An einem Tag wie diesem

Der Mann ohne Leidenschaften

Mit seinem 2006 erschienenen dritten Roman «An einem Tag wie diesem» hat der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm ein Werk geschaffen, das Kritiker und Leser mit seiner stilistisch zurück genommenen, verhaltenen Erzählweise ziemlich irritiert hat. Diese sprachliche Reduktion diene dazu, hat der Autor erklärt, die narrativ heraufbeschworenen Bilder realer erscheinen zu lassen, aber auch der Inhalt einer Geschichte dürfe keinesfalls von deren erzählerischer Qualität ablenken. Wirklich?

Andreas, aus einem Schweizer Dorf stammend, ein Junggeselle Anfang vierzig, der seit achtzehn Jahren in Paris als Deutschlehrer arbeitet, ist der Protagonist dieser Geschichte. Die Freude an seinem Beruf hat er allmählich verloren, Paris ist ihm fremd geblieben, er ist bindungsunfähig, äußerst genügsam und lebt so vor sich hin, ein monotones, ereignisarmes, zielloses Leben. Seine zwei Geliebten trifft er regelmäßig jeweils an einem Jour fixe, wobei diese Beziehungen rein sexueller Natur sind, er behandelt die Frauen recht lieblos. Als sein Arzt mit ihm über das Untersuchungsergebnis einer Gewebeprobe sprechen will, verlässt er kurz entschlossen das Wartezimmer. Der starke Raucher fürchtet sich vor der Diagnose, er beschließt resigniert eine Zäsur, will aus seinem bisherigen Leben ausbrechen. Spontan kündigt er in seiner Schule, löst seinen Haushalt auf, verkauft seine kleine Eigentumswohnung, – vom Erlös wird er einige Jahre lang leben können. Und er legt sich einen alten Citroen 2CV zu, das Auto seiner Jugendtage. Als er im Lehrerzimmer seine Sachen zusammenpackt, lernt er die junge Praktikantin Delphine kennen, die sich spontan in ihn verliebt und ihn auf seiner geplanten Autotour begleiten will. Was folgt ist eine Reise in die Vergangenheit, magisch nämlich zieht es Andreas zu jenem Dorf hin, in dem er geboren wurde und wo seine Jugendliebe Fabienne immer noch lebt. Er hat ihr seine Liebe nie gestanden, und sie hat später dann seinen Freund geheiratet.

Trotz der minimalistischen Erzählweise mit kurzen Hauptsätzen, adjektivarm, metaphernlos, uninspiriert, zieht die Geschichte ihre Leser mit, kommt trotz aller Vorhersehbarkeit so etwas wie Spannung auf, man will wissen, wo dieser Selbstfindungstrip letztendlich hinführen soll. Über dem Geschehen liegt eine apathische Stimmung, alles was geschieht ist belanglos und undramatisch. Der Held bleibt dem Leser im besten Falle gleichgültig in seiner emotionslosen Lethargie, die er selbst als Bescheidenheit bezeichnet, er ist und bleibt Unsympath bis zum eher kitschigen Ende. Völlig unplausibel aber ist, wie denn ein derart blutleerer Typ, teilnahmslos, ohne erkennbare Leidenschaft oder gar sexuelle Gier, die Frauen so scheinbar mühelos erobern kann. Selbst seine Traumfrau Fabienne lässt sich mal eben zwischendurch auf einer hölzernen Aussichtsplattform von ihm vernaschen, – das erste und das letzte Mal zugleich, ihre Ehe steht nicht zur Disposition, sie ist glücklich verheiratet. Und Delphine, die er ungerührt fortgeschickt hat, lächelt ihn beim kinoartigen Showdown mit Sonnenuntergang am Meer glücklich an, als er, ihr nachreisend, sie auf einem Campingplatz wieder findet, – und auch seinen Arzt will er nun endlich mal anrufen!

Sinnverlust, Burnout, Midlifecrisis, die Panik vor einem unerfüllten oder gar ungelebten Leben ist zweifellos ein ergiebiges und hoch interessantes literarisches Thema. So ist dem Roman denn auch ein Zitat von Georges Perec vorangestellt: «Es ist ein Tag wie dieser hier, ein wenig später, ein wenig früher, an dem alles neu beginnt, an dem alles beginnt, an dem alles weitergeht». Ein berühmter Lebensverweigerer in der Literatur ist auch der Ulrich in Musils Roman «Der Mann ohne Eigenschaften», wo der Held an der schieren Überfülle von Möglichkeiten scheitert. Leidenschaft allerdings, die in Peter Stamms Roman nicht mal ansatzweise vorkommt, kann man dem Ulrich nicht absprechen, seine Liebe zur Schwester gipfelt schließlich im Inzest.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by S. Fischer

Das siebte Kreuz

Triumph über das Böse

«Dieses Buch ist den toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands gewidmet» heißt es vorab in «Das siebte Kreuz», dem zweifellos bedeutendsten Werk der deutschsprachigen Exilliteratur, geschrieben von Mai 1938 bis Spätsommer 1939 von der jüdische Schriftstellerin Netty Reiling unter dem Pseudonym Anna Seghers. Der Roman ist 1942 in Mexiko auf Deutsch erschienen, war dann sehr schnell in den USA ein Riesenerfolg und wurde schon zwei Jahre später in Hollywood verfilmt, ehe er nach dem Krieg auch in Deutschland einen wahren Hype auslöste, er ist bis heute Schullektüre. Die spannende Geschichte war als Beitrag im Kampf gegen den Nationalsozialismus gedacht, Anna Seghers äußerte sich dazu: «Eine Fabel also, die Gelegenheit gibt, durch die Schicksale eines einzelnen Mannes sehr viele Schichten des faschistischen Deutschlands kennen zu lernen». Wobei die von der Nazidiktatur verursachten Risse und Brüche nicht nur quer durch die Gesellschaft, sondern auch quer durch die Familien gehen. 2018 wurde für das jährlich stattfindende Lesefest «Frankfurt liest ein Buch» dieser Roman ausgewählt, was eindrucksvoll belegt, wie aktuell diese Lektüre noch, – oder vielleicht auch gerade wieder, ist!

Aus dem Konzentrationslager Westhofen nahe Worms brechen sieben Häftlinge aus, von denen drei sehr schnell, zwei andere nach wenigen Tagen gefasst werden, einer stellt sich schließlich freiwillig. Der wütende, weil ziemlich blamiert dastehende Lagerkommandant lässt zur Abschreckung auf dem Hof an sieben entkronten Platanen ein Brett so annageln, dass ein Kreuz entsteht, an das die inzwischen gefassten Ausbrecher beim täglichen Appell vor den versammelten Lagerinsassen angebunden werden. Eines dieser Kreuze aber bleibt leer. Denn Georg Heisler, ein ehemaliger Kommunist, den seine Flucht über Worms bis nach Mainz und Frankfurt führt, kann sich der Verhaftung mit Hilfe von Freunden oder gut meinenden Fremden immer wieder entziehen. Von einem älteren Ausbrecher hat er während der Vorbereitung viele wertvolle Tipps und Verhaltensmaßregeln bekommen für das unauffällige Untertauchen in der Menge. Mehr soll hier aber nicht ausgeplaudert werden, denn diese Fluchtgeschichte ist wirklich spannend, ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen bis zum Schluss.

Wichtiger als der fesselnde Plot aber ist der Blick auf das Alltagsleben während der Nazidiktatur vor dem Zweite Weltkrieg. In dem aus mehr als dreißig Figuren bestehenden Ensemble stehen zunächst die Ausbrecher im Vordergrund, neben Heisler als mutiger Protagonist ein ehemaliger Reichstagsabgeordneter der KPD, ein Trapezkünstler, ein ehemaliger kommunistischer Bürgermeister, ein wohlhabender Kaufmann, dessen Spenden an die falsche Seite geflossen sind, ferner Menschen aus allen soziologischen Schichten und mit den unterschiedlichsten politischen Gesinnungen, also auch die KZ-Wachmannschaften und Kriminalbeamten. Der Geflüchtete versucht äußerst vorsichtig, Kontakt zu ehemaligen Freunden, Arbeitskollegen, politischen Wegbegleitern, zur verlassenen Frau und zu seiner Geliebten aufzunehmen, wobei er – durchaus berechtigt – immer wieder fürchtet, seine Häscher würden alle möglichen Kontaktpersonen lückenlos überwachen. Neben viel Ablehnung stößt er auch unerwartet auf gutwillige Fremde während seiner siebentägigen Flucht, wie den jüdischen Arzt zum Beispiel, der ohne Fragen zu stellen seine verletzte Hand verbindet, – und auch der Zufall spielt natürlich eine Rolle.

Anna Seghers wollte ganz offensichtlich mit ihrem Roman zeigen, dass die Nazis nicht allmächtig sind, das siebte Kreuz also leer bleibt. Der Plot ist stimmig konstruiert, ihre in sieben Kapitel gegliederte Geschichte wird in mehreren Handlungssträngen chronologisch und in einer leicht verständlichen Sprache erzählt. Permanent lauert das Böse in dieser Geschichte, wobei etliche mythische, religiöse und historische Bezüge deutlich werden und die Moral letztendlich den Triumph über das Böse feiert.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Schneemann

Jo Nesbø zählt zu den bekanntesten Krimiautoren Norwegens. Die Krimis des 1960 geborenen Musikers und Autor stehen auch international auf den vordersten Plätze der Bestsellerlisten. »Schneemann« ist einer seiner Welterfolge, der von Hollywood nach Ansicht vieler Kritiker trotz der ausgezeichneten Romanvorlage missglückt verfilmt wurde. Weiterlesen


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Ullstein Berlin

Der Sommer ohne Männer

Mit intellektuellem Anspruch

Als Komödie hat Siri Hustvedt ihren Roman «Der Sommer ohne Männer» bezeichnet, er markiert zugleich einen Perspektivwechsel der amerikanischen Autorin, zu dem sie erklärt hat: «Ich habe zehn Jahre lang als Mann geschrieben, ich dachte, es sei jetzt Zeit, wieder als Frau zu schreiben». Zudem scheint der Stoff ja auch geradezu klischeehaft vorgeprägt zu sein, «Mann verlässt Frau», das wird in der Literatur regelmäßig aus weiblicher Sicht erzählt, meistens von Autorinnen. Gibt es denn da noch etwas Neues zu erzählen, ist denn diese archetypische, geradezu banale Konstellation in Frauenromanen nicht schon bis zum Überdruss thematisiert worden?

Boris, hoch angesehener Neurowissenschaftler in New York, hat seiner Frau Mia, einer erfolgreichen Dichterin, mit der er seit dreißig Jahre verheiratet ist, in ihrer kriselnden Ehe eine Pause vorgeschlagen. Die «Pause» stellt sich als seine vollbusige, zwanzig Jahre jüngere, französische Laborassistentin heraus. Mia dreht völlig durch und landet für anderthalb Wochen in der Psychiatrie, ehe sie anschließend, – als Reha quasi -, für einen Sommer in ein Provinznest nach Minnesota geht, wo ihre neunzigjährige, noch ziemlich aktive Mutter in einem Heim wohnt. Außerdem ist sie auch engagiert worden, im Kulturzentrum des Ortes einen Poesiekurs für Jugendliche zu veranstalten. Innerhalb dieses Handlungsgerüsts berichtet die Ich-Erzählerin Mia über ihre Verzweiflung, verarbeitet ihre Kränkung, versucht zu begreifen, warum es gekommen ist, wie es kam, rekapituliert ihr Leben bis zurück in die Kindheit.

Hustvedt installiert in ihrem männerlosen Roman zwei Frauengruppen, die beide künstlerisch geprägt sind und Mia in ihrem mentalen Chaos Halt geben. Da sind zunächst die von ihr nur als die «Fünf Schwäne» bezeichneten, hoch betagten Freundinnen der Mutter im Altersheim, aber auch die Jugend ist vertreten durch die sieben Mädchen ihrer Poesiegruppe. Und die Nachbarfamilie mit zwei kleinen Kindern sorgt ebenfalls für Trubel, der Mia ablenkt von ihren sinnlosen Grübeleien. Sie schreibt Gedichte, notiert außerdem mancherlei in einem erotischen Tagebuch und führt, zunächst unfreiwillig, eine Email-Korrespondenz mit einem hartnäckigen Stalker, die sich mit der Zeit zu einem geistreichen Gedankenaustausch entwickelt. Der vordergründig banale Plot erhält durch die ausschließlich auf Frauen fokussierte Thematik eine über den Frauenroman hinausreichende Bedeutung, stimmig werden hier die Beziehungen des weiblichen Geschlechts untereinander dargestellt, jung und alt, Mutter und Tochter, Geliebte und Ehefrau, Freundin und Rivalin, – ein Macho würde von latentem Zickenkrieg sprechen. Mit bewundernswertem Scharfsinn zeigt die Autorin geradezu analytisch das komplizierte psychologische Geflecht innerhalb der beiden Gruppen auf, demaskiert kritisch Falschheit, Mobbing, Eifersucht in den femininen Grabenkämpfen, die den Terminus «schwaches Geschlecht» ad absurdum führen.

Dieser Roman beinhaltet eine ernstzunehmende Recherche über die Möglichkeit lebenslanger Paarbeziehungen, – und über die Chancen einer Restitution. Mit ihrer Klassifizierung als Komödie hat Siri Hustvedt ihre Absicht verdeutlicht, zur Entkrampfung einer soziologischen Problematik beizutragen, die gleichermaßen brisant und omnipräsent ist. Weniger überzeugend als diese thematische Komponente ihres Romans ist die stilistische Umsetzung des Stoffs. Da wäre die besonders in der ersten Hälfte nervige Zergliederung der Geschichte in Erzählschnipsel zu nennen, die Langatmigkeit des Erzählens auch, wobei die Erzählerin, die sich öfter mal neckisch direkt an den Leser wendet, hier um Geduld bittet. Prosaleser wie mich nerven auch die eingestreuten lyrischen Ergüsse, lächerliche Wortakrobatik in meinen Augen, und mit den Strichzeichnungen konnte ich ebenfalls nichts anfangen. Gleichwohl, dieser Roman ist eine Rarität, ein Frauenroman nämlich mit intellektuellem Anspruch, nicht mehr und nicht weniger.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek

Der Stechlin

Ein literarisches Labsal

Nur wenige Wochen vor seinem Tode hat Theodor Fontane die Arbeit an dem Roman «Der Stechlin» beendet, ein Zeitroman nach eigenem Bekunden. Als typischer Vertreter des bürgerlichen Realismus hat er mit diesem 1898 erschienenen Buch ein literarisches Meisterwerk geschaffen, es wird als sein bedeutendster Roman angesehen. Und das, obwohl fast nichts geschieht darin! In einem Brief an seinen Verleger hatte er dazu geschrieben: «Zum Schluss stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, mit und in ihnen die Geschichte». Diese Art eines Plots in Form der Causerie ist hier auf die Spitze getrieben, Konversation vom Feinsten also, geistreich, wortgewaltig, amüsant, ein literarisches Labsal.

Protagonist des Romans ist der 66jährige Dubslav von Stechlin, Schlossherr in der Grafschaft Ruppin, ein Major a. D. und märkischer Junker, dessen Besitzung den gleichnamigen, von Legenden umwobenen See mit einschließt. Fontane charakterisiert seine Figur im Roman als «eines jener erquicklichen Originale, bei denen sich selbst die Schwächen in Vorzüge verwandeln». Dessen Lebensumstände beschreibt nun Fontane, indem er uns einen Besuch des Sohnes Woldemar, Rittmeister in Berlin, auf Schloss Stechlin schildert. Dabei wird auch das nahe gelegene Kloster Wutz besucht, dessen Domina des alten Stechlins ältere Schwester ist, eine sauertöpfische Pietistin. Über sie heißt es: «Wickelkinder, wenn sie sie sehen, werden unruhig, und wenn sie zärtlich wird, fangen sie an zu schreien». In Berlin schließlich wirbt Woldemar um die Tochter eines reichen Adeligen, in Stechlin scheitert derweil der Alte – ziemlich erleichtert übrigens – bei der Reichstagswahl als Kandidat der Konservativen. Woldemar wird als Repräsentant seines Regiments auf eine Mission nach England geschickt, verlobt sich nach der Rückkehr und reist schließlich mit seiner Verlobten zu Weihnachten nach Stechlin. Im Frühjahr dann findet die Hochzeit statt, und ausgerechnet während der mehrwöchigen Hochzeitsreise nach Italien erkrankt zuhause der Alte und stirbt wenig später.

Die Geschichte wird von einem auktorialen Erzähler – aus kritischer Distanz – chronologisch erzählt, sie umfasst einen Zeitraum von etwa einem Jahr, über die Jahre 1896/97 hinweg. Die Figuren sind wunderbar treffend, geradezu brillant charakterisiert, was sich in weiten Teilen insbesondere in herrlichen, vor Geist und Witz geradezu funkelnden Dialogen artikuliert, in einer fiktionalen, natürlich ironisch überhöhten Konversation. Und dabei ist speziell die Figur des alten Stechlin von einer tiefen Menschlichkeit geprägt, die Standesunterschiede zwar nicht negiert, im Umgang mit den einfachen Leuten aber von wohltuender Konzilianz ist. Was insbesondere auch für seinen treuen Diener Engelke gilt, der immerhin fünfzig Jahre mit ihm durchlebt hat. Gerade die altväterliche Sprache, in der diese Geschichte erzählt ist, macht den Reiz dieses vor mehr als 120 Jahren geschriebenen, großen Romans aus. Sie lässt die vielen markanten, oft skurrilen, aber fast immer auch sehr sympathischen Figuren vor des Lesers Augen lebendig werden, wobei das weibliche Gegenstück zu Dubslav die ältere Schwester der Braut ist, die ebenso geistreiche wie schöne Melusine, – was für ein Name!

Ich habe diesen Roman vor Jahren als Hörbuch kennen gelernt, unübertrefflich gelesen von Gert Westphal, und schon damals ging es mir so wie jetzt wieder bei der Lektüre: Ich fühlte mich so wohl wie die Katze auf der warmen Ofenbank, ich hätte schnurren können vor Behagen! Außer dem unterhaltsamen Wohlbehagen, das kaum ein anderer Roman derart verschwenderisch erzeugen kann, ist der Leser auch tief hineingezogen in die politischen Verhältnisse der damaligen Epoche, die Fontane bei all seiner offensichtlichen Sympathie für das ostelbische Junkertum hier auch gesellschaftskritisch beleuchtet. Ein Jahrhundertroman!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Der Leichenkünstler

Für Michael Stalzer ist die Familie das Wichtigste auf der Welt. Aber anders, als man vielleicht glauben mag. Er ist nicht der liebende Vater von zwei Kindern und Ehemann, wie alle annehmen. Viel mehr braucht er sie, um sein anderes Leben zu verheimlichen und um die Fassade aufrechtzuerhalten. Neben seiner Arbeit als Bestatter geht er seiner zweiten Berufung nach, und auch diese hat mit Leichen zu tun. Er ist ein Serienkiller und veröffentlicht als Leichenkünstler seine Werke im Darknet. Als der Privatdetektiv Karl Heinz Kellerer über die Ermittlungen zu einem anderen Fall mit Stalzers Kunst konfrontiert wird, begibt er sich auf die Suche nach ihm. Ihre Wege werden sich über kurz oder lang kreuzen, und es ist fraglich, ob diese Begegnung für beide glimpflich ausgehen wird.

Michael hat eigentlich alles: Er hat eine nette Frau, eine 14-jährige Tochter, einen 16-jährigen Sohn und besitzt ein erfolgreiches Bestattungsunternehmen in Duisburg. Nach außen hin das perfekte Leben, aber dieses Leben bedeutet ihm nichts und er führt es nur zur Tarnung. Seine wahre Berufung liegt im Umbringen von Prostituierten, aus denen er abscheuliche „Kunstwerke“ erschafft. Die Fotos und Videos von diesen Taten verkauft er dann lukrativ im Darknet.

»Der Leichenkünstler« ist das zweite Buch, das ich von Moe Teratos gelesen habe, und ich bin begeistert!

Was sich auf den ersten Blick nach einer plumpen Anhäufung von Metzeleien anhört, entwickelt sich nämlich zu einer wirklich richtig guten Geschichte mit einer ausführlichen Handlung und diversen Verkettungen/Verschachtelungen der einzelnen Handlungsstränge. Die Autorin hat sich wirklich Gedanken über die Handlung gemacht und keinesfalls nur eine blutrünstige Geschichte erschaffen.

Ich hatte schon mit recht viel Handlung gerechnet, denn das hatte mich bereits in ihrem Buch »Dort unten stirbst du!«  positiv überrascht. Aber mit so einer gut ausgeklügelten Geschichte hatte ich echt nicht gerechnet. Natürlich ist das Buch absolut nichts für schwache Nerven, die Geschichte ist hardcore und hat mir an manchen Stellen schon den Magen umgedreht. Aber das Buch ist keine Aneinanderreihung von sinnlosem Gemetzel, und das hat mir eben extrem gut gefallen.

Die Figur des Michael Stalzer wurde mit viel Herzblut geschaffen un.d obwohl er ein extrem kranker Serienkiller ist, so hat man ihn doch  irgendwie gern. Er ist höflich, freundlich, charmant, nutzt einen  geilen, schwarzen und trockenen Humor und trieft teilweise vor Sarkasmus, so dass ich an einigen Stellen laut lachen musste.

Die Geschichte wird abwechselnd aus der Ich-Erzählperspektive erzählt (ich liebe es!) und aus der Sicht des Privatdetektives Karl-Heinz. Auch diese Figur hat die Autorin mit Liebe zum Detail geschaffen.

Gefallen hat mir auch die Tatsache, dass Michael immer wieder mal von seiner Vergangenheit bzw Kindheit erzählt und man somit auch erfährt, warum er zum »Leichenkünstler« geworden ist. Auch darüber hat sich die Autorin Gedanken gemacht, denn auch auf dieses Thema wird ausführlich eingegangen.

Das Buch ist mit anderen Büchern, die einfach nur mit extremer Grausamkeit und literweise Blut schockieren wollen, nicht zu vergleichen, obwohl es streckenweise sehr metzelig ist. Die Autorin hat mit diesen Metzeleien aber nicht übertrieben und die perfekte, gut verteilte Dosis dafür gefunden.

Oftmals sind es gar nicht unbedingt die Beschreibungen der einzelnen Taten die einen schockieren, sondern einfach nur gut platzierte Sätze oder Äußerungen, die von Nebenfiguren im Darknet fallengelassen werden, die mir den Magen umdreht haben.

Ich könnte noch viel mehr über dieses Buch schreiben, denn ich bin wirklich begeistert. Aber man muss es einfach selbst lesen, um zu verstehen, dass es einfach anders ist und sich von anderen Splatter-Büchern stark unterscheidet. Ich habe viele extrem heftige Sachen gelesen, aber noch nie eine derart gelungene Kombination einer wirklich harten und kranken Geschichte und einer so guten, umfangreichen Handlung, so ausführlich sind die Personenzeichnungen  und Hintergrundinformationen …

Das Ende ist anders als erwartet bzw befürchtet und unterscheidet sich somit von den gängigen Splattergeschichten.

Leser, die es gern mal extrem krank und heftig mögen, oftmals aber eine gescheite Handlung vermissen, sollten dieses Buch  lesen. Alle anderen sollten von diesem Buch die Finger lassen.


Genre: Thriller
Illustrated by Independently published

Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens

Wenn Mauern sprechen könnten

Wer wie die junge deutsche Schriftstellerin Juliana Kálnay einen surrealistischen Debütroman vorlegt, geschrieben unter Hintanstellung so ziemlich aller narrativen Usancen, dem ist die Aufmerksamkeit einer kleinen, vom Mainstream übersättigten Leserschaft gewiss. Denn schon der Titel «Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens» macht ja neugierig, das Feuilleton zudem war ziemlich beeindruckt, alles Indizien dafür, die Lektüre könnte sich lohnen.

Ein vierstöckiges Mietshaus, von dem wir nur wissen, dass es die 29 als Hausnummer trägt, verkörpert das stilistische Ordnungsprinzip einer Sammlung von Prosaminiaturen, für die es außerdem auch als Stein gewordener, erzählerischer Kulminationspunkt dient. Im ersten Kapitel erfahren wir unter der Überschrift «Prolog einer Bewohnerin», das Rita an dem Tage geboren wurde, an dem ihre Eltern in dieses Haus gezogen sind. «Manch einer hat Dinge erlebt in diesem Haus, die andere vielleicht als ungewöhnlich betrachten würden», erzählt sie uns als eine der Erzählstimmen, als jemand, der «schon immer hier war», und in der Tat fungiert sie als eine Art ideelle Hauswartsfrau, die (fast) alles weiß, was Haus 29 betrifft.

Das hier zum Roman mutierte Skizzenbuch der Autorin ist ein Füllhorn surrealer Prosaschnipsel, die lose miteinander verbunden Phantastisches erzählen über das Geschehen in einem magischen Gebäude. In diesem Roman des Verschwindens ist Maia als erste verschwunden, wie ein Maulwurf hatte sie sich immer Löcher gegraben und darin versteckt, man musste oft nach ihr suchen, – diesmal allerdings taucht sie nicht wieder auf. Und Don verschwindet ebenfalls, er verwandelt sich nämlich ganz langsam in einen Baum, den seine Frau Lina irgendwann heimlich in einen Topf einpflanzt und auf den Balkon stellt, wo er prächtig gedeiht. Wo er Früchte hervorbringt, die sie einkocht, wo er Blätter abwirft, die sie als Füllung für ihre Bettbezüge benutzt, an den sie sich immer wieder liebevoll anschmiegt, mit dem sie sogar beglückenden Sex hat. Ein anderes Kind frisst immer wieder Löcher in die steinernen Wände und verschwindet schließlich für immer durch ein großes Loch in der Außenwand. Ein Mitbewohner richtet es sich im Fahrstuhl häuslich ein, er wohnt dort zufrieden auf engstem Raum, – zum Waschen darf er das Bad eines anderen Bewohners mitbenutzen. Zu diesem Panoptikum skurriler Figuren gehört auch der Fotograf im Souterrain, der mit seiner Familie in völliger Dunkelheit wohnt und von niemandem je gesehen wurde, die Besitzerin eines Aquariums außerdem, deren Goldfische immer wieder selbstmörderisch zu ihr ins Bett springen, oder auch die Zwillinge, von denen niemand weiß, ob es wirklich zwei sind oder doch nur einer. Die Gruppe der Kinder macht ständig hinter dem Haus ein großes Grillfeuer, sie bringen sich immer wieder trophäengleich Brandwunden bei. Und dann gibt es noch eine Gruppe besonderer Mitbewohner: «Die chronisch Schlaflosen haben einen Pakt. Sie zählen hundert Augen, sind leise und werden ungemütlich, wenn es sein muss. Selten schlafen sie ein, und sobald es dunkel wird, steht mindestens einer von ihnen am Türspion, ein anderer auf dem Balkon».

Das Vorstellungsvermögen der Leser wird ziemlich auf die Probe gestellt in diesem surrealen Roman, in dem sehr oft das Licht ausgeht als unheilvolle Metapher. Seine mit blühender Fantasie beschriebenen Schattenwesen lassen die Grenzen zwischen Mensch, Tier, Pflanze und unbelebter Natur, – hier also dem Haus 29 -, weitgehend verschwinden. Mit fein durchschimmernder Ironie eröffnet die Autorin weite Assoziationsräume für ihre rätselhaften Phänomene. Konventionell orientierte Leser werden sich mit Grausen abwenden, das Buch als Vexierbild verdammen, experimentierfreudige werden es als allfällige literarische Horizonterweiterung freudig goutieren. «Wenn Mauern sprechen könnten», diese Vorstellung hatte ja doch schon immer einen unwiderstehlichen Reiz, – hier scheinen sie es tatsächlich zu können!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Der Lärm der Zeit

Mit einem Bild, das haften bleibt, charakterisiert Autor Julian Barnes seinen Titelhelden Schostakowitsch: Der weltberühmte Komponist wartet im Mantel auf gepackten Koffern vor seiner Wohnungstür darauf, dass ihn Stalins Geheimdienst abholt und in das »Hohe Haus« verschleppt, aus dem es kein Entrinnen gab. Der Musiker will seiner Familie den Schrecken des Eindringens grober Geheimpolizisten in seine Privatsphäre ersparen, darum sitzt er innerlich zitternd vor der Wohnung in Positur und wird letztlich doch nicht abtransportiert. Weiterlesen


Genre: Biographien, Zeitgeschichte
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Bis zum letzten Tropfen

Lynn lebt in einer Welt, in der nichts mehr selbstverständlich ist. Auf einer einsamen Farm kämpft sie mit ihrer Mutter ums Überleben. Der einzige Luxus, der ihnen nach dem Zusammenbruch der Zivilisation geblieben ist ein Teich hinter dem Haus und damit der Zugang zu sauberem Trinkwasser. Doch als ihre Mutter verletzt wird, ahnt Lynn, dass sie den Teich allein nicht vor Eindringlingen schützen kann. Sie muss das Undenkbare tun: die sichere Farm verlassen und Hilfe holen.

 

 

Mal wieder ein Buch, bei dem der Klappentext doch ziemlich vom tatsächlichen Inhalt abweicht.

Lynn ist 16 Jahre alt und in einer Welt geboren und aufgewachsen, die schon vor längerer Zeit aus den Fugen geraten ist. Wann genau die Geschichte spielt, wird nicht erwähnt, aber ich vermute, um das Jahr 2050, jedenfalls in einer nicht allzu fernen Zukunft. Zuerst wurde das Öl knapp, es gab deshalb zwei Kriege, und dann fehlte das Trinkwasser.

Lynn hat im verlassenen Ohio nie etwas anderes kennengelernt als die alte Farm und hatte, bis auf ihre Mutter, nie Kontakt zu anderen Menschen. Ihre Mutter hat ihr alles Überlebensnotwendige, wie z.b Feuer machen, Gemüse anbauen und einkochen, Wasser reinigen und vor allem das Schießen beigebracht. Menschliche Werte, Mitgefühl oder Anteilnahme hat sie ihr allerdings nicht vermittelt.

Freizeit oder Spaß kennt das Mädchen nicht, denn das Leben ist hart und wenn sie nicht Feuerholz sammelt, Wasser reinigt oder sich um das Gemüse kümmert, dann hockt Lynn stundenlang mit dem Gewehr auf dem Dach, um den Teich vor durchreisenden Fremden zu verteidigen, die sie ohne zu zögern schon aus der Ferne erschießt.

Direkt am Anfang der Geschichte wird Lynns Mutter aber schwer verletzt und stirbt an ihren Verletzungen, so dass Lynn ganz alleine ist. Eher ungewollt kommt sie mit ihrem einzigen, entfernt wohnenden Nachbarn in Kontakt, freundet sich ganz langsam und vorsichtig ein wenig mit ihm an. Die beiden müssen feststellen, dass sich auch in ihrer unmittelbaren Umgebung ein paar andere Leute niedergelassen haben die eventuell zur Bedrohung werden könnten …

Im Gegensatz zum Klappentext verlässt Lynn die Farm nicht, fast die komplette Geschichte spielt sich eigentlich auf der Farm ab. Es geht in diesem Buch auch nicht um große Abenteuer oder Kämpfe, sondern eher um die kleinen Dinge. Es geht um ein isoliert aufgewachsenes Mädchen in einer zerfallenen Welt, das lernt, was Zusammenhalt, Mitgefühl und Freundschaft bedeuten. Eigentlich passiert in der kompletten Geschichte nicht allzu viel und ich denke, dass das Buch vielen deshalb auch langweilig sein könnte. Mir hat es aber sehr gut gefallen, man muss aber schon ein richtiger Endzeitfan sein, um es zu mögen. Die Geschichte ist mit Liebe und Herzblut geschrieben und man bekommt schnell eine enge Bindung zu den Figuren.

Gegen Ende nimmt die Geschichte dann zwar doch noch an Fahrt auf und es gibt ein bisschen Aktion, allerdings ist diese Aktion dann auch wieder recht schnell (etwas zu schnell) vorbei.

Gut fand ich dass es kein „Friede-Freude-Bratkartoffel“-Ende gibt, sondern dass die Geschichte schon ziemlich realistisch und nicht abgehoben endet.

Ein gutes Buch, das ich Endzeitfans auf jeden Fall empfehlen kann.

Mindy McGinnis lebt in Ohio und arbeitet in einer Bibliothek. Neben dem Schreiben sind ihre anderen Leidenschaften das Überleben in der Wildnis und das Einkochen von Konserven.

 


Genre: Dystopie, Endzeitgeschichten, Kinder- und Jugendbuch
Illustrated by Heyne München

Die Schopenhauer-Kur

Liaison von Philosophie und Belletristik

«Einen Roman zu schreiben ist das Beste, was man tun kann» hat Irvin D. Yalom festgestellt, emeritierter Professor der Psychiatrie, und sein Buch «Die Schopenhauer-Kur» von 2005 bestätigt diese These. Im Genre der Teaching Novel hatte Jostein Gaarder schon 1991 mit «Sophies Welt» einen internationalen Bestseller philosophischen Inhalts geschrieben, Yalom gelang dann 1994 mit «Und Nietzsche weinte» sein belletristischer Durchbruch, ein geistreicher Roman, den ich vor Jahren gerne gelesen habe. Und so hat der Name Schopenhauer im Titel des vorliegenden Romans denn auch prompt wieder meine Neugierde geweckt.

Dem Forschungsschwerpunkt Yaloms entsprechend betreut Julius Hertzfeld, Protagonist des Romans, als Psychotherapeut eine kleine, bunt zusammen gewürfelte Patienten-Gruppe. Nach einer niederschmetternden Krebsdiagnose mit prognostizierter einjähriger Überlebenszeit nimmt der 65jährige Julius spontan Kontakt zu Philip auf, einem schizoiden ehemaligen Patienten. Er hatte ihm auch nach dreijähriger Einzeltherapie nicht helfen können, sich aus seiner zwanghaften Sexsucht zu befreien, sein größter beruflicher Misserfolg, zweiundzwanzig Jahre ist das schon her. Nun geht es ihm darum, die ihm verbleibende Zeit zu nutzen, seine therapeutische Arbeit am Beispiel von Philip rückblickend zu bewerten und so – in Anbetracht seines baldigen Todes – noch einen Sinn in seinem Leben zu entdecken. Und es gelingt ihm, Philip, der sich von seiner Sexsucht zwar mit Hilfe der Philosophie hat befreien können, der aber immer noch hochgradig verhaltensgestört ist, zur Teilnahme in seiner Gruppe zu bewegen. Dort kommt es dann zu einem heftigen Zusammenprall mit einem seiner Opfer, eine von hunderten Frauen, die er damals schnell erobert und skrupellos ebenso schnell wieder abserviert hat.

Im ersten der beiden – kapitelweise wechselnden – Handlungsstränge wird erzählt, wie der Protagonist Julius den Schrecken des baldigen Todes mit Hilfe seiner Therapiegruppe zu bewältigen sucht. Die zweite Erzählebene beinhaltet eine anekdotenreiche Biografie Arthur Schopenhauers, gespickt mit vielen Zitaten aus seinen Werken. Philip, Antagonist von Julius in der Gruppe, hatte seinen Beruf als Chemiker aufgegeben und Philosophie studiert, nun will er selbst Therapeut werden und sieht seine Teilnahme als praktische Übung dazu an. Seine Befreiung von der Sexsucht führt er auf seine intensive Beschäftigung mit Schopenhauer zurück. Der nämlich ist ihm ein Bruder im Geiste geworden, genau so introvertiert und pessimistisch, aber auch hochintelligent wie Philip selbst. Die gruppendynamischen Prozesse entwickeln sich aus lebhafter Interaktion, einem Feuerwerk brillanter Dispute zwischen den psychisch stimmig beschriebenen Patienten, ergänzt durch viele anregende philosophische Exkurse, bei denen natürlich Schopenhauer im Vordergrund steht, wer sonst?

Irvin D. Yalom ist das Kunststück gelungen, mit seinem Plot eine intellektuell anspruchsvolle Thematik in eine unterhaltsame und spannende Geschichte umzusetzen, der man die Lust am Erzählen deutlich anmerkt, auch wenn letztendlich nicht alles dabei wirklich plausibel ist. Seine Sprache allerdings ist fein geschliffen, mit brillanten Formulierungen, seine Syntax geradezu mustergültig, was sich beispielsweise in der nahtlosen Einbindung der Dialoge in den laufenden Text ausdrückt. Besonders gelungen fand ich außerdem seine Methode, schwierige Fremdwörter und intertextuelle Bezüge gleich an Ort und Stelle, also nicht erst in einem Anmerkungsapparat, zu erläutern, indem er den ziemlich ungebildeten Tony immer sofort danach fragen lässt, – und meist liefert dann Philip stanta pede die Erläuterung dazu. Hier wird der Leser also mit Narzissmus, Beziehungsproblemen, Alkohol, Sexsucht, Krankheit und Tod konfrontiert, und er kann en passant in vielerlei Hinsicht Nutzen aus dem Gelesenen ziehen, einer ebenso unterhaltsamen wie bereichernden Liaison von Philosophie und Belletristik.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Eine englische Art von Glück

Clash of Civilizations

Als in London geborene Tochter jamaikanischer Immigranten bereichert Andrea Levy mit ihrem 2005 erschienenen Roman «Eine englische Art von Glück» die multi-ethnische Literatur des englischen Sprachraums mit einem bemerkenswerten Epos. Wobei sie, anders als zum Beispiel Zadie Smith mit ganz ähnlicher Thematik in «London NW», sehr konventionell erzählt. Ihre Geschichte ist geprägt vom latenten Rassismus in der britischen Metropole, einem Schauplatz, den sie aus eigenem Erleben kennt. Der Roman brachte ihr literarisch den Durchbruch, wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet und landete auf der BBC-Liste der hundert bedeutendsten britischen Romane. Zu Recht?

Der Roman ist auf zwei Zeitebenen angesiedelt, «1948» und «Vorher», wie die entsprechenden Abschnitte überschrieben sind. Da ist zunächst die stolze Hortense, die das Lehrerexamen in Jamaika abgelegt hat und davon träumt, nach England auszuwandern und im Mutterland des British Empire als Lehrerin zu arbeiten. Sie heiratet den eher einfach strukturierten Gilbert, ein ehemaliger Held der Royal Air Force, im Zivilleben Jamaikas allerdings ein Habenichts und Träumer. Hortense schickt ihren Mann nach London, er soll dort beruflich Fuß fassen und sie später nachkommen lassen, – was dann allerdings in einem ziemlichen Fiasko endet. Gilbert ist in einem armseligen Zimmer bei Queenie einquartiert, einer jungen Engländerin, die aus der Metzgerei des Vaters nach London geflüchtet ist und dort Bernard geheiratet hat, einen ebenso farblosen wie bornierten Buchhaltertypen, der mit seinem Vater in einem großen, eigenen Haus wohnt. Enttäuscht von der Ehe meldete Bernard sich zum Kriegsdienst, war später in Indien eingesetzt und ist nach Ende des Konfliktes nicht nach Hause zurückgekehrt, Queenie bleibt ohne Nachricht und will ihn irgendwann für tot erklären lassen. Die lebenslustige Frau hat schließlich eine ebenso kurze wie leidenschaftliche Affäre mit einem farbigen Soldaten, der wenige Tage später nach Amerika versetzt wird, sie wird ihn nie wieder sehen. Als ihr Mann nach Jahren doch wieder auftaucht, ist sie schwanger und bringt schließlich ein schwarzes Baby zu Welt.

In sieben zeitlich wechselnden Abschnitten erzählt die Autorin kapitelweise aus ebenfalls ständig wechselnder Ich-Perspektive von den Illusionen ihrer vier Protagonisten. Es ist ein tragik-komisches Geschehen, das sich ganz allmählich zu einem immer dichter werdenden Beziehungsgeflecht zwischen ihren Figuren entwickelt. Dominante Thematik ist der Rassismus im weißen London, in dem die «Nigger» ständigen Demütigungen und Pressionen ausgesetzt sind. Das städtische Leben im Kriege, wo die Bevölkerung unter den Bombenangriffen leidet, und in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit bildet einen zweiten narrativen Schwerpunkt. Die Romanfiguren trotzen all den Rückschlägen und geplatzten Träumen unbeirrbar mit fast schon stoischer Gelassenheit, wobei dieser Clash of Civilizations zu absurden Situationen und Missverständnissen führt. All dies wird mit einem unterschwelligen Humor erzählt, der allerdings stets jamaikanisch bleibt, also kein typisch englischer, schwarzer Humor ist.

Die grundverschiedenen Protagonisten des Romans werden sprachlich durch individuelle Idiome charakterisiert, die beiden Jamaikaner sprechen ein mit Patois durchmischtes Englisch, Queenies Sprache ist durch Cockney gefärbt, während Bernards korrekte Sprache militärisch geprägt ist. Die virtuos getakteten Perspektivwechsel fördern zunehmend das Verständnis des Lesers für die verschiedenen Charaktere und enthüllen überraschende mentale Gemeinsamkeiten. Atmosphärisch dicht führt uns die Autorin in diverse Milieus ein, was auch die Kolonien mit einschließt, – und den Krieg natürlich, vor dessen Hintergrund sich das Ganze abspielt. Der im ersten Teil etwas zähflüssige, in epischer Breite erzählte Roman nimmt im letzten Drittel Fahrt auf und führt zu einem überraschenden, aber durchaus schlüssigen, melancholischen Ende.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Eichborn Verlag

Der Mann, der Verlorenes wiederfindet

Der Mann, der Verlorenes wiederfindet

Dieser Beichtvater benötigte pro Seele nur einen Blick“, heißt es über den Heiligen Antonius, der in Köhlmeiers Novelle gleich zu Beginn schon im Sterben liegt, auf einem Platz, vor 3000 Zuhörern, bei seiner letzten Predigt. Er hätte hinunterschauen können in einen, wie in einen ausgeleuchteten Brunnenschacht, „dorthin wo die Seele hocke und bocke und leide und hoffe“. Nach seiner Predigt sei er um 3000 Blutstropfen ärmer gewesen, bemerkt Köhlmeier lakonisch, denn er habe jedem Gläubigen mit seinem punktierten Finger zum Segen ein Kreuz auf die Stirn gemacht.

Die Hölle dauert ewig

Als Kind habe er den kleinen Zehen verloren, da er abgefroren war. Wenn er sprach, blickten die Menschen auf seinen Mund, wenn er schwieg in seine Augen. Leider litt der Heilige unter Hochmut, ein “Kind des Teufels”, denn er lernte schnell und wusste viel. Der in Lissabon geborene Fernandus und Zeitgenosse Franziskus’ kam aus guter lusitanischer Familie und hatte an den Universitäten Coimbra, Toulouse, Montpellier und Bologna studiert und sogar gelehrt und sich besonders mit “dem Bösen” beschäftigt. Wie kommt das Böse in die Welt? „Satan ist nur ein Name. (…) Er ist der Name für das Nichts …das eigentlich keine Namen haben kann …Hätte es einen Namen, wäre es nicht das Nichts. (…) Das Nichts ist dort, wo Gott nicht schaut. …und wohin Gott nicht schaut, dort ist das Nichts. (…) Wohin aber Gottes Auge blickt, dort blüht die Schöpfung. Gott ist eine Himmelsrichtung.“, lautet die Antwort, die Köhlmeier seinem Heiligen in den Kopf legt. Aber Köhlmeier weiß auch eine gute Antwort auf die Definition von Hölle, denn bei ihm ist sie nicht „die anderen“, wie bei Sartre, sondern: „In der Hölle ist es wie auf der Erde. Hier wird gequält, dort wird gequält. Nur einen Unterschied gibt es: Die Hölle dauert ewig.“

Erklärung unserer Unzulänglichkeiten

„Satan ist das Es-wird.“ Und das Gegenteil? Die Liebe. Sie ist Gnade. Sie macht alle gleich, Diener und Herr. „Und das Glück gehört nie einem allein. Wenn du glücklich bist, vermehrst du das Glück auf Erden.“, glaubt auch Antonius in Anlehnung an Aristoteles. „Unsere Worte sollen sein wie die Mongolen, die über ein stummes Land herfallen, und wenn sie abziehen, ist kein Handfleck breit übrig, auf dem nicht ein Abdruck der Hufe ihrer Pferde wäre.“ Predigen und Beten. Wobei beim Beten jedes Wort durchdenkt werden sollte, als spreche man es das erste Mal. Auch die Erklärung für die Unvollkommenheit des Menschen ist aufschlussreich: Hätte Gott uns eigenhändig, jeden von uns bis ans Ende geformt, wäre jeder von uns vollkommen und nachdem Vollkommenheit einmalig ist, wären wir alle gleich und es wäre eigentlich nicht nötig gewesen, gleich mehrere von uns zu schaffen. Manchmal arbeite Gott einen Menschen perfekt aus und behalte ein Stück zurück, so wie bei Antonius. Gott habe die Zehe des Antonius als Pfand für sich behalten, damit er ein „Teilchen seines Lieblings immer bei sich trage“. Eine rührende Erklärung, auch für unsere Unzulänglichkeiten.

Alleinsein=Beten

Die Wiederholung ist noch schwerer zu ertragen, als die Hoffnung, zugleich aber gibt sie nicht weniger Trost als diese.“ Liegt darin der Zauber des Betens? „In eines Mannes Herzen sind viele Pläne; aber zustande kommt der Ratschluss des Herrn.“ Ein Mensch ist aber nicht nach dem zu beurteilen, was er weiß, sondern was er liebt. Und auch hier findet Köhlmeier wunderschöne Worte: „Auch Franziskus sprach der Seele das Recht zu, hin und wieder allein zu sein, weil die Schönheit der Schöpfung rein und klar nur aus einem Augenpaar gebührend bestaunt werden könne. Will aber die Seele sich selbst schauen, was nichts anderes bedeutet, als in das ebenbildliche Antlitz Gottes zu schauen, dann muss sie für sich allein sein.“ Dem kann auch Antonius etwas abgewinnen.

Eine Meditation über das wahre Beten und das, was einen Menschen, ganz abgesehen von der Legende, eigentlich ausmacht. Die Erklärung warum ausgerechnet der Heilige Antonius für die verlorenen Sachen zuständig ist, bleibt Köhlmeier allerdings schuldig. Ein Buch wie eine Meditation: langanhaltend und nachhaltig.

Michael Köhlmeier
Der Mann, der Verlorenes wiederfindet
2017, Hanser Verlag, 160 Seiten
Hardcover oder ePUB-Format
ISBN 978-3-446-25645-3


Genre: Novelle
Illustrated by Hanser

Die stillen Trabanten

Melancholische Erzählwelt

Dass Clemens Meyer erzählen kann wie kaum ein zweiter Schriftsteller im deutschen Sprachraum, wird durch sein neues Buch «Die stillen Trabanten» eindrucksvoll bestätigt. Und wie schon in seinem letzten Roman «Im Stein» erschafft er auch in dieser Sammlung von Erzählungen ein düsteres, zerrissenes, melancholisches Bild unserer Gegenwart, in dem die autobiografischen Bezüge den Ton angeben und einen sehr eigenen Blickwinkel zur Folge haben. So liefert die Eisenbahn als meyersches Faszinosum gleich mehrfach den Hintergrund seiner allesamt im deutschen Osten angesiedelten Geschichten. Es fehlt dabei natürlich ebenso nicht das Pferderennen als weitere Leidenschaft Meyers wie auch das spezielle Milieu der Kneipen und Imbissbuden, der Gelegenheitsjobs und prekären Verhältnisse, und es herrscht auch hier die Nacht als geheimnisvoll dunkle Erzählzeit vor. Thematisch wird Verlust in diesen Erzählungen als Leitmotiv ebenso eingesetzt wie die Vergeblichkeit menschlichen Bemühens, – und Humor findet sich natürlich nicht mal ansatzweise.

Der Band ist in drei durch jeweils eine prologartige Szene eingeleitete Teile gegliedert, die ihrerseits wiederum drei Erzählungen enthalten. Es beginnt im Teil «Eins» mit der zarten Liebesgeschichte eines jungen Wachmannes und einer russischen Emigrantin am Zaun eines Ausländer-Wohnheims, die zaghafte gegenseitige Annäherung einer Wagonputzfrau der Eisenbahn und einer Angestellten beim Bahnhofsfriseur, schließlich eine wehleidige Reminiszenz an die ehemalige Strandbahn einer kleinen Stadt an der Ostsee, die nach dem Zweiten Weltkrieg stillgelegt und abgebaut wurde. Der Teil «Zwei» erzählt von einem Wohnungseinbruch und einer verwirrten alten Frau in einem Abbruchhaus, vom Besitzer einer Imbissbude, der vom 14ten Stock seines Hochhauses nächtens auf die Lichter der Trabantenstadt schaut und beim Rauchen im Treppenhaus seiner ebenfalls dort rauchenden, muslimischen Nachbarin allmählich näher kommt. Sodann wird von einem heruntergekommenen ehemaligen Jockey erzählt, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt und unbedingt einmal das exklusive Pferderennen auf Eis in St. Moritz miterleben möchte. Im letzten Teil ist zuerst von der Geschichte eines Lokführers zu lesen, der mit seinem Güterzug nachts einen lachenden Mann auf den Schienen überfährt und den dieser Schienensuizid psychisch derart belastet, dass er die Witwe des Selbstmörders aufsucht. Unter dem Titel «Die Rückkehr der Argonauten» beschreibt der Autor in der nächsten Geschichte den Besuch eines Mannes bei seiner Mutter im trostlosen ehemaligen «Kohlenviertel» der Stadt, wo er auch seine Kumpels von früher trifft, und in der letzten Geschichte wird von einem Schriftsteller berichtet, der sich im Exil in Moskau während des Zweiten Weltkrieges mit der Störtebeker-Sage beschäftigt, wobei interessante Bezüge bis in die spätere DDR hergestellt werden.

Aus all dem, was wir da lesen, spricht eine äußerst genaue Beobachtungsgabe des Autors, der die tiefsten menschlichen Befindlichkeiten akribisch ausleuchtet, der narrativ einfühlsam auch die allerfeinsten Regungen und Sehnsüchte atmosphärisch dicht erfasst. Sprachlich gekonnt setzt er dabei oft Zartes unmittelbar neben Härte, bildet stilistisch die raue Realität ebenso ab wie den schönen Traum. Wobei häufig beides ineinander geht bei seiner Erzählweise, was erhöhte Aufmerksamkeit des Lesers erfordert und zudem abrupte Stimmungswechsel bewirkt. Die Erzählperspektiven bei den neun Geschichten wechseln zwischen erster und dritter Person, vieles ist auch in Form des inneren Monologs erzählt.

Diese Geschichten aus den Randbezirken der ostdeutschen Gesellschaft sind mit ihren vielen Andeutungen und unvermittelten Zeitsprüngen wahrlich keine leichte Lesekost. Clemens Meyer findet allerdings für seine sorgsam ausgewählten Themen wunderbar einprägsame Bilder und zieht damit den Leser stimmungsmäßig tief hinein in seine sehr spezielle, melancholische Erzählwelt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by S. Fischer

Schachteltexte

Schachteltexte herzustellen scheint mir eine ausgezeichnete Idee. Weniger weil ich generell an die Bedeutung des Neuen glaube, wie es Moderne Kunst als Code verlangt, sondern weil diese selbst gewählte Form – das Schreiben von Texten, Gedichten auf zum Teil auch zurecht gerissenen Schachteln – einen gewissen Rahmen vorgibt, der einerseits das Ausufern der Texte verhindert, anderseits den Autor zu oftmals sehr verknappten Aussagen drängt. Und diese sind, wie wir Peter Paul Wiplinger kennen, oftmals schmerzhaft politisch, was meint: zum Himmel schreiende Missstände hält Wiplinger, auch oft über die eigene Schmerzgrenze gehend, schonungslos fest.

Waren es in den ersten Schachteltexten (ab 2007) oftmals noch Erinnerungen an die Nazizeit, die er aus aktuellen Anlässen oder würgenden Reminiszenzen in die Schachtelform presste, so überschwemmen (irgendwie grenzenlos) die Eindrücke der vielen ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer seine Seele und sein Schreiben. Wiplinger kann oder will nicht mentale Grenzen errichten, die sein Mitleid, seine Wut, seinen Schmerz abdämpfen und filtern; so schreibt und schreit es aus ihm heraus – ein Berserker des Mitgefühls oder ein zorniger Heiliger und mit-leidender Agnostiker, der Gott und die Welt anklagt für all das Trübsal, das die Menschheit schlägt. Auf Karton gefasst mittels Filzstift und anderem entsprechenden Schreibgerät entbehrt die Sammlung seiner Autographen nun keineswegs einer feinen Ästhetik, die sich aus dem Farbhintergrund ergibt, dem ansehnlichen Schriftbild und der Form der Schachteln – deren Umrissen, Löchern oder Aufschriften, die er in seine Arbeit miteinbezieht.

Es sind jedoch nicht ausschließlich politische, anklagende Schriften, die in dem umfangreichen Band gesammelt wurden. Etwa titelt ein Schachteltext: „Nur Klugsein hilft nichts!“. Er setzt fort: „Man muß auch ein G’spür für den Menschen haben, sagte meine Mutter, als ich so halb-erwachsen war. // Und heute, da ich so alt bin, wie sie damals war, als sie mir diese Wahrheit mitgab auf meinen Lebensweg, weiß ich, wie recht sie damit hatte, als sie das zu mir sagte, und ich nur so halb hinhorchte auf das, was sie mir immer wieder sagte. // Ja, man muß auf den Menschen schauen, auf alle und auf jeden einzelnen Menschen, ansonsten geht man am Leben und an sich selbst vorbei.“ Weisheit sprich auch aus folgendem Autograph: „Gedankengefängnis. Immer in Gedanken sein, sich ständig etwas was auch immer denken, denken – dies müssen! das sich in einem Gedanken-gefängnis befinden, eingesperrt sein in seine Gedanken, in sein Ich!“

Originell ein Text der sich „Bankgeschäfte“ nennt und auf einer Papiertragtasche der Bank Austria/Uni Credit geschrieben wurde, in dem Wiplinger Banken, Reiche, Diktatoren anklagt. Auf einer weißen Tragtasche am Beginn des Bandes verfasste Wiplinger einen der ersten Schachteltexte. Großhandelsketten und Lebensmittelmultis wären gesegnet, griffen sie solch auserlesene Idee auf, ihre Papiertragtaschen mit Gedichten aufzuwerten, auf dass die Kunden von Morgen in den Öffis statt auf ihre Smartphones zu starren je die Einkaufstaschen des Gegenübers zu ergründen suchen. Auch höchst Poetisches liest sich in dem starken Band: „Silbern glänzt der Tag doch tiefblau ist die Nacht singst ein Lied und sagst ein Wort mündest in Schweigen achte darauf, daß die Sonne dich nicht verbrennt und daß der Mond dich weder trunken noch schlaflos macht! // Silbern glänzt der Tau am Morgen auf Gräsern und Gesträuch und manchmal wie eine Träne auf deinen Wangen, Geliebte. // Umrunden wir unser Leben wie in einem Segelflugzeug, lautlos schwebend in den Lüften, hoch über der Erde, schwerelos und wie im Traum…“ Man täte P.P. Wiplinger jetzt jedoch unrecht, das gesamte Gedicht zu zitieren. Ein Überhang an Poesie, an privater Stimmung, an Rosen, Nacht, Silber verwischte die drängende Brisanz des Gesamteindrucks – der ist eher im folgenden Schachteltext vorzufinden: „Das Boot ist gesunken, die Menschen treiben hilflos im Meer, Frauen halten ihre Kinder fest an ihren Kleidern, Männer schreien, Alte versinken als erstes, ganz lautlos, Frauen müssen sich entscheiden, welches Kind sie als erstes loslassen; eines nach dem anderen ertrinkt, zuletzt auch die Mutter. Mit dem Rücken nach oben treiben sie im Meer im hohen Wellengang; ein Bild wie in einem Film, aber das alles ist Realität!“ (29.3.2016).

Auch wenn sich der Autor sehr wohl der Begrenzungen, die sich aus Ressourcen für Integration und Kulturanpassung ergeben bewusst ist, im grenzenlosen Herzen ist er ein großer Mitfühlender, der bei allen Bedenken eine laute Stimme für das Individuum, für die gepeinigte Kreatur von der Vergangenheit bis ins häufig bittere Heute erhebt. Womit er es sich ebenfalls persönlich oft schwer macht, wie ein Schachtel-Text, der seinen Unwillen, sich nicht immer aufzuregen, bezeugt… gesünder vielleicht wäre es bisweilen nicht hinzuschauen. Peter Paul Wiplinger aber sieht genau. Für mich unterscheidet er sich wesentlich von den Negativ-Schreibern moderner Attitüde, die sich dem Gegenwartsdiktat der Schwarzmalerei und der Zerrissenheit verschrieben haben. Er scheint vom Schmerz wahrlich übermannt, nimmt ihn nicht als ästhetischen Kniff, als Rahmen innerhalb dessen formuliert und fabuliert werden darf. Sein Schmerz reicht tief bis in die eigene Seele – von dort heraus dröhnt der manches Mal gar unmenschliche Schrei. Doch dort warten auch Versöhnung, Hingabe und Geduld: Weisheit, die zu finden er sich jedenfalls bereit zeigt, wobei der kontemplative Akt des mit der Hand leserlich, nahezu schön Schreibens, was desgleichen die Gedanken zähmt, nicht zu unterschätzen ist. Sodass Wiplingers Schachteltexte wohltuend von den Gegenwartsaposteln der Finsternis abweichen.

Manfred Stangl
Rezension zuerst erschienen in Pappelblatt Heft 12/2017
Peter Paul Wiplinger: „Schachteltexte 2007 – 2016“, edition pen – Löcker, Wien 2017, 327 Seiten, ISBN: 978-3-85409-856-0, Euro 49.-


Genre: Gedichte
Illustrated by Löcker Wien

Meine Sehnsucht wandert mit dem Sand

Die Gedichte Lieselotte Stieglers sind tatsächlich in dem Sinn Ge“dichte“, dass sie zu allermeist sehr knapp angelegt wurden. Auf überflüssiges ist verzichtet, dennoch nicht die Lyrik geschmäht, weil Stieglers Metaphern schön sind, das Spiel mit den Worten gekonnt und ihre Dichtkunst ausgereift ist. Wir sehen vor uns einzelne kleine Meisterwerke, wie Blüten auf einer Wiese: violette, gelbe, ziegelrote, doch ihre kurzen Gedichte hängen irgendwie auch alle zusammen. In „Andalusien“ etwa wachsen Dornen und Jasmin auf Ziegeldächern, das nächste Gedicht heißt: Dornen. Zuvor bereits besingt sie Lorca, erklingen die Jondos in Granada. Also bilden die einzelnen Blüten im exquisitesten Sinn eine Blumenwiese, an deren Ende zum Stadtrand hin sie jedoch vertrocknet und dürr daliegt – die politischen Gedichte gegen Schluss des Bandes.

Keinesfalls möchte ich von der Sammlung der Blüten in diesem Band sprechen. Denn Stiegler schreibt: „Pflücke nicht die Blume, die aus den Wolken wächst.“ Und warnt davor, uns die Worte untertan zu machen, um die damit umrissene Welt durch unsere Ratio zu fesseln. Sie selbst streift diese Fesseln immer wieder ab, schält sich aus den zu engen Wörtern heraus, speziell die der bannenden Liebesbeziehungen. Dann solche, die einen zu engen kneifenden Heimatbegriff beschreiben.

Poetisches, persönliches und politisches fließen im Gedichtband fast übergangslos ineinander: eine weitere Stärke des Büchleins. Flucht ist keine leichte Entscheidung. Eine tödliche Heimat für eine gemeine zu tauschen kein Honiglecken. Stieglers Empathie ist klug: sie fragt, wie sehr wir als Individualisten denn selbst wünschen „integriert“ zu sein.

Auf gewisse Weise haben wir ein einziges langes Gedicht vorliegen, dessen Pfad zwischen Sandelholz und Mandelbaum bis auf die Schutthalden der Gegenwart führt. Doch sie trauert nicht, beklagt nicht jammernd modernistisch die Existenz sondern hält Jubel und Kritik in ausgeglichener Schwebe, sodass wir von gekonnter ganzheitlicher Literatur sprechen können. Zumal die Gedichte verwurzelt bleiben, an der Erde haftend, wenn auch zum Himmel, in die Ewigkeit weisend. Abgehoben aber kommen sie beileibe nicht daher. Eher in einer wohltuenden Harmonie: vielleicht nicht wie ausgerissene Blumen, aber getrocknete Samen und Früchte und Blütenblätter, die nach Lavendel, Sandelholz und Orangenblüten duften.

Als Nachtrag möchte ich kurz auf das außergewöhnliche Cover von Sonja Henisch eingehen, das eine Seherin zeigt. Ein Bild, das die Attribute weiblicher Rundheit und Weisheit trägt, aber nicht barsch sexuell zu deuten ist. Die Figur ist unrealistisch gemalt, der Arm speziell kein menschlicher: eben weil es „die Seherin“ ist, die weist… die Scham ist nicht aus modemodernen Gründen rasiert, sondern verweist auf das Ungeschlechtliche wenngleich nicht Asexuelle – übersexuell wäre wohl das richtige Wort: Arm sowie die breiten Schultern spiegeln den männlichen Anteil wider, Becken, Rundungen, das lange Haar den weiblichen, die Gesichtslosigkeit entwürdigt nicht das Weib, sondern steht für das Überindividuelle. Die Chakra-Farben stellen die Figur ins richtige Licht. Die Nacktheit der Figur generell ist das Indiz unserer Nacktheit/Bloßheit vor dem Göttlichen/der Göttlichen Mutter. Sie hat nichts mit dem neoliberalen Entblößungsgeschäft des Kaufwertreizes gemein. Der Betrachter möge seine Augen schulen, bzw. öffnen, um nicht allein seine Vorurteile zu erblicken, sondern sich zu erweitern. Wie gesagt, ein spezielles Bild, das in die Zukunft weist, und die Gedichte Lieselotte Stieglers herrlich interpretiert.

Lieselotte Stiegler: „Meine Sehnsucht wandert mit dem Sand“, edition sonne und mond, 2o17, brosch, 7o S, ISBN: 978-3-9503442-3-3; 9.- € erhältlich unter bestellungen@sonneundmond.at


Genre: Gedichte, Lyrik
Illustrated by edition sonne und mond