Die Toten

Für alle, die es noch nicht wissen: Christian Kracht hat einen neuen Roman geschrieben. Über das aufstrebende Filmmilieu der dreißiger Jahre zur Zeit der NS-Machtübernahme. Titel: „Die Toten“. Ja, den Titel hat es schon mal gegeben. Bei James Joyce. Anspruch will eben formuliert sein.

Trailer ab. Es treten auf :

In den Hauptrollen:
Emil Nägeli, ein Schweizer Avantgarde-Regisseur, mit einem ausgewachsenen Vaterkomplex behaftet.
Masahiko Amakasu: Japanisches ex-Wunderkind, als Erwachsener vor allem durch sein Faible für deutsches Brauchtum und Mythen auffallend.

In den Nebenrollen: eine dralle, blonde deutsche Schönheit namens Ida, ferner UFA-Tycoon Hugenberg, Charlie Chaplin, Siegfried Kracauer, Lotte Eisner, Ernst „Putzi“ Hanfstaengl und Heinz Rühmann (geschickter Schachzug, auf nickende Kennermienen der Leser und Kritiker abgestellt).

 

Schauplätze:

das Berlin der Weimarer Republik
Japan vor einer Zeitenwende
Hollywood als vermeintlicher Rettungsanker
diverse Berge und Bauernhöfe

Handlung: Mit deutschem Geld soll in Japan ein Vampirfilm gedreht werden – sozusagen als Zelluloid-Achse, um die faschistoide zu unterstützen. Mit Vampiren, viel Blut und nicht ganz soviel Kultur gegen den amerikanischen Kulturimperialismus, der allerdings schon da ist – in Gestalt des gerade in Japan nahezu gottgleich verehrten Charlie Chaplin. Dazu Fressorgien, Besäufnisse und reichlich historische Ereignisse (die zwar nichts zur Sache tun, aber wenn sie sich schon zum Zeitpunkt der Handlung ereignen. Man will ja nicht umsonst recherchiert haben).

Trailer Ende.

Doch bevor es im Buch um den Plot geht, (sieht man mal vom in allen Details beschriebenen Harikiri eines japanischen Offiziers direkt zu Beginn ab) ist die Hälfte des Buches schon um. Denn zunächst geht es in epischer Breite um die Leiden des jungen Nägeli und des jungen Amasuko. Kann man ja nicht unter den Tisch fallen lassen. Problematische Vater-Sohn-Beziehungen oder frühe Traumata wie der Tod des weißen Nicht-Kuscheln-Wollen-Hasen geben literarisch ja auch richtig was her. Und erst die autoritäre Kadettenanstalt, die das kleine Genie Masahiko den Flammen überlässt.

Das alles taugt zwar nicht als Rahmenhandlung oder gar als roter Faden, ist auch komplett bedeutungslos für die weitere Handlung, aber gepflegtes Leiden ist schließlich auch wichtig. Und das alles schön parallel montiert. Es geht ja um den Film als Kunstform. Im Film ist Parallelmontage sehr gefragt. So kann man gleich ganz klug und beseelt schließen, ah ja, hier ist die filmische Kunstform ins Literarische übersetzt. Und gelitten wird später auch noch. Wenn auch eher kunstblutig. Aber vielleicht ist das ja der rote Faden. Irgendwie will man als Leserin den Kreis ja dann doch geschlossen kriegen.

Kommt man dann zum Plot, treffen sich Nägeli und Amakasu endlich in Japan, wird dummerweise die (gemäß Verlagsbeschreibung „…das Geheimnis des Films als Kunstwerk der Moderne feiernde“) begonnene Handlung schon wieder unterbrochen. Schade. Aber was will man machen, wenn die blonde Ida dem japanischen Genie den Kopf verdreht und auf ganz andere vampirische Art als die geplante saugt. Dem Nägeli bleibt immerhin noch die „Augenblicklichkeit des Universums“ und die blonde Spielverderberin kriegt ihre Kunstblut-Strafe. Und nicht zu vergessen: die Toten. Die haben wir ja auch noch. Die mischen sich dauernd zwischenrufend ein. Sind wahrscheinlich sowas wie das Kinopublikum für edel leidende junge und ältere Herren. Dass hingegen der Roman der dramatischen Struktur des japanischen No-Theaters folgt, das braucht man gar nicht groß herauszufinden. Kracht ist so stolz drauf, dass er einen mit der Nase draufstößt. Aber schön, oder? Da haben wir doch so einiges, was die Nicht-Rahmenhandlung und den kleinen Plot zusammenhält.

Der Roman schafft das Kunststück, viel zuviel Information bei gleichzeitiger Inhaltslosigkeit zu liefern. Aber immerhin in schön gedrechselten Sätzen, beinhaltend eine wahre Fundgrube für die beliebte Sammlung „Schöne, fast vergessene Wörter“. Die „Ästhetisierung des Schrecklichen“ passt dazu, aber es bleibt eine elegante Spielerei. Statt Herzblut spritzt einem auch dort nur Kunstblut entgegen und es ist einem ganz unglaublich egal, ob man Gewalt so beschreiben darf, weil diese Passagen so bemüht wirken, dass sie einen nur kalt lassen können. Christian Kracht ist sicherlich ein feinsinniger Autor, aber was nach der Lektüre dieses Romans bleibt, ist der Eindruck, inhaltsleere Manierismen eines klugen Kopfs gelesen zu haben. Und Fragen bleiben: Die nach dem Warum und Wozu? Und vor allem: Warum wird das derart gefeiert? Alles, was ich sehe, ist eine Klamotte, eine langweilige noch dazu. Garniert mit dem Muff deutschen Mythen, von denen einem auch nicht im Ansatz erklärt wird, warum sie so toll sind und schon gar nicht, welche Lehren man daraus für die Zukunft ziehen könnte. Irritierend.

Abspann: Vielleicht ist die Entstehung des Romans mit einem drängenden Bedürfnis des Autors zu erklären, sich mit aller Macht und Gewalt um jeden Preis aus den Schubladen lösen zu wollen, in die man ihn hineingepresst hat: Wunderkind, Popliterat und was da nicht immer alles an überfrachteten Erwartungen zu lesen ist. Dieser Intention und dem ganzen Roman hätte dafür allerdings eine Rückbesinnung auf Krachts Begabung als Satiriker gut getan.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Der Dieb

nakamura-1 Nishimura ist ein erfahrener Taschendieb. Ein Maßanzug verleiht ihm Anonymität, elegant und unauffällig bewegt er sich durch Tokios Menschenmassen und stiehlt Fremden ihre Geldbörsen. Sein Gewerbe hat er zur Kunst erhoben, fließend und kaum merkbar sind seine Bewegungen. Der Diebstahl geschieht reibungslos und unbemerkt, manchmal so unbemerkt, dass nicht einmal er selbst sich an alle Diebstähle erinnern kann.

Dabei lässt er Prinzipien walten, er stiehlt nur von Menschen, die ihm reich und wohlhabend erscheinen. Geld an sich bedeutet ihm nichts, so wenig wie die Menschen, die er bestiehlt, beides ist für ihn nur eine weitere Unschärfe seines Lebens, in dem er keine Gegenwart und keine Zukunft sieht. Er lebt in einem armseligen Appartement, er hat keine Familie, keine Freunde, keine Verbindungen. Nur einen kleinen Jungen, der ihn sich als Vaterfigur ausgesucht hat und der von ihm die hohe Kunst des Diebstahls lernen will, den wird er nicht los. In dem Moment, wo er sein Herz ein klein wenig öffnet, eine Verantwortung fühlt, holt ihn das Einzige, was er noch hat, seine Vergangenheit ein.

Sein erster und bis dato auch einziger Partner, Ishikawa erscheint wieder in seinem Leben. Einst war er mit ihm ihn einen Raubüberfall verwickelt, danach trennten sich ihre Wege und Nishimura tauchte in der Anonymität der Großstadt unter. Ishikawa hingegen wurde zur Marionette des mächtigen Gangsterbosses Kizaki, der sich selbst mit Genuß als Herrn über Leben und Tod inszeniert, Kizaki zwingt Ishikawa und mit ihm Nishimura, Handlanger für seine Verbrechen zu sein. Das Schicksal des Diebes scheint besiegelt.

In seinem Roman „Der Dieb“ nimmt Fuminori Nakamura den Leser mit in die Unterwelt einer Kultur, die vielen Europäern unbegreiflich und undurchdringlich scheint. Über den Autor selbst ist wenig in Erfahrung zu bringen, außer dass er ein 1977 geborener japanischer Schriftsteller sei. Dieses Buch hat er unter Pseudonym geschrieben. Nakamura zeigt ein hoffnungsloses Land und seine Metropole. Sein Tokio ist keine Stadt heller Lichter und modernster Technologie, es ist farblos und düster, die Gesichter der Menschen sind blickleer, die Messer blutig und statt der modebewussten Mädchen mit ihren bonbonfarbenen Haaren kreuzen früh gealterte alleinerziehende Frauen den Weg des Diebs.

Dieser Thriller kommt ohne Action aus, dafür aber beschwört er Angst durch die Art, wie der Gangsterboss Kizaki seine Ansichten von Schicksal und Kontrolle lebt und gleichzeitig den Dieb mit einem lakonischen „Es ist alles nur ein Spiel. Nimm das Leben nicht so wichtig“ abfertigt und in sein Verderben schickt. Der Fokus liegt nicht auf den Verbrechen selbst, sondern auf der Psychologie und der Körperlichkeit des Verbrechens: „Die Zeit floss in ihrem eigenen, immer gleichen Tempo dahin, bestimmte den Lauf der Dinge und schob mich langsam vor sich her. Wenn ich jedoch meine Hände nach dem Eigentum fremder Leute ausstreckte, fühlte ich in der Anspannung des Moments so etwas wie Freiheit.“

Nakamura erzählt rasant, dabei aber sehr elegant und schnörkellos, jederzeit um die Symbole von Unausweichlichkeit wissend. Darin gleicht er in der Ausübung seines Handwerks seinem Helden. So akribisch, wie der Dieb seine Aktionen ausübt, so sorgfältig ist auch das Buch geschrieben. Ein kühler Thriller, der tief an existentielle Fragen rührt. Ein sehr intensives Leseerlebnis.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de


Genre: Roman, Thriller
Illustrated by Diogenes Zürich

Survive – Du bist allein

SurviveZwölf Kandidaten, eine Survival-Show, nur einer kann gewinnen – wenn alle anderen aufgeben. Aber dann geschieht, was keiner planen konnte: etwas TÖDLICHES.
Eine junge Frau allein in der Wildnis – eigentlich sollte es nur ein Abenteuer werden. Doch aus diesem Albtraum wird niemand mehr erwachen. Tief in einem felsigen Waldgebiet beginnt die Fernseh-Show: mit zwölf Frauen und Männern, die sorgfältig gecastet wurden, um den Zuschauern etwas zu bieten. Schon bei den ersten Gruppenaufgaben geraten einige Teilnehmer an ihre Grenzen – Orientierungsläufe, Lager bauen, Nahrung finden. Allianzen werden geschmiedet, Konflikte brechen auf, die Prüfungen werden härter und perfider. Und bald muss sich jeder Kandidat ganz allein zu seiner großen Einzel-Challenge aufmachen. Doch keiner ahnt, welch tödliche Gefahr bereits in das Überlebens-Spiel eingebrochen ist.

Eine ganz besondere Survival-Show sollte es werden. So aufwendig wie bisher noch nie und das Budget so groß wie noch nie. Es gibt keine zeitliche Begrenzung, die Show sollte einfach so lange laufen bis alle Kandidaten, außer dem Gewinner, freiwillig das Handtuch werfen.

Natürlich sind die 12 Kandidaten so unterschiedlich wie man nur sein kann ,und nicht alle verstehen sich oder harmonieren miteinander. Sollen sie aber natürlich auch gar nicht denn das bringt keine Einschaltquoten …

Die Geschichte beginnt mittendrin und wird aus der Sicht einer Kandidatin während einer langen Einzel-Challenge erzählt. Das ist schon etwas verwirrend denn kurz vorher werden einige Kandidaten ganz kurz beschrieben bzw kurz umrissen und man weiß zuerst gar nicht so richtig aus wessen Sicht denn jetzt erzählt wird und man versteht irgendwie nur Bahnhof. Dann springt die Geschichte zurück zum Anfang, man lernt die einzelnen Kandidaten besser kennen und begleitet sie bei den ersten Aufgaben.

Ich persönlich finde es immer etwas schwierig, sich die Namen, Besonderheiten und das Aussehen von vielen verschiedenen Personen zu merken um in der Geschichte klar zu kommen und in diesem Buch sind es auch noch 12 verschiedene Personen. Dieses „Problem“ wurde aber ganz gut gelöst, da die Figuren fast ausschließlich nach Besonderheiten oder Ihren Berufen benannt werden. So trägt z.b eine asiatische Kandidatin, die sich als sehr geschickt im Umgang mit Holz beweist, nach kurzer Zeit den Namen „Schreiner-Girl“.

Die Hauptfigur in der Geschichte ist „Zoo“, eine ehrgeizige Frau die als Gruppenführerin in einem Zoo arbeitet und noch ein letztes Abenteuer erleben möchte bevor es an die Familienplanung geht. Nach kurzer Zeit stellt sich dann auch heraus dass die Geschichte aus Zoos Sicht erzählt wird.

Es bleibt aber fast das komplette Buch dabei, dass die Geschichte immer zwischen der aktuellen Zeit, während die Show schon seit Wochen im Gang ist und Zoo alleine durch die Wildnis streift, und den Anfängen hin und her springt. Und es bleibt auch dabei, dass das ziemlich lange recht verwirrend ist, weil man das aktuelle Geschehen gar nicht so richtig einordnen kann aber gerade das macht die Geschichte auch spannend.

Die Kapitel über die Anfänge der Show fand ich allerdings fast alle ziemlich unspektakulär, die Challenges waren eher langweilig und ich hätte lieber ausschließlich über die aktuelle Zeit, also Zoos Alleingang gelesen. Aus diesem Grund zog sich das Buch für mein Empfinden auch teilweise etwas dahin, und ich war erst nach 140 Seiten so richtig gefesselt. Dann konnte ich es aber kaum mehr aus der Hand legen, es wurde wirklich richtig klasse.

Über den Inhalt kann ich leider nicht mehr verraten, ich würde einfach zu viel vorwegnehmen. Ich kann aber sagen dass die Geschichte von anderen Survival- oder Fernsehshow-Büchern stark abweicht und sich in eine Richtung entwickelt die ich nicht erwartet hatte, die mir aber unglaublich gut gefallen hat und die ich persönlich wirklich großartig fand.

Eine Geschichte über „Überleg dir gut was du dir wünscht, du könntest es bekommen“, dem unglaublichen Talent der Menschen, nur das zu sehen was man auch wirklich sehen will und der Tatsache, dass man immer erst zu schätzen weiß was man hatte wenn man es verloren hat.

Trotz des etwas schleppenden Einstiegs ein richtig gutes Buch, das ich auf jeden Fall empfehlen kann.

Alexandra Oliva wuchs in einem kleinen Ort in den Adirondack Mountains auf und kennt sich in der Wildnis aus. Sie ist viel in der Natur unterwegs und hat verschiedene Survival-Trainings absolviert. An der Yale-Universität hat sie einen Bachelor in Geschichte gemacht und hat an der New School University in New York kreatives Schreiben studiert. Debüt-Thriller “Survive – Du bist allein” wurde auf Anhieb zu einem internationalen Bestseller und erscheint in über 25 Ländern. Sie lebt mit ihrem Mann und Hund Codex im Nordwesten der USA am Pazifik.

 


Genre: Endzeitgeschichten, Thriller
Illustrated by FISCHER Scherz

Ein sanfter Tod

beauvoir-1Meistverdrängtes Menschheitstrauma

Das Werk der französischen Schriftstellerin Simone de Beauvoir ist neben seiner explizit philosophischen Ausrichtung oft auch autobiografisch geprägt, dem 1964 erschienenen Roman «Ein sanfter Tod» liegt dieses für sie spezifische Sujet ebenfalls zugrunde. Es geht um den Tod ihrer Mutter, mit der die Autorin lebenslang ein gespanntes, distanziertes Verhältnis hatte, das sich nun im Sterbeprozess zu verändern beginnt. In den sechs Jahre vorher erschienenen «Memoiren einer Tochter aus gutem Hause» hatte die Autorin die Vorgeschichte der Entfremdung mit ihrer Mutter sehr detailliert beschrieben. Im vorliegenden Roman nun greift de Beauvoir darauf zurück, sie erwähnt das der damaligen Veröffentlichung folgende Zerwürfnis. Die jüngere Schwester übernahm es dann, die erboste Mutter zu beschwichtigen. «Ich begnügte mich damit, ihr einen Blumenstrauß zu schicken und mich wegen eines Wortes zu entschuldigen; das rührte und verblüffte sie übrigens. Eines Tages sagte sie zu mir: Eltern verstehen ihre Kinder nicht, aber das gilt auch umgekehrt…»

Vor diesem Hintergrund erzählt de Beauvoir von einem häuslichen Unfall der 77jährigen Mutter. Bei den Untersuchungen in der Klinik wird neben einem Schenkelhalsbruch auch noch eine Bauchfellentzündung vermutet. Der Zustand der Patientin verschlechtert sich jedoch zusehends, es folgen weitere ärztliche Befunde, bis sich schließlich herausstellt, dass eine Krebsgeschwulst ihren Dünndarm verschließt. «Lassen Sie sie nicht operieren» raunt eine es gut meinende, ältere Krankenschwester den beiden Töchtern zu. Sie entscheiden anders, bei der Operation wird dann eine riesige Krebsgeschwulst gefunden, die kurzzeitig zum Tode führen würde. Was folgt ist ein vierwöchiger schmerzvoller Sterbeprozess, den die Autorin minutiös beschreibt, in dem sich auch das gespannte Verhältnis zur Mutter allmählich bessert, dessen unabwendbares Ende ihr jedoch rücksichtsvoll verschwiegen wird.

In dem Auf und Ab des körperlichen Verfalls wird deutlich, wie sehr doch die Mutter am Leben hängt. Sie will nicht sterben, lehnt sogar strikt allen behutsam angebotenen geistlichen Beistand ab. Was erstaunlich scheint, war doch gerade die unbeirrbare religiöse Bindung der Mutter einst Auslöser für die Differenzen, zu denen dann der damals fast skandalöse Lebenswandel der emanzipierten Tochter noch erschwerend hinzukam. Denn Simon de Beauvoir hatte eine völlig andere Auffassung von der Rolle der Frau, die sie in ihrem erfolgreichsten Werk «Das andere Geschlecht» niederschrieb. Ihre Erkenntnis, «man wird nicht zur Frau geboren, man wird dazu gemacht von der Gesellschaft» hat ihr für immer den Status einer Ikone der Frauenbewegung verliehen.

Der Roman ist insoweit ein Zeugnis der weiblichen Emanzipation, die sich innerhalb der einen Generation von Mutter zur Tochter entscheidend weiterentwickelt hatte. Die Geschichte, die auch eine Rückblende auf die familiären Verhältnisse beinhaltet, wird äußerst detailverliebt erzählt in einer nüchternen, uneitlen Sprache, die flüssig zu lesen ist. Zweifellos aber ist der Roman als Auslöser für philosophische Diskurse geeignet, wozu auch die Frage gehört, ob jede medizinisch mögliche Verlängerung des Lebens wirklich immer geboten ist. Aus atheistischer Sicht bleibt mir unverständlich, warum man denn verzweifelt den doch fest versprochenen Einzug der bußfertigen Glaubenden in den Himmel unbedingt hinausschieben will? Bedeutet das etwa Zweifel an den Grundfesten religiöser Verheißungen? Die Versöhnung zwischen Mutter und Tochter findet nur nonverbal statt, durch Gesten, Lächeln, ein sanfter Tod also zu guter Letzt, wenigstens auf emotionaler Ebene. In einer resümierenden Schlussbetrachtung beleuchtet die Autorin den Tod aus existentialistischer Sicht, er sei widernatürlich, «weil seine Gegenwart die Welt in Frage stellt», ein Unfall für den Menschen «und, selbst wenn er sich seiner bewusst ist und sich mit ihm abfindet, ein unverschuldeter Gewaltakt».

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek

Der Tod eines Bienenzüchters

gustafsson-1Kein Jahrhundertroman

Der jüngst verstorbene schwedische Schriftsteller und Philosoph Lars Gustafsson hat ein vielseitiges Œuvre aufzuweisen, in dem neben philosophischen, lyrischen und literaturwissenschaftlichen Werken auch die Epik eine gewichtige Rolle einnimmt. «Ich neige dazu, mich als einen Philosophen zu betrachten, der die Literatur zu einem seiner Werkzeuge gemacht hat» lautet seine Selbsteinschätzung. Seine fünfteilige Romanreihe «Risse in der Mauer» wird durch den 1978 erschienenen Roman «Der Tod eines Bienenzüchters» abgeschlossen, der von der Süddeutschen Zeitung durch Aufnahme in ihre Bibliothek «Hundert große Romane des 20. Jahrhunderts» exemplarisch hervorgehoben wurde. Zu Recht?

Bei einem solchen Titel darf der Leser natürlich keine leichte Lektüre erwarten, und so ist man hier auch schon bald ziemlich betroffen von der emotionslosen Schilderung des Sterbens – nicht des Todes – eines erschreckend vereinsamten Menschen. Der Verfasser stellt seinen Protagonisten Lars Lennart Westin als vierzigjährigen, vorzeitig pensionierten Volksschullehrer vor, früh gealtert, geschieden, kinderlos, der allein und abgeschieden in einer einfachen Kate wohnt und seinen Lebensunterhalt unter anderem als Bienenzüchter bestreitet. Ein viel zu spät erkanntes Krebsgeschwür wird seine Todesursache sein, lässt uns der Autor in einer als «Vorspiel» bezeichneten Einleitung wissen, in der ein anonymer Erzähler sich dann schließlich direkt an die Leser wendet: «Die Stimme, die ihr von jetzt an hören werdet, ist seine, nicht meine, und deshalb nehme ich hier von euch Abschied.» Es folgt eine Quellenübersicht, die drei Notizbücher nennt, deren ältestes 1964 begonnen wurde.

Als Ich-Erzähler berichtet Westin nun zunächst selbst von seiner Untersuchung in der Klinik, deren Ergebnis ihm per Brief zugeht, den er aber aus Angst vor dem darin enthaltenen Befund nicht öffnet. «Diesen Brief benutzte er als Fidibus» heißt es am Ende des Kapitels, er verbrennt ihn ungelesen. Nach zwei weiteren Kapiteln über seine Ehe und seine Kindheit werden immer wieder seine Schmerzen thematisiert, denen er trotzig gegenübertritt, dem Motto von Nietzsche folgend: «Was mich nicht umbringt, macht mich stärker». Überirdisches ist Thema im Kapitel «Als Gott erwachte», eine herbei fantasierte Wunschwelt, die uns mit einem grenzenlos gütigen Gott überrascht. Nach einer Rückblende auf glückliche Zeiten in der Jugend unter dem Titel «Memoiren aus dem Paradies» leitet das letzte Kapitel mit kurzen Textfragmenten in die Schlussphase der Krankheit  ein, endend mit dem Krankenwagen, der ihn holen kommt. «Man kann immer noch hoffen» lautet der letzte Satz, der im Roman des Öfteren zitiert wird

Der handlungsarme Roman ist in einer einfachen Sprache geschrieben, nüchtern und sachlich wird da erzählt, nordisch unterkühlt, wie ich finde. Mehr Verlorenheit als bei dieser einsamen Figur des Bienenzüchters ist selten zu finden, er ist extrem beziehungsarm und geht einem einsamen Tod entgegen. Sein Hund und die Natur, die seine Kate umgibt, sind alles, was sein Dasein ein wenig erhellt, Westins Sterben ist eher ein Krepieren in einer selbst gewählten Isolation. Philosophische Mutmaßungen über das Ich, die seelische Verfassung des trostlosen Protagonisten, eine selbstkritische Inventur seiner Versäumnisse, die verpassten Gelegenheiten bestimmen große Teile dieses Romans. Überzeugt hat mich letztendlich weder die Geschichte selbst noch ihre sprachliche Umsetzung, das Fragmentarische wirkt arg konstruiert, es erzeugt zudem keine positive Wirkung im Rahmen des kargen Plots. Das sogenannte «Vorspiel» ist einfach nur stilistische Spielerei, und auch die Wechsel der Erzählperspektive tragen nichts erkennbar Positives bei, sie erscheinen mir reichlich unmotiviert. Von den Bienen schließlich erfährt man so gut wie nichts, dabei hätte ihr Sozialverhalten für die aufgeworfenen philosophischen Fragen so manche Anregung geben können. Wahrlich kein Jahrhundertroman!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Der seekranke Walfisch

kishon-1Eine typische Sommerlektüre

Seit jeher haben ja Reisebücher in der Literatur ihren festen Platz, gehören doch die erstaunlichen Eindrücke und unerwarteten Erlebnisse in fremden Landen mit zu dem Interessantesten, was man erzählen kann. Und so reicht diese Art von Literatur bis weit in die Antike zurück und hat selbst die berühmtesten Autoren auf den Plan gerufen, Goethe mit seiner «Italienischen Reise» sei da als hochrangiges Beispiel genannt. Mark Twain hat nach seinen ausgedehnten Reisen durch Europa in humorvollen Reiseberichten voller Anekdoten das soziale Verhalten in den besuchten Ländern auf lustige Art beschrieben. Ausgesprochen Satirisches ist von Ephraim Kishon in «Der seekranke Walfisch» mit dem Untertitel «Ein Israeli auf Reisen» zu diesem Thema zu lesen, womit er deutlich über Twains erstaunt lächelnde Ironie hinausgeht. Ferenc Hoffmann, in Budapest geboren und 1949 nach Israel ausgewandert, nahm dort, wie allgemein üblich damals, als israelischer Neubürger auch einen neuen Namen an, und wie es bei einem Schriftsteller mit humoristischem Schwerpunkt nicht anders zu erwarten ist, gibt es auch dazu eine nette Anekdote. Charakteristisch für Kishons Werk ist seine derb-humorige Erzählweise, mit der er überaus erfolgreich war, seine weltweite Auflage, in viele Sprachen übersetzt, liegt bei mehr als vierzig Millionen Büchern, oft verfilmt, teilweise auch unter seiner Regie.

Die skurrile Übertreibung als Wesensmerkmal seines Schreibstils findet sich auch in diesem Reisebuch, und in deren Schutz nun übt er zum Teil bissige Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und an den Menschen, die dafür Verantwortung tragen oder die sich dem alltäglichen Wahnsinn widerspruchslos ergeben haben. Mit Ironie und Spott werden sie der Lächerlichkeit preisgegeben, sehr zum Vergnügen des Lesers natürlich, der sich ja immer freut, wenn über andere Witze gemacht werden. Aber Kishon prangert auch die Zustände im eigenen Lande an, geißelt mit seinem scharfen Zynismus Israel und die Juden, und er macht dabei auch vor sich selbst nicht Halt, sogar «die beste Ehefrau von allen», wie er sie nennt, wird bei passender Gelegenheit gelegentlich auch als «Die Schlange, mit der ich verheiratet bin» bezeichnet.

In acht Kapiteln wird diese wunderliche Reise Kishons mit seiner Frau beschrieben, die sie nach Europa und Amerika führen soll. Schon die Zeremonien der Vorbereitung bergen viel humoristischen Zündstoff, und auf den verschiedenen Stationen dieser Reise, beginnend auf Rhodos, weiter nach Italien, der Schweiz, Frankreich, England und schließlich Amerika, kommt man aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus. Denn immer wieder wird Absurdes entlarvt in den Charakteren der Einheimischen und in den Eigenheiten ihrer Lebensweise. Zum Glück für uns deutsche Leser wird uns der Spiegel nicht vorgehalten von Kishon, er hat Deutschland links liegen gelassen auf dieser Reise, und so bekommen nur die Anderen ihr Fett ab. Kishons Sicht auf die alltäglichen Begebenheiten und seine Schlussfolgerungen sind immer wieder staunenswert, wobei er für meinen Geschmack aber deutlich zu stark aufträgt, so als ob er befürchtet, der Leser könnte eine feinsinnigere Satire nicht als solche erkennen. Diese zum Absurden neigende Holzhammermethode ist gewöhnungsbedürftig und teilt die große Schar der Leser in zwei Fraktionen, zu deren eindeutig kleinerer, diesem speziellen Schreibstil eher skeptisch gegenüberstehender, ich mich ausdrücklich auch zähle. Wer’s hingegen drastisch mag, für den ist dieses amüsante Buch eine wahrlich beschwingte Lektüre, idealerweise zu lesen, wenn die flirrende Hitze eines Sommers mit der Rangbezeichnung «Jahrhundert» ernsthaftere und anspruchsvollere Lektüre schier unmöglich macht.

Fazit: mäßig

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Illustrated by Bastei Lübbe

Der Dieb

nakamura-1Ästhetik des Taschendiebstahls

Im Jahre 2015 erschien als erster der mehr als ein Dutzend bisher veröffentlichten Bände des unter Pseudonym schreibenden japanischen Schriftstellers Fuminori Nakamura sein Roman «Der Dieb» auch in deutscher Sprache. Vorbild für den Titelhelden war, wie er in einem Interview erklärte, Nezumi Kozō, ein 1832 hingerichteter Dieb, der in Japan oft mit Robin Hood verglichen wird. Anders als sein Pendant in der englischen Ballade hatte der allerdings seine Beute nicht unter die Armen verteilt, sondern selbst verprasst. Unser Romanheld wiederum ist Taschendieb, er bestiehlt nur Männer und ist ausschließlich auf deren Geld aus, die leer geräumten Brieftaschen wirft er in den nächsten Postkasten, sodass der Bestohlene sie mit dem übrigen Inhalt von der Polizei zurückbekommen kann.

Wir erleben den Ich-Erzähler, dessen richtiger Name Nishimura nur ein einziges Mal ganz nebenbei erwähnt wird, bei der Ausübung seiner Kunst, er streift ruhelos durch Tokio, sucht gezielt die für sein Metier geeigneten Orte auf, überfüllte U-Bahnen oder belebte Geschäftsstraßen, Einkaufszentren. Er beherrscht alle Tricks seines nicht ehrbaren Handwerks, agiert auf dem Höhepunkt seines Könnens instinktiv sicher und mit fließenden, geschmeidigen Bewegungen, behält seine Umgebung dabei stets genauestens im Auge, immer auf der Lauer nach dem richtigen Moment für seinen Zugriff. Nakamura hat all diese handwerklichen Details akribisch recherchiert, sich, um Genauigkeit bemüht, sogar selbst als Taschendieb geübt, wie er im Interview erklärt hat, mit einem Freund als Testopfer. Der Romanheld ist Taschendieb seit frühester Jugend, und so ist er ziemlich irritiert, als er im Supermarkt einen kleinen Jungen beim Ladendiebstahl beobachtet, in dem er sich selbst erkennt und den er spontan vor dem Ladendetektiv schützt. Der Junge sucht nun ständig seine Nähe, will von ihm lernen. Schon bald aber holt den Ich-Erzähler seine dunkle Vergangenheit als ehemaliges Mitglied der japanischen Mafia ein, Kizaki, ein Boss der Yakuza zwingt ihn, drei Aufträge für ihn zu erledigen, bei einem brutalen Überfall mitzuwirken, ein geradezu faustischer Pakt.

Nakamura erzählt seine verstörende Geschichte von den Randfiguren der japanischen Gesellschaft scheinbar teilnahmslos in einer knappen Sprache ohne jede Raffinesse, wobei er den Dieb als einsame, tragische Figur darstellt, der in geradezu missionarischer Absicht stielt. Kizaki stellt er hingegen als blumig sprechend und nachdenklich dar, quasi als Alltagsphilosoph, um so die Brutalität des Geschehens zu konterkarieren und Spannung zu erzeugen. Seine literarischen Vorbilder, hat er erklärt, wären Kafka, Camus und Dostojewski, und prompt wird Raskolnikow bemüht beim Briefing mit Kizaki. Der Roman ermöglicht dem Leser einen illusionslosen Blick in die Welt des Bösen, das Gute kommt im Roman nicht vor. Nakamura erzeugt seine unheilvolle Atmosphäre einerseits durch den menschenfeindlichen Moloch der Metropole Tokio, andererseits durch den Schauplatz einer mafiosen Unterwelt, ohne gleich ins Spektakel blutrünstiger Thriller abzugleiten. Eher kann man den Roman als Gesellschaftskritik auffassen oder als psychologischen Exkurs in moralische Grenzbereiche.

Kann Taschendiebstahl eine Ästhetik haben, kunstvoll sein? Man ist verunsichert, nicht zuletzt durch den Robin-Hood-Bonus, der in diesem «roman noir» auch mitschwingt. Leitmotivisch blendet der Autor immer wieder einen nur schemenhaft erkennbaren Turm in die Erzählung ein, den man als Symbol einer übergeordneten Macht, ja als Metapher für Gott deuten kann. Das düstere Geschehen ist deterministisch, ganz am Ende, beim blutigern Showdown, enthüllt Kizaki, dass alles, was passiert ist, genau so von ihm vornher bestimmt war. In seiner minimalistischen Sprache nicht überzeugend, vom Plot eher simpel und klischeehaft aufgebaut, bietet dieser Buch literarisch, abgesehen vom schelmenromanhaften Beginn, aus meiner Warte wenig Anreiz zur Lektüre.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Tabu

schirach-1Nomen est omen

Als Senkrechtstarter der deutschen Literaturszene hat Ferdinand von Schirach mit «Tabu» einen Roman vorgelegt, an dem sich die Geister scheiden. Monatelanger Bestsellerstatus und große Breitenwirkung auch im Ausland taugen mitnichten als Indiz für gute Literatur, und so mischt sich in den Chor der Jubel-Rezensenten denn auch prompt manche kritische Stimme, literarisch sei «noch reichlich Luft nach oben», urteilt beispielsweise die FAZ. Die Hassliebe des deutschen Feuilletons polarisiert sich in der hymnischen Rezension im «Spiegel» und dem gnadenlosen Verriss der «ZEIT». Was stimmt denn nun?

Letzteres, sage ich, der ich unwissend zu diesem Roman gegriffen habe, weder seine Thematik kennend noch die konträren Rezensionen oder gar ein anderes Werk des gefeierten Autors. Dieses Buch, war mein für mich ziemlich überraschendes Fazit, ist gründlich danebengelungen, und zwar aus vielerlei Gründen. Beginnen wir bei der Handlung, die grotesk unwirklich ist, zu abstrus, um hier komplett darüber zu berichten, auf einige wenige Einzelheiten will ich dennoch eingehen. Erzählt wird die Lebensgeschichte von Sebastian Eschburg, aus verarmtem «guten Hause» stammend, mit lieblosen Eltern, von Synästhesie betroffen, jahrelang Internatszögling. Anschließend Lehre als Fotograf, der dann in Rekordzeit ein weltweit gefeierter Künstler wird. Im zweiten Teil wechselt die Handlung abrupt, ein knorriger alter Rechtsanwalt übernimmt die Verteidigung des wegen Mordes angeklagten Protagonisten. All das wird in kurzen, präzise formulierten Sätzen nüchtern, geradezu «sachdienlich» erzählt, Schlag auf Schlag die Fakten aneinanderreihend und damit den Plot vorantreibend in einem selten so ausgeprägt zu erlebenden, komprimierten Text. Wer es sprachlich absolut schnörkellos mag, wird jubeln. Gar nicht schnörkellos hingegen ist der Plot selbst, man wundert sich über viele Abschweifungen, die dem Geschehen rein gar nichts hinzufügen, die eher falsche Erwartungen wecken wie das Nietzsche-Haus in Sils Maria mit seinen geraniengeschmückten Fenstern, um nur ein Beispiel zu nennen. Farblos bleiben auch die meisten Figuren, sie wirken gefühlsarm und ziemlich unsympathisch, allenfalls der Verteidiger vermag Empathie zu wecken beim Leser.

Zweifel sind angebracht, ob der anonyme Telefonanruf eines vermeintlichen Entführungsopfers und ein unter Folterandrohung erlangtes Geständnis tatsächlich einen Mordprozess ohne Leiche, – die einer unbekannten Frau obendrein, auszulösen vermag. Absurd auch die ausufernde Befragung des vernehmenden Polizisten über seine Einstellung zur Folter, ist doch aktenkundig und steht also von vornherein fest, dass so ein Geständnis gar nicht verwertbar ist. Fiktion des Autors? Oder denkbare Realität, ist er doch selbst Strafverteidiger, dessen Kompetenz ja wohl außer Frage steht. Fragwürdig, um nicht zu sagen geradezu lächerlich, ist auch das ins Pornografische abgleitende, bis dato größte Werk des gefeierten Künstlers mit dem Titel «Sofias Männer», für das Goyas Zwillingsgemälde «Die nackte Maja» und «Die bekleidete Maja» die Idee geliefert haben. Auf Eschburgs Foto ist seine Freundin Sofia nackt und 16 Männer in Anzügen stehen um sie herum und starrten sie an. «Auf dem zweiten Bild trug Sofia die Kleider der Maja. Die Männer standen so wie auf dem ersten Bild, aber jetzt waren sie nackt. Mit der gleichen Kopfhaltung starrten sie Sofia an, ihre Schwänze waren steif, sie zeigten auf das Gesicht und auf den Körper Sofias. Zwei der Männer hatten ihr Sperma auf Sofias Bluse gespritzt». Was will uns der Autor damit sagen? Und natürlich wird dieses grandiose Kunstwerk sogleich an einen Japaner verkauft, «du bist jetzt reich», sagt Sofia dazu. Es gibt dergleichen Peinliches mehr in diesem Buch, mancherlei philosophisches Geschwafel und psychologische Plattheiten obendrein, allzu viel ist inkonsistent und reichlich irritierend.

Mit minimalistischen Hauptsätzen als Werkzeug malt man literarisch kein hinreißendes Ölbild wie das der nackten Maja, eher die hastige Entwurfsskizze eines Frauenakts. Dementsprechend wirkt dieser Roman mit seiner verworrenen Geschichte, deren tieferer Sinn sich wohl nur der geistigen Elite unter den Lesern zu erschließen vermag, stilistisch freudlos, bar jeder Emotion, garantiert humorfrei außerdem. Wer eine erfreuliche, eine bereichernde Lektüre schätzt, dem sei geraten, den nebulösen Buchtitel hier mal ganz wörtlich zu interpretieren, frei nach Plautus: «nomen est omen».

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Verführungen

streeruwitz-2Für die Fragen- und Denkbereiten

Schon mit ihrem 1996 erschienenen Debütroman «Verführungen» hat die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz eine ganz eigenständige Poetik etabliert, an der man ihre Texte unschwer erkennen kann. Prägend für sie war nach eigenem Bekunden Faulkners Roman «Schall und Wahn», ein Schlüsselerlebnis literarischer Dekonstruktion. Die davon inspirierte, eigenwillige Syntax der nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch streitbaren Autorin kann als ihr ureigenes literarisches Markenzeichen gelten. Als Zielgruppe ihrer stets infrage stellenden Literatur wolle sie die etwa zehn Prozent «Fragen- und Denkbereiten» erreichen, mit ihnen möchte sie «ins Gespräch kommen». Was nach Gutenbergs Erfindung ja nichts anderes bedeutet, als von ihnen gelesen zu werden. Also los!

Im vorliegenden Roman bezieht sich das literarische Infragestellen auf den trostlosen Alltag der Protagonistin Helene, einer dreißigjährigen Mutter von zwei kleinen, schulpflichtigen Töchtern, die von ihrem Ehemann verlassen wurde. Als Alleinerziehende kämpft sie einen einsamen Kampf mit widrigen Lebensumständen, zu denen die prekäre Teilzeitbeschäftigung in einer kleinen PR-Agentur ebenso gehört wie die ständigen Geldnöte, ihr bösartiger Exmann zahlt nämlich keinen Unterhalt, auch für die Kinder nicht. Die gleich nebenan wohnende Schwiegermutter hilft ihr, so gut sie kann, versorgt ihre beiden Enkeltöchter. Ihre beste Freundin Püppi, ebenfalls allein erziehend, lebt im Chaos und verfällt immer mehr dem Alkohol, sie ist eher Belastung als Hilfe. Helene ist oft so verzweifelt, dass sie an Suizid denkt, ihr desaströser Seelenzustand zeitigt sogar körperliche Beschwerden. Sie ist oft zum Umfallen müde, möchte einfach nur daliegen, nichts mehr sehen und hören. Als der Musiker Henryk in ihr Leben tritt, entsteht aus dem anfangs prickelnden, leidenschaftlichen Verhältnis bald eine weitere Enttäuschung. Er erweist sich nämlich als undurchschaubar, unzuverlässig, verschwindet oft für längere Zeit ohne jede Nachricht, der Mann ist ein weiterer Alptraum in ihrem ohnehin schon beschwerlichen, freudlosen Alltag. Immer wieder entflieht Helene für kurze Zeit in die Natur, fährt mit dem Auto ins Grüne, sucht im Alleinsein fernab vom geschäftigen Wien neue Kraft zu schöpfen für den Lebenskampf, in den sie sich vehement immer wieder von neuem stürzt, stürzen muss.

«Das reale Frauenleben hat in der Kunst keinen Platz, und diese humorigen Bücher für den Strand schwindeln sich ununterbrochen über diese Tatsache hinweg. Der Alltag der Frauen ist in Deutschland nicht genug literaturfähig. Ich will mit meinen Texten dieses Tabu brechen.» Streeruwitz tut dies in einer stakkatoartigen, adjektivarmen, spröden Sprache, die ihre engagiert feministische Thematik wirkungsvoll unterstreicht mit kurzen, meist kommalosen Hauptsätzen, oft sogar nur rudimentären Satztorsos. Sie erzählt ihre zeitlich etwa sieben Monate bis zur Deutschen Wiedervereinigung 1989 umfassende Geschichte strikt chronologisch, in episodenhaft aneinander gereihte, für sich genommen banale Einzelszenen gegliedert. Dabei benutzt sie als Stilmittel häufig den inneren Monolog und bleibt als auktoriale Erzählerin nicht erkennbar im Hintergrund.

Das Leitthema dieses Romans ist die verzweifelte Ohnmacht einer Frau und Mutter in einer männlich dominierten Gesellschaft, hier von der Autorin aus einer sehr zugespitzt feministischen Perspektive erzählt. Die Männer machen dabei allesamt keine gute Figur, sind jedenfalls wenig hilfreich, eher ursächlich für Helenes ermüdenden, zermürbenden Lebenskampf, für den eine strukturierende Moral oder Werteordnung nicht zu existieren scheint. Ein Roman zum Weiterdenken also, gekonnt und ambitioniert geschrieben zudem. Er endet ziemlich abrupt – und unerwartet versöhnlich – im Warteraum des Arbeitsamtes: «Zuerst würde sie den Computerkurs machen. Und dann war Weihnachten. Und dann. Im nächsten Jahr würde alles besser werden. Helene wurde aufgerufen».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Was für ein schöner Sonntag

semprun-1Was für ein schöner Kommunismus!

Das Werk des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún ist geprägt durch seine bewegte Jugend, 13-jährig ging er mit seiner Familie wegen des Bürgerkriegs ins holländische Exil, nach dem Sieg Francos dann nach Paris. Er studierte dort Philosophie und trat 1941 der kommunistischen Résistance bei, wurde 1943 von der Gestapo verhaftet und 1944 ins KZ Buchenwald deportiert. Sein 1980 erschienener Roman «Was für ein schöner Sonntag» ist der Versuch einer späten, nachträglichen Aufarbeitung dieser für den damals jungen Mann prägenden Erlebnisse, sie stellt eine berührende Mahnung zur Humanität dar. Wie auch in vielen anderen seiner Werke geht es ihm hier besonders um das Vergessen, dem beschönigenden Verblassen historischer Schreckensbilder, dem er literarisch entgegen wirken will.

Die eigentliche Handlung betrifft einen einzigen Tag, einen Sonntag im Dezember 1944. Der Autor ist als Häftling 44904 in der Arbeitsstatistik des Konzentrationslagers Buchenwald eingesetzt, in dem viele politische Gefangene interniert sind. Ein privilegierter Schreibtischjob, der ihn vor den gefürchteten Außeneinsätzen bewahrt. In einer Art Vorspiel im Kapitel Null der in sieben Kapitel gegliederten Geschichte erzählt Semprún von einem Freigang, bei dem er die auf einer Wiese stehende, vermeintliche Goethe-Buche auf dem Hügel von Ettersberg bewundert. Was ihn fast das Leben gekostet hätte, denn ein SS-Mann entdeckt ich dort abseits des Weges. In diesem Vorspann bereits lässt der Autor Léon Blum, den ehemaligen französischen Ministerpräsidenten, und Goethe mit Eckermann auftreten, man ahnt da schon, dass wohl recht unkonventionell erzählt werden wird im Weiteren.

Und so ist es denn auch, die Erzählung folgt keinem planvoll angelegten Handlungsfaden, sie ist in keiner Weise chronologisch aufgebaut. Vielmehr folgt sie den Assoziationen des Ich-Erzählers, seinen zeitlich wilden Gedankensprüngen, die irgendein geschildertes Detail, eine bestimmte Erinnerung bei ihm auslösen, ihn damit allerdings auch permanent vom Thema ablenken. Und so findet man massenhaft Sätze wie «Aber wir wollen nicht abschweifen» oder, noch besser: «Aber wo bin ich stehen geblieben»? Oder Sätze wie: «Aber wir sind zwanzig Jahre früher an einem Sonntag in Buchenwald». Ein weiteres Stilmittel ist der häufige Wechsel der Erzählperspektive, der personale Ich-Erzähler wird unvermittelt zum Er-Erzähler, der von Gérard berichtet, den Decknamen aus dem kommunistischen Untergrund benutzend, und plötzlich wird dann auch noch suggestiv in der Du-Form erzählt, alle drei Formen finden sich zuweilen auf einer einzigen Seite.

Semprún stellt dem KZ-System der Nazis den stalinistischen GULAG gegenüber, manche seiner russischen Mitgefangenen landen nach der Befreiung gleich wieder in einem sowjetischen Straflager, man hält sie für Kollaborateure. Als Philosoph ergeht sich der Autor in schier endlosen Erörterungen des Kommunismus, redet von Dialektik, von Treffen der Komintern, vom Untergrundkampf in einer Detailfülle, die den Normalleser nicht nur überfordert, sondern verschreckt. In nicht nachvollziehbaren politischen Diskussionen und Winkelzügen einer endlos erscheinenden Reihe von Figuren, deren Namen allenfalls Insidern bekannt sein dürften, mit seinen ständigen Reisen kreuz und quer durch Europa verwirrt uns der Autor, der oft selbst nicht mehr weiß, wann, wo und warum. So ist dieser zwiespältige Roman einerseits eine fiktional angereicherte, interessante Autobiografie, andererseits die selbstgerechte Nabelschau eines kommunistischen Intellektuellen, der erst spät begreift, welcher menschenverachtenden Ideologie er gefolgt ist, wessen Sache er in Wahrheit gefördert hat. Den wenigen erfreulich zu lesenden Passagen dieses Romans steht eine nur Insider interessierende Textmasse gegenüber, die ungeordnete Gedankenflut eines spät geläuterten kommunistischen Aktivisten. Dem aber konnte ich, bei allem Respekt, partout nichts abgewinnen!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Lebensstufen

barnes-3Ein literarisches Taj Mahal

In seinem neuen Buch «Lebensstufen» verarbeitet der englische Schriftsteller Julian Barnes seine Trauer über den Tod seiner innig geliebten Frau. «Zwischen Diagnose und Tod lagen 37 Tage», wie er schreibt, und diese wenigen Tage waren beherrscht von «Angst, Schrecken, Sorge, Entsetzen». Nun könnte jemand, der das Buch schon kennt, einwenden, es gäbe neben dem letzten Teil über die Trauerarbeit des Autors ja noch zwei weitere, vorangehende Teile, in denen es um Anderes geht. Und in der Tat, der für sein Romanwerk mit bedeutenden Literaturpreisen geehrte Autor hat im vorliegenden Band versucht, so Verschiedenes wie die Anfänge der Ballonfahrt und der Fotografie mit solchen Themen wie Liebe und Trauer zu verbinden. Dieser Versuch aber ist gescheitert, es würde dem Buch nichts fehlen, hätte er die beiden ersten Teile einfach weggelassen. Denn die wenigen Stellen, in denen vage Bezüge zwischen ihnen geknüpft werden, sind keineswegs überzeugend, sie wirken konstruiert und nur dazu bestimmt, die seltsame literarische Melange aus einem Essay, einer Kurzgeschichte und einem autobiografischen Bericht irgendwie zu rechtfertigen.

Unter der Überschrift «Die Sünde der Höhe» wird im ersten Teil von den Anfängen der Ballonfahrt erzählt, als kühne Männer den Traum vom Fliegen verwirklicht haben auf den Spuren von Ikarus. Der von mir ungemein geschätzte, ironische Erzählton von Julian Barnes, sein trockener britischer Humor, blitzt hier – aber leider nur hier – an einer Stelle kurz auf. Wenn nämlich die englischen Ballonfahrer nach glücklicher Landung in Frankreich dem Wind dankbar sind, der sie dorthin getrieben habe, der kulinarischen Genüsse wegen, denen sie bei der Begrüßungsfeier entgegensehen, kein Vergleich mit dem, was sie bei einer Landung irgendwo auf englischem Boden erwarten würde, erklärt der frankophile Autor. Auch «La divine Sarah» wagt sich in den Ballon, die legendäre Schauspielerin Sarah Bernhardt, die Göttliche, und Gaspard Félix Tournachon alias Nadar macht aus der Gondel die ersten Luftaufnahmen. Zu den kühnen Aeronauten gehört auch Fred Burnaby, der sich im mehr fiktional angelegten zweiten Teil «Auf ebenen Bahnen» in die Diva verliebt und natürlich scheitert, eine Göttin heiraten zu wollen muss ja schiefgehen.

«Ein Buch über das Wagnis zu lieben» kündet der Klappentext an, und so ist denn schließlich, nach einem Zeitsprung von mehr als hundert Jahren, auch der dritte Teil das, worum es eigentlich geht: Die tiefe Liebe des Autors zu seiner Frau Pat Kavanagh und der Schrecken, als er sie nach dreißig Ehejahren plötzlich verliert. Es ist eine wahrhaft grenzenlose Liebe, die da vor uns ausgebreitet wird, man ist geschockt und tief gerührt als Leser über den unbewältigten Schmerz dieses Mannes, der mit seiner neuen Lebenssituation nicht umgehen kann, sie nicht akzeptieren will, auch nach mehreren Jahren noch nicht. Mit einer Fülle von Gedanken und leidvollen Erfahrungen als Hinterbliebener versinkt Julian Barnes in eine scheinbar nicht enden wollende Trauer, bei der ihn, der sich einmal selbst als glücklichen Atheisten bezeichnet hat, keine Jenseitsversprechen, kein Glaube an Wiedergeburt oder den Eingang ins Nirwana trösten.

In seiner posthumen literarischen Liebeserklärung, die souverän konventionelle Gattungsgrenzen ignoriert, hat Julian Barnes, den man der Postmoderne zuordnet als Autor, in beeindruckender Weise die Schrecken geschildert, die der Tod auf den hinterbliebenen Partner auszuüben vermag, ja die in seinem Fall sogar Gedanken an Suizid ausgelöst haben. Nicht alle seiner diesbezüglichen Reflexionen sind überzeugend, manche Vergleiche erscheinen mir missglückt in seiner sehr persönlich gehaltenen Geschichte. Er erzählt unpathetisch und atmosphärisch dicht von der unsäglichen Trauer um seine Frau, der er mit diesem intimen Buch eine Art literarisches Taj Mahal errichtet hat, das mir allerdings in etlichen Aspekten nicht als gelungen erscheint.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Nachgetragene Liebe

haertling-1Von der Seele geschrieben

In dem autobiografischen Band «Nachgetragene Liebe» widmet sich der 1933 geborene Schriftsteller Peter Härtling seiner eigenen Vergangenheit, er erinnert sich darin an seine Kindheit bis hin zum Ende des Zweiten Weltkriegs, zeitlich also denkungsgleich mit der unsäglichen Geschichte des Nationalsozialismus. Es ist eine späte Aufarbeitung des Verhältnisses zu seinem Vater, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Erinnerungen war Härtling immerhin schon sechzig Jahre alt. Im umfangreichen Werk dieses vielseitig interessierten, mit Vielem befassten Autors hat die Thematik des Erinnerns und der Bewältigung der Vergangenheit, sowohl in seiner Lyrik als auch in seiner Prosa, einen gewichtigen Anteil.

«Mein Vater hinterließ mir eine Nickelbrille, eine goldene Taschenuhr und ein Notizbuch, das er aus grauem Papier gefaltet und in das er nichts eingetragen hatte als ein Gedicht Eichendorffs, ein paar bissige Bemerkungen Nestroys und die Adressen von zwei mir Unbekannten. Er hinterließ mich mit einer Geschichte, die ich seit dreißig Jahren nicht zu Ende schreiben kann». Diesen einleitenden Worten folgt eine im Präsens erzählte Geschichte, beginnend mit den ersten Entdeckungstouren des fünfjährigen Peter Härtling auf dem Dreirad, der wissbegierig seinen Heimatort Hartmannsdorf bei Chemnitz erkundet. Schon die ersten Seiten dieser Erzählung erzeugen einen Sog, dem man sich als Leser kaum entziehen kann, mir ging es jedenfalls so, man fühlt sich wohl im Strom der Worte und will mehr wissen. Besonders reizvoll dabei ist die ungewohnte Ich-Perspektive eines Kindes, aus der heraus der Autor erzählt, er hat dafür eine überzeugende sprachliche Form gefunden, die man nirgendwo als aufgesetzt oder unglaubwürdig empfindet.

Härtlings Vater erscheint abweisend, fast unnahbar, ist als Richter und später als Rechtsanwalt immer beschäftigt, er ist die Respektsperson der Familie, nur selten auch Vollstrecker von Strafen, kümmert sich aber sonst kaum um die Erziehung des Sohnes. Umso stärker ist deshalb die Beziehung zur Mutter und zu den Großeltern, zu Onkeln und Tanten, die Peter in regem Wechsel gerne besucht. Zunehmend jedoch spielt die politische Situation in dieses friedliche Leben hinein, die Familie zieht nach Olmütz in Mähren um, wo sich Peter der Hitlerjugend anschließt, eine unbedachte und grobe Provokation seinen regimekritischen Eltern gegenüber, er entfernt sich dadurch erschreckend weit von seinem Vater. Der hilft als Anwalt tschechischen und jüdischen Mitmenschen gegen die Naziwillkür, ohne viel bewirken zu können, und wird bald zur Wehrmacht eingezogen, Peter sieht ihn für längere Zeit nicht mehr. Gegen Kriegsende, die Front rückt immer näher, taucht der Vater unerwartet wieder auf und evakuiert die Familie nach Zwettl in Niederösterreich. Dort hilft er im Chaos der Truppenauflösung als Offizier beherzt den flüchtenden Soldaten, indem er ihnen unautorisiert Entlassungsscheine ausstellt. Allmählich erscheint er dem vom Endsieg träumenden Peter in einem ganz anderen Licht. Kurz darauf jedoch stirbt der Vater in russischer Gefangenschaft, ohne dass Peter Gelegenheit zu einer Versöhnung mit ihm hatte, ohne dass er vorbehaltlos wieder Sohn werden konnte.

Als Zeitdokument beleuchtet dieses Buch eindrucksvoll das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, vor dessen Hintergrund sich schicksalhaft eine Vater-Sohn-Beziehung entwickelt, die mit ihrer zunehmender Entfremdung die politischen Ungeheuerlichkeiten widerspiegelt. Präzise erinnert, ebenso detailreich wie glaubhaft erzählt, entsteht das damalige Leben vor dem Auge des Lesers, und mittendrin immer Peter Härtling, der sich Jahrzehnte später hier offensichtlich etwas von der Seele schreiben musste.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

In Zeiten des abnehmenden Lichts

ruge-1Vergänglichkeit war noch nie ein vergnügliches Thema

Es ist erfreulich, dass immer wieder neue Autoren mit ihren Debütromanen renommierte Literaturpreise erringen, auf Anhieb also gleich in den Olymp der Literatur aufsteigen. So auch Eugen Ruge, der 2011 mit seinem Erstling eine Familien-Saga ablieferte, die jenen deutschen Staat widerspiegelt, der den real existierenden Sozialismus zu höchster Blüte getrieben hat, nach eigenem Verständnis jedenfalls. Als „gelernter Ossi“ hat der Autor manch Autobiografisches in seinem Roman verarbeitet, die Befindlichkeiten seiner Protagonisten, die vier Generationen repräsentieren, sind jedenfalls stimmig dargestellt in seiner kunstvoll aufgebauten Geschichte, die mit ihren diversen Kapiteln und einer Geburtstagsfeier im Zentrum ans Theater erinnert, – wen wundert’s denn auch!

«Ich hab eigentlich genug Blech im Karton» oder «Bring das Gemüse zum Friedhof» lässt Ruge den senilen Patriarchen der Familie, Altkommunist und Betonkopf zugleich, bei seiner Geburtstagsfeier immer wieder sagen, wenn ihm wertloses Ordensblech und heuchlerische Blumen überreicht werden. Wir lesen von all den Unzulänglichkeiten des täglichen Lebens, da wird überzähliger Kaviar gegen fehlende Dachfenster getauscht, die Suche nach einer akzeptablen Gaststätte gerät zur Odyssee in klirrender Kälte und endet in einer Imbissbude. Mit subtiler Ironie wird das Alltagsleben in jenem dem Untergang geweihten deutschen Staate geschildert, dessen Ideologie keinesfalls absurder war als die des Turbokapitalismus, wie wir ihn heute im wiedervereinigten Deutschland zelebrieren.

Eugen Ruges DDR-Saga ist übrigens weder mit den Buddenbrooks noch mit Tellkamps «Der Turm» vergleichbar, wie verschiedentlich behauptet. Hier geht es um die Lebenswelt einer zunächst weitgehend systemkonformen Familie, bei Tellkamp um eine eher oppositionell eingestellte systemferne Bourgeoisie. Und bei Thomas Mann ist die Familie kein Vehikel, mit dem eine Staatsordnung vorgeführt wird, sondern alleiniges Thema, bei ihm geht die stolze Familie unter, nicht der Staat.

In den nicht chronologisch angeordneten zwanzig Kapiteln wird alternierend jeweils aus Sicht eines der Protagonisten erzählt, oft in Form innerer Monologe und als kleine, in sich abgeschlossene Geschichten. Mit Abstand die Beste war für mich das liebeswerte Kapitel über die geradezu archaisch wirkende russische Großmutter, für die «schon jedes Haus aus Stein eine Kirche war». Diese aufgefächerte Erzähltechnik sorgt einerseits für Spannung, erfordert andererseits aber auch viel Aufmerksamkeit, denn alle diese Mosaiksteine formen sich erst im Kopfe des Lesers zu einem stimmigen Panorama, er muss also aufmerksam sein und mitdenken. Macht er sich diese Mühe, wird er mit einem großartigen Gesellschaftsbild einer vergangenen geschichtlichen Epoche bestens unterhalten. Ihm wird außerdem je nach Herkunft, als „Wessi“ aber ganz bestimmt, der Horizont erweitert, und zwar nicht nur ideologisch. Dass man nicht gerade in Hochstimmung gerät bei Ruges melancholischem Text, das liegt in der Natur der Sache, in Zeiten des abnehmenden Lichts, im Herbst des Lebens also, denn die Vergänglichkeit war noch nie ein vergnügliches Thema.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Pixel

toth-1Wie gewollt und nicht gekonnt

Bereits mit dem Titel «Pixel» und der dazu passenden Covergrafik gibt die ungarische Autorin Krisztina Tóth einen Hinweis auf die Struktur ihres Buches, eine Sammlung von dreißig Kurzgeschichten, von ihr als Novellen bezeichnet. So wie sich aus kleinsten Bildelementen ein digitales Bild zusammensetzt, so ergibt sich auch aus ihren Geschichten von dreißig menschlichen Körperteilen, die sie für ihre kapitelweise aneinandergereihten kurzen Prosatexte jeweils thematisch nutzt, ein Gesamtes.

Als vorherrschendes Thema dieser Kurzgeschichten kann man im weitesten Sinne die Liebe bezeichnen, in allen ihren Spielarten, von Trieben ausgelöst und von Urinstinkten gesteuert. Der Leser folgt der Autorin in einem tollkühnen Parforceritt durch das verminte Gelände aller Arten von menschlichen Bindungen, die nicht immer allen Belastungen standhalten, manchmal in ausweglose Situationen münden und dort nicht selten seelische Abgründe offenlegen. Gleich im ersten Kapitel mit der Überschrift «Die Geschichte der Hand» wird es dramatisch, eine Szene aus dem Warschauer Getto. Mit kindlichen Patschhändchen malt ein kleiner Junge mit Schneiderkreide Kreise auf den Tisch. «Die Tür wird eingetreten, die drei Menschen im Zimmer werden in die Ecke gedrängt. Celina springt auf, sie bemerkt noch die Schneiderkreide, doch sie kann nichts mehr sagen, weil sie erschossen wird». Es folgt ein Verwirrspiel, bei dem die Autorin als personale Erzählerin ihre Erzählung korrigiert, aus dem in Treblinka gestorbenen Jungen das Mädchen Irena macht, die zuletzt in Wirklichkeit Gavriela heißt und gar nicht tot ist. «Ich weiß, das hört sich so immer komplizierter an, doch können wir die widerstrebenden wirren Fäden der Wahrheit nicht zu einer glänzenden Quaste glätten».

Die literarisch bisher vorwiegend als Lyrikerin hervorgetretene Autorin biedert sich, ein wenig zu aufdringlich für meinen Geschmack, immer wieder ihren Lesern an. Sie treibt ihre kleinen Geschichten vehement voran, brilliert mit originellen Einfällen und verblüfft häufig mit überraschenden, manchmal wahrhaft aberwitzigen Wendungen. Erzählt ist das alles sehr distanziert, fast lakonisch, in einer einfach strukturierten, etwas holprigen Sprache, der man anmerkt, dass hier vom Ungarischen ins Österreichische übersetzt wurde; – ein Deutscher wie ich fragt sich beispielsweise verblüfft, was denn ein «Unterstandsloser» ist. Einige der Figuren tauchen in den dreißig Geschichten immer wieder mal auf, die «Frau mit den weinroten Haaren» ist so eine. Aus scheinbar zusammenhanglosen Begebenheiten formen sich auf diese Weise allmählich schwache Beziehungsfäden, es entsteht eine zeitliche Abfolge von miteinander verbundenen, sich gegenseitig bedingenden Ereignissen, die sich puzzleartig zu einem Gesamtbild fügen wie die Pixel eines digitalen Bildes. Auf ihren Text bezogen schreibt die Autorin im Klappentext dazu: «Die Worte für die Prosa stellen sich ein».

So kühn der Entwurf für dieses Buch auch anmutet, so wenig kann mich die daraus entstandene Prosa überzeugen. Das beginnt schon bei den Körperteilen, deren erzählerische Funktion häufig sehr aufgesetzt wirkt, eine geradezu zwanghafte Konstruktion, nur um ein vorgegebenes Schema durchzuhalten. Einige der Kurzgeschichten erscheinen mir weitgehend sinnfrei, die für eine übergeordnete Sinnhaftigkeit beschworenen Querverbindungen sind oft nur schemenhaft zu erkennen, zuweilen auch gar nicht. Alle Figuren bleiben unkonturiert, erzeugen keine Empathie, sie stehen schablonenhaft für bestimmte menschliche Typen. Der lobenswerten Intention der Autorin folgt leider keine adäquate literarische Umsetzung, alles bleibt gutgemeintes Stückwerk, wirkt «wie gewollt und nicht gekonnt», und der Unterhaltungswert all dessen erscheint mir ebenfalls äußerst dürftig.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by LZ.Nischen Verlag

Das bessere Leben

peltzer-1Modern Times

Mit seinem fünften Roman «Das bessere Leben» hat es Ulrich Peltzer unter die Finalisten des Deutschen Buchpreises 2015 geschafft, eine aktuelle Prosa also, die von der Jury als «Ein Werk von enormer Wucht und Relevanz» angesehen wird. Charakteristisch für diesen Autor ist einerseits das Ausblenden einer realistischen, glaubwürdigen Außenwelt, sein Augenmerk liegt dominant, fast ausschließlich sogar auf der Innenwelt seiner Protagonisten, die immer wieder, und das ist ebenfalls spezifisch Peltzer, reine Großstadtmenschen sind. Landschaften würden wenig auslösen bei ihm, hat er dazu angemerkt, er sei am liebsten in Metropolen, und so sind denn auch viele seiner Figuren Weltbürger, den ökonomischen Global Players entsprechend, als deren Akteure sie fungieren.

Zwei solcher Managertypen sind Protagonisten des vorliegenden Romans, zum einen der Sales-Manager Ulrich Brockmann, der für einen in Turin ansässigen Hersteller von Anlagen zur Oberflächenveredlung tätig ist, und der Versicherungshändler Sylvester Lee Fleming, der Risikomanagement betreibt. Peltzer beschreibt deren berufliches Leben als ewige Hetze von Termin zu Termin, zwischen VIP-Lounges an den Flughäfen dieser Welt und den Rezeptionen und Lobbys der noblen Hotels, die sich weltweit so gleichen, dass man beim Aufwachen im Hotelzimmer schon mal kurz überlegen muss, wo man hier denn eigentlich ist. Beide bewältigen ihren stressigen Job, immer am Rande des Zusammenbruchs, nur mit dem extensiven Einsatz von Medikamenten, leiden unter Schlaflosigkeit ebenso wie unter Dauerkopfschmerzen. Der Sinn des Ganzen, so erfahren wir, ist «das bessere Leben» im Sinne materiellen Wohlergehens, Kapitalismus in reinster Ausprägung also, ein biblischer Tanz ums Goldene Kalb. Mit diesem sehr speziellen Gegenwartsbild wird eine ökonomische Wirklichkeit beschrieben, in der mit höchstem Risiko nur noch dem schnellen Geld hinterher gejagt wird von Deal zu Deal, bei dem die Akteure allerdings ständig der Gefahr des bodenlosen Absturzes ausgesetzt sind. Die Casino-Mentalität der Finanzwelt ist also auch in der sogenannten Realwirtschaft angekommen. Die Produkte scheinen nebensächlich geworden zu sein, man identifiziert sich nicht mehr mit ihnen, nur der kurzfristig erzielbare Profit zählt noch.

Dass Zwischenmenschliches dabei entschieden zu kurz kommt, versteht sich von selbst. Der Autor erzählt seine Geschichte zu weiten Teilen in Form des Bewusstseinsstroms aus der Perspektive verschiedener Protagonisten. Das führt dann dazu, dass seine entsprechend verknappte Prosa gespickt ist mit Schlagwörtern, unvollständigen Sätzen, der Globalisierung geschuldeten Anglizismen sowie banalen Phrasen aus der Alltagssprache, häufig natürlich auch in Englisch. Zusätzlich bremsen viele eingestreute, in Klammern gesetzte Ergänzungen, Fragen, Bekräftigungen ebenso wie häufige Auslassungen den Lesefluss. Angereichert ist das Ganze mit Reminiszenzen an einstige linke Ideale und mit alltagsphilosophischen Anmerkungen, deren gedankliche Tiefe konsequent auf Stammtischniveau begrenzt bleibt.

Unwillkürlich fühlte ich mich bei der Lektüre an den Chaplin-Film «Modern Times» erinnert. Der damals thematisierten Zeitenwende der industriellen Revolution entspricht die hier geschilderte ökonomische Wende von Nutzen stiftender, realer Produktion hin zu rein virtuellen, anonymen Geschäften, denen anscheinend nichts Greifbares mehr gegenübersteht. Ein vom Ziel her ambitionierter Roman also, dessen Umsetzung allerdings nicht überzeugen kann. Indem der Autor die aufgeworfenen Themen ohne eigene Reflexion ausschließlich der intellektuellen Ebene seines Figurenensembles überlässt, fehlt seinem Text ein wichtiges Korrektiv, macht ihn gedanklich damit trivial. Er ist auch nicht gerade leicht zu lesen mit seinem üppig mäandernden Plot, der in einer kitschigen Familienfeier endet, die so gar nicht zum vorher Erzählten passen will. Schade eigentlich, die Intention hinter alldem ist ja lobenswert!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main