Das verlorene Dorf

Das verlorene DorfOberbayern 1843: Als sich die junge Waise Rosalie in den Bauern Romar verliebt, scheint sie ihr Glück gefunden zu haben. Doch die Waisenhausvorsteherin warnt Rosalie vor dieser Ehe und macht sonderbare Andeutungen. Rosalie heiratet Romar dennoch und folgt ihm in sein Heimatdorf, das tief im Wald verborgen liegt. Eines Nachts hört Rosalie ein Neugeborenes weinen, das am nächsten Tag als angebliche Totgeburt begraben wird. Dann kommt eine junge Frau, mit der Rosalie sich angefreundet hat, auf mysteriöse Weise zu Tode. Rosalie wird bald bewusst, dass in Romars Dorf nichts ist, wie es scheint – und dass auch sie selbst in tödlicher Gefahr schwebt…

Rosalie ist eine Waise. Direkt nach der Geburt wird sie von Ihren Eltern ausgesetzt, vermutlich weil sie Albinismus hat und ihre Eltern sie als „verflucht“ betrachtet haben. Rosalie wird gefunden und in ein Waisenhaus gebracht aber ihre Kindheit ist sehr einsam. Die anderen Kindern und auch die meisten der Waisenhausbetreiberinnen haben nämlich Angst vor dem stillen Mädchen mit der weißen Haut, den weißen Haaren und den rötlich schimmernden Augen.

Im Alter von 16 Jahren, als Ihre einzige Bezugsperson, die alte Waisenhausmutter stirbt, beschließen die anderen dass Rosalie das Waisenhaus verlassen muss. Mit einem anderen Waisenhaus wird ein Handel abgeschlossen und somit siedelt Rosalie in ein Waisenhaus in der Nähe von Augsburg über und arbeitet dort fortan als Küchenhilfe. Aber auch dort hat man Angst vor Rosalie und es steht fest dass sie auch dort nicht lange bleiben kann…

Eines Tages lernt sie durch Zufall den charmanten Romar kennen und genießt seine Aufmerksamkeiten. Sie fangen an sich heimlich zu treffen und Rosalie verliebt sich in ihn. Nach kurzer Zeit macht Romar ihr einen Heiratsantrag den Rosalie nur zu gern annimmt denn im Waisenhaus kann sie nicht bleiben und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlt Rosalie sich geliebt.

Das Ganze hat nur einen Haken denn Romar gehört zu den Bewohnern von Haberatshofen, einem kleinen Dorf das sich tief in den Wäldern befindet und dessen Bewohner fast ausschließlich unter sich bleiben. Nur selten verlassen sie ihr Dorf, die Männer tragen geflochtene Bärte, laufen barfuß, gehen nie zur Kirche und im Laufe der Zeit sind unzählige, düstere Gerüchte um Haberatshofen entstanden…

Romar macht Rosalie klar dass wenn sie ihn heiratet auch sie dieses abgeschiedene Leben in den Wäldern führen muss und nicht zurückkehren kann aber wohin sollte Rosalie schon zurückkehren…?!

Sie heiratet Romar und geht mit ihm in die Wälder, wo sie von den Dorfbewohnern herzlich aufgenommen wird. Aber schon nach kurzer Zeit beginnt Romar sich zu verändern und Rosalie versucht lange ihr mulmiges Gefühl zu verdrängen aber Fakt ist dass in Haberatshofen etwas ganz und gar nicht stimmt…

Mehr kann ich zum Inhalt der Geschichte nicht schreiben denn ich würde zu viel verraten aber das Buch war super, es hat mir richtig gut gefallen und ich hatte es sehr schnell durch.

Richtig gut finde ich auch dass die Autorin mit dieser Geschichte eine regionale Sage/Legende aufgegriffen hat denn das Dorf gab es bis 1845 wirklich. Die Autorin hat die Schreibweise etwas verändert und das Dorf vergrößert aber Hab(er)ratshofen war einst ein real existierender Ort im Sachsenrieder Forst. Die Figuren und Ereignisse sind frei erfunden aber bis heute gibt es die Legende der „weißen Frau im Sachsenrieder Forst“, welche die Autorin zu dieser Geschichte inspiriert hat.

Auch gibt es hinten im Buch ein Fotos von einem Gedenkstein der heute noch an Habratshofen erinnert und ein Foto vom einstigen Tiefbrunnen des Ortes, der heute noch existiert.

Eine sehr spannende und schaurige Geschichte die ich auf jeden Fall sehr empfehlen kann.

Stefanie Kasper, Jahrgang 1984, ist im Bayerischen Oberland aufgewachsen. Sie ist gelernte Redakteurin, lebt und arbeitet als freiberufliche Schriftstellerin mit Ihrem Mann, zwei Söhnen und zwei Katzen im Ostallgäu.


Genre: Roman
Illustrated by Goldmann München

Der Hals der Giraffe

schalansky-1Pathologische Skepsis

Mit ihrem zweiten Roman «Der Hals der Giraffe» hat Judith Schalansky 2011 ein in vielerlei Hinsicht unkonventionelles Prosawerk veröffentlicht. Es ist kein Bildungsroman, auch wenn der Einband aus grobem Leinen dies ironisch behauptet, hier entwickelt sich nämlich nichts, vielmehr wird ein Zustand beschrieben, und zwar aus der sehr speziellen Perspektive einer misanthropischen Biologielehrerin. Die Schule dient der Autorin hier gleichsam als literarisches Biotop, von dem aus sie ihre bis in die Ursuppe zurückreichenden Betrachtungen der Evolution entwickelt.

Die 55jährige Protagonistin arbeitet seit dreißig Jahren als Lehrerin für Biologie und Sport an einem Kleinstadt-Gymnasium in der vorpommernschen Provinz. Ihre Schule wird in vier Jahren geschlossen, die neunte Klasse, in der sie unterrichtet, zählt gerade noch 12 Schüler. Inge Lomarks Unterricht ist streng, als unangreifbare Respektsperson fordert sie ihre Schüler mit einem altmodisch kreidelastigen «Frontalunterricht», für den sie Disziplin als eiserne Grundvoraussetzung ansieht. Überdurchschnittliche Leistungen ihrer Schüler geben ihr insoweit auch recht. Soziale Kompetenz allerdings geht ihr völlig ab, sie scheint zu keiner Empathie fähig, verhielt sich selbst ihrer eigenen Tochter gegenüber im Unterricht als unnahbar und folgte unbeeindruckt ihrem Kodex, als diese einmal gemobbt wurde, – sie ist im Klassenzimmer nicht Mutter, sie ist «Die Lohmark». Kein Wunder also, dass sie heute nur noch selten Kontakt zur Tochter hat, die vor 12 Jahren in die USA ausgewandert ist, und auch ihre Ehe hat sich zu einer reinen Zweckallianz entwickelt. Gefühlskälte allenthalben, das Wort Liebe habe ich, wenn meine Erinnerung nicht trügt, im ganzen Roman nicht einmal gelesen. Und die Heldin, das wird ihr selbst schon bald deutlich, gehört beruflich ja ebenfalls zu einer aussterbenden Spezies.

Aus diesem misanthropischen Handlungskern heraus entwickelt die Autorin in drei mit «Naturhaushalte», «Vererbungsvorgänge» und «Entwicklungslehre» betitelten Abschnitten und auf September, November und März verteilten drei Handlungstagen eine Tour d’Horizon durch die Biologie. Deren Detailreichtum ist ebenso beeindruckend wie die anschaulichen Beispiele, mit denen sie verdeutlicht werden, zuweilen ergänzt durch Zeichnungen, die den Leser an sein Biologiebuch erinnern. Das mag für manchen langweilig sein, etliche Leser allerdings erfahren auf diese Art eine erfreuliche Auffrischung ihres biologischen Wissens, so war es bei mir jedenfalls, – also doch ein Bildungsroman? Nicht als literarischer Terminus! Immer wieder werden hier evolutionäre Phänomene auch zur Deutung des profan Alltäglichen benutzt, streng funktionale Abläufe an der Lebenswirklichkeit gespiegelt, soziales Verhalten eben auch mal evolutionär erklärt, – Darwin allerdings wäre schockiert!

All das wird staubtrocken von einem auktorialen Erzähler präsentiert, sprachlich dem Staub der Schulkreide angepasst und klar gegliedert in kurzen Sätzen aus der Perspektive der miesepeterigen Protagonistin erzählt. Die Figuren sind mit psychologischem Feinsinn glaubwürdig skizziert, ihre Dialoge erscheinen lebensecht. In weiten Teilen dominieren im Roman erzählerisch innerer Monolog und Bewusstseinsstrom, meist in kurzen Satzstummeln. Die atheistische Heldin hat für die Stasi gearbeitet, erfahren wir nebenbei, hat auch mal abgetrieben nach einem Seitensprung, von dem ihr Mann nichts weiß, sie entwickelt sogar ganz gegen ihre Prinzipien eine gewisse Sympathie für eine ihrer Schülerinnen, – mehr aber menschelt es nicht in diesem Roman. Merkwürdig unterkühlt sind auch die Schilderungen der Natur, streng sachlich bleibend und verzückte Schwärmerei strikt ausklammernd. Humor gar fehlt ganz, und die Ironie ist meist diffamierend, sie wirkt eher zynisch. Ich habe den Roman als das verstörende Psychogramm einer starrsinnigen Lehrerin gelesen, deren Skepsis, Schule und Bildung betreffend, fast schon pathologische Züge annimmt.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Nach uns die Pinguine

Stein Pinguine Es war erst wenige Wochen her, dass “die Republikaner einen Wahlsieg von grauenhaften Dimensionen errungen hatten und ein böser, alter Analphabet mit blondem Haar ins weiße Haus eingezogen war“, da passierte das, was “tout le monde” hätte wissen können: die betrüblichen Ereignisse, über die ungern geredet wird.

Die Verwechslung von undenkbar und unmöglich gehört zu den dümmsten und am weitesten verbreiteten Denkfehlern.” Doch das Undenkbare war möglich. Im Klartext: Die Rede ist vom Weltuntergang.
Das orangefarbene Ganzkörper-Doppelkinn und die unterschätzte, zu lange ignorierte Gefahr, die von Nordkorea ausging, haben den Planeten ruiniert.

Joshua Feldenkrais Mutter fand gerade noch rechtzeitig vor den betrüblichen Ereignissen, ihr Junge sei an einem Punkt in seinem Leben, an dem nachdenken angeraten sei. Am besten auf Reisen, am allerbesten auf einem Schiff und weil Joshua nichts Besseres einfiel, entschied er sich für die Antarktis. So kam es, dass Joshua – schwuler jüdischer Mormone – zu den Passagieren eines Kreuzfahrtschiffes gehörte, welches vor den Falkland Inseln strandete. Zum Zeitpunkt der Erzählung sind die Falklands eine von drei Enklaven, die überlebt haben. Soweit man weiß. Alles was sich zum Zustand der Welt nach den betrüblichen Ereignissen eruieren lässt, erfährt man aus Youtube-Filmchen. Denn: “Wie jeder weiß, wurde das Internet einst eingerichtet, damit auch nach einem Atomkrieg noch Kommunikation möglich ist”

Auf den Falklands geht das Leben in seit jeher bewährter britischer Manier und Tradition weiter. Mit den Unannehmlichkeiten nach den betrüblichen Ereignissen hat man sich arrangiert. Die Meeresluft ist gut, die Schafe gedeihen, der Pub hat geöffnet. Auch Joshua hat sich bestens akklimatisiert und fungiert nun als Moderator des Inselradios. Nicht allen seinen Mitreisenden fiel das ebenso leicht, etliche harren noch auf dem Schiff aus und warten auf Asyl ohne Bedingungen. (Unter ihnen die wohl erste und letzte Präsidentin der USA – die sie auch nur aufgrund einer einzigen Tatsache wurde: Sie ist die einzige Angehörige der Regierung, die überlebte.)

Nur kurz wird das gemütliche Überleben zwischenzeitlich unterbrochen für gefährliche Expeditionen auf das argentinische Festland. Leider unausweichlich für die Vorratshaltung. Dass seit den betrüblichen Ereignissen keine Kinder mehr geboren werden, verdrängt man geflissentlich. Doch dann passiert etwas äußerst Beunruhigendes. Der allseits beliebte Gouverneur wird erschlagen aufgefunden und das in einem Raum, dessen Türen und Fenster von innen verriegelt waren. Die Insel-Polizei bekleckert sich nicht gerade mit Ruhm – was also bleibt Joshua anderes übrig, als auf eigene Faust zu ermitteln. Schließlich ist er ja Journalist und die recherchieren nun mal. So macht er sich auf und ermittelt auf eigenes Risiko. Dabei gerät er immer tiefer in eine phantastische Gemengelage aus Verschwörungen, Machtgier und Pinguinen, aus der ihm – so scheint es – nicht einmal sein bester Freund, der Inselarzt wieder heraushelfen kann. Letzte Hoffnung ist ausgerechnet der Inselsäufer.

Halleluja. Dass wir das noch erleben dürfen. Das Jahr hat sich mittlerweile bis in die Winterzeit gewälzt und ich hatte mich schon fast damit abgefunden, es in zwei Monaten abzuschließen, ohne den (zugegeben bedeutungslosen) Titel “mein Buch des Jahres” zu vergeben. Die “Pinguine” sind der erste ernsthafte Anwärter und auf jeden Fall mein Überraschungsbuch des Jahres. Und ganz gewiss nicht nur wegen des tollen Titels, für den alleine man das Buch schon kaufen müsste.

Nach uns die Pinguine” behandelt genau die Themen, die man sorgenvoll mit sich trägt in dieser Zeit, geht aber trotz der dystopischen Herangehensweise hoffnungsvoll damit um. Auch hinter dem Weltuntergang geht es weiter – dazu macht man ihn als Erstes ganz voldemortig zu einem betrüblichen Ereignis, über das nicht geredet werden darf. Die “Pinguine” sind ein exzellent recherchierter Roman, der (auch) davon lebt, dass der Autor mit einem Augenzwinkern eine Menge Wissen vermittelt. Für sein apokalyptisches Szenario erschafft Hannes Stein kein neues Universum, er siedelt es auf den Falklands an, die – wie man spätestens seit dem Falkland-Krieg 1982 weiß – schon immer so etwas wie ein halbwegs autarkes, anachronistisches Utopia waren. Er lässt die Falklands so, wie er sie als Autor kennengelernt hat, das apokalytische Szenario drumherum allerdings hat Stein erschaffen – und zwar ausgesprochen konsequent und durchdacht bis zum allerletzten kleinen Puzzlestein. Da stimmt alles, da hat sich nicht ein noch so kleiner Logik-Fehler eingeschlichen, so rund hat man es noch selten gehabt in einem Weltuntergangs-Szenario. Ein echtes Chapeau dafür.

Hannes Stein wurde 2013 für sein ersten Roman “der Komet” gefeiert. In diesem Buch ließ er den ersten Weltkrieg kurzerhand ausfallen, in seinem aktuellen nimmt er dafür den Weltuntergang vorweg. Wenn man weiß, dass Stein derzeit als Korrespondent in New York lebt, nimmt einen die Inspiration für die “Pinguine” nicht wunder und je mehr das aktuelle Tagesgeschehen (Nordkorea!) unheimlicherweise dem Inhalt des Buches folgt, desto weniger phantastisch mutet das von Stein erdachte Szenario an. Gerade auch daran sieht man, wie ausgesprochen gut Hannes Stein sein Universum durchdacht hat. Dennoch erzählt er trotz des bedrohlichen Szenarios mit leichter Hand. Mal liest man mit einem Schmunzeln, ein paar Seiten weiter bleibt einem das Lachen schon wieder im Halse stecken, mal legt man es tief betroffen aus der Hand.

Ich empfehle “nach uns die Pinguine“sehr gerne und uneingeschränkt. Wer bereit ist, sich auf etwas Neues einzulassen, gerne geistreich unterhalten wird und ein Faible für geschickten Genre-Mix hat, ist mit diesem Buch allerbestens bedient.


Genre: Dystopie, Endzeitgeschichten, Kriminalliteratur, Roman
Illustrated by Galiani Berlin bei Ki-Wi

Vintage. Eine Reise zum Blues

vintage-9783257608120Der 25-jährige Thomas Dupré arbeitet in einem Gitarren-Shop in Paris als Aushilfe. Gitarren sind für ihn keine verstaubten, unantastbaren Reliquien, sondern „Waffen, an denen noch das Blut der Revolution klebt“, denn wie so viele seiner Altersgenossen, träumt auch Thomas davon ein Rockstar zu werden. Ein Vintage-Roman aus Frankreich? Da bekommt er eines Tages plötzlich das Angebot des Jahrhunderts: er soll für seinen Chef Alain de Chévigné eine Gitarre nach Inverness in Schottland liefern, denn der Käufer legt Wert auf Diskretion. Lord Charles Dexter Winsley – so sein voller Name – ist ein Gitarrensammler, der im mysteriösen Boleskine House nahe des Loch Ness, wo schon Aleister Crowley und Jimmy Page gewohnt haben sollen, mehrere Gitarren im Wert zwischen 300.000 und einer Million Dollar an den Wänden hängen hat, darunter etwa auch eine Les Paul Deluxe mit gebrochenem Hals zusammen mit einer Notiz „Für Charlie von Pete.“ Hervier macht damit eine zärtliche Verneigung vor Pete Townshend von The Who, der es bevorzugte, seinen Gitarren auf der Bühne den Hals zu brechen. „Man muss glauben, um zu sehen“, gibt Lord Winsley seinem neuen Schützling mit auf den Weg. Oder ist es etwa doch umgekehrt?

Vintage: „Sur la route de Memphis”

Der dritte Roman des französischen Schriftstellers aus Villeneuve-Saint-Georges hat alles was sich ein Leser wünschen kann. Er ist zugleich Roadmovie und Kriminalroman und so spritzig, frivol und elegant geschrieben, dass es eine wirkliche Freude macht, ihn von der ersten bis zur letzten Seite in einem Zug durchzulesen. Denn die Reise von Thomas Dupré führt von Schottland auch in den mystischen Süden der USA, dort wo der Blues einst geboren wurde und der eigentliche McGuffin der Story, die Gibson Moderne, einst hergestellt wurde. Denn Thomas muss für Lord Winsley Beweise für die Existenz dieser Gitarre finden, die ihm von einem Gitarrenbauer gestohlen wurde. Und von dieser Gibson Moderne soll es drei Stück gegeben haben, aber einzig ein Musiker aus der Nähe von Kalamazoo soll sie virtuos beherrscht und gespielt haben. Die Reise von Thomas Dupré ist auch eine Reise in den tiefen Süden der USA, die Sümpfe des Missisippi und in die Lebensbedingungen der Schwarzen in den Dreißiger Jahren, die in sog. Juke Joints ihrem einzigen Vergnügen nachgehen konnten: dem Blues.

Blues aus dem Bayou als Vintage

Virtuos geschrieben und voller Liebe zum Detail eröffnet Grégoire Hervier dem Leser die Welt des schwarzen Amerika mit Martin Luther King, den „Little Rock Nine“, James Meredith, der NAACP und dem legendären Robert Johnson, der damals, 1938, an der Kreuzung des Highway 61 und 49 seine Seele dem Teufel verkauft hatte. Robert’s son Li Grand Zombi Robertson wird sogar exhumiert, aber die Details dazu sollte lieber jeder selbst nachlesen, denn die Geschichte ist haarsträubend witzig und voller Liebe zum Detail, ganz abgesehen von den erstaunlichen Sachkenntnissen, die Hervier über Gitarren im Allgemeinen und die Geschichte des Blues im Speziellen zu Protokoll gibt. Geschickt verknüpft Hervier Realität und Geschichte mit seiner Fiction, die so amüsant zu lesen ist, dass man auch sehr oft erleichtert auflachen kann, etwa über den White Trash Amerikas. Denn im 40. Todesjahr des King, darf natürlich auch der „King“ nicht fehlen, der in „Vintage“ eine Hommage in Form des Elvis-Imitators Bruce und seiner „The Bruce Pelvis Presley Band“ bekommt, als Thomas eine Spur in Memphis, Tennessee verfolgt. Einige Seitenhiebe auf das Pärchen Bruce und Shelby und deren europäische Geographiekenntnisse sowie die Lebensbedingungen des White Trash inklusive.

Die rasanteste Suche nach der Nadel im Heuhaufen – oder der Gitarre im Bayou – ist einer der wohl besten Rock`n´Roll Romane der Literaturgeschichte, voller Verve und dramatischer Schwingungen, ganz so wie die Gibson Moderne von Li Grand Zombi Robertson. Eine fulminante Hommage an einen Lebensstil.

Grégoire Hervier
Vintage
Roman
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch und Stefanie Jacobs
2017, Diogenes, 391 Seiten
ISBN: 978-3-257-07002-6

 

 


Genre: Gesellschaftsroman, Historischer Roman, Humor und Satire, Kriminalromane, Roadtrip
Illustrated by Diogenes Zürich

Tintoretto. A star was born

tintorettoIn allem was die Malerei anbelangt aber ist er wunderlich, kapriziös, schnell und kühn und der furchterregndste Intellekt, den die Malerei je besessen“, schrieb der Maler Bildhauer und Architekt und Zeigenosse Giorgio Vasari über den Maler aus Venedig. 2018 wird sein 500. Geburtstag gefeiert und aus diesem Grund wurde auch eine große Ausstellung organisiert, die im nächsten Jahr u.a. im Musée du Luxembourg (6. März bis 1. Juli 2018) gezeigt wird.

Das Färberlein aus Venedig

Tintoretto – eigentlich Jacopo Robusti – wurde als Sohn eines Färbers in einem Venedig geboren, das in neuer kultureller und wirtschaftlicher Blüte erstrahlte, obwohl es einerseits von den Türken, andererseits von den Habsburgern bedroht wurde. Tintoretto (dt.: Färberlein) produzierte vorerst Graffiti bis er sich ab 1538 als „Meister“ etablierte. Er gehörte der Klasse der popolani an, die rund 80 Prozent der venezianischen Bevölkerung stellten und in deren Händen Fischerei, Dienstleistungsgewerbe sowie Handwerke aller Art lagen, wie die Herausgeber zum vorliegenden Ausstellungskatalog betonen. Durch seine Malerei konnte Tintoretto die engen Klassengrenzen durchbrechen und auch im öffentlichen Raum, den Adelshäusern und im Dogenpalast aufzutreten. Seine Phantasie und Schöpfungskraft fand in allen Schichten der Gesellschaft Anerkennung.

Tintoretto und die venezianische Malerwerkstatt

Neben einem ausführlichen Katalog mit Reproduktionen der Gemälde des Meisters beinhalter der vorliegende Bildband in hochwertiger Ausfertigung auch einige hochkarätige Essays namhafter Wissenschaftler. So widmet sich der Beitrag von Stefania Mason der wissenschaftlichen Pionierleistung von Rodolfo Pallucchini, Roland Krischel, Erasmus Weddigen und Guillaume Cassegrain erörtern das „self-fashioning“ des jungen Tintoretto und Giuseppe Gullino beschreibt Venedig im Zeitalter Tintorettos zwischen 1523 und 1533 als „Renaissance und Erneuerung“. In „Tintoretto und die venezianische Malerwerkstatt um 1530-1540“ zeigt Michel Hochmann, wie das künstlerische Schaffen zu Beginn des 16. Jahrhunderts organisiert wurde. Auch Frauen spielten natürlich eine wichtige Rolle im Leben und in der Malerei von Tintoretto. Ein Kapitel ist deswegen auch seinen „Femmes fatales“ gewidmet. Er male „Verführerinnen und Opfer sexualisierter Gewalt, zeigt Mägde und Musen, Prinzessinnen und Prostituierte“, aber auch ledige Mütter und Ammen. „Eva“, „Susanna“ und „Potiphars Weib“ erfahren bei Tintoretto ihre Würdigungen. Im „Jüngsten Gericht“ (Kirche Madonnal dell’Orto) habe diese Phase seines Schaffens ihr Ende und Gegengewicht gefunden, schreibt der Herausgeber.

Die Ausstellung wird zuerst in Köln im Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud vom 06.10.2017 – 28.01.2018 gezeigt. Vom 6. März bis 1. Juli 2018 in Paris im Musée du Luxembourg. Leihgaben stammen u. a. aus dem Museo del Prado, dem Louver, dem KHM in Wien, sowie weitern Museen in Belgien, Italien, Deutschland und den USA u.v.a.m.

Roland Krischel (Hg.)
Tintoretto. A Star was born.
Mit Beiträgen von L. Borean, G. Cassegrain, G. Gullino, M. Hochmann, R. Krischel, S. Mason, E. Weddigen
In Kooperation mit der Réunion des musées nationaux – Grand Palais,
Text: Deutsch, 224 Seiten, 228 Abbildungen in Farbe, 23 x 30 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-2942-7
Hirmer Verlag


Genre: Dokumentation, Kulturgeschichte, Sachbuch
Illustrated by Hirmer, Hirmer

Terra!: Science Fiction aus Bella Italia

terraIm Jahr 2157 ist die Erde nach sechs Weltkriegen endgültig unbewohnbar geworden. Zumindest auf der Oberfläche, denn eine neue Eiszeit hat den Planeten überzogen. Doch dann gelangt eine mysteriöse Botschaft in die Kommandozentrale der sineuropäischen Föderation: es gibt eine „Erde 2“. Die überbordende und schaumkrönende Sprachfantasie und Fabulierei des italienischen Autors Stefano Benni in eine andere Sprach zu übersetzen ist sicherleich keine leichte Aufgabe, obwohl sich der 1983 erstmals erschienene Science Fiction Roman an einigen bekannten Vorbildern orientiert, die auch in der deutschsprachigen Literatur bekannt und verbreitet sind. In „Terra“ geht die Welt jedenfalls gleich im Prolog unter und Eiswürfel aus Coca Cola sind aus einem gezuckerten Schwarzmeer zu gewinnen, da die Welt daraufhin ein Riesendurst befällt: es gehe die Sage, daß manche Familie sogar ihren Swimmingpool leersoff. Radio „California über alles“ (Dead Kennedys) verkündet die Parole der Apokalypse „Schwitzt und tanzt!“ und es folgen Weltkrieg 3-6, nach denen die Welt endgültig unbewohnbar wird, nicht aber das Universum.

Terra: Freude an der Apokalypse

Das Gute an der Apokalypse: es gibt keine Arbeit mehr. Paris lebt – zwar unter der Erde in U-Bahn und Kanalisationsschächten, aber es lebt. Der Raumhafen Mitterrand und der Eiffelturm unter seiner Klarsichtkapsels sind immer noch weithin sichtbare Symbole der Macht, auch wenn über die Bildschirme der Metro Direktübertragungen von Morden zur Alltäglichkeit werden. Im Louvre, dem einst größten und schönsten Museum der Welt, gibt es nur mehr eine Snackbar namens „Mona Lisa“, in der die Kellnerinnen wie La Giocanda zurechtgemacht sind und die Kellner wie Tizians Mann mit dem Handschuh. Auf der einen Seite gibt es die Sineuropäische Föderation, auf der anderen das Aramerussische Reich, das aus Arabern, Amerikanern und Russen besteht. Es gibt natürlich auch immer noch das Milieu – in Sektor 17, genannt „Die Wolke“ herrschen harte Drogen und Prostitution. Die Gesetze der Föderation sind hier außer Kraft und das Publikum wird gebeten, sich nach dem „nächtlichen Überlebenskodex“ zu richten.

Kroko Rock mit Dylaniew

Deggu N’Gombo und der Kroko Rock und der alte chinesische Weisen Fang spielen in Stefano Bennis fantasievollem Weltraumabenteuer ebenso eine Rolle wie Van Cram der Wikinger oder das zwölfjährige Computergenie Frank Einstein. Die Piloten des Raumschiffs Calalbakrab, John Wassiliboyd und Igor Dylaniew, erklären sich einverstanden 20 Pingpongtische auf der Calalbakrab mitzunehmen, denn sie haben ohnehin schon einen Golfplatz, eine Discothek, Kinos mit 1000 Plätzen und drei Swimmingpools an Bord. Für Divertissements ist also auch bei diesem Weltraumabenteuer reichlich gesorgt. Die moderne Fabel „Terra“ von Stefano Benni ist Krimi und Märchen, Comic, Abenteuer und Science-Fiction-Roman, Fantasy und politische Satire zugleich. Ob es einem der drei ausgesandten Raumschiffe gelingen wird, den traumhaften Planeten „Erde 2“ zu entdecken, erfahren die Leserinnen und Leser nur dann, wenn sie die Zukunft in der Vergangenheit sehen. Mit „Terra!“ gelang Benni 1983 auch der internationale Durchbruch, denn seine Mischung aus Märchen, Fabel und Comic in einem satirischen Science Fiction Roman verpackt fand besonders in den von der Gefahr des Atomkriegs gezeichneten Jahrzehnt reißenden Absatz. Vier Jahre zuvor war Douglas Adams’ Hitchhikers Guide to the Galaxy erschienen und Bennis „Terra“ kann durchaus als europäische Version einer atomaren Apokalypse interpretiert werden.

Stefano Benni
Terra!
Aus dem Italienischen von Pieke Biermann
WAT [771]. 2017
432 Seiten. 12 x 19 cm
Buch 16,90 € / E-Book 14,99 €
ISBN 978-3-8031-2771-6
Wagenbach Verlag


Genre: Science-fiction
Illustrated by Wagenbach

Die Bar unter dem Meer

benni2Esiste una lingua senza metafora, un pranzo senza relever, un diavolo senza le zanne?“, frägt sich der Protagonist in „Il piú grande cuoco di Francia“ („Die Bar unter dem Meer”), einer Episode aus der Kurzgeschichtensammlung „Il bar sotto il mare“, die durch den roten Faden, einer Bar am Meeresgrund zusammengehalten wird und die Stefano Bennis Sprachwitz und kreativen Erfindungsreichtum zum Vergnügen der Leser exemplarisch darstellt. Ein Teufel ohne Stoßzähne (un diavolo senza le zanne), ob es das wirklich gibt? „Bar Sport“ war Stefano Bennis Erstling, der in 1977 in Italien bekannt machte. Eigentlich wäre er ja gerne Fußballer geworden, aber in seinem Debüt gelingt es ihm, einen würdigen Ersatz dafür zu finden. „Bar Sport duemilla“ knüpfte nochmals – 1997 – an seinen Romanerstling an und mit „Il bar sotto il mare“, dem vorliegenden bei Reclam auf Italienisch erschienen Werk setztee er seine Bar-Triologie 1987 fort. Alle zehn Jahre als ein „Bar“-Roman? Natürlich schreibt Benni dazwischen auch eine Vielzahl an Artikel, Kolumnen und Theatermonologe oder Filmdrehbücher für italienische Zeitungen wie Il manifesto, L’Espresso, La Repubbblica, etc und insgesamt weitere 20 Romane.

Die Bar unter dem Meer

Die „Bar“ an und für sich bezeichnet Benni als „luogo della narrazione“, also als Ort der Erzählung und nicht der Platz, wo man einen Espresso am banco schlürft. Denn in der Bar erzählen sich die Menschen von ihrem Leben und Benni ist ein guter Zuhörer, der das, was er dort aufschnappt, mit einer Vielzahl anderer literarischer Einflüsse vermengt, ohne dies auch nur im Mindesten zu verhehlen, denn Benni ist ein Vielleser und bevor er schreibt verschlingt er gleich mehrere Bücher, wie Ulrike Zanatta im Nachwort aufschlussreich erzählt: „Prima di iniziare un romanzo, passo un paio di mesi a leggere: è una ginnastica che mette in moto l’onnipotenza della fantasia e l’umilità della scrittura“. Die „Bar“ habe etwas unheimlich Egalitäres: hier begegnen sich Alt und Jung, Arm und Reich, Schön und Schiach. Aber in der Bar sind sie alle gleich. Aber manche von ihnen sprechen mit einer drastisch-vulgären Sprache, wie etwa der Capitano Charlemont in „Matu-Maloa“, der sich „una bella sega nel buco del culo del signore“. Andere drücken sich gewählter aus, wie Oleron in „Oleron“: „Nel palpito dell’agonia è la vita più sacra“: beim Herzschlag des Todeskampfes ist das Leben am Heiligsten.

23 Gäste: 1000e Geschichten

Il bar sotto il mare“ bedient sich eines simpel genialen dramaturgischen Tricks: die einzelnen Kapitel werden von unterschiedlichen Personen erzählt und so ensteht ein Kaleidoskop von Geschichten, die unsystematisch zusammengestellt ist und wo die Heterogenität der Erzählungen durch den Schauplatz „Bar unter dem Meer“ zusammengehalten wird. Die 23 Gäste auf dem Grunde des Meeres „fabulieren und persiflieren nach Herzenslust“, wie Zanatta es treffend beschreibt: „Die Geschichten sind so unterschiedlich wie ihre Erzähler und führen den Leser auf eine Reise durch verschiedene Genres und Epochen der Literatur.“ Man spürt den Einfluss von Edgar Allen Poe („Oleron“, „Il piú grande cuoco di Francia“) ebenso wie den von Agatha Christie oder in „California Crawl“ eine Parodie des amerikanischen Minimalismus, so Zanatta, aber auch den russischen Symbolismus wie in „Nastassia“.

Ein extravagantes Leservergnügen voller Wortwitz und Charme und man kann die Bar unter dem Meer auch lesen wie ein Literaturrätsel, was zusätzlich noch sehr viel Spaß macht.

Stefano Benni
Il bar sotto il mare
Ital. Hrsg.: Zanatta, Ulrike
349 S.
Reclam
ISBN: 978-3-15-019764-6

 


Genre: Humor und Satire, Kurzgeschichten und Erzählungen, Roman
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Romy Schneider – Film für Film

romyRomy Schneider Film für Film: 63 Filme hat die im Alter von nur 44 Jahren verstorbene Romy Schneider in ihrem kurzen Leben gedreht. Die Liste der berühmten Regisseure (Luchino Visconti, Orson Welles, Andrzej Zulawski und immer wieder Claude Sautet, u.v.a.m.) mit denen sie zusammengearbeitet hat ist lang, auch die ihrer Filmpartner und berühmten Kollegen, obwohl sie wohl am liebsten mit Alain Delon gedreht hat. Der vorliegende prächtige Bildband zeichnet die Karriere der Femme fatale Film für Film noch und kann so wie ein Lexikon benutzt werden für Filmfreaks und Romy-Fans ebenso wie für einfache Cineasten. Isabelle Giordano zeichnet in ihren Film-Rezensionen, die reich illustriert sind, ein intimes Porträt der Schauspielerin und des Menschen Romy Schneider. Vor allem soll aber eine selbstbewusste Frau gezeigt werden, die zum Symbol ihrer Zeit wurde, denn sie prägte nicht nur das Bild von Generationen, sondern wurde auch zum Vorbild für die heranwachsende neue Generation von Frauen.

Chronologie Romy Schneider Film für Film

Chronologisch nach den Jahrzehnten ihres Wirkens geordnet beginnt die Zusammenstellung mit einem Film aus den Fünfzigern „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ und endet mit „Der Spaziergängerin von Sans-Souci“, ihrem letzten Film. Dazwischen liegen weitere 61 Filme, die sich mit unterschiedlichen Thematiken beschäftigen. Von den „Mädchenjahren einer Königin“ einmal abgesehen, stammt auch der verstörende Thriller „Nur die Sonne war Zeuge“ noch aus diesem ersten Jahrzehnt von Romys Schaffen. Spätestens ab den Sechzigern habe Romy Schneider die moderne Frau verkörpert, schreibt Giordano, die „sich befreien und ihr Schicksal selbst bestimmen wollten“. Ihre Persönlichkeit stehe für „eine Epoche, eine Generation und, noch tiefer reichend, für eine leidenschaftliche Suche nach Freiheit, einen Durst nach Anspruch und Perfektion“, so die Herausgeberin. Giordano sieht in ihr eine moderne Antigone, die wie einst die griechische Heldin laut und deutlich betone „Ich will alles!“

Romy und Alain am Pool

Der erste Film von Romy, der in den Sechzigern gedreht wurde, war „Die Sendung der Lysistrata“, allerdings fürs Fernsehen und nicht fürs große Kino. Aber „Lysistrata“ ist ein sehr politischer Film mit einem politischen Inhalt, geht es doch darum, dass sich die Frauen ihren Männern verweigern, um den Krieg zu verhindern. Der „Sexstreik“ steht somit am Beginn der Filmkarriere Romys in den wilden Sechzigern, in denen sie am Ende mit Alain Delon an einem Swimmingpool liegt und der Liebe frönt. „La piscine“ – so der Originaltitel von „Der Swimmingpool“ kam 1968 heraus und zeigt Romy in „voller sonnengebräunter und strahlender Schönheit“ zusammen mit Alain Delon in „katzenhafter Anschmigesamkteit (…) auf dem Höhepunkt ihrer Kunst und ihrer Verführungskraft“. Neugierige erfahren übrigens auch wo genau in Frankreich sich der Swimmingpool mit der dazugehörigen Villa befinden. Die einzigartige Atmosphäre des Films verdankt er wohl auch dem wirklichen Leben: Romy und Alain hatten ihre Beziehung schon hinter sich und wurden nun – durch die Drehareiten – zu echten Freunden. Aber das erotische Knistern zwischen den beiden ist vielleich gerade darauf zurückzuführen und – dass Romy schon Mutter geworden war.

Ein schöner Bildband mit einmaligen Szenen- und Standfotos, interessanten Geschichten zu den Dreharbeiten und viel Details über Romy. Die Journalistin und Kinoexpertin Isabelle Giordano zeichnet eine reich bebilderte Filmographie und ein intimes Portrait der großen Darstellerin, Bild für Bild von den Anfängen als Tochter des deutschen Vorzeige-Schauspielerpaars Magda Schneider und Wolf Albach-Retty über ihre ersten filmischen Ausflüge nach Frankreich (mit Alain Delon) und die Jahre der Hollywood-Produktionen bis zum Image der Grande Dame des französischen Films der 1970er Jahre und ihrem tragischen Ende in Paris.

Isabelle Giordano (Hg.)
Romy Schneider Film für Film
2017, Schirmer/Mosel, 256 Seiten,
206 Abbildungen in Farbe und Schwarzweiß.
Format: 24,5 x 28,5 cm, gebunden.
Deutsche Ausgabe.


Genre: Biographien, Biographien, Briefe, Dokumentation, Erinnerungen, Fotografie, Frauenliteratur, Kulturgeschichte, Memoiren, Reportagen
Illustrated by schirmer/mosel

Bonjour Tristesse

9783550081385_coverMit 18 Jahren veröffentlichte die Autorin die Erzählung “Bonjour, tristesse”, die auch heute, 50 Jahre später, für das Selbstbestimmungsrecht der Frau steht. Das Klima in den 50ern war gezeichnet von einer Gesellschaft, die die Frauen hasste, schreibt Sibylle Berg in ihrem lesenswerten Nachwort zu vorliegender Neuübersetzung. Obwohl Frauen zwei Drittel der Gesellschaft ausmachten, mussten Frauen die Erlaubnis des Ehemannes einholen, um arbeiten gehen zu dürfen, und dann auch nur als „Dazuverdienerin“. Emotional, passiv und sozial sollten sie sein, die Männer dafür leistungsorientiert, durchsetzungsfähig und aktiv, so Berg. Sagans Protagonistin, Cécile, war in diesem gesellschaftlichen Klima „ein progressiv-feministischer Beitrag zu einem Wandel des Frauenbildes“. „Bonjour tristesse ist eine Reminiszenz an eine Zeit des Aufbruchs“, schreibt Berg, „als man von einer besseren Zukunft träumte“.

Vom Pochen des eigenen Blutes

Ausgehend von einem Gedicht Paul Éluards mit demselben Titel, beschreibt die junge, 18-jährige Protagonistin Cécile das Leben mit ihrem Vater Raymond. Sie beschreibt die „Tristesse“ als über die Wehmut und das Bedauern, die Reue hinausgehendes Gefühl, das sie umschließe wie Seide, „zermürbend und weich, und mich trennt von den anderen“. Ähnlich wie ihr Vater erlebt auch Cécile unterschiedliche Liebesabenteuer, als sie ihre Lust erstmals entdeckt: „Bis heute weiß ich nicht, ob sich hinter dieser Lust an der Eroberung ein Übermaß an Vitalität verbirgt, oder ob es das Verlangen ist, Einfluss auszuüben, oder aber das verstohlene, uneingestandene Bedürfnis nach Selbstbestätigung, nach Bestärkung“, denkt sich Cécile über ihre Abenteuer und Sagan beschreibt ihr Leben mit wunderbaren sprachlichen Bildern. Da sind einmal „die Sandkörner zwischen meiner haut und meiner Bluse“, die sie vor dem „zärtlichen Ansturm des Schlafes“ schützten oder das Herz ihres Liebhabers Cyril, „das im Takt der Wellen schlug, die sich auf dem Sand brachen (…) ich hörte das Meeresrauschen nicht mehr, aber in meinen Ohren das schnelle, fortgesetzte Pochen meine eigenen Blutes“.

Bonjour, tristesse: Intrige und Lust

Im zweiten Teil des Romans verändert sich die Konstellation, denn ihr Vater will heiraten und Cécile fühlt sich von der neuen verdrängt und so spinnt sie ihre Intrige mit einer alten Liebhaberin ihres Vaters, um wieder zu ihrem Recht, die einzige für Raymond zu sein, zu können. Denn alle Liebhaberinnen ihres Vaters waren bisher vorübergehend, nur sie, Cécile, blieb immer bei ihm. Plötzlich ahnt Cécile „diesen ganzen herrlichen Mechanismus der menschlichen Reflexe, diese Macht des Wortes“, sie ahnt sie im Moment der Intrige und sieht darin – auch wenn sie diese Erfahrung auf dem Weg der Lüge machen musste – ihre eigene Zukunft: „Eines Tages würde ich jemanden leidenschaftlich lieben, und ich würde auf diese (Hervorhebung JW) Weise einen Weg zu ihm suchen, behutsam, mit Zartheit und zitternder Hand…“. Ein Manifest der Intrige als letzte Waffe der Frau zu ihrem Recht zu kommen? Heutige Feministinnen wären mit Francoise Sagans Romandebüt wohl weniger zufrieden, denn alle Frauen kreisen immer um Raymond. Auch Cécile. Aber damals begann mit diesem Roman die Befreiung. So die Legende.

Francoise Sagan
Bonjour Tristesse
Aus dem Französischen übersetzt von Rainer Moritz
Mit einem Nachwort von Sibylle Berg
Ullstein Verlag, Internationale Literatur Literarische Wiederentdeckung
Hardcover mit Schutzumschlag, 176 Seiten
ISBN-13 9783550081385


Genre: Erfahrungen, Erinnerungen, Frauenliteratur, Liebesroman, Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

In all den Jahren

In all den Jahren Elsa ist Schauspielerin und lebt in München. Untypisch für ihr Metier gehört sie eher zu den Schüchternen und wartet auf ihren großen Durchbruch – wo auch immer der herkommen soll. Solange hält sie sich mit Synchron-Sprechrollen über Wasser. Eines Tages lernt sie Finn kennen, ihren neuen Nachbarn und erfährt direkt mehr über ihn, als sie wissen will.

Denn bei diesem ersten Kennenlernen steht Finn so vor ihr, wie der Herr ihn schuf.  Finn ist Maler und die Muse küßt ihn halt in unbekleidetem Zustand eher. Meint er. Dummerweise hat er sich aber selbst ausgesperrt und so bleibt Elsa nichts übrig, als den nackten Finn in ihre Wohnung zu lassen und Rettung herbei zu telefonieren. Dieser ersten Begegnung folgen weitere und so langsam werden aus Nachbarn Freunde. Allerbeste Freunde. Die Sorte Freunde, denen man alles erzählt, mit denen man alles teilt, von denen man sich den Kopf halten lässt, wenn man sterbenselend über der Schüssel hängt und die auch über Nacht bleiben, wenn die Welt mal wieder gemein zu einem ist.

Diese Sorte Freunde werden Elsa und Finn, aber mehr ist da nicht. Weiß man doch, wie schnell Beziehungen kaputt gehen. Da bleibt man lieber bei der Freundschaft. Denn die ist für ewig. Und wenn der mittlerweile gemeinsame Freundeskreis noch so oft insistiert, die Beiden wären das perfekte Paar – Elsa und Finn bleiben in all den Jahren standhaft. Durchgehend. Naja, fast. (Einmal spielt auch ein anderes standhaft eine Rolle. Aber mehr soll hier nicht verraten werden.)

Barbara Leciejewski schildert das Auf und Ab dieser ungewöhnlichen Freundschaft über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten. Sie erzählt von gut 20 Jahren ganz normalem Leben und streift dabei ganz en passant Themen der Zeit. Historische Ereignisse und deren Auswirkungen auf einzelne Schicksale sind mit eingewoben, sie widmet sich Themen, mit denen sich sicher auch viele ihrer Leser im Laufe ihres Erwachsenenlebens auseinandersetzen müssen wie Pachtworkfamilien, Alzheimer und Pflege älterer Angehöriger. Dazu gibt sie Einblicke in das Künstlermilieu der bayerischen Metropole, dankenswerterweise nicht in die exaltierte Schicki-Micki-Bussi-hier-Bussi-dort Welt, sondern in die Welt der eher wirklich kreativ Schaffenden.

Ihre Figuren sind allesamt liebenswert mitsamt ihrer größeren und kleinen Macken und decken eine große Bandbreite ab. So ziemlich jeder wird wohl einen Charakter finden, mit dem er sich identifizieren kann.  Zugegeben – der Plot erinnert an einen der größten Kinoerfolge der Neunziger, keine Frage. Elsa und Finn sind sowas wie Harry und Sally für die hippe deutsche Stadtbevökerung des 21. Jahrhunderts, aber – ihre Geschichte macht Freude und warum nicht? Nach fast 20 Jahren kann dieses Thema ja ruhig mal wiederbelebt werden. Vor allem, wenn es so unterhaltsam und liebenswert gemacht ist.

Ein Buch wie eine Atempause

“In all den Jahren” ist ein Buch wie eine Atempause – endlich mal ein Gesellschaftsroman, der ohne hysterisches Rumgequake auskommt, der nicht alles bis ins Kleinste ausdiskutiert, sondern einfach erzählt.  Natürlich wird es ab und zu knapp vor kitschig, natürlich spielt die Autorin mit Klischees, das soll gar nicht verschwiegen werden. Aber sie tut es mit Stil und Herzenswärme. Die Charaktere sind allesamt liebevoll entwickelt, auch die in den Nebenrollen und nichts wird einfach in 08/15 Textbausteinen abgewickelt, wie man es sonst auch schon mal gerne bei Liebesromanen findet, die schnell aus der Feder geschüttelt werden, um eine Leser-Erwartung zu bedienen.

Wie die Autorin auf ihrer Webseite erzählt, hat sie in einigen Brot – und Butter Berufen gearbeitet, bevor sie sich entschloss, ihre Selbstzweifel zu ignorieren und auf ihr Herz zu hören, um Schriftstellerin zu werden. Mittlerweile sind 5 Bücher erschienen, einige erst Jahre nach Entstehung, das fünfte “Versuchen wir das Glück” gerade eben.  Ihre Bücher erscheinen sowohl gedruckt als auch in der Kindle-Edition, sind aber noch nicht so ganz dem Status Geheimtipp entwachsen. Aber hinter den Autorinnen, die in diesem Genre gefeiert werden, braucht Barbara Leciejewski sich meiner Meinung nach nicht zu verstecken. Ich habe In all den Jahren mit Bedauern ausgelesen und ganz ungerne den Freundeskreis um Elsa und Finn verlassen. Mir hat die Autorin ein paar schöne erholsame Stunden geschenkt. und dafür dürfte es sich doch schon gelohnt haben, Selbstzweifel über Bord zu werfen.


Genre: Gesellschaftsroman, Liebesroman, Romane
Illustrated by Acabus

Das Floß der Medusa

franzobel-1Mich fragt ja niemand

«Der Mensch ist zu allem fähig», so das nicht gerade verblüffende Fazit von Franzobels neuem Roman «Das Floß der Medusa». Franz Stefan Griebl, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, hat damit ein Kabinettstück geschaffen innerhalb seines breit gefächerten literarischen Œuvres, er thematisiert eine seit zweihundert Jahren weitgehend ignorierte Schiffskatastrophe, die in ihrer verstörenden Ungeheuerlichkeit ihresgleichen sucht. Der österreichische Autor hat die als Handlungsgerüst dienenden historischen Fakten fiktional sehr originell ergänzt und dabei allzu Splatterhaftes geschickt vermieden, seine nautische Geschichte hat mich streckenweise eher an «Der Seewolf» und Ähnliches erinnert, nicht an Horror. Es ist sein überbordendes Erzähltalent, das den dafür empfänglichen Leser derart in Bann zieht, dass er die viehischen und am Ende sogar kannibalischen Szenen als ganz normal empfindet innerhalb der spannenden Geschichte. Spannend deshalb, weil man zwar weiß, wie es ausgeht, aber nicht, wie genau es denn dazu gekommen ist. Und mit seinem Figurenensemble gibt er der Historie ein Gesicht, personifiziert er das unglaubliche Geschehen und schafft damit reichlich Raum für Emotionen.

1816 war die französische Fregatte «Medusa» mit 400 Menschen an Bord auf eine Sandbank gelaufen. Das Schiff musste aufgegeben werden, die vorhandenen Rettungsboote reichten nicht aus für alle Passagiere und die Mannschaft, 147 Menschen konnten sich nur auf ein aus Holzteilen der Fregatte gebautes Floß retten, das aber wegen der Meeresströmung nicht wie geplant in Schlepp genommen werden konnte, man überließ es schließlich kurzerhand seinem Schicksal. Nur 15 Schiffbrüchige hatten überlebt, als das manövrierunfähige Floß nach 13 Tagen gefunden wurde, und von denen starben bald darauf dann noch mal fünf.

Mit viel Recherchearbeit hat der Autor das tragische Geschehen detailliert und plausibel beschrieben, es dramaturgisch überformt und seinen oft grotesken Figuren Leben eingehaucht, wobei er ebenso kreativ wie nonchalant Anleihen beim Film nimmt und einzelne seiner Charaktere mit Schauspielern wie Alain Delon oder Lino Ventura typisiert. Oft hat er für mein Empfinden allerdings zu dick aufgetragen, denn bis auf einige Wenige ist sein Personal weder physisch noch psychisch als Sympathieträger angelegt. Es sind zumeist rohe, gemeine, gefühllose, rabiate Mannsbilder, die auch körperlich abstoßend wirken, die hässlich sind mit allerlei Handicaps. Was übrigens auch für die wenigen Frauen an Bord gilt, denn selbst die wunderschöne Tochter des Gouverneurs ist durch ein großes Feuermal im Gesicht abstoßend entstellt.

Franzobel entlarvt mit viel Gespür für das Skurrile lächerliche Hierarchien, barbarische Rituale der christlichen Seefahrt, rücksichtslose politische Ränkespiele, groteskes Unvermögen, er weist auf menschliches Elend hin, vor allem aber auf den rasanten moralischen Verfall in existentiellen Ausnahmesituationen. In seiner monströsen Geschichte erzählt er, wie seine Schiffbrüchigen den eigenen Urin trinken, gierig das Fleisch der täglich neu anfallenden Leichen verschlingen, ohne Skrupel Schwache und Verletzte umbringen, die kaum eine Überlebenschance haben, um dadurch selbst mit den wenigen Vorräten noch so lange leben zu können, bis womöglich Rettung kommt. All das ist temporeich erzählt, mit ständigen Perspektivwechseln, direkter und erlebter Rede, kursiv gesetzten Bewusstseinsströmen, Geisterreden und kassandrahaft mystischem Raunen der Fregatte selbst. «Nichts für frankophile, Rotwein trinkende, Käse degustierende Modefuzzis» schreibt Franzobel im einleitenden Kapitel über seine potentiellen Leser. Zugegeben, ich hätte den Roman seiner Thematik wegen bestimmt nicht gelesen, wäre er nicht unter den Buchpreis-Finalisten, die ich mir nun mal vorgenommen hatte, alle zu lesen. Und siehe da, jetzt nach der Lektüre dieser sechs Romane würde ich Franzobel den Preis zuerkennen und nicht Robert Menasse, – aber mich fragt ja niemand!

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Zsolnay Wien

Paradox. Am Abgrund der Ewigkeit

35D95D6D-1967-48D0-9D0A-E85F4EE5B4FEWas macht gute Unterhaltungsliteratur aus? Neben den Aspekten Sprache, Stil, Ästhetik sowie der Kraft, Bilder im Kopf des Lesers zu erzeugen, ihn zu fesseln und zu binden, spielt der Aspekt des Lernens und der Öffnung des eigenen Denkhorizonts ein wichtige Rolle. Gerade in dieser Hinsicht bietet der völlig zu Recht mit dem Kindle Storyteller Award ausgezeichnete Roman „Paradox“ ein Beispiel. Weiterlesen


Genre: Science-fiction, Self-Publisher
Illustrated by Bastei Lübbe

Außer sich

salzmann-1Пошёл ты!

Die bisher als Dramatikerin bekannte Sasha Marianna Salzmann hat es mit «Außer sich» auf Anhieb ins Finale des Deutschen Buchpreises geschafft, «Ein Debütroman mit großer sprachlicher und dramaturgischer Kraft» hat die Frankfurter Jury ihre Wahl begründet. Begonnen hat die in Wolgograd geborene und 1995 als Zehnjährige mit ihren jüdischen Eltern nach Deutschland emigrierte Schriftstellerin ihren ersten Roman während eines Stipendiums in Istanbul. Die türkische Metropole dient hier als exotischer Schauplatz ihrer Geschichte einer sehr rigorosen Selbstfindung.

Die Zwillinge Alissa und Anton wachsen fast schon symbiotisch aneinanderhängend in prekären Verhältnissen in Moskau auf, sie landen nach der Ausreise zunächst in einem Asylantenheim tief in der deutschen Provinz. Den Eltern gelingt aber ein bescheidener Aufstieg, Alissa beginnt sogar ein Mathematik-Studium in Berlin, das sie dann bald wieder abbricht, weil es sie zu stark am Boxtraining hindert (sic!). Als Anton spurlos verschwindet und nach geraumer Zeit eine Postkarte ohne Text und Absender aus Istanbul eintrifft, beschließt Alissa, ihn dort zu suchen. Dieses Handlungsgerüst dient der Autorin in ihrem vier Generationen umfassenden Epos einer von den politischen Umbrüchen Europas gebeutelten Familie als Basis für weit ausholende Rückblicke auf das Leben der Eltern und Großeltern Alissas. Die Intensität und Schonungslosigkeit dieser familiären Nabelschau auf der einen Seite, die kompromisslose, keine Grenzen kennende Suche nach sich selbst, nach dem Sinn hinter alldem auf der anderen Seite, gerät der Autorin zu einem ebenso verstörenden wie tabulosen Seelenstriptease Alissas.

«Ich bin nicht wie du», sagt sie einmal zu ihrer Mutter, «ich bin kein Tier, das vor sich hin grast und alles hinnimmt, wie es kommt. Ich will nichts von diesem Leben, in dem es alles gibt, aber niemand etwas will. Ich will nichts von diesem Schnickschnack, den ihr für die Erfüllung eures Lebens haltet, weil ihr sonst nichts habt, woran ihr glauben könnt.» Mehr Kapitalismuskritik geht kaum, und so gleitet Alissa tief in ein Istanbuler Milieu ab, das kleinkriminell geprägt ist, eine Schwulen- und Transgender-Szene mit Drogen, Alkohol, Prostitution. Hedonisten unter den Lesern wird viel Geduld abverlangt bei den detailverliebten Schilderungen aus dem schmuddeligen gesellschaftlichen Untergrund, es wird geschwitzt, gestunken, gepisst, gekotzt, gefickt bei endlosen Streifzügen durch vermüllte Abbruchhäuser und Kellerlöcher, die mit verwanzten, verdreckten Matratzen und ohne auch nur minimalistische Hygiene der Heldin als jederzeit von Auflösung bedrohte, improvisierte Bleibe dienen. Und die anarchische Alissa hadert letztendlich auch mit ihrem Geschlecht, sie versucht wie viele in der Szene mit Testosteronspritzen ihren rein körperlichen Sexus dem innerlichen, gefühlten anzugleichen.

Aus Sicht Alissas – mal in der ersten, mal in der dritten Person – erzählt die Autorin ihre Geschichte in einer klaren, unprätentiösen Sprache, teilweise aus einiger Distanz und dann auch wieder sehr nahe bei ihrer Protagonistin. Neben dem im Russischen scheinbar unvermeidlichen Namenswirrwarr, bei dem hier eine vorangestellte Personenliste allerdings darüber aufklärt, dass Etja, Etina und Etinka oder Katho, Katharina und Katüscha jeweils die gleiche Person meint, haben mich die häufigen kyrillischen Einsprengseln irritiert, die fast alle ohne Übersetzung bleiben. Bis auf «verpiss dich!», für das ich dann auf Russisch im Internet eine andere Formulierung fand als im Buch, «Пошёл ты!» nämlich. Was soll das also! Besonders gefallen haben mir die anschaulich erzählten Kapitel über die russischen Großeltern, die ein wenig über Alissas unappetitliche Abenteuer in der Transgender-Szene Istanbuls hinwegtrösten, bei denen mir öfter mal unwillkürlich etwas ähnliches wie Пошёл ты herausgerutscht ist. Ein sperriger Roman also, rätselhaft, hoch komprimiert erzählt zudem, der weitab vom Mainstream angesiedelt ist.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Die Hauptstadt

menasse-1Brüssel oder Auschwitz

Neueste in der langen Reihe von Ehrungen für den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse ist der ihm vor drei Tagen verliehene Preis der Frankfurter Buchmesse für den Roman «Die Hauptstadt». Er hat damit den weltweit ersten EU-Roman veröffentlicht, ein Panorama der europäischen Eliten, eine Farce aber auch über die Brüsseler Verhältnisse abseits der Blitzlichtgewitter und rituellen Statements von Spitzenpolitikern, wie man sie aus den Medien kennt. Der europa-politisch engagierte Autor, der sich schon vielfach in Essays und Traktaten mit der europäischen Idee beschäftigt hat, greift hier mit dem Moloch der Brüsseler Bürokratie ein literarisches Thema auf, das in dem schwierigen Fahrwasser, in dem sich die EU derzeit befindet, manchem allein von der guten Absicht her schon preiswürdig erscheinen mag.

«Da läuft ein Schwein». Mit dem ungewöhnlichen Rahmenmotiv eines durch Brüssel irrlichternden Borstenviehs, das im Roman immer wieder mal kurz auftaucht, beginnt Menasse seinen Prolog, sicherlich auch in Hinblick auf die allfälligen Konnotationen. Und wie man bald erfährt, stammt eine seiner Figuren von der EU-Kommission prompt aus dem agrarischen Milieu, sein Bruder betreibt einen Schweinemastbetrieb und ist als Lobbyist in Brüssel aktiv, um von dem gewaltigen Agrar-Etat der Gemeinschaft möglichst viel zu ergattern. Vergleichsweise winzig sind dagegen die Gelder, die Fenia Xenopoulou von der Generaldirektion Kultur zu Verfügung stehen. Sie hat den schwierigen Auftrag, das arg ramponierte Image der Kommission mit einer Feier zu ihrem fünfzigjährigen Bestehen aufzupolieren, – Musils «Parallelaktion» als literarisches Vorbild also! Und sie gewinnt Gefallen an der Idee, dafür Auschwitz heranzuziehen, den Fokus der Gemeinschaft also weg vom kleinteilig Ökonomischen auf das universal Moralische, auf das historische Grauen zu richten, das die Gründungsväter Europas mit ihrem Zusammenrücken ein für alle Mal politisch bannen wollten, nach dem Motto: Nie wieder!

In diversen, fragmentarisch erzählten Handlungssträngen entwickelt Menasse das anschauliche Bild eines engen Geflechts von karrieregeilen Akteuren, die mit- und gegeneinander arbeitend in Think-Tanks nach kreativen Lösungen suchen für die geplante Feier, – oder sie, im Hintergrund und mit geschickten Winkelzügen, schnöde hintertreiben. Der nach außen hin erratische Block der Kommission wird hier zum lebendigen Organismus europäischer Eliten, in dem der Einzelne als das berühmte Rädchen im Getriebe fungiert, sich damit für ein großes Ganzes engagierend. Das im Roman verwendete Insider-Kauderwelsch ist allerdings sehr gewöhnungsbedürftig für den Leser, und die vielen fremdsprachigen Textschnipsel sind ebenfalls nicht gerade leserfreundlich.

Der Plot ist mit einem Mordfall angereichert, dessen spurlose Tilgung aus allen Akten und Datenbanken auf die große Politik hinweist, die Nato ist im Spiel, und da ist alles möglich, es gibt schließlich ja auch noch eine supranationale, vatikanische Killertruppe. Eine der Figuren kommt bei dem Attentat im U-Bahnhof Maelbeek (sic!) ums Leben, und der emeritierte Professor aus einer Nazi-Familie fordert gar in seiner Einführungsrede die Gründung einer neuen europäischen Hauptstadt auf dem Boden von Auschwitz als symbolträchtigem Standort. Das Schwein aber erscheint plötzlich als Hirngespinst einiger überspannter Bewohner Brüssels, das Boulevardblatt lässt ihre hysterisch aufgeblähte Serie daraufhin sang und klanglos in der Versenkung verschwinden. Menasse erzählt seine vielschichtige, zuweilen tief in die Vergangenheit zurückgreifende, turbulente Geschichte durchaus ironisch, er verbindet dabei gekonnt ziemlich disparate Themen miteinander, wobei mir seine überwiegend männlichen Figuren jedoch arg überzeichnet vorkommen. Der große Wurf ist dieser Roman literarisch bestimmt nicht, Buchpreis hin oder her, aber er erweitert den Horizont und ist zudem unterhaltsam, mithin also durchaus bestsellertauglich.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main