Der Traum vom Fremden

Der Traum vom Fremden. „Laufe Gefahr, mein Wort zu brechen und mich selbst zu verraten. Hatte ich nicht geschworen: Keine leeren Worte mehr! Überhaupt keine Worte mehr! Am besten verstummen; Taubstummensprache für die notwendigen Mitteilungen, Gesten, Gebärden – wie jeder Laut Übelkeit in mir hervorruft, ein ganzer Satz mich zum Erbrechen bringt und ein Gedicht – ein Gedicht ist der Tod!“ So hätten die Gedanken von Arthur Rimbaud in Ostafrika 1883 wohl lauten können, denn er hatte der Poesie und Europa abgeschworen und sich als Sklaven- und Waffenhändler bis in den Ogaden durchgeschlagen. Michael Roes nimmt einen ein authentischen Bericht (Rapport nur l’ogadine par M. Arthur Rimbaud), den Rimbaud 1883 über den Ogaden verfasste, als Grundlage für sein Rimbaud-Reflexion: ein fiktives Tagebuch, das durch die letzten Tage des französischen Dichterfürsten führt.

Der Traum vom Fremden

Ist das nicht die Freiheit, die Hölle, die ich gesucht habe? Jeder und niemand, ohne Familie, ohne Heimat oder Herkunft, ein Vagabund, Brisant, eine Wegelagerer, Halsabschneider, Meuchelmördder.” Der Plot handelt von seinem verschwundenen Geschäftspartner Sotiro, den Rimbaud durch eine Mission in den Ogaden retten will. Mit einer kleinen Mannschaft vertrauter Einheimischer dringt er in die noch unerforschte Wildnis vor und versucht, das Unternehmen möglichst nüchtern und wissenschaftlich zu protokollieren. Aber immer Gedanken und Gespenster aus der Vergangenheit drängen sich ihm auf: fiebrige Erinnerungen an die Amour fou mit Paul Verlaine, seine kaum erforschte Zeit bei der Fremdenlegion und seinen Neuanfang in Afrika. Aber auch die neu entdeckte Welt gemahnt ihn an seine Berufung: Die Ogadeni “verfassen über alles und jeden Lieder: sie unterscheiden nicht zwischen einer poetischen und einer nüchtern-sachlichen Sprache. Ihnen gilt Poesie als höchste Erkenntnis“.

Fiktives Tagebuch Arthur Rimbauds in Afrika

Vom 3.Oktober bis zum 11. November 1883 reichen die Eintragungen in das fiktive Tagebuch, das Michael Roes mit viel Einfühlsamkeit und Recherche geschrieben hat. Während sich Arthur Rimbaud in den Jahren 1875-1886 auf seine persönliche Odyssee begab und neben Europa auch Sumatra, Ägypten und Aden bereiste gibt sein verlorener Freund Verlaine eine Sammlung literarischer Studien unter dem Titel “Die verfemten Dichter” heraus. Dadurch erlangt Rimbaud noch zu Lebzeiten eine größere Bekanntheit. Der Handlungsreisende, Kaffeehändler, Teppichhändler und Freiwilliger der niederländischen Armee stirbt schließlich an Knochenkrebs. 1891 führt ihn die Heimreise nach Marseille wo er am 10. November im Alter von nur 37 Jahren stirbt. Der Autor Michael Roes, geboren 1960 in Rhede / Westfalen, ist Autor und Filmemacher, vor allem Dialoge mit nicht-europäischen Kulturen. Seine eigenen Reisen in den Jemen, nach Israel, Algerien, Afghanistan und Mali bilden den Hintergrund für viele seiner Werke.

 

Michael Roes
Der Traum vom Fremden
2021, Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 230 Seiten
ISBN: 978-3-86300-323-4
Albino Verlag
€22.00


Genre: Biographie, Reisen, Tagebuch
Illustrated by Albino

Über Gemälde von Segantini

Über Gemälde von Giovanni Segantini

Giovanni Segantini (1858–1899) wurde im damals österreichischen Arco am Gardasee geboren. Als Siebenjähriger verlor er nicht nur seine Mutter, sondern auch seine Staatsangehörigkeit. Eine Halbschwester war dafür verantwortlich und so blieb Segantini sein Leben lang staatenlos. Schon sein erstes größeres Gemälde sorgte für Aufsehen: der gewählte Lichteinfall richtete den Spot(t).

Verkannter, zu Unrecht vergessener, staatenloser Heimatmaler

Was in Frankreich gemeinhin als Pointilismus bezeichnet wurde, nennt man im Falle Giovanni Segantinis Divisionismus. Krüger nennt es “Flechttechnik”, die ein Ineinanderweben von unzähligen Einzelheiten, die dennoch differenziert und Schaft gesondert aber als Einheit dargestellt wurden. Das Faszinierende an Segantinis Gemälden sind für Krüger aber nicht nur die Farben und Lichteinfälle, sondern auch die Tatsache, dass er als einer der wenigen Maler seiner Zeit Landwirtschaft auch als harte Arbeit darstellte. Die idyllischen Bilder anderer Maler suggerierten stets, dass die Natur uns von selbst ernähre solange man sie respektvoll behandle und nicht malträtiere (Krüger). Gerade darin seien Segantinis Bilder moderner und nähmen Sujets vorweg, die erst nach seinem Tod populär wurden.

Über Gemälde von Giovanni Segantini

Segantini habe das Schicksal erlitten, zwei drei Jahrzehnte als Maler europäischen Ruhm zu ernten, danach aber weitgehend der Vergessenheit anheimzufallen und heute in der Kunstgeschichte nur mehr am Rande erwähnt werde, zitiert Krüger den marxistischen Kunstkritiker Konrad Farner. Mitte der Sechziger sei es zudem nicht “diskursfähig” gewesen, einem Maler zu huldigen, der sich ins Hochgebirge zurückgezogen hatte und hauptsächlich Tiere und Pflanzen malte. Selbst die Kuh wird heutzutage als Treibgasproduzent unter Generalverdacht gestellt, wie Krüger ironisch bemerkt. Aber es braucht keiner Rechtfertigung die Bilder Segantinis zu betrachten, denn was Kunst und Kitsch unterscheidet ist einzige der Lauf der Zeit.

Faszination des Verlorenen

„Voglio vedere le mie montagne“ („Ich will meine Berge sehen“) waren die letzten Worte Segantinis, die über 70 Jahre nach seinem Tod Joseph Beuys zu der gleichnamigen Rauminstallation inspirierten. In vorliegendem Bildband betrachtet man etwa die “Vanità” (Eitelkeit), “la fonte del male” (die Quelle des Übels), aus dem Jahr 1897, das eine nackte Frau vor einem Bergtümpel zeigt, in dem sie ein Bad zu nehmen gedenkt. Es zeigt eine einfache, gebirgige Landschaft in aller Schlichtheit und mit eher düsterer Farbwahl, die der Szenerie etwas Geheimnisvolles verleiht. Der Tümpel in dem sie zu baden gedenkt könnte nämlich ebenso der Abgang in den Hades sein, der Eingang zum Styx, der Fluss, der die Toten von den Lebenden trennt. Viele weitere Gemälde Segantinis werden von Michael Krüger vorgestellt und kommentiert und so der Vergessenheit entrissen. Denn seiner Bedeutung als Maler waren sich seine Zeitgenossen durchaus bewusst und stellten ihn sogar neben Rembrandt van Rijn (Kunsthistoriker Carl Brun). Die Fasznition für Giovanni Segantini fasst Michael Krüger am Ende mit einer profunden Antwort in Worte: “Wahrscheinlich schauen wir die Bilder an, weil sie das sind, was von uns übrig bleibt, und das zeigen, was wir für immer verloren haben.”

Michael Krüger
Über Gemälde von Segantini
2021, 208 Seiten, 47 Farbtafeln. Format: 18,5 x 26 cm, gebunden. Deutsche Ausgabe.
ISBN: 9783829609517
Schirmer/Mosel
€ 38,-


Genre: Bildband, Kunstgeschichte, Malerei
Illustrated by schirmer/mosel

Denken mit Oscar Wilde

Denken mit Oscar Wilde

Von Dublin über Oxford nach London. Dort wurde ihm eine Affäre zum Verhängnis und er musste ins Zuchthaus. Dem Alkohol verfallen lebte er danach in Italien und Frankreich und starb mit nur 46 Jahren in Paris. Es gab wohl nichts, was Oscar Wilde nicht in einem Bonmot auszudrücken wusste. Wolfgang Kraus hat davon die besten, verblüffendsten Aphorismen ausgewählt und stellt sie in einem handlichen Brevier für den Dandy, für den Wilde-Liebhaber, für jeden, der extravagant denkt oder sein möchte, vor.

Paradoxien und Sch(m)ockmomente

“Er schockierte und entzückte seine Zeitgenossen durch Paradoxien, die oft nichts anderes waren als verfrühte Wahrheiten der Zukunft und für uns heute weitaus näher und ernster als für die Gesellschaft, die sie belachte”, schreibt Kraus über Wilde im Vorwort zu vorliegender Taschenbuch deluxe Ausgabe des diogenes Verlages. Aber wie wusste schon Oscar Wilde selbst? “Ich habe mein ganzes Genie in mein Leben getan; in mein Werk nur mein Talent”. Aber beizeiten überkommt den “Dandy im Spiegelbild” auch Reue. Das Steuer seiner Seele habe er verloren, als das Vergnügen die Herrschaft über ihn gewann, wurde er sein Knecht, “Ich endete in Schande. Jetzt bleibt mir nur eines: völlige Demut”. Über die Aufgabe eines Jeden in dieser Welt ist sich Oscar Wilde aber sicher: “Jeder von uns hat nur eine Aufgabe zu lösen: sich selbst voll zum Ausdruck zu bringen.” Allerdings hätten heutzutage die meisten Angst vor sich selbst, dabei wäre “sich selbst zu lieben der Anfang einer lebenslangen Leidenschaft”. “Jedermann wird als König geboren. Und die meisten sterben im Exil – wie so viele Könige.”

Erfahrungen sind oft Irrtümer

Kaum jemand hat es wohl so gut verstanden Leben und Werk in Einklang zu bringen. Wer Oscar Wilde liest, hat das Gefühl, dem wohl einzigen authentischen Menschen gegenüberzusitzen, obwohl gerade ein Dandy alles dafür gibt, dass der Schein das Sein bei weitem übertrifft. “Die Natur hat gute Absichten, aber sie nicht ausführen. Die Kunst ist unser ritterlicher Versuch, der Natur den richtigen Platz anzuweisen.” Die Grundlage und die Energie des Lebens sei schließich das “Ringen nach Ausdruck”. Das Leben will nichts anderes als seine eigene Vielfältigkeit verwirklicht zu wissen. In allen Formen und Phasen. Weitere Gedanken und Aphorismen von Oscar Wilde finden Sie in dieser Auswahl auch zu folgenden Themen: Liebe, Schöpfung, Tragikomödie, Gleichnis, Magie der Schönheit, männliches Brevier. “Einen ethischen Wert besitzt die Erfahrung nicht, sie ist nur der Name, den wir unseren Irrtümern geben. Sie beweist, dass die Zukunft gleich der Vergangenheit ist.”

Denken mit Oscar Wilde
Extravagante Gedanken über die Magie der Schönheit und die allmächtige Kunst, Kritik als Schöpfung, das dekorative Geschlecht und die menschliche Tragikomödie
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Wolfgang Kraus. Aus dem Englischen von Candida Kraus
2021, Taschenbuch deluxe, Hardcover, 144 Seiten
ISBN: 978-3-257-26159-2
diogenes Verlag
€ 12.00


Genre: Aphorismen
Illustrated by Diogenes

Das Bildnis des Dorian Gray

Oscar Wilde – Das Bildnis des Dorian Gray

Die höchste wie die niedrigste Form von Kritik ist eine Art Autobiographie“, schreibt Oscar Wilde in seinem ersten und einzigen Roman “Das Bildnis des Dorian Gray” (1890). Das Buch, das auch vor Gericht gegen ihn verwendet wurde, hat schon viele Generationen von Dandys und Schöngeistern, besonders aber Liebhaber von Bonmots und Aphorismen, begeistert.

Ausschweifungen und Dekadenz

Dorian Gray ist ein junger Lebemann, der von einem gewissen Basil Hallward porträtiert wird. Das Bild soll eines seiner besten sein, aber dennoch schenkt er es dem Porträtierten. Dieser verbindet mit der Übergabe des Porträts ein Gebet zum Himmel, das sogleich Wirklichkeit wird: Statt Dorian altert von nun an sein Porträt, er selbst bleibt unverändert jung und schön. So kann sich der Bonvivant hemmungslos seinen Vergnügungen und Ausschweifungen hingeben, ohne Rücksicht auf Verluste. Hallward ist es auch, der Dorian Lord Henry Wotton vorstellt. Dieser rät ihm: “Ach! Nutzen Sie Ihre Jugend, solange Sie sie haben. Vergeuden Sie nicht das Gold Ihrer Tage, indem Sie langweiligem Geschwätz lauschen, den hoffnungsvollen Versager zu bessern trachten oder Ihr Leben an das Beschränkte, das Gewöhnliche und das Gemein wegwerfen.(…)Leben Sie! Leben Sie das wunderbare Leben, das in Ihnen ist. Lassen Sie sich nichts entgehen.” Diesen uneingeschränkten Hedonismus nimmt sich Dorian gerade dann zu Herzen, als er seinen beiden Freunden seine Angebetete, eine Schauspielerin, vorstellt. Diese gibt gerade Romeo & Julia am Theater und spielt nur leider grottenschlecht. Seine Freunde trösten ihn mit ihrer Schönheit, jedoch das Band zwischen ihr und ihm ist zerbrochen. Durch einige unglückliche Wendungen kommt es dann zu gleich drei (!) Todesfällen in dieser Geschichte, an denen Dorian nicht ganz unschuldig ist.

Spiegel seiner Zeit

Oscar Wilde hält mit Dorian Gray seiner Zeit einen Spiegel vor. Der “Prince Charming” (Märchenprinz) als der der Dorian gegenüber dem jungen Fräulein Sibyl Vane auftritt, entpuppt sich als grausame Maske, denn seine wahres Gesicht kennt nur das Gemälde, das sich bei jeder Verwerfung Dorians verzehrt und verzerrt. Ihr Tod wird zu einer ästhetischen Übung, in der sie gleich der Julia in das Reich der Kunst zurückkehrt, etwas von einer Märtyrerin umgebe sie. Der gefühllose Ästhet sieht in ihrem Tod nur eine “schönste Tragödie”, er entbindet sich jedweder Gefühlsregung indem er seine eigene Schuld an ihrem Tod ausklammert und ignoriert. “Devant une facade rose,/sur le marbre d’un escalier” zitiert er Theophile Gautier, als er seinen besten Freund, Basil Hallward, beseitigt hat und denkt dabei an Venedig. Eine dritte Person muss noch sterben, bis Dorian sich endgültig in eine der Opiumhöhlen Londons zurückzieht, um endlich das Vergessen zu finden, das er sein Leben lang suchte. “Du bist die Verkörperung dessen, was unsere Zeit sucht und was sie gefunden zu haben fürchtet“, ruft ihm Harry, sein letzter Freund zu und es stimmt. Denn seine Zeit hatte ein Monster erschaffen, das keiner besser inkarnierte als Mr. Dorian Gray. Ein rücksichtsloser Hedonist, der in der Anbetung der Jugend und Schönheit jede moralische Integrität verloren hat. “Die Jugend hatte ihn verdorben.”

Man könnte in dem Bildnis des Dorian Gray auch die Vorwegnahme des Idol-Kultes der heutigen Jugend sehen. Die Bilder und Fotos der Rockstars und die idealistische Anbetung dieser Ikonen der Moderne ähnelt sehr dem Personenkult um Dorian Gray, der als Symbol seiner Zeit sowohl den aufstrebenden Kapitalisten als auch den Rockstar vorwegnahm. Keiner verkörpert den Selfmademan der Moderne wohl besser als ein Rockstar, der nicht nur das Idealbild der Jugend verkörpert, sondern auch liebend gerne einen gleichsam religiösen Kult um seine eigene Person entfesselt. Im Anhang befindet sich ein Nachwort und eine kompakte Biographie des Autors.

 

Oscar Wilde
Das Bildnis des Dorian Gray
Übers. von Ingrid Rein
Nachw. von Ulrich Horstmann
2022, Paperback, 316 S.
ISBN: 978-3-15-020669-0
Reclam Verlag
10,00 €


Genre: Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Reclam Verlag

Auf Schiene

Auf Schiene. 33 Bahntouren durch Mitteleuropa

Auto-, stau- und abgasfrei reisen. Das kann man, wenn man will. Mit dem Zug! Trend-Journalist Othmar Pruckner hat Bahnverbindungen ausfindig gemacht, die es schon mehr als 100 Jahre gibt, aber durch das Fliegen verdrängt wurden. Dank Pandemie wurden sie nun von ihm wiederentdeckt und einem neuen, jüngeren Publikum auf charmante Weise zugänglich gemacht: als Reise-Buch!

Bahn fahren neu entdecken

Einige der Highlights gleich vorneweg: ans Schwäbische Meer, ins liebenswerte Kamptal, auf die Spitze der Zugspitze, für ein Budweiser nach Budweis, mit dem Reblausexpress von Retz ins kleine Drosendorf sowie mit der Wachaubahn nach Spitz. Hallstatt wird sogar per Zug und Schiff bereist. Dazu gibt es literarische Vorbilder wie Fritz von Herzmanovsky-Orlando auf einer Waldbahn-Radtour im Hintergebirge, mit Thomas Bernhard zum Schloss Wolfsegg oder auf den Spuren von Ferdinand Raimund nach Gutenstein und natürlich mit Gustav Klimt an den Attersee. Die Taurachbahn im Lungau, die Zahnradbahn auf den Schneeberg und schließlich eine Pilgerreise nach Mariazell sowie eine Begehung der Semmeringstrecke gehören zu den weiteren unvergesslichen Stationen dieses lesenswerten Reise-Führers. Darüber hinaus werden aber auch Anschlusstouren an die Zugfahrten und Ausflugsziele vorgeschlagen: Stadt- und Landbesichtigungen, Spaziergänge, Wanderungen, Radtouren quer durch Österreich, vom Neusiedler- bis zum Bodensee, von Südkärnten bis zum nördlichen Waldviertel, vom hohen Schneeberg bis zum fröhlichen Zillertal.

Vom Meer ins Gebirge

Mit der Bahn kann man sogar ans Meer fahren, ohne Österreich je zu verlassen. Das “Schwäbische Meer” ist selbstverständlich nichts anderes als der Bodensee und teilt sich auf Deutschland, Schweiz und Österreich auf. Wer einen Ausflug über die Landesgrenze nach Lindau wagt, kann – als ganz besondere Attraktion – Österreich sogar auf dem Seeweg erreichen. Das gibt es sonst nirgends mehr. Wer der Eisenbahn lieber treu bleibt, nimmt das “Wälderbähle” in Bezau und schafft es damit bis auf die Bergstation Baumgarten auf 1650 Meter Seehöhe. Aber auch das Montafon hat seine eigene Bahnlinie, das “Muntafunar Bähnle”, das inzwischen als S4 sogar von Bregenz aus bis nach Schruns fährt. Vom äußersten Westen des Landes bringt uns das 3. Kapitel dann an den Schneeberg (2076m), des Wiener liebsten Hausberges. Von Wien aus fährt man nach Puchberg am Schneeberg und passiert dabei auch das weltberühmte Bad Fischau. Beeindruckt wird man schon während der Zugfahrt, die 300 Höhenmeter bewältigt, von der Hohen Wand. Die Schneebergbahn ist eine der letzten drei Zahnradbahnen Österreichs, die Station Hochschneeberg auf 1796 Metern der höchstgelegene Bahnhof Österreichs.

Zu Nachbarn und Freunden

Aber auch für Kurzausflügler ist in vorliegendem reich bebilderten und mit Karten ausgestatteten Zugführer einiges dabei. Vielleicht begnügt sich der eine oder andere sogar mit einem Bier in Budweis? Ob man über die Franz-Josefs-Bahn und Ceske Velenice oder mit der sog. Summerauer Bahn durchs Mühlviertel via Linz anreist, so oder so, schafft man es von Wien aus an einem Tage hin und retour. Weitere Stationen führen den werten Leser ins Marchfeld, auf einen Spaziergang von Mödling nach Baden oder auch nach Wien, Bratislava, Neusiedl am See – Um den See – Esterházy-Stadt Eisenstadt – Sopron und ein Abstecher nach Győr und viele andere Ort mehr. Und das alles ohne CO2 Abdruck!

 

Othmar Pruckner
Auf Schiene. 33 Bahnreisen durch Österreich und darüber hinaus. Ein Reisebuch. Reihe Kultur für Genießer Falter Verlag
2022, 320 Seiten
ISBN: 9783854397076
Falter Verlag
€ 29,90


Genre: Reiseabenteuer, Reisen
Illustrated by Falter

Wer war Fritz Mandl?

Wer war Fritz Mandl

Im Zuge des Hypes um die Schauspielerin und Erfinderin Hedy Lamas wurde auch ein gewisser Fritz Mandl wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gespült. Der erste Ehemann des “Ekstase”-Filmstars war selbst aus jüdischer Familie stammend als europäischer „Patronenkönig“ in die Geschichte eingegangen. Er lieferte sein Produkt sowohl an die Heimwehren als auch an die Republikaner Spaniens. Im Exil arbeitete er mit Peron zusammen, später lieferte er auch nach Afrika.

Auf Du und Du mit Mussolini

Mandl hatte aus der Bewunderung für Mussolini keinen Hehl gemacht. Zu seinen besten Freunden gehörte Ernst Rüdiger von Starhemberg und die anderen Heimwehrler des Austrofaschismus, die “Heimwehr-Mandln”. Sein Hass auf den Sozialismus hinderte ihn aber nie daran, auch ihnen seine Patronen zu verkaufen. Die Historikerin Ursula Prutsch hat eine solide Biographie verfasst, die den ganzen Mandl zeigt. Dazu hat sie – nach eigenen Auskünften – nicht nur Zugang zum Nachlass der Familie bekommen, sondern auch Archivbestände in Wien, St. Pölten, Linz, Berlin, Weimar, Bern, London, Washington, Buonos Aires und Rom beackert. Reich bebildert und mit vielen Dokumenten illustriert zeichnet Prutsch das Leben eines typischen Unternehmers nach, der auf dieselbe Schule ging wie Paul Lazarsfeld, Hans Gelsen, Erwin Schrödinger, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Otto Wagner, Lise Meitner oder Elise Richter. 1924 übernahm Fritz die Geschäfte seines Vaters Alexander und wurde Direktor der Hirtenberger AG.

Sozialpartnerschaft einmal anders

Sein Verständnis von Sozialpartnerschaft war durchwegs paternalistisch: als “gerechter und gütiger” Firmenboss brauchten seine Arbeiter keine Gewerkschaft, da er für alle wie ein gerechter Vater sorgen würde. Im Aufsichtsrat der Hirtenberger Patronenfabrik saß nicht umsonst der Bundesparteiobmann der Christlich-Sozialen Partei, die Österreich in einen Ständestaat nach faschistischem Muster umbauten. Die Hirtenberger Waffenaffäre von 1932, bei der gesetzeswidrig Waffen von Italien nach Ungarn geleitet wurden, hätte dieses Projekt beinahe gefährdet. Aber Mandl und die Seinen kratzten nochmals die Kurve. Erst der Nationalsozialismus beendete das muntere, anti-demokratische Treiben der Christlich-Sozialen. Mit ihrer Spielart des Faschismus hatten sie jedwedes patriotische Bewusstsein der Österreicher für einige Jahrzehnte zerstört. 1938 wollte dann niemand mehr für dieses Österreich einstehen. Außer den Kommunisten, die sogar dann noch von einem österreichischen Nationalbewusstsein sprachen, als es illegal und letal war.

Patronen ob Krieg oder Frieden

Es scheint schier unglaublich, wie sich ein Mann durch all die Wirrnisse der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs hindurchlavierte und mehr oder weniger sein Hab und Gut bis in die Siebziger Jahre hinein retten konnte. Obwohl er von gleich mehreren Geheimdiensten beschattet und argwöhnisch betrachtet wurde, hatte er doch immer wieder die richtigen Kontakte, um sich den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Schließlich hatte er ja stets beide Seiten beliefert und war somit stets Geschäftsmann geblieben. Aber gerade dieses Zusammenspiel von Big Business mit Diktaturen nimmt Prutsch exemplarisch ins Korn und versucht zu erzählen, wie skrupellose Rüstungsgeschäfte und die Machenschaften der Geheimdienste das Europa des 20. Jahrhunderts zerrütteten. Fritz Mandl: ein österreichischer Unternehmer.

Ursula Prutsch
Wer war Fritz Mandl
Waffen, Nazis und Geheimdienste. Die Biografie
2022, Hardcover mit SU, 304 Seiten
ISBN 978-3-222-15071-5
Molden Verlag
€ 24,99


Illustrated by Sryria Verlag Graz

Die Imker

Gerhard Roth – Die Imker

Der preisgekrönte Grazer Autor ist Anfang dieses Jahres im Alter von 80 Jahren verstorben. Unter seinen zahlreichen Romanen, Erzählungen, Essays und Theaterstücken ist vor allem der 1991 abgeschlossene siebenbändige Zyklus “Die Archive des Schweigens” und der Orkus-Zyklus zu erwähnen. Zuletzt veröffentlichte er drei Venedig-Romane (Die Irrfahrt des Michael Aldrian, Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier und Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe).

Imker als Astronauten

Sein nun letzter Roman “Die Imker” ist unter dem Eindruck der weltweiten Corona-Pandemie entstanden und handelt von nichts Geringerem als der Apokalypse, oder dem Weltuntergang. Aber anders als in den geläufigen Erzählungen des Endes der Welt geschieht dieses bei Roth nicht mit einem großen Tata, sondern leise und still. Am Morgen des 1. April zieht ein gelber Nebel auf, der Menschen in Luft auflöst. Franz Lindner, Patient einer Einrichtung für psychisch beeinträchtigte Künstlerinnen und Künstler, und einige andere haben die Katastrophe überlebt. Sie bauen eine Dorfgemeinschaft aus Bienenzüchtern auf und versuchen ihr Über-Leben zu organisieren. Aber es ist schwer, denn “alles ist verschwunden“. “Dann wusste ich mit einem Mal, wo ich Orientierung fand: im meiner Kindheit”, meint Lindner zu sich selbst und entdeckt, dass er sich plötzlich mit den Tieren unterhalten kann. In Gedanken, stumm. Delirierend schreibt oder sagt er auch einige Gedichtzyklen auf, die sich über mehrere Seiten des Romans hinwegziehen. “Die Weintraube ist der Globus der Trinker” heißt es da vielsagend in “Gedichte I”, andere Sätze bedürfen der Reflexion, denn viele stehen für sich alleine und nicht als Teil des sie einrahmenden Gedichtes. So wie das Sanatorium Hoffmann, in dem Franz Kafka gestorben ist. Es befindet sich in der Nähe der (tatsächlich) existierenden Künstler-Kolonie in Gugging, unweit von Wien. Aber auch die Malerei stellt Roth ins Zentrum seiner Betrachtungen. Denn “Die Jäger im Schnee” von Pieter Bruegel dem Älteren wird von ihm aus dem Kunsthistorischen Museum kurzerhand entwendet oder sollte man sagen ausgeborgt? Für Lindner sind Imker “Astronauten, die in ihrer Schutzkleidung in die Welt der Bienen eindringen, um sie zu entdecken, zu erforschen, auszurauben”. Inspiriert wird er auch von den Filmen des Russen Andrej Tarkowski, auch sie handeln zumeist von einer Art Weltuntergang.

Schreiben als Therapie

Auch wenn der Weltuntergang zunächst befremdlich auf die Überlebenden wirkt, beginnen doch einige, ihn auch als große Chance zu sehen. “Waren wir nicht alle Opfer von Normalität gewesen, die über uns bestimmt hatten?, fragte ich mich zum x-ten Mal. Wir durften jetzt sein, wie wir waren, wie wir sein mussten, und das befreite uns.” Und was macht Lindner? Er schreibt. Und dieses Schreiben wird ihm alsbald zum heiligen Ritual, zum Ort, den man wohl Heimat nennt und von wo es nur Gutes zu erwarten gab: “In der Stille, der Einsamkeit wiederum erfahre ich die beseelte Welt. Das Schreiben macht es mir möglich.” Das Schreiben wird zum “Durch-Wände-Gehen” und sogar “Fliegen”, das schreibende Ich zum eigentlich Ich, das immer wieder und wieder in “pausenloser Verwandlung” ein anderes Ich annehmen kann, sich in andere Wirklichkeiten versetzt, Bücher liest. “Ich verspüre beim Schreiben eine Verwandtschaft mit den Bienen. Wörter sind für mich wie Blütenpollen. Ich liebe sie und wünsche, ihren Nektar zu saugen und ihn zu Honig zu verarbeiten.” Ein Imker, der über das Leben eines Schriftstellers nachdenkt wird denn wohl über das Schreiben auch nicht anders formulieren können als so: “Schreiben ist die Metamorphose der Gedanken, von der Erlebnisraupe zur Erinnerungspuppe zum Buchstabenschmetterling.

Gerhard Roth hat mit “Die Imker” einen philosophischen Roman im Setting einer Dystopie verfasst, eine Art Abschiedsgeschenk an sich selbst. “Die Imker” behandelt nicht nur die Entstehung von Gesellschaft und das Wesen des Menschen, sondern vor allem auch die Bedeutung des Unbewussten und das Rätsel des Todes. Ein Spätwerk, das in einem parabelartigen Gedankenspiel noch einmal alle Motive von Rohts Denken und Schreiben versammelt und so auch die Apokalypse erträglicher und jedenfalls nachvollziehbarer macht.

 

Gerhard Roth
Die Imker. Roman
2022, Hardcover, 560 Seiten
ISBN: 978-3-10-397467-6
Verlag: S. FISCHER


Genre: Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by S. Fischer

Lerne lachen ohne zu weinen

Kurt Tucholsky – Lerne lachen ohne zu weinen

Ignaz Wrobel, Theobald Tiger, Peter Panter oder Kaspar Hauser waren nur einige der Pseudonyme von Kurt Tucholsky. Wie die Herausgeber in der editorischen Bemerkung zu vorliegender Ausgabe anführen, handelt es sich bei “Lerne lachen ohne zu weinen” um Tucholskys letztes Buch, das 1931 beim Rowohlt Verlag in Berlin erschienen war. Kaum zwei Jahre später wurde es neben vielen anderen Werken der deutschen Weltliteratur von den Nazis am Scheiterhaufen verbrannt.

Von der “Schaubühne” zur “Weltbühne”

Tucholsky galt vielen als scharfsinnigster und gleichzeitig unterhaltsamster politischer Journalist der Weimarer Republik. Dennoch nahm er sich weitere zwei Jahre später – also 1935 – in Göteborger Exil das Leben. Die Themen über die Kurt Tucholsky sind ebenso allgegenwärtig und aktuell, wie sein Kampf gegen den Nationalsozialismus und Faschismus. Denn auch mehr als 100 Jahre später, ist dieser Schoß noch fruchtbar, aus dem das kroch. In sieben Kapiteln finden sich in vorliegender Ausgabe schriftstellerische Interventionen zu allen wichtigen Themen unserer Zeit. “Kapitalismus, Klassenkampf, Kriegstreiberei, Nationalismus, Lebensfallen, Neurosen und Geschmacklosigkeiten der bürgerlichen Kultur und Sexualität, die Idiotie des Klerus und der Presse, über die Bücher und das Büchermachen selbst.” Aber auch zärtliche Zeilen, etwa über die Hände von Muttern in starkem Berlinerisch: “Heiß warn se un kalt. Nu sind se alt. Nu bist du bald am Ende. Da stehen wa nu hier, und denn komm wir bei dir und streicheln deine Hände”.

Europa als Vision einer besseren Welt

Neben Gedichten finden sich auch kurze Prosatexte oder ein “Interview mit sich selbst”. In diesem begegnen sich der junge und der alte Peter Panter, ersterer ratsuchend. Beugen will er sich nicht, aber genau das rät ihm der ältere Panter, denn ohne das gäbe es kein Weiterkommen. “Sie werden sich beugen. Sie müssen sich beugen. Eines Tages werden Sie auch Ihrerseits Geld verdienen wollen, und Sie beugen sich. Es ist so leicht.” Aber die Pointe am Schluss, macht klar, dass auch der Erzähler Position bezieht, denn er ist eindeutig der jüngere Peter Panter und urteilt über den alten: “Ein ekelhafter Kerl”. Aber wer weiß, in dreißig Jahren? An anderer Stelle nimmt Kurt Tucholsky das vorweg, was sich zumindest nach rund 100 Jahren gebessert hat. In “Wahnsinn Europa” schreibt er nämlich (schon 1935!): “Wir in Europa sind kapitalistisch längst eine große Familie, und die Einteilung in Staaten, wie sie heute sind, ist eine anachronistische Kinderei, eine gefährliche und eine unehrliche dazu.” Erstaunlich visionär kritisiert und charakterisiert Kurt Tucholsky die politischen Geschehnisse am Vorabend der Machtergreifung durch Hitler und deren mögliche Konsequenzen. Tucholsky empört sich auch in seinem letzten Buch öffentlich über die unwürdigen Vorgänge seiner Zeit und setzt sich im Kampf für die Demokratie und Menschenrechte ein. Vor allem aber für die Wahrheit.

Kurt Tucholsky
Lerne lachen ohne zu weinen
2017, 416 S., gebunden in feines Leinen, 12,5 x 20 cm.
ISBN: 978-3-7374-0980-3
Marix Verlag


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Marix

Avengers, Assemble!

Avengers, Assemble!” (Rächer, sammelt Euch!). Dieser Lockruf erfolgte erstmals Anfang der Sechziger. Nachdem sich die meisten Superhelden als Einzelhelden schon etabliert hatten, war es endlich auch Zeit für ein Super-Team: die Avengers. Stan Lee und Zeichner Jack Kirby versammelten den Iron Man, Ant-Man, The Wasp, Thor und Hulk, um die erste Super-Group im Kampf gegen das Verbrechen zu gründen. Die ersten 20 Geschichten in einem Band plus viele Hintergrundstories, Fotos und Insiderinfos für Fans.

Avengers: Superhelden und Superschurken

The Avengers: die Rache ist unser!

Der vorliegende Avengers-Sammelband des Marvel Age (Avengers-Hefte 1–20 im XXL-Format) zeigt die mächtigsten Helden der Welt in ihren Anfangstagen, von 1963–1965. Ihre Gegner – allesamt Superschurken – waren damals zum Beispiel Loki, Kang der Eroberer, Wonder Man, Count Nefaria, Baron Zero und die Meister des Bösen und Immortus. Oder ehemalige Mitglieder wie The Hulk, der sich in einem Abenteuer mit dem Submariner gegen die Avengers stellt. Aber es konnten auch Schurken wie Hawkeye, Quicksilver, Swordsman, Hercules, Black Panther, Vision, Black Knight und die Scarlet Witch zu Helden werden, genauso wie Hulk das Team verließ, Captain America beitrat und Ant-Man zu Giant-Man wuchs. Die Zusammenstellung der Avengers wurde immer wieder verändert bis schließlich nur noch Captain America alleine übrig blieb, um die letzte Generation der neuen Helden um sich zu scharen und anzuführen. Auch Spiderman-Fans kommen in vorliegendem Band auf ihre Kosten. Es war The Wasp, die der Gruppe ihren bis heute einträglichen Namen verlieh. Das Headquarter der Avengers stand schon damals in New York City, einem Gebäude namens Avengers Mansion. Dort regierte allerdings vorerst Edwin Jarvis, der Butler der illustren Truppe mit dem fünfmotorigen Quinjet.

Die ersten 20 Stories in XXL

The Avengers im Taschen Verlag mit vielen Extras

Die Sechziger waren das erste Jahrzehnt, in der sich die fünf Gründer-Avengers zu einer starken Truppe formierten und den Kampf gegen das Böse gemeinsam aufnahmen. In enger Zusammenarbeit mit Marvel und der Certified Guaranty Company wurden die makellosesten Ausgaben der Serie neu abfotografiert. Jede Seite wurde genau so reproduziert, wie sie vor mehr als einem halben Jahrhundert gedruckt wurde. Mit modernster Retusche-Technik gelang das digitale Remastern in einer Qualität, die den minderwertigen Druck der Zeit ausgleichen konnte und nun – rundumerneuert – wie frisch aus einer der besten Druckmaschinen der 1960er-Jahre wirkt. Das Vorwort stammt von Kevin Feige, Präsident der Marvel Studios. Eine ausführliche historische Darstellung von Kurt Busiek – Autor und Eisner-Award-Gewinner –, der mit Originalzeichnungen, selten gezeigten Fotos und Dokumenten bebildert ist, folgt darauf (“History”). Ebenfalls erhältlich ist eine Deluxe-Ausgabe (Collector’s Edition von 1.000 nummerierten Exemplaren. Auch erhältlich als XXL Famous First Edition) mit einem Aluminiumeinband mit Kunstlederrücken und Folienprägung. Sie wird ebenfalls in einem Schuber geliefert.

 

Marvel Comics Library. Avengers. Vol. 1. 1963–1965
Famous First Edition: Nummerierte Erstauflage von 5.000 Exemplaren
Kurt Busiek, Kevin Feige, Stan Lee, Jack Kirby
Hardcover, 28 x 39,5 cm, 4,44 kg, 630 Seiten
ISBN 978-3-8365-8234-6
Ausgabe: Englisch
Famous First Edition: Nummerierte Erstauflage von 5.000 Exemplaren.
taschen.com


Genre: Comics, Marvel
Illustrated by Panini Comics

The Scumbag – Kokainfinger

The Scumbag – ein Antiheld wie deadpool

The Scumbag. “Frische Helden braucht das Land!” Jedoch ist Ernie Ray Clementine weder noch ganz “frisch” noch ein Held. In den Siebzigern hängengeblieben, ist Ernie ein abgehalfterter Biker, der seine Jugend im im Nebel von Sex, Drugs and Rock’n’Roll verlebt hat. Doch dann erhält Ernie durch Zufall Superkräfte und plötzlich reißt sich die halbe Welt um ihn. Oder eher die Halbwelt?

Mit Formula Maxima vom Looser zum Winner

“Scumbag” könnte man sowohl mit Drecksack als auch Abschaum übersetzen. Fans von Deadpool und Wanted werden auch mit dem selbstsüchtigen Junkie mit Superkräften, der als Spion die Welt retten soll ihren Spaß haben. Im Auftakt zur neuen Historie von Bestsellerautor Rick Remender (DEADLY CLASS, UNCANNY AVENGERS) geht es um nicht weniger als die Rettung der Welt. Aber nicht vor Bösewichten, sondern vor solchen “Relikten einer anderen Zeit” wie Ernie. Sein Dealer Spanish Larry ist sein bester Freund, was nur beweist, dass er keine Freunde hat. Bei einem Zweikampf zwischen zwei Superschurken, greift sich ausgerechnet Ernie die Spritze mit der Formula Maxima und kommt so unverhofft zu Superkräften. Er wird nun von einer extraterrestrischen Polizistin für “Vater Zeit” gehalten, der allerdings längst das Zeitliche gesegnet hat. Erstere arbeitet dann doch für die hiesige Regierung und verspricht ihm einen vollen Drogenkoffer wenn er von nun an kooperiert. Was könnte Ernie mehr überzeugen? Schließlich lautet sein Codename nicht umsonst “Scumbag”. Da passt der General für der amerikanischen Flagge mit dem Skorpion-Emblem ganz gut, denn auch Scumbag trägt einen Scorpions-Schriftzug auf seiner Jeansjacke. Der General wettert bei seiner Ansprache gegen PC und Cancel-Culture und den Untergang der weißen Kultur in Amerika, während Scumbag auf den Auftritt einer seiner Lieblingsbands wartet. Aber die spielen nicht.

Scumbag: Kooperation für Korruption

Aber die Regierung scheut keine Mühen Ernie auf ihre Seite zu bringen: ein flugfähiger 1978er Thunderbird mit Mach4 Antrieb, eine Sexdoll als Pilotin sowie ein Handschuhfach vollgepackt mit Sachen zum Dröhnen überzeugen den abgehalfterten Biker dann doch sehr schnell. Die Zeichnungen sind der Zeit in der sie spielen angepasst, will heißen: ganz schön bunt und psychodelisch. Wenn sich Ernie Ray Clementine nicht schon als Jugendlicher das Hirn so zugedröhnt hätte, wäre er vielleicht doch ein Megaspion geworden. Aber so fehlt ihm doch etwas die Richtung, gut dass er bei seinem ersten Abenteuer eine attraktive Pilotin mit K.I. hat, so kann sie das Denken für ihn übernehmen. Sollte etwas schief gehen, gibt es immer noch das Handschuhfach…

Ein überraschendes Debüt eines Anti-Helden, wie ihn die Comic-Welt wohl noch nie gesehen hat. Sieht man von Deadpool und Wanted einmal ab. Die Biker-Klamotten Ernies sind auf jeden Fall ausstellungswürdig und gehören zu Recht ins Museum. Oder in einen Comicserien wie diese, die vermag, auch eine Looser wie Scumbag von seiner besten Seite zu zeigen!

Rick Remender
The Scumbag – Kokainfinger
Zeichner: Andrew Robinson, Darick Robertson, Lewis Larosa, u.a.
Original Storys: The Scumbag Vol. 1: Cocainefinger
2022, Softcover, Genre: Science-Fiction, 156 Seiten
ISBN: 9783741627828
18,00 €
Panini


Genre: Comic
Illustrated by Panini Comics

Moon Knight: Mitternachtssonne

Moon Knight Collection von Charlie Huston

Moon Knight: Mitternachtssonne. Die komplette Serie in einem Band trägt auch den irreführenden Titel “Moon Knight Collection von Charlie Huston”. Tatsächlich handelt es sich aber um eine knallharte Saga des Roman- und TV-Autors Charlie Huston (WOLVERINE, Joe Pitt, Powers) und Zeichner-Superstar David Finch (AVENGERS: HELDENFALL, BATMAN) in einem Band.

Khonsu, Gott der Rache

Die vorliegende Geschichte entstand parallel zum Marvel-Event Civil War. Damals standen sich als Wortführer Iron Man und Captain America gegenüber und spalteten die Superheldengemeinde in Registrierungs(un)willige. Das Debüt hatte der düstere Moon Knight schon 1975 im Comic “Werewolf by Night 32” von Doug Moench und Don Perlin. Moon Knight bekam bald eine eigene Serie und stritt an der Seite der kalifornischen West Coast Avengers mit Hawkeye für das Gute in der Welt. Dabei ist Marc Spector nicht wirklich ein “guter” Superheld, denn er leidet unter Persönlichkeitsspaltung und Wahnsinn. Das mag damit zusammenhängen, dass der Söldner Marc vor einer altägyptischen Statue des Mondgottes Khonshu starb und als dessen Avatar wiederkehrte. Einmal war Marc der wohlhabende Steven Grant, ein andermal ein Taxifahrer namens Jake Lockley und lieferte sich Fights mit seinen einstigen Kameraden vom Komitee, Midnight und Bushmaster. Aber Moon Knight hat auch Freunde, z.B. Jean-Paul “Frenchie” Duchamp, seine große Liebe Marlene Alraune, sein obdachloser Informant Bertrand Crawley, sein Butler Samuels und der Diner-Besitzer Gena Landers.

Über 30: die Hölle!

Oh es tut so weh. Jedes Jahr über Dreißig ist die Hölle.” In den ersten Kapiteln der vorliegenden Mega-Saga (356 Seiten!) sieht Marc Spector noch seinem Kumpel Bertrand Crawley, dem Obdachlosen, ähnlich. Denn er ist nicht nur unrasiert, langhaarig und im Rollstuhl, sondern auch gebrochen und von seinem Gott und seinen Freunden verlassen. Moon Knight am Ende? Mitnichten. Denn das Artwork von Superstar David Finch alleine ist schon alleine so beeindruckend, dass sich spätestens bei der in Pink getauchten Kussszene mit Marlene das Herz auftut. Die Anspielung auf permanenten Sex (“Ich tu es immer wieder“) zeigt elegant, dass auch Superhelden Gefühle haben. Aber leider möchte der “lunare Legionär” unbedingt ein Held sein und das gestaltet sich mitunter schwierig. “Er ist kein Söldner und Mörder. ER ist ein reicher Menschenfreund. Arbeiter. Mann des Volkes. Held.”, meint zumindest sein alter ego. Und zudem Sohn eines Rabbis, der ägyptische Gottheit verkörpert. Khunshu.

Moon Knight: Mitternachtssonne

Nichts bleibt geheim. Alles ist sichtbar. Was wir sein können. Was wir sind. Es ist alles da. Wenn man die Zeichen lesen kann.” Ein prächtiges Abenteuer mit beeindruckenden, düsteren Zeichnungen, die selbst einen Batman blaß aussehen lassen würden. Gastauftritte von Spiderman und Punisher inklusive.

Charlie Huston/David Finch
Moon Knight: Mitternachtssonne
Original Storys: Moon Knight (2006) 1-13
2022, Hardcover, 356 Seiten
ISBN: 9783741626296
Panini
42,00 €


Genre: Comics, Graphic Novel, Marvel
Illustrated by Panini Comics

Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe.

Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe.

Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe. Sechs Wochen vor ihrem bis heute mysteriösen Selbstmord entstanden die vorliegenden Aufnahmen von Amerika’s weiblichem Sexsymbol Nr. 1. Ihr Todestag, der 5. August 1962, jährt sich dieses Jahr zum 60. Mal und so
wird die vorliegende Publikation “Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe.” zu einem eindrucksvollen Gedenken
an eine der Ikonen des 20. Jahrhunderts. Memento mori.

Dreifach legendär:  neue Ausgabe MMs letzter Fotos

Im Bett mit MM…

Als “dreifach legendär” kann der vorliegende TASCHEN Prachtband in Hardcover und Großformat deswegen bezeichnet werden, weil
gleich drei (!) Legenden darin verwickelt sind: der Schriftsteller und Ehemann, der Fotograf und die Leinwandgöttin.
„Dieses Buch sind eigentlich zwei Bücher: eine Biografie und eine Bilder-Retrospektive über eine Schauspielerin, deren größte Liebesaffäre jene mit der Kamera war.“ schreibt Norman Mailer in seiner Biografie Marilyn von 1973. Der TASCHEN Verlag veröffentlicht seinen Originaltext mit Bert Sterns intimen Fotografien aus dem sog. “Last Sitting“, der letzten Fotosession vor ihrem Tod. Seine Marilyn ist aber nicht nur schön, sondern auch tragisch und komplex. Hollywoods größter Star brachte nicht nur die Traumfabrik zum Leuchten.

Marilyn Monroe mit 36

Das dreitägige Vogue-Shooting im Bel-Air Hotel in Los Angeles zeigte die erst 36 Jahre alte Diva als fleischgewordene Inkarnation männlicher Frauenvorstellungen. Der Text von Norman Mailer konterkariert diese Imaginationen mit Schilderungen ihrer trostlosen Kindheit und dem fassungslosen Ende unter mysteriösen Umständen. Als anspruchsvoller Autor (und Ex-Ehemann) will er aber mehr als nur eine bloße Biografie schreiben, vielmehr die “Grenzen der konventionellen Betrachtungsweise” ausloten und das Schema einer konventionellen Biographie überwinden. “Sie wurde am 1. Juni morgens um halb zehn geboren – eine leichte Geburt, die leichteste der drei Entbindungen ihrer Mutter.” Während das Datum ihrer Geburt wohl als richtig angenommen werden kann, stellt sich dennoch auch bei Mailer’s Marilyn Biografie die Frage: Was ist Dichtung, was Wahrheit?

Sex-Symbol wider Willen

Eine Marilyn? Viele!

Marilyn Monroe wurde wie kaum eine andere Geschlechtsgenossin ihrer Epoche auf ein Objekt männlicher Begierde reduziert, das “blonde Dummchen” repräsentierte lange Zeit das Idealbild der meisten Männerphantasien. Dabei gibt es auch Bilder die MM mit dem Ulysses zeigen oder Sätze von ihr wie diesen: “Ich verstehe das nicht ganz, diese Sache mit dem Sex-Symbol … das Schlimme ist, daß ein Sex-Symbol zur Sache wird. Ich will aber keine Sache sein.” Der Fotograf Bert Stern (1929–2013) gilt als einer der größten Porträtfotografen Amerikas, vor allem für Vogue schoss er in den 60er Jahren 200 Seiten pro Jahr. Seine Print-Anzeigen für Smirnoff und seine Porträtserie von Marilyn Monroe sind in die Geschichte eingegangen. Er war der einzige Fotograf den Marilyn Monroe so nahe an sich heranließ, dass er sie sogar nur durch ein weißes Leintuch getrennt fotografieren durfte.

Verführerischer denn je

Darunter war sie wohl wirklich nackt. Was heute als umprofessionell gelten würde, war damals Intimität mit einer Kamera, die wirklich das zeigte, was sie abbildete. Ohne Fotoretusche oder Fotoshop oder wie all die Programm heißen mit denen man heute eine virtuelle Realität kreiert. Der vorliegende Fotoband ist so echt und authentisch wie Fotos einer Celebrity sein können. Ein intimes Porträt, das die Magie zwischen Fotograf und Model nicht nur wiedergibt, sondern zum Leuchten bringt. Auf Bert Sterns Fotos, mit 36 Jahren, sieht MM verführerischer aus als je. Sechs Wochen später lebte sie nicht mehr. Kurzum: eine gelungene Synthese aus literarischem Klassiker und Porträtgalerie in einer wunderschönen Neuausgabe des TASCHEN-Verlages. Zudem gibt es auch eine ebenso verführerische Luxusausgabe.

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des TASCHEN Verlages (Copyright)!

Norman Mailer, Bert Stern (Hg.)
Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe.
Hardcover, 28 x 33,8 cm, 2,53 kg, 276 Seiten
ISBN 978-3-8365-9261-1 (Englisch)
TASCHEN Verlag
€ 80 | CHF 100


Genre: Biographie, Essay, Fotobuch, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Kalt wie dein Herz

Dennis Lehane Neuübersetzung Kalt wie dein Herz

Kalt wie dein Herz. “I heard the old men say: ‘All that is beautiful drifts away/Like the Waters’“. (W. B. Yeats) Ein neuer alter Fall für Kenzie & Gennaro, das Detektiv-Duo aus Boston. Die Neuübersetzung von Peter Torberg hält sich an die 1999 bei William Morris, New York unter dem Titel “Prayers for Rain” erschienene Originalausgabe.

Kalt wie dein Herz

Wahrlich kurz sind die schönen Momente, die vorbei huschen wie das Wasser. Ebenso wenig kann man diese Momente festhalten und was bleibt sind die Erinnerungen. Solche Erinnerungen an schöne Momente hat auch Patrick Kenzie, denn Angela Gennaro und er haben sich nicht nur als Arbeitskollegen, sondern auch als Sexpartner getrennt. Dabei war beiden klar, dass es immer schon mehr als nur Sex war. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich der knallharte Detektiv Kenzie ein schlechtes Gewissen wegen einer Klientin macht. Kenzie hatte seinen Kumpel fürs Grobe, Bubba, auf einen Stalker, Cody Falk, angesetzt, der Karen Nichols das Leben schwer machte. Der Job war schnell erledigt, aber einige Wochen später erfährt Kenzie, dass sich eben diese Karen Nichols von der Aussichtsplattform des Bostoner Custom House im 25. Stock in den Tod gestürzt hat. Zuvor soll sie als Prostituierte gearbeitet haben und auch in der Drogenszene Bostons kein unbeschriebenes Blatt gewesen sein. All das passt so überhaupt nicht zu der Karen Nichols, die Kenzie kennengelernt hat, dass er beschliesst, sich hinter die Sache zu klemmen. “Diese Karen Nichols hatte auf mich nicht den Eindruck gemacht, dass sie nackt von einem Gebäude springt.” Sie war eher “diejenige, die ihre Socken bügelte und Stofftiere sammelte“. Zudem hat es der Killer nicht nur auf Frauen abgesehen, sondern auch auf putzige kleine Hunde. Und das ruft wiederum erst recht Bubba auf den Plan, das komödiantische Pendant zu Kenzie. Oder sollte man hier eher von einem alter ego sprechen? Denn alles was Kenzie offiziell nicht darf resp. was “illegal” ist, erledigt Bubba für ihn. Am Ende sogar das mit Vanessa.

“Niemand liebt.” Außer Bubba

“Sie war untergegangen und ich war beschäftigt gewesen”, plagt Kenzie das schlechte Gewissen. Doch selbst in seinen kühnsten Träumen hätte er es nie erahnen können, auf was für einen Psychopath, den Drahtzieher von Karen Nichols’ Selbstmord, er sich in diesem Fall einlässt. Gut, dass er dabei auch auf Ruprecht Rogowski aka Bubba und seine Angie zählen kann. Denn die Verbindungen ihres Großvaters, Vincent Patios, zur italienische Mafia, der “Familie” und Stevie Zambuca kann zumindest deren Einmischung in den knackigen Fall verhindern. Die eigentlichen Bösewichte finden sich aber zumeist in der eigenen “Familie” und nicht bei der Mafia. Denn im Mittelpunkt von “Kalt wie dein Herz” steht das Ehepaar Dawe, die eine Tochter mit Turnus arteriosus communis hatten und eine weitere Tochter plus einen Sohn. Was es damit auf sich hat, erfährt man auf 512 spannenden Seiten eines Krimis, der sich wie eine Offenbarung liest. Denn es geht wie immer um Vergebung. Liebe und Loyalität. Referenzen an Magnum, Burt Lancaster, Nirvana und den “Dritten Mann” (Holly Martens Inn) inklusive. Zudem erfährt man trotz der knallharten Macho-Rhetorik (Kenzie fährt Porsche und liebt Magnum, die Serie, nicht die Waffe!) und einiger flotten Sprüche, warum Männer nie weinen: “Ich fürchte, wenn ich erst mal damit anfangen, kann ich nicht wieder aufhören.”, meint Patrick Kenzie.

Dennis Lehane hat einen Krimi geschrieben, der sich nicht nur über das Genre amüsiert, sondern auch seine Protagonisten. Zum großen Gefallen es Publikums: Applaus!

Dennis Lehane
Kalt wie dein Herz
Ein Fall für Kenzie & Gennaro
Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg
2022, Paperback, 512 Seiten
ISBN: 978-3-257-30046-8
€ (D) 18.00 / sFr 24.00* / € (A) 18.50
Diogenes Verlag


Genre: Hard-boiled Krimi
Illustrated by Diogenes

Bring mich noch zur Ecke

Bring mich noch zur Ecke – Anneli Furmark

Bring mich noch zur Ecke. “Menschen trauern auf unterschiedliche Art“, meint der Psychotherapeut der 56-jährigen Elise und will damit ihr Verständnis für Henrik, ihren Mann, verbessern. 25 Jahre waren sie verheiratet, aber dann hat sich Elise in Dagmar verliebt. Und Dagmar in sie. Auch sie hat eine andere Partnerin und Familie.

Familiar Feeling

Ein plötzlicher Anflug von Sehnsucht durchfuhr sie, die Erinnerung an das Gefühl von etwas im Fernsehen völlig gefesselt zu sein.” Das Leben kann ganz schön kompliziert sein. Henrik und Elise haben sich etwas aufgebaut und sie lieben sich noch immer, nach einem Vierteljahrhundert Ehe. Doch Elise zieht es zu Dagmar. Als auch Henrik eine andere Partnerin findet, wird aus der Vermutung Gewissheit: Scheidung. Die Kinder sind schon alt genug es zu verdauen. Aber wird Elise es schaffen? Sie macht sich Vorwürfe. Erst recht, als Dagmar einen Rückzieher macht. Liebgewonnene Gewohnheiten abzulegen, die Vertrautheit eines Ehepaares, der Duft seines Pullovers. In seiner Abwesenheit schnuppert sie daran, sehnt sich nach dem alten Gefühl und vielleicht auch etwas nach ihrer eigenen Vergangenheit und Jugend. Elise hört gerne Musik und lebt in den Texten etwa von Joni Mitchell “A case of you” oder “Both Sides Now“, Leonhard Cohen u.a. Dagmar mag das. Aber wird sie es lieben?

Ein neue Erzählung

Elise ist zum ersten Mal in ihrem Leben wieder auf sich allein gestellt. Zumindest das erste Mal seit langem. Sie will nicht Teil der Erzählung von Dagmars Ehekrise werden. Sie will wieder zurück und doch wieder voran. Beim Packen eines Kartons liegt sie am Boden und nur ihre Katze kommt, sie zu trösten. Eine Entwicklung geht oft in kleinen Schritten und nicht in großen Sprüngen. Anneli Furmark, die sowohl Text als auch Zeichnungen verfasst hat, weiß um die Traurigkeit und Melancholie des Endes einer Beziehung und zeichnet einfühlsam den Weg Elises zu ihrer neuen Selbständigkeit nach. Gelungen ist auch die Anspielung auf “Die Absinthtrinkerin” (Edgar Degas), als Elise vor ihrem Weinglas sitzt und zunehmend verfällt. Ihre Freundinnen freuen sich aber für sie, für die “vielen Gefühle”, das muss doch schön sein, meinen sie. Aber es ist nicht nur schön. Es erfordert auch ganz schön viel Mut, alle bisherigen Sicherheiten aufzugeben und ein neues Leben zu beginnen. Mit oder ohne neuen Partner. Und bald fasst Elise wieder neue Pläne.

Anneli Furmark
Bring mich noch zur Ecke
Text und Zeichnung: Anneli Furmark
Übersetzung aus dem Schwedischen von Katharina Erben
2022, 232 Seiten, Klappenbroschur, Format 16 x 21,5 cm, vierfarbig
ISBN: 978-3-96445-066-1
avant-verlag
25,00 €


Genre: Comics, Erzählung, Frauenliteratur, Graphic Novel, Liebesroman
Illustrated by Avant Verlag

Kleiner Mann – was nun?

Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun?

Kleiner Mann – was nun? Am Vorabend der Machtergreifung der Nazis in Deutschland geschrieben zeigt der hier erstmals in der ungekürzten Originalfassung veröffentlichte Roman die Sorgen des kleinen Mannes. Und seiner Frau. Exemplarisch dargestellt an dem Mandel Modehaus Verkäufer Johannes Pinneberg und – der liebevoll vom ihm mit “Lämmchen” liebkosten – Emma, einer klassischen Proletariertochter.

Die Roaring 20ies

Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Mit diesen Worten könnte man die Situation des frisch gebackenen Ehepaares Pinneberg umschreiben. Denn der Angestellte Johannes hat zwar eine Arbeit und Emma auch, aber als sie schwanger wird und der kleine Murkel erwartet wird, müssen sie den Gürtel immer enger schnallen. Die Wirtschaftskrise von 1929 hat auch sie im Würgegriff, alles ist teuer und die Löhne niedrig. Liebevoll und detailreich beschreibt Hans Fallada das Schicksal des Angestellten und der Arbeitertochter, die wenigsten ihren Klassenstolz noch nicht vergessen hat. Denn sie wählt ganz klar KPD, während ihr Mann eher zur Zentrumspartei oder den Sozialdemokraten neigt. Aber in Johannes’ Umfeld tummeln sich auch schon die Nazis, aber auch Vertreter verschiedenster Subkulturen der „Roaring Twenties“.

Berliner Bums und Pumm

So ist ein Kollege von ihm ein bekennender Freie Körper Kultur Verfechter, der Aktfotos sammelt. Der Vermieter des Ehepaares wiederum ist ein Trinker, der sie in einer illegalen Wohnung hinter einem Kinosaal unterbringt. Nur eine Leiter führt in die kleine Einzimmerwohnung, aber immerhin ist der Preis okay. Als der Lebensgefährte von Johannes’ Mutter, Jachmann, dort unterschlüpft, wird ihnen klar, wie geschützt sie in ihrer Dachkammer vor dem Zugriff der Welt sind. Jachmann ist es auch, der sie in das Berliner Nachtleben der Zwanziger einführt, ein Kapitel, das in der ersten Auflage einfach gestrichen wurde, ebenso wie Episoden zu Charlie Chaplin, Robinson Crusoe, Goethe, Wilhelm Busch und dem Prinzen von Wales. Der Erfolg des Buches damals gab den Streichungen zwar recht, aber dennoch ist es viel erquicklicher, endlich die unzensierte Version von Falladas Roman in Händen zu halten. Denn die Streichungen waren vielmehr “Tilgungen, die an die Substanz des Romans” gingen, schreibt auch der Gießener Literaturprofessor Carsten Gansel im Nachwort.

Neusachliche Ästhetik

Neue Sachlichkeit wird diese Kategorie der deutschen Literatur genannt, die als Epochenbegriff solche Schlagworte wie Antiexpressionismus, Präzision, Beobachtung, dokumentarisches Schreiben, Nüchternheit, Berichtform, Tatsachenpoetik und Entsentimentalisierung in sich vereint. Hans Falladas Ansatz ziele dabei auf eine “mimetische Illusion” im Rahmen der neusachlichen Ästhetik, so Gansel. Begeisterte Kritiken rief freilich auch die gekürzte Version des Kleinen Mannes hervor. So schrieb etwa der österreichische Autor und Herausgeber Paul Elbogen in einem Brief an Fallada: “Oh Fallada, der du hängest! Ich verdanke Ihnen eine halbe schlaflose Nacht! Ich habe Ihr neues Buch (als Ihr erstes) gelesen und eine Viertelstunde (alles in Allem) geweint wie seit Jahren nicht! Vielleicht seit dem Winnetou oder den “Glücklichen Menschen” von Kisten (das als einziges Buch sich mit ihrem in vielen Punkten vergleichen lässt.)

Fazit: Jedem sein Lämmchen

Auch über die positive Figur des Lämmchens waren sich viele Kritiker:innen und Leser:innen einig. Glücklich ein Mann, der so eine Frau hat: “Von diesem Lämmchen sollt ihr lernen, wie man dieses armselige Leben anpackt und es gestaltet und Ja zu ihm sagt. Wie man sich nicht kleinkriegen lässt, wie man auch im Schlimmsten noch das Gute sieht, das darin oder dahinter verborgen ist.” Ja, mit so einem Lämmchen ließe sich selbst die Wirtschaftskrise oder die Diktatur überleben. Letzteres gelang Hans Fallada, allerdings mit einer neuen Frau, die wie er seit Ende des Kriege wieder morphium- und alkoholsüchtig war. Fallada wurde deswegen im Dezember 1946 in die Nervenklinik der Berliner Charité eingewiesen. Dort schrieb er innerhalb (nur) eines Monats in miserablem körperlichen Zustand den Roman “Jeder stirbt für sich allein“. Fallada starb schließlich im Hilfskrankenhaus Niederschönhausen in einem umgestalteten Schulklassenzimmer am 5. Februar 1947 im Alter von nur 53 Jahren an den Folgen seines Morphinkonsums.

Hans Fallada
Kleiner Mann – was nun?
Roman. Erstmals in der Originalfassung
Mit einem Nachwort von
2017, Taschenbuch, 557 Seiten
ISBN: 978-3-7466-3344-2
Aufbau Verlag
12,99 €


Genre: Romane
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin