Allegorie auf die Spaßgesellschaft
Zwei Jahre nach dem vernichtenden Verriss seines Romans «Jenseits der Liebe» durch Marcel Reich-Ranicki in der FAZ erschien 1978 Martin Walsers Novelle «Ein fliehendes Pferd» – und wurde vom selben Großkritiker im gleichen Blatt als «ein Glanzstück deutscher Prosa» überschwänglich gefeiert. Die in nur zwei Wochen niedergeschriebene Novelle erreichte als Bestseller eine Auflage von einer Million Exemplaren, sie stellte einen Wendepunkt seines literarischen Schaffens dar, die dem damals bereits etablierten Schriftsteller last, but not least, auch finanzielle Sicherheit brachte. Das Feuilleton beurteilte das Buch damals überwiegend positiv, ist die Lektüre dieses frühen Werkes aus dem inzwischen recht umfangreichen Œuvre Walsers also lohnenswert?
In dem kammerspielartigen Plot wird von zwei Ehepaaren mittleren Alters erzählt, die bei einem Urlaub am Bodensee (wo sonst?) zufällig aufeinander treffen, der Gymnasiallehrer Helmut Halm und der Journalist Klaus Buch waren einst Schulkameraden. Sie sind vom Naturell her völlig unterschiedlich, ihre Lebenswege verliefen folglich auch in ganz verschiedenen Bahnen. Während der eher behäbige, desillusionierte Helmut mit seiner ähnlich gearteten Frau Sabine unauffällig und zurückgezogen lebt, führt der sportlich gestählte, gesundheitsbewusste Klaus mit seiner deutlich jüngeren, attraktiven zweiten Frau Helene ein offensichtlich aufregendes, bewegtes Leben, jagt dem Erfolg und gesellschaftlicher Anerkennung hinterher. Sehr zum Missvergnügen von Helmut arrangiert Klaus nun eifrig verschiedene gemeinsame Unternehmungen, in deren Verlauf die Kluft zwischen dem verklemmten Spießbürgertum von Helmut und Sabine und der überbordenden Lebenslust von Klaus und Helene immer deutlicher wird.
Bei einer gemeinsamen Wanderung kommt es zu dem titelgebenden Ereignis mit Symbolkraft, als es Klaus durch richtiges Verhalten gelingt, ein auf sie zu galoppierendes, durchgehendes Pferd einzufangen. «Einem fliehenden Pferd kannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muss das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei.» Bei einem Segeltörn ohne die Frauen versucht Klaus später, seinen Freund zum gemeinsamen Auswandern auf die Bahamas zu überreden, um dort ein neues, aufregenderes Leben zu beginnen. Als überraschend ein schwerer Sturm aufzieht, geht der segelerfahrene Klaus über Bord, Helmut wird in dem nun steuerlosen Boot hilflos an Land getrieben, Klaus bleibt verschwunden. In ihrer Verzweiflung enthüllt Helene später in der Ferienwohnung von Helmut und Sabine die wahren Lebensumstände von Klaus, der in Wahrheit ein Versager war und sich gerade aus der Begegnung mit Helmut die Rettung aus all seiner Hoffnungslosigkeit versprochen hatte.
Walser stellt die Sicht Helmuts in den Mittelpunkt und gewährt dem Leser damit tiefe Einblicke in das Innenleben seines eher drögen Protagonisten. Ihren Reiz erhält die Geschichte aber insbesondere aus der Gegenüberstellung der konträren Lebensentwürfe, die ja beide keineswegs widerspruchsfrei sind, sondern nur Schein erzeugen, keine Realität. Der Autor zeigt also nur auf, was ist, ohne werten zu wollen, wobei es unsere Gesellschaft ist, die sich da widerspiegelt. Sprachlich ist die Novelle leicht lesbar geschrieben, nicht gerade wortgewaltig oder stilistisch kreativ also, aber mit stimmigen Dialogen, das stets überschaubare Geschehen wird zudem ganz unkompliziert chronologisch erzählt. Man muss das wohl als Abkehr des Autors von der anspruchsvolleren Literatur zur reinen Unterhaltung interpretieren, in der selbst gewisse Action-Momente nicht fehlen und Sex Walser-typisch ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Diese entlarvende, sozialkritische Allegorie auf eine erfolgsgeile Spaßgesellschaft ohne jeden tieferen Lebenssinn endet zwar ziemlich trivial, sie lässt dem Leser aber genügend Raum für eigene Reflexionen, für seine eigene Standortbestimmung irgendwo zwischen den beiden Extremen, die Martin Walser hier aufzeigt.
Fazit: lesenswert
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