sie kümmert, und auch seine Ehe scheitert kläglich, wird zum Alptraum für ihn. Die Affäre mit einer jungen Doktorandin bringt ihm nur ein kurzes Glück, auf Druck der Uni muss sie die Stadt bald Hals über Kopf verlassen, der Kontakt zwischen ihnen bricht für immer ab. Als Stoners innig geliebte Tochter schwanger wird und heiraten muss, verliert er in ihr seine letzte familiäre Bindung; sie wird Kriegerwitwe, hat Alkoholprobleme, gibt das Kind zu den Schwiegereltern. Und wir begleiten Stoner weiter bis zu seinem Krebstod, kurz vor der anstehenden Emeritierung.

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Ein solch konventioneller Plot kann, wie man sieht, kaum ausschlaggebend sein für eine derart erfolgreiche Rezeption. Auch sprachlich bietet dieser Roman nichts Besonderes, er ist stilistisch dem unspektakulären Sujet angepasst, nüchtern erzählt, knapp und sparsam, leicht lesbar also. Mit einer unterschwellig permanent spürbaren Spannung allerdings, die einen an den Text fesselt, weil man stets einen Umschwung erwartet, eine überraschende Wende. Die aber bleibt aus in der einsträngig und strikt chronologisch erzählten Geschichte, – trotzdem ist man fasziniert und darüber hinaus tief betroffen von ihr.

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Es wird nämlich nichts beschönigt in dieser Biografie eines stets aufrichtigen, uneitlen, integeren Mannes, dessen unerschütterliche Leidenschaft für die Literatur seinem äußerlich wenig erfreulichen Leben den Sinn gibt, allen Fährnissen zum Trotz. Und genau darum beneiden wir ihn in unserem tiefsten Inneren, begleiten ihn am Ende – buchstäblich bis zum letzten Atemzug -mit einer ängstlichen Faszination, wie man sie ganz ähnlich auch beim «Jedermann» empfinden mag. John Williams hat wagemutig Grundfragen des Menschseins aufgegriffen in seinem Roman und philosophisch Handfestes geliefert statt intellektuellem Geschwafel. Ihm ist ein formidables Meisterwerk gelungen, in dem die Literatur die Hauptrolle spielt, Lebenssinn verkörpernd. Kann man der Literatur denn überhaupt ein schöneres Kompliment machen?

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Die Erfindung

witzel-1Ein Klassiker in spe

Man dürfe seinen Roman auch einfach nur «Die Erfindung» nennen, hat der überraschte Frank Witzel anlässlich der Prämierung seines Werkes mit dem Preis des Deutschen Buchhandels 2015 seinen künftigen Lesern zugestanden. Mit über 800 Seiten ist «Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969» allein schon von der Textmenge her ein dicker Brocken, die Lektüre dürfte sich für Viele auch von Form und Inhalt her als problematisch erweisen. Wir haben es hier mit einer anspruchsvollen, hoch komprimierten Prosa zu tun, die Konzentration erfordert vom Leser, will er all den Gedankengängen des Autors folgen, die vielen Hinweise und Anspielungen richtig zuordnen – und damit das Gelesene wirklich verstehen als Voraussetzung für bereichernden Lesegenuss, um den es letztendlich ja immer geht.

Nach der literarischen Aufarbeitung der DDR scheint jetzt die «Alte Bundesrepublik» mehr in den Fokus zu rücken, zeitlich die Periode des Umbruchs nach 1968 bis zur deutschen Wiedervereinigung. Dieser Roman, dessen Titel falsche Vorstellungen weckt, was die RAF anbelangt, spiegelt die Geschehnisse, vor allem aber die Befindlichkeiten der damaligen Zeit an der Gedankenwelt eines knapp 14jährigen männlichen Teenagers, dessen geistiger Horizont lange Maßstab der Erzählung bleibt, selbst wenn aus anderer Perspektive erzählt wird. Er leidet daran, diese Welt nicht verstehen zu können, sie auch nicht akzeptieren zu können wie sie ist. Wie besessen schafft er sich eine eigene Wirklichkeit, indem er immer skurrilere Geschichten erfindet und sich in seinem Wahn mit den Figuren der RAF identifiziert, deren Taten zu den seinen umdeutet. Wir erleben den manisch-depressiven Helden in verschiedenen Lebensphasen, erfahren in ausufernden Passagen von seiner unheilvollen Vereinnahmung durch die katholische Kirche, erleben in noch umfangreicheren Abschnitten seine bis ins kleinste Detail reichende, absurde Bedeutungen hineininterpretierende Passion für die Pop-Musik der damaligen Zeit, die Beatles und Rolling Stones stehen im Mittelpunkt dabei.

Eine stringente Handlung erwartet den Leser nicht in diesem Roman, vielmehr sind ungeordnet scheinende Textfragmente lose aneinandergereiht, Phantasien, Träume, Reflexionen, essayartige Einschübe, theologische und philosophische Traktate, psychiatrische Exkurse, verhörartige Befragungen, diverse Auflistungen, literarische Einsprengsel und Vieles mehr. All das ist in wilden Zeitsprüngen und thematischen Wechseln zu einem collageartigen Text zusammengefügt, der dem Leser volle Aufmerksamkeit abfordert. Ein wenig erleichternd zieht sich allerdings auch ein nicht zu übersehender schwarzer Humor durch diese artifizielle Erzählung. Oft ist schon die kindlich-naive Sicht mit ihren häufig verblüffenden, absurd irrationalen Schlüssen Anlass zum Schmunzeln. Skurriler Höhepunkt aber war für mich eine Passage, in der die engen Bezüge diverser Songtexte zur Heiligen Schrift bis ins Detail thematisiert werden, ergänzt durch nicht minder absurde, kabbalistische Zahlenspiele mit Titelfolgen, Erscheinungsjahren, Auftrittsterminen und anderen Daten aus der Pop-Musik.

Mehr als zwölf Jahre hat Frank Witzel an seinem Opus magnum geschrieben. Unterbrochen von Schreibblockaden und bedrängt wohl auch von Selbstzweifeln hat er, so stellt man sich das als Leser vor, mutmaßlich seinen riesigen Zettelkasten komplett abgearbeitet für diesen ambitionierten Roman. Seine bindungslosen Figuren, über die man so gut wie nichts erfährt, erwecken keinerlei Empathie, die profane Lebenswirklichkeit zudem ist komplett ausgeblendet zugunsten der wirren Innenwelt des namenlosen Teenagers. Unzweifelhaft ist mit diesem ambitionierten Roman ein literarisches Kunstwerk entstanden, formal wagemutig, großartig und verstörend zugleich, ein zeitloses Epos jedenfalls, dem ein äußerst individueller Genius innewohnt, – mithin also alles, was einen künftigen Klassiker ausmachen könnte.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Die Glut

marai-1Lange vergessenes Meisterwerk

Die Wiederentdeckung seines Romans «Die Glut», 1942 erstmals in seiner Heimat erschienen, machte den ungarischen Schriftsteller Sándor Márai fast fünfzig Jahre später schlagartig auch einem internationalen Publikum bekannt, die deutsche Übersetzung erschien 1998. Seither zählt Márai für Fachleute zu den bedeutendsten Autoren des Zwanzigsten Jahrhunderts, – man wird dem begeistert zustimmen, wenn man den vorliegenden Roman gelesen hat.

In einem kammerspielartigen Plot wird die Geschichte einer engen Freundschaft erzählt, die Henrik und Konrád seit ihrer gemeinsamen Zeit auf der Kadettenanstalt verbindet. Henrik ist der Sohn eines reichen adligen Gutsbesitzers, bodenständig, robust, lebenslustig, während Konrád von einem verarmten Baron abstammt, introvertiert, feinsinnig, musisch veranlagt. Konrád ist jahrelang immer wieder Gast bei seinem inzwischen mit Krisztina verheirateten Freund auf dessen prächtigem Landsitz, bis Henrik eines Tages bei einem Jagdausflug plötzlich bemerkt, dass Konrád mit dem Gewehr auf ihn angelegt hat, nicht auf den stattlichen Hirsch, der vor ihnen aus dem dichten Wald aufgetaucht ist. Doch Konrád lässt das Gewehr wieder sinken, sie sprechen kein Wort über den Vorfall, überstürzt und ohne Abschied reist Konrád ab. Als Henrik am nächsten Tag Konrád in der Stadt aufsuchen will, erfährt er von dessen Burschen, dass sein Herr mit unbekanntem Ziel abgereist sei, er hätte den Dienst quittiert, die Wohnung solle aufgelöst werden. Erstaunt – ein Besuch war ihm bisher immer verwehrt worden – sieht sich Henrik in Konráds ungewöhnlich komfortabler Wohnung um, als plötzlich Krisztina erscheint. Er merkt an der Art, wie sie sich darin bewegt, dass ihr die Wohnung vertraut ist. Mit dem Wort «Feigling» verlässt sie die Wohnung, Henrik und sie sprechen nie wieder miteinander, sehen sich auch nie mehr, er ist in das Jagdhaus umgezogen, acht Jahre später stirbt seine Frau.

Einundvierzig Jahre sind seit der abrupten Trennung vergangen, man schreibt das Jahr 1940, als Konrád dem weltabgewandt lebenden, nunmehr 75jährigen Henrik, im Roman immer nur als «der General» bezeichnet, überraschend seinen Besuch ankündigt. Beim Dinner mit anschließendem Kamingespräch kommt es zwischen den Beiden zu einem vom Leser schon mit Spannung erwarteten, verbalen Showdown, der den weitaus größten Teil dieses Romans ausmacht. Nachdem Konrád anfangs von seiner Zeit in den Tropen erzählt, wohin er damals geflüchtet ist, zieht der General das Gespräch zunehmend an sich, immer mehr in einen Monolog verfallend, in dem er ihre Freundschaft psychologisch analysiert mit am Ende verblüffendem Resultat. Wobei er auch den bisher unausgesprochenen Treuebruch seines Freundes sehr zögerlich thematisiert, ihn quasi scheibchenweise entlarvt, so ganz ohne Vorwürfe zudem, nicht wie erwartet in einem Racheakt kumulierend. Konrád soll bei alldem offensichtlich nicht zu Wort kommen und bleibt auch einsilbig, beantwortet keine der Fragen des Generals.

Mit der Ankündigung dieses Besuchs gleich zu Beginn des Romans erzeugt Márai eine Spannung, die bis zur letzten Seite anhält. Er lässt den General in einem weiten Bogen über elementare philosophische Fragen schwadronieren, thematisiert Freundschaft, Treue und Sinn des Lebens auf ganz eigene Weise. Der General stellt zum Schluss sogar überraschend die Frage, ob nicht ihrer beider Sehnsucht nach der inzwischen ja schon lange toten Krisztina ihrem Leben nicht nur einen Sinn gegeben, sondern ihm zusätzlich auch eine gewisse Würze verliehen habe. Schließlich wirft er spontan auch noch das versiegelte Tagebuch seiner Frau ungelesen ins Feuer, sein letzter Trumpf quasi, der die – ihm nun allerdings nicht mehr wichtige – Wahrheit hätte aufdecken können. Emotional packend, immer wieder nachdenklich machend, in einer angenehmen, den Leser geradezu wohlig einhüllenden Sprache geschrieben, zählt dieser großartige Roman zweifellos heute schon zu den Klassikern der Belletristik.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Gehen, ging, gegangen

erpenbeck-2Mea culpa

Nach dem mäßigen Vorgänger hatte ich an den neuen Roman «Gehen, ging, gegangen» von Jenny Erpenbeck keine hohen Erwartungen; allein mein Vorhaben, alle sechs Romane der Shortlist 2015 des Deutschen Buchpreises zu lesen, hat mich denn doch zur Lektüre bewogen. Zudem wurde dieser Roman auch noch als Favorit gehandelt vom Feuilleton, was ja ebenfalls neugierig macht. Es war im übrigen mein letzter der sechs Finalisten-Romane, und im Rückblick kann ich nun die Jury nur loben für ihren Sachverstand und Mut, Frank Witzels so gar nicht massentauglichen Roman über die Alte Bundesrepublik mit dem Preis zu ehren und nicht etwa den vorliegenden Roman mit seiner aktuellen Flüchtlingsthematik. Denn ein an sich begrüßenswerter Impetus und fleißige Recherchearbeit allein ergeben keinen guten Roman, wenn es wie hier an einer adäquaten literarischen Umsetzung fehlt.

Doch zunächst zum Plot: Richard, emeritierter Altphilologe, verwitwet, saturiert im eigenen Haus an einem See am Rande Berlins wohnend, mit viel Zeit, die er kaum zu nutzen weiß, wird unvermittelt mit den Problemen afrikanischer Flüchtlinge konfrontiert, die auf dem Oranienplatz ein Protestcamp errichtet haben, um auf ihre Situation hinzuweisen. Er kommt mit den allesamt jungen, männlichen Asylsuchenden in Kontakt, besucht sie immer wieder, führt lange Gespräche mit ihnen und erfährt so manches aus ihrem Leben, den bedrückenden Verhältnissen in ihren afrikanischen Heimatländern und der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer nach Italien. Zunehmend tut sich ihm eine neue Welt auf, er hilft, wo er kann, nicht nur als Begleiter und Berater beim Verkehr mit Behörden, sondern auch finanziell und vor allem als persönlicher Freund. So ermöglicht er einem der Männer, an seinem Klavier zu üben, besorgt einem anderen eine Pflegejob, kauft einem Dritten ein Grundstück in seiner Heimat, mit dem die dort zurückgelassene Familie eine Existenzbasis erhält. Jenny Erpenbeck schildert sehr anschaulich und kenntnisreich den menschenverachtenden Behördenwahnsinn, der das Trauma dieser Gestrandeten zum Horror werden lässt. Als schließlich die Abschiebung unmittelbar bevorsteht, nehmen Richard und einige seiner Freunde die Männer der Oranienplatz-Gruppe privat bei sich auf. Die Geschichte endet mit Richards Geburtstagfeier, bei der alle Freunde und Asylsucher in seinem Haus zusammenkommen.

In einer bunten Mischung aus inneren Monologen, häufigen Reflexionen des auktorialen Erzählers und einsilbig knappen Dialogen, zuweilen mit englischen und italienischen Sätzen angereichert, wird eine Geschichte erzählt, in der so gut wie nichts passiert. Der Plot verharrt in einem spannungslosen Schwebezustand, der dem ungeklärten Asylstatus der jungen Afrikaner ähnelt und, wie man am Ende dann endlich weiß, auch zu nichts hinführt. Die Figuren, allen voran Richard, bleiben seltsam konturlos, sie sind allesamt nicht dazu angelegt, als Sympathieträger zu fungieren für den Leser.

Im Präsenz erzählt, sprachlich einfach und knapp gehalten, sehr direkt wirkend dadurch, wird die Lektüre besonders an den vielen Stellen schnell ermüdend, wo Richard seine Asylanten laienhaft nach ihrer Vorgeschichte befragt, man ahnt als Leser oft die Antworten voraus, vieles kommt einem jedenfalls bekannt vor. Die immer wieder mal eingestreuten Konjugationen werden irgendwann ebenfalls lästig, auch wenn sie wohl eine Sprachbarriere verdeutlichen sollen. Gleiches gilt für die reichlich eingebauten Redensarten, Liedtexte und Sprichwörter, die diese Geschichte vermutlich auflockern sollen, aber nur unsäglich albern wirken. Und wenn der Satz «Länger als eine Nacht konnte ich nicht bei Ihnen bleiben, dazu war ihr Zimmer zu klein» zum zehnten Mal vorkommt, fehlt mir jedes Verständnis dafür, der immer wieder erwähnte Ertrunkene im See nervt ebenfalls. Eine seltsame Erzählweise, die literarisch nicht geglückt ist, der ich jedenfalls absolut nichts abgewinnen kann – mea culpa!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Knaus München

Ein untadeliger Mann

gardam-1Old Filth

2015 ist erstmalig ein Roman der inzwischen 87jährigen britischen Autorin Jane Gardam auf dem deutschen Buchmarkt publiziert worden, – daheim wird sie von ihren treuen Lesern schon lange geradezu hymnisch verehrt. «Ein untadeliger Mann» ist Teil einer Trilogie und deutet bereits im Titel auf die Problematik hin, die der Roman behandelt, die Diskrepanz zwischen idealisiertem Habitus eines Mannes und seiner in der Regel weit weniger widerspruchsfreien seelischen Realität, die so gar nicht untadelig ist, aber bestens kaschiert wird. Der vorliegende Roman, dessen Erscheinen die Schriftstellerin in Deutschland überhaupt erst bekannt gemacht hat, wird allenthalben gefeiert, nicht nur als Neuentdeckung.

Edward Feathers, ehemaliger Kronanwalt in Hongkong mit legendärem Ruf, der ihm den etwas gehässigen Spitznamen Old Filth eingetragen hat, Akronym für Failed In London Try Hongkong, ist mit seiner Frau Mitte der neunziger Jahre nach England zurückgekehrt. Das kinderlose Paar lebt sehr zurückgezogen auf dem Land in Dorset in einem komfortablen Ruhestand, als Betty plötzlich stirbt. In der unerwartet entstandenen Leere beginnt der mehr als achtzigjährige Sir Edward, sein Leben kritisch zu überdenken, sucht wieder den Kontakt zu alten Weggefährten, unternimmt sogar noch weite Reisen, um sie wiederzusehen. Diese in der Jetztzeit angesiedelte Rahmenhandlung wird ausgefüllt von zahlreichen Rückblenden bis in die Zeit des British Empire, angefangen von Eddies Geburt in Malaysia, bei dem seine Mutter starb, über seine Jugend bei einer eingeborenen Ziehmutter, bis ihn schließlich der Vater nach England zu einer Pflegefamilie schickt, damit aus ihm ein richtiger Engländer wird. Seine traumatischen Erlebnisse dort enden erst, als er aufs Internat kommt, wo er einen Freund findet, dessen Familie ihn wie einen eigenen Sohn annimmt. Der Zweite Weltkrieg zerstört diese Bindungen, Edward absolviert anschließend mit besten Noten sein Oxford-Studium als Jurist, verliert jeden Kontakt zu seinem Vater, den er als Fünfjähriger zuletzt gesehen hatte, und geht schließlich, als er in London keine Karrierechancen für sich sieht, nach Hongkong, wo er zu Ansehen und Reichtum gelangt und auch seine Frau findet.

Die Autorin hat ihren Roman den Raj-Waisen gewidmet, die wie Eddie als kleine Kinder von ihren in den Kolonien lebenden Eltern nach England geschickt wurden, um dort die Schule zu besuchen, man nannte sie auch Empire-Waisen. Dass in dieser familiären Konstellation die Ursache schwerer Traumata begründet ist, liegt auf der Hand. Der stets die Contenance wahrende Sir Edward jedenfalls ist im Innersten zerrissen, hat vieles aus seinem Leben nicht verarbeitet und versteckt seine psychische Unsicherheit hinter einer snobistischen Fassade. Mit viel Empathie deckt die Autorin Schicht um Schicht das Innerste ihres Helden auf, legt anschaulich die seiner Bindungsunfähigkeit und Asexualität zugrunde liegenden emotionalen Defizite bloß.

Der Plot wird sprachlich kreativ in gut durchdachten, immer wieder Ort und Zeit wechselnden Kapiteln erzählt, die zumeist von realistisch wirkenden Dialogen getragen werden, wobei die Figuren glaubhaft charakterisiert sind und durchaus sympathisch wirken, allesamt very british natürlich. Es gelingt der Autorin mit einer ebenso lockeren wie klaren Sprache, zwei Weltkriege und andere Desaster in ihre Handlung einzubinden, ohne dass ihre Geschichte jemals elegisch zu werden droht. Der von seiner Thematik her nicht gerade neue Erzählstoff von den Brüchen im Leben und den verpassten Gelegenheiten bietet dem Leser ganz nebenbei auch einige Einblicke in historische Zusammenhänge. Für nicht anglophile Leser wie mich anfangs zäh zu lesen, kommt der Roman in der zweiten Hälfte etwas mehr in Fahrt, erfordert jedoch der fragmentarischen Erzählweise wegen einiges an Aufmerksamkeit. Alle rundum begeisterten Leser aber dürfen sich schon auf den nächsten Band der Trilogie freuen, der im kommenden Frühjahr erscheinen soll.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin

Das Verschwinden des Philip S.

edschmid-1Ein Irrweg

Stefan Aust hat mit seinem bekannten Sachbuch «Der Baader-Meinhof-Komplex» die Phase des Umbruchs in Deutschland kenntnisreich beschrieben, nun scheint die Zeit reif für eine mehr fiktionale Aufarbeitung der Geschehnisse, die gemeinhin mit der Jahreszahl 1968 symbolisiert werden. Mit seinem buchpreisgekrönten Roman hat auch Frank Witzel diese Thematik aufgegriffen, zwei Jahre vorher, 2013 erschien «Das Verschwinden des Philip S.» von Ulrike Edschmid, ein autobiografisch geprägter Roman über ihren damaligen Lebensgefährten Werner Philip Sauber, dessen revolutionärer Weg ihn schließlich in den bewaffneten Untergrund führt.

Philip S. stirbt am 9. Mai 1975 bei einem Schusswechsel mit der Polizei auf einem Kölner Parkplatz. «Vor den Krankenwagen sind die Fotografen da.» lautet der erste Satz, womit das Ende schon vorweggenommen ist. Als Leser wird man regelrecht hineingestoßen in die brutale Schlussphase einer Geschichte, die den allmählichen Wandel eines kreativen Studenten der Film- und Fernsehakademie zum gewaltbereiten Revolutionär beschreibt. Fast vierzig Jahre später nun blickt Ulrike Edschmid auf die Jahre zurück, in denen sie mit ihm zusammen war. Er kam als Sohn aus einer reichen Schweizer Unternehmerfamilie 1967 nach Berlin, sie lebte nach der Trennung von ihrem Mann mit dem kleinen Sohn in bohemeartigen Verhältnissen. Philip hingegen tritt ziemlich exzentrisch auf, sie schildert ihn als filmisches Genie, dessen hohe Kunst zwar Vielen ziemlich unverständlich bleibt, in der Akademie aber voll anerkannt und entsprechend gefördert wird. Die sich zuspitzenden Ereignisse in Berlin, deren Höhepunkt 1968 das Attentat auf Rudi Dutschke darstellt, verschärfen auch die anfangs vornehmlich auf die Hochschule gerichteten Proteste der Studentenclique um Philip und weiten sich aus auf revolutionäre, zunehmend radikaler, gewalttätiger und schließlich kriminell werdende Aktionen. Ulrike unterstützt diese Aktivitäten, ihre WG wird immer öfter von der Polizei durchsucht, bis sie beide eines Tages in Untersuchungshaft landen. Für Ulrike eine Zäsur, sie nimmt aus Angst um ihren Sohn daraufhin nicht mehr teil an den Aktionen, das Paar trennt sich schließlich, Philip taucht ab in den Untergrund.

Ein bemerkenswertes Kennzeichen der damaligen Ereignisse war die überwiegend gutbürgerliche Herkunft der Revolutionäre, und auch Philip stammt ja nicht aus dem Proletariat, ganz im Gegenteil. In seinem Hass gegen die Bourgeoisie sagt sich Philip schon früh von seinem spießigen Elternhaus los, schlägt sich finanziell mit Gelegenheitsjobs und als Taxifahrer durchs Leben. Edschmid zeichnet ein positives Bild der damals neu aufkommenden studentischen Wohngemeinschaften, ihre Figuren sind anschaulich beschrieben, man kann sich sehr gut in das stimmig geschilderte Milieu revolutionärer WGs hineinversetzen. So gut wie nichts hingegen erfährt man über die konkreten Ziele der Revolutionäre, die Perspektive der Autorin ist die einer wenig eingeweihten Randfigur.

Ihre Geschichte wird, das Vorwort ausgenommen, strikt chronologisch im Präsens erzählt, in einer prosaischen Sprache zudem ohne irgendwelche Ausschmückungen, ohne raffinierte Zeit- und Perspektivsprünge. Sie hat damit eher den Charakter eines nüchternen Berichtes als den eines unterhaltenden Romans, bleibt aber, trotz des vorweggenommenen Endes, wegen der fast beängstigen Direktheit bis zum Schluss spannend, man wird immer tiefer hineingezogen in die Entwicklung von Philip S. zum Terroristen. Wenig überzeugend ist der Versuch der Autorin, bei einem Besuch am Tatort den Tod ihres Helden als vermeidbar darzustellen, ihn als Notwehr, sogar als regelrechte Hinrichtung umzudeuten. Außer bei Gericht wird nirgends so gelogen wie in Autobiografien, das gilt wohl auch hier – und ist deshalb verzeihbar. So hautnah aber, literarisch aus einer seltenen Innensicht heraus entstanden, ist man dem damaligen Geschehen noch nie gekommen, dieser Roman ist allein deswegen schon eine lohnende Lektüre.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Auerhaus

bjerg-1Ambivalent

Das nach langen Jahren wieder zum Leben erweckte Literarische Quartett des ZDF hat in seiner dritten Folge unter anderem den Roman «Auerhaus» von Bov Bjerg besprochen, das zweite Buch dieses Autors, der auch als Kabarettist bekannt ist. Es handelt sich um einen typischen Coming-of-Age-Roman, der von den Problemen handelt, denen sechs junge Leute beim Eintritt ins «richtige» Leben gegenüberstehen. Nun ist diese Thematik ja nicht neu in der Literatur, was also macht diesen aktuellen Roman lesenswert?

Wir haben es hier mit einer tragikkomischen Adoleszenz-Geschichte aus den späten achtziger Jahren zu tun, deren Titel von dem Popsong «Our House» der britischen Ska-Band Madness abgeleitet ist. Unter dem verballhornten Namen «Auerhaus» wird von vier Jugendlichen im leerstehenden alten Bauernhaus von Höppners verstorbenem Opa eine Wohngemeinschaft gegründet. Dort versammelt sich ein illustres Völkchen, dem neben Abiturient Höppner, dem vornamenlos bleibenden Ich-Erzähler, der sich mit seinem Stiefvater nicht versteht, auch Vera angehört, seine Freundin, ferner Frieder, sein depressiver Freund, der einen Suizidversuch hinter sich hat, und Cäcilia, ein Klassenkameradin Veras aus begütertem Elternhaus. Zu ihnen gesellen sich später noch Pauline, die Höppner als Brandstifterin in der Psychiatrie kennenlernt, als er Frieder dort besucht, und Harry, ein Elektriker, der sich als schwul outet, sein Geld als Stricher verdient und mit Rauschgift handelt. Sie alle eint der Wunsch nach einem anderen, einem erfüllten Leben, nicht nach dem, was ihnen die Eltern da so vorleben, von ihnen nur verächtlich mit dem Etikett Birth-School-Work-Death gebrandmarkt. Es ist vornehmlich ein therapeutisches Motiv, das Höppner zu der WG inspiriert, Frieder soll nach dem Klinikaufenthalt keinen Rückfall erleiden, soll von weiteren Suizidversuchen abgehalten werden durch das enge Zusammenleben mit den Freunden.

Dieses illustre Ensemble erleben wir nun in angeregten Diskussionen über die Probleme dieser Welt und in allerlei verzwickten, zum Teil amüsanten Situationen, deren Komik mit der unbekümmerten, naiven Art zusammenhängt, wie die jungen Leute dem Alltag begegnen. Sie erproben sich an der Realität, wozu dann auch gehört, dass sie durch regelmäßigen Ladendiebstahl die gemeinsame Haushaltskasse schonen, sich durchmogeln bei Abitur und Musterung. Aus Gaudi wird dann auch schon mal nächtens der beleuchtete Weihnachtsbaum der Gemeinde gefällt, was zum zeitweiligen Stromausfall im ganzen Dorf führt. Oder ein Streifenwagen der Polizei mit Suchscheinwerfer und einer Pistolenattrappe aus dem alten Cadillac von Harry heraus provoziert, ein Vergehen, das nicht ungesühnt bleibt. All das wirkt jedoch immer wie eine Art stummer Notwehr, wird zudem im Hintergrund stets vom permanent drohenden Tod des lebensmüden Frieder überschattet.

In einer dem Alter des Ich-Erzählers angepassten, flapsigen Sprache entwickelt der Autor seine Reflexionen über Leben und Tod, über die Sensibilität der jungen Leute den Zumutungen des Lebens gegenüber, über ihre Sinnsuche und ihren ungestümen Drang nach Freiheit, über die geplatzten Illusionen letztendlich. Denn in einer Art doppeltem Schluss wird zunächst eine imaginierte, kitschige Variante von den Erfolgen der Protagonisten im späteren Leben vorausgeschickt, der dann die Realität folgt: «Im richtigen Leben war das Ende vom Auerhaus ziemlich ambivalent. Ambivalent, so sagten sie später an der Uni, wenn was durchwachsen war, oder irgendwie zweischneidig.» Die minimalistische Erzählweise dieses Romans dürfte nicht jedermanns Sache sein, manche Figuren scheinen mir ein wenig zu skurril geraten, Liebe und Sex sind erstaunlicherweise völlig ausgespart, in einigen Punkten ist zudem der ansonsten realistische Plot partout nicht stimmig, fiktional überstrapaziert jedenfalls. Und den Sinn des Lebens zu finden ist hier ebenfalls nicht gelungen, – wie sollte es auch? Gleichwohl wartet eine kurzweilige Lektüre auf den Leser!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Blumenbar Verlag

Eine Strasse in Moskau

ossorgin-1Fernab literarischer Niederungen

Mit seinem Debütroman «Eine Straße in Moskau» gehört der russische Schriftsteller Michail Ossorgin zu den aufregendsten literarischen Wiederentdeckungen des Jahres 2015. Der Originaltitel «Siwzew Wrashek» des 1928 im Pariser Exil erschienenen Romans bezeichnet eine kleine, bei der Moskauer Intelligenzija als Wohnsitz beliebte Straße in der Hauptstadt des Zarenreichs. Die vorliegende, sprachlich überzeugende Neuübersetzung entwickelt gleich von der ersten Seite an einen erzählerischen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Zeitlich zwischen dem Frühjahr 1914, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, und dem nahenden Frühling 1920 angesiedelt, handelt dieser Roman von den Umbrüchen im Russland jener Jahre. Ossorgin spiegelt Weltkrieg, kommunistische Revolution und den Bürgerkrieg «Weiß gegen Rot» an den Geschehnissen seines Mikrokosmos in der Siwzew Wrashek, dessen Mittelpunkt der betagte Ornithologe Iwan Alexandrowitsch und dessen verwaiste Enkelin Tanjuscha sind. Wir erleben als Leser die Auswirkungen der politischen Umbrüche, die unsäglichen Schrecken des Krieges, die bittere Notlage der Bevölkerung und das mit der Machtübernahme durch die Bolschewisten einhergehende, totale Chaos, illustriert an den Schicksalen der Protagonisten, wobei die defekte Kuckucksuhr des Professors zu Beginn der Geschichte den völligen gesellschaftlichen Zusammenbruch sehr wirkungsvoll symbolisiert. Überhaupt findet der Autor immer wieder wunderbar stimmige Bilder, die das Geschehen poetisch umschreiben, wofür die Schwalbe beispielhaft ist, die zu Beginn der Geschichte gerade angekommen ist und ihr altes Nest bezieht am Haus des Ornithologen, als Frühlingsbote freudig begrüßt von Tanjuscha. Und die Schwalben sind es dann auch, deren ersehnte Wiederkehr sechs Jahre später, am Ende des Romans, die Zuversicht auf bessere Zeiten versinnbildlichen.

Der Autor zeichnet seine Figuren liebevoll, den Komponisten Lwowitsch zu Beispiel, der abends im Salon des Professors Klavier zu spielen pflegt, oder die beiden jungen Männer, die Tanjuscha umwerben und deren Schicksal nicht unterschiedlicher sein könnte. Patriotischer Soldat der Eine, dem eine deutsche Granate alle Gliedmaße abreißt, was er, nur noch Torso nun, als medizinisches Wunder überlebt, vom Autor im weiteren lapidar als «Der Stumpf» bezeichnet. Der sich nun mit einem im Krieg erblindeten Soldaten einen makabren Streit darüber liefert, wem es schlechter gehe. Trotz aller Schrecken erzählt Ossorgin seine Geschichte mit ironischem Unterton, der ins Urkomische umschlägt, wenn er zum Beispiel den kometenhaften Aufstieg eines Deserteurs bei den Bolschewiki schildert, dem Zufall und Kaltschnäuzigkeit im Wirrwarr der kommunistischen Machtergreifung unerwartet einen Posten beschert. Ein anderer findet sein Auskommen als Henker, der, quasi im Akkord bezahlt, ungerührt sein grausiges Handwerk betreibt, beim Schlachten des von seiner Frau gemästeten Schweins hingegen kläglich scheitert.

Der in 86 kurze Kapitel gegliederte zweiteilige Roman ist schlaglichtartig auf das Private fokussiert, er zeigt den unfassbaren Fatalismus seiner Figuren auf, die sich in all dem gesellschaftlichen Horror eine Nische der Menschlichkeit offenhalten. Es wird chronologisch erzählt in überwiegend realistischen Einzelszenen, wobei die Mäuse und Ratten im alten Haus des Professors ebenso einbezogen sind wie der Kuckuck, dessen Rufe dem Ornithologen die ihm verbleibenden Jahre verkündet. Feinsinn und brutalster Horror stehen sich diametral gegenüber in diesem grandiosen Panorama eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchs, der den Autor selbst ins Exil getrieben hatte, zusammen mit 600.000 russischen Flüchtlingen übrigens, die damals binnen eines Jahres ins Deutsche Reich gekommen sind, wie uns das informative Nachwort wissen lässt. Den Leser erwartet eine äußerst gekonnt erzählte, bereichernde Lektüre, die ihresgleichen nicht hat in den Niederungen der Gegenwartsliteratur.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Die andere Bibliothek