Hulk – Monsterwahnsinn

Hulk – Monsterwahnsinn. Der amerikanische Cartoonist, Illustrator und Designer Jim Rugg hat einen ganz besonderen Zugang zu seinem Lieblingssuperhelden gewählt. Er verwirklicht in vorliegendem XL-Band seine ganze eigene Vision aller Hulk-Meilensteine in dem er eine Art Collage aus über 60 Jahren HULK mit Pop-Art und Underground Comix zu einem einzigartigen Werk vermischt.

Mehr als 60 Jahre HULK

Im Mai 1962 – aus der Feder von Stan Lee und Jack Kirby stammend – erblickte ein ganz anderer Superheld das Licht der Welt. Ein Wissenschaftler namens Dr. Bruce Banner, seines Zeichens Nuklearphysiker, experimentierte damals mit dem Prototyp einer Gamma-Bombe und setzte sich damit großen Mengen an Gammastrahlung aus. Hinfort verwandelte er sich in Hulk (engl. Für Koloss, Klotz), jedes Mal, wenn Wut sich in ihm aufstaute. So wurde Hulk quasi zum Prototyp des Jähzorns oder cholerischen Menschen, wie sie wohl jeder aus seinem Umfeld kennt. Vielleicht wurde die Figur gerade auch deswegen so erfolgreich: jeder von uns kennt das Gefühl, wenn die Wut aufsteigt, aber nicht jeder von uns lässt ihr so freien Lauf wie Dr. Bruce Banner. Er verwandelt sich in ein riesiges, grünes Monster mit unglaublichen Kräften, das sogar Panzer (!) an ihrem Zielfernrohr packen und um sich herumwirbeln kann. Aus der Angst vor kleinen, grünen Männchen wurde also die mehr als berechtigte Angst vor Hulk, dem grünen Riesenmenschen.

Hommage an einen grünen Riesen

Jim Rugg verwendet nicht nur alte Cover von Hulk-Comics für seine künstlerischen Ambitionen zur Hommage an sein “grünes Männchen”, sondern auch eine Vielzahl von großformatigen Detailreproduktionen. Eine Vielzahl seiner ersten Storys werden ebenso zitiert wie die Versuche, Hulk zu heilen. Aber dass kein (grünes) Kraut gegen ihn gewachsen ist, zeigt auch der Spin-off des grünen Helden durch “savage” She-Hulk und seine Begegnungen mit dem Silver Surfer, den Fantastic Four, Spider-Man oder sogar Daredevil. Die vielseitigen Interpretationen unterschiedlicher Hulk-Autoren stellt Jim Rugg ebenso nebeneinander wie Leserbriefe begeisterter Leserinnen und Leser. Aber vielleicht ist es doch so, wie Doc Samson an einer Stelle meint: “Vielleicht gelingt es nun, Banner aus seinem lebenden Gefängnis im Monster zu befreien”. Samson sagt dies auf Hulks Rücken stehend nachdem er ihn mit einem Faustschlag niederstrecken konnte. Ihr bestes diesbezüglich versucht auch Betty, Banners angetraute Frau, die einfach nicht an das Böse in ihrem Mann glauben will. Vielmehr ist Banner ja in Hulk. Als dann noch Mr. Fixit auftaucht wird es wirklich kompliziert.

Alles in allem eine wunderbare Hommage an einen Superhelden im XL Hardcover Format, wie man es sich auch von anderen Kollegen wünschen möchte. “Grand Design” gelungen! Im Anhang befinden sich noch einige Originalcovers ebenfalls im XL-Großformat.

Jim Rugg
Hulk – Monsterwahnsinn
(Original Storys: Hulk: Grand Design – Madness 1, Hulk: Grand Design – Monster 1)
2023, Hardcover, 132 Seiten
ISBN: 9783741631351
24,00 €


Genre: Comics
Illustrated by Panini Comics

X-Men. Vol. 1. 1963–1966

The X-Men Prachtausgabe der 21. ersten Abenteuer

X-Men. Vol. 1. 1963–1966: Mutant? Wer sich in seiner Pubertät nicht also solcher gefühlt hat, kennt wohl auch die X-Men nicht und hat somit einiges versäumt. Aber all diese lässt sich nun ganz einfach nachholen. Der TASCHEN-Verlag präsentiert in einer weiteren XXL Ausgabe (28 x 39.5 cm, 4.67 kg, 666 Seiten) die ersten 21 Stories der Superhelden aus den Jahren 1963–1966.

X-Men: X-Men. Vol. 1. 1963–1966

Die preisgekrönten Marvel-Serie des TASCHEN-Verlages zeigt nach Spiderman, Avengers, Fantastic Four in ihrem bisweilen vierten XXL-Band die Damen und Herren um den genialen Telepathen Charles Francis Xavier (Professor X), genannt X-Men. Diese Mutant:innen versammelte Professor X in seiner Mansion (nachempfunden dem Englefield House im englischen Berkshire) vor allem deswegen, weil er sie vor Angriffen durch Magneto, dem Erzfein der Mutanten schützen will. Im Keller seiner weitangelegten Mutatanten-Schule befindet sich in einem unterirdischen Komplex auch Cerebro, mit der Prof. X die Gehirnwellen aller Menschen und Mutanten weltweit orten und somit mithören kann. und so mit ihnen in Verbindung treten können. Cerebro ist eine kugelförmige Halle, in der ein Steg vom Eingang zur Mitte der Halle führt. Dort befinden sich ein Sessel und der Steuerungs-computer, mit dem sich der Telepath mittels einer speziellen Kopfhaube verbindet. Xavier und Magneto hatten Cerebro ursprünglich gemeinsam entwickelt, sich dann aber aufgrund unterschiedlicher Ansichten verkracht.

Außergewöhnlich Begabte Gentleman

Von Stan Lee und Jack Kirby 1963 erstmals veröffentlicht waren die X-Men Mutanten vorerst nur ein charmanter, bunt zusammengewürfelter Trupp von Außenseitern. Sie waren alle Teenager mit besonderen, außerordentlichen Kräften, die vor allem unter ihrer (menschlichen) Umwelt litten. Denn die Menschen haben allesamt Angst, vor jenen, die nicht durchschnittlich und normal wie alle anderen sind. Dabei: wer ist schon normal? Vor allem in der Pubertät? Waren wir nicht alle einmal Mutanten? Viele von uns sind es heute noch, auch wenn wir nicht alle X-Men sind. Denn dieser Club der außergewöhnlich Begabten führen einen Kampf gegen Unterdrückung und Diskriminierung von Minderheiten. Somit können sie durchaus auch als Vorläufer der Bürgerrechtsbewegung der beginnenden Sechziger Jahre verstanden werden. Es gibt sogar Interpretationen wonach Prof. X Martin Luther King und Magento Malcolm X. verkörperten. Aber das ist wohlgemerkt nur eine von vielen Interpretationen die die erfolgreiche X-Men Serie in ihrem bereits mehr als 70-jährigen Bestehen dienen musste. Außenseiter Cyclops, Marvel Girl, Angel, Beast und Iceman scharten sich um Professor Xavier, weil er sich für ihre Rechte einsetzte. Später folgten auch die mit Superkräften ausgestatteten Geschwister Quicksilver und Scarlet Witch, der kollossale Blob, der unaufhaltsame Juggernaut, Ka-Zar, der Dschungelbewohner aus dem Wilden Land, den Halbgott The Stranger von den Sternen, und Bolivar Trask mit seiner Armee von Sentinels, die Mutanten jagten. Es bekamen natürlich nicht nur die Superhelden Zuwachs, sondern auch ihre Gegenspieler.

Prachtausgabe der 21 ersten Stories

Die vorliegende Ausgabe, angelehnt an die Größe der Originalzeichnungen, enthält im XXL-Format die ersten 21 Geschichten der X-Men. Eine Zusammenarbeit von Marvel mit Certified Guaranty Company (CGC) garantiert makellose Originalausgaben, die extra für die Reproduktion neu aufgenommen wurden. Jede Seite wurde so fotografiert, wie sie vor mehr als einem halben Jahrhundert gedruckt wurde, und dann mit modernen Retusche-Techniken digital überarbeitet. Eventuelle Ungenauigkeiten der damals vorherrschenden Drucktechnik wurden auf diese Weise korrigiert, so als kämen die Comics frisch aus einer erstklassigen Druckmaschine der 1960er Jahre. Um die Haptik der ursprünglichen Hefte zu simulieren, wurde eigens für unsere Marvel-Serie ein ungestrichenes Papier entwickelt. Im Anhang finden sich zudem Biographien der beteiligten Künstlerinnen und Künstler sowie kurze Inhaltsangaben der einzelnen Hefte. Das Vorwort hat der kreative Kopf hinter den modernen X-Men-Stories, Chris Claremont verfasst. Die Blütezeit der Gründerjahre von Lee und Kirby lässt er in seinen Erinnerungen noch einmal aufleben. Ein ausführlicher Essay des X-Men-Autors Fabian Nicieza sowie Originalzeichnungen, Fotos und Erinnerungsstücke begleiten in die frühen Jahre der X-Legenden. Die Publikation ist auch als Collector’s Edition von 1.000 nummerierten Exemplaren erhältlich.

X-Men. Vol. 1. 1963–1966
XXL. Marvel Comics Library.
Famous First Edition:
Nummerierte Erstauflage von 5.000 Exemplaren
2023, Hardcover, 28 x 39.5 cm, 4.67 kg, 666 Seiten

ISBN 978-3-8365-9454-7
TASCHEN
€ 150


Genre: Comics
Illustrated by Taschen Köln

Gefühle in Zeiten des Kapitalismus

Gefühle in Zeiten des Kapitalismus Eva Illouz

Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Auch wenn der Originaltext schon vor einigen Jahren erschienen ist, ist dieses Buch aktueller denn je. Die erstmals bei Suhrkamp 2023 erschienene Ausgabe gliedert sich in drei Teile von denen einer besser ist als der andere. Denn die israelische Soziologin versteht ihr Handwerk. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Anneliese-Meier-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung und den EMET-Preis für Sozialwissenschaften. Ein Manifest der Postmoderne, das Buch des beginnenden 21. Jahrhunderts!

Ein Bruch mit der Tradition der Liebe

Für wen “emotionaler Kapitalismus” bisher eine contradictio in eo ipso gewesen ist, der wird hier eines besseren belehrt. Denn gerade die Emotionen sind zum Startkapital eines neuen kapitalistischen Akkumulationsmodells geworden, mit dem sich nicht nur start ups wie Datingseiten finanzieren lassen. Die neue Technologie des Internets versteht sich einerseits zwar als eine Technologie der Entkörperlichung und so begegnen sich in diversen Internetforen “entkörpertlichte wahre Selbst“, aber in Wahrheit entscheidet dann doch der Körper. Das Internet mache den Menschen zu einer “ausgestellten Ware mit bewußten Manipulationen des Körpers, der eigenen Sprechmuster, des Benehmens und des Kleidungsstils“. Nichts wird dem Zufall – dem eigentlichen Geburtshelfer der romantischen Liebe – überlassen: “Der Prozess der Selbstbeschreibung bedient sich kultureller Skripte der wünschenswerten Persönlichkeit.

Kosten-Nutzen-Rechnung der Liebe

Die Folgen seien ironischerweise “Uniformität, Standardisierung und Verdinglichung, wie Illouz schreibt. Allerdings Verdinglichung im Nicht-Marxschen Sinne, denn es behandelt den abstrakten Begriff als wäre er die reale Sache. Romantische Begegnungen werden durch das Internet in die konsumistische Logik des Kapitalismus integriert, das Selbst wird zu einem “verpackten Produkt, das mit anderen auf dem offenen Markt konkurriere, der nur durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage reguliert wird”. Aus Romantik wird Routinebildung und Administration, Kosten-Nutzen-Rechnung und Zeitökonomie. Manche Dater und Liebessuchende legen sogar Ordner nach bestimmten Kategorien an, so überwältigend und beliebig ist der Response.

Das Internet: “Glamour of Misery”

Während die traditionelle Liebe von einer Exklusivität aufgrund von Knappheit maßgeblich war und der Zufall eine maßgebliche Rolle spielte, basiere die Partnersuche im Internet “auf einer Ökonomie der Fülle, der endlosen Wahlfreiheit, der Effizienz, der Rationalisierung, der selektiven Auswahl und der auf Standardisierung basierenden Prinzipien des Massenkonsums”. Freilich ist auch in der Realität Liebe von Illusion und Idealisierung geprägt, aber nirgends tritt es so offensichtlich zu Tage, als wenn zwei Chatpartner sich das erste Mal begegnen: Enttäuschung, ein Hilfsbegriff. Dass die moderne Psychologie wesentlich dazu beigetragen hat, dass Privatheit, Emotion und Intimität in einer Arena der Öffentlichkeit zur Schau getragen werden ist zu konstatieren. Nicht zuletzt Oprah Winfrey, ein Buch von Illouz über Oprah trägt den entlarvenden Titel “Glamour of Misery” und tauchte tief ein in die Welt des Showbiz und wie Psychologie und Konsumkultur zu einem perfekten Zusammenspiel aufgeigen können.

Das therapeutische Narrativ des Leidens

Das Narrativ der Krankheit, das therapeutische Narrativ oder auch das Opfernarrativ trugen wesentlich zu Umsatzboosts für Pharmaindustrie und klinische Psychologen bei. “Pharmaunternehmen haben ein großes Interesse an der Ausweitung psychischer Pathologen, die mit Psychopharmaka behandelt werden müssen”, schreibt Illouz. Auch Versicherungsgesellschaften profitieren von der Ware “Gesundheit” und deren monetärer Akkumulation. Das therapeutische Narrativ produziere geradezu vielfältige Formen des Leidens, wie schon Foucault wusste und um mit dem Anthropologen Shweder zu sprechen, mitverursache die kausale Ontologie des Leidens das von ihr erklärte Leiden geradezu. “Sie verursachen ironischerweise viel von dem Leiden, das zu lindern sie vorgeben”, so Illouz. We are all a happy family.

Eva Illouz
Gefühle in Zeiten des Kapitalismus.
Adorno-Vorlesungen 2004.
Aus dem Englischen von Martin Hartmann
2023, Broschur, 170 Seiten
ISBN: 978-3-518-30023-7
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2423
Suhrkamp Verlag, 1. Auflage
16,00 € (D), 16,50 € (A), 23,50 Fr. (CH)


Genre: Kapitalismus, Krankheit, Psychologie, Soziologie
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Allein

Daniel Schreiber: Allein

Allein. Der Susan-Sontag-Biograph (Geist und Glamour, 2007) und Autor vieler Beiträge für die Zeit, Deutschlandradio Kultur und die taz war auch in der Pandemie nicht untätig. Nach “Nüchtern” (2014) und “Zuhause” (2017) erscheint nun ein weiteres sehr persönliches Buch. Dessen Thema erfüllt immer noch viele Menschen mit Unbehagen. Dabei muss sich jede/r ihm stellen. Nicht nur einmal im Leben.

Allein: Einsamkeit als Chance

Das Thema Allein-Sein ist so alt wie die Menschheit und sicherlich kein Phänomen der Moderne oder allein von Krisenzeiten wie eben Pandemien, Kriegen oder anderen Apokalypsen: “Niemand von uns kann der Einsamkeit entkommen. Sie ist eine unabwendbare, eine existentielle Erfahrung. Vielleicht auch eine notwendige.” In seinem Bestseller (SPIEGEL, FOCUS, stern und Börsenblatt) erzählt Schreiber, wie er sich gerade in der paradoxen Situation der Einsamkeit auf eine Insel (Fuerteventura) flüchtete, um dort zu schreiben und schließlich zu sich selbst zu finden. Schreiber zeigt, dass gerade Menschen in Einsamkeit ihren Egoismus schließlich besiegen lernen, sich reorganisieren und damit zu neuem Wachstum finden. “Das Erleben von Einsamkeit bringt, mit andren Worten, eine Form der Selbstwahrnehmung mit sich, die wir anders nicht erlangen können. Gerade der Schmerz, der der mit ihr einhergeht, sorgt dafür, dass wir eine neue Art des Mitgefühls in uns entdecken, für uns selbst und andere Menschen. Uns neue Lebenswege erschließen und innere Auseinandersetzungen zulassen, die sonst ausblieben.”

Allein: Praktiken der Selbstreparatur

Mit seinen Gedanken über das Allein-Sein befindet Schreiber sich übrigens in bester Gesellschaft, schon Roland Barthes, Hannah Arendt, Sartre oder andere Choryphän des abendländischen Denkens haben sich in ihrem Schreiben damit beschäftigt. Oft hätte er sich unvollkommen gefühlt, weil er keine Zweierbeziehungen führen hätte können, jedenfalls keine auf Lebenszeit. Vor allem die Rituale, die den Alltag, das Leben zusammenhalten, würden einem abgehen, wenn man alleine ist, gerade in Zeiten einer Pandemie. Ähnlich wie die traditionellen kollektiven Rituale in westlichen Gesellschaften (Hochzeit, Taufe Beerdigungen, etc.) als rites de passage in neue Lebensabschnitte führen, habe nun aber auch die Pandemie einen solchen Schwellenzustand, eine Liminialität, geschaffen, die, wie zu befürchten ist, zu einem permanenten zu werden droht.

Das Narrativ von der Apokalypse

Denn die Welt ist nicht erst seit der Pandemie aus den Fugen geraten und die Apokalypse wieder in aller Munde. Aber selbst das ist nur Teil der ewigen Wiederkehr des Gleichen, denn die Menschheit hat immer schon von ihrem Untergang geschwärmt, seit Anbeginn der Zeit. Schreiber bezieht sich auf viele Autorinnen und Autoren der Gegenwart oder Antike und stellt einen Zusammenhang her mit seinem eigenen persönlichen Leben als homosexueller Mann, dem sich herkömmliche Glücksversprechen von Eigenheim und Kleinfamilie vorerst verwehren, er sich dann aber bewusste dafür entscheidet, eben nicht dazuzugehören: “Ich gehörte nicht mehr zu diesen Menschen, und wollte auch nicht mehr zu ihnen gehören.” Er entscheidet sich dafür, “uneindeutige Verluste” als eben solche stehen zu lassen und mit der Ambivalenz zu leben, da manche Fragen eben unbeantwortet blieben. So wie Derek Jarman auf seinem Prospekt Cottage: “Er nahm ein paar Samen, Stecklinge und etwas Treibholz und begann dieses Gefühl vom Ende der Welt in Kunst zu verwandeln und so dessen Schrecken zu lindern.”

Liminalität: der neue Schwellenzustand

Aber mehr noch als das, ist “Allein” vor allem auch ein äußerst lesenswertes Buch über die Segnungen von Freundschaft und das eigentliche Wesen dieser wohl größten menschlichen Tugend. Wer sich nämlich nicht in einer von der Gesellschaft vorgegebenen patriarchalisch-normativen Kleinfamiliensituation in der Mitte seines Lebens wiederfindet, wird ebenfalls dankbar sein für dieses so wertvolle Buch, das Einblicke gewährt, mit dessen Abgründen sich jeder einmal in seinem Leben wird auseinandersetzen müssen. Spätestens nach einer Scheidung, einem Verlust oder wenn die Kinder erwachsen sind und das Haus verlassen. Die wohl prägendste Erfahrung im Leben eines Menschen ist nämlich gerade diese Einsamkeit, deren Potential und heilsamer Charakter erst noch entdeckt werden muss. “Paare” gälten oft als dominantes Lebensmodell, während sie doch eigentlich oft “patriarchale Horrofilme” ähnelten, wie Hannah Black etwa meint. Black beschreibt Paare als “reduktionistischste, ausgrenzendste und prekärste Methode, um das wahrscheinlich universale Bedürfnis nach Nähe zu stillen”.

Liebe vs. Freundschaft

Auch queere Paare würden dies oft nur reproduzieren, dabei liege das wahre Glück doch in der Freundschaft und der Auflösung jedweder Arten von Herrschaft und Macht. Freundschaft beruhe ja gerade auf Freiwilligkeit und sei deswegen losgelöst von Verpflichtungen und Normierungen wie etwa Familie, Verwandtschaft oder Ehe. Aber oft würden sich Freunde oder Freundinnen dann doch in eine Zweierkiste verabschieden und man bliebe alleine zurück. Dabei sei Liebe ohnehin nur eine Illusion, die für einige Jahre vielleicht “die Angst vor dem Sterblichen und dem Tode” zu bannen vermöge. Es ist kein Geheimnis, dass Liebe tatsächlich sehr viel der Kraft unserer Fantasten bedarf. “Erst unsere Vorstellungskraft schenkt uns die Magie der Hingabe“, zitiert Schreiber Lauren Berlants “Desire/Love“. In der Einsamkeit lässt sich die Nähe zu Gott und zu seiner/m Nächsten. erfahren. Die Liebe kommt dann von ganz allein. Denn sie genügt sich selbst.

Ein beflügelndes, inspirierendes Essay, das nicht nur über die Pandemie, sondern noch so manchen anderen Schmerz hinwegtrösten kann. Das Buch zur Apokalypse.

Daniel Schreiber
Allein. Essay
2023, Broschur, 160 Seiten
ISBN: 978-3-518-47318-4
suhrkamp taschenbuch 5318
12,00 € (D), 12,40 € (A), 17,90 Fr. (CH)

 


Genre: Essay, Pandemie, Philosophie, Soziologie
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Als wir Vögel waren

Als wir Vögel waren – neu bei Diogenes

Als wir Vögel waren. Trinidad ist für Calypso, Chutney, Limbo, Rapso und Soca und den nach dem in Rio de Janeiro zweitbedeutendsten Karneval der Welt bekannt. Aber nun wird die Karibikinsel auch für “Als wir Vögel waren” bekannt werden, die Heimat der 1980 dort geborenen und heute in London lebenden Autorin Ayanna Lloyd Banwo. Bisher erschienen zwar erst Kurzgeschichten in verschiedenen Publikationen, aber mit ihrem Romanerstling wird dies wohl bald anders werden.

Fidelis oder ein neuer Anfang

Dabei ist die Geschichte, die sie erzählt, so gar nicht ins Klischee des karibischen Flairs der Lebenslust und bunten Freude passend. Banwo erzählt darin zwar eine Liebesgeschichte, die zwischen dem jungen Rastafari Darwin und Yejide, einer Seherin, die sich auf höchst ungewöhnliche Weise kennen und lieben lernen, aber eine, die völlig frei von herkömmlicher Romantik und Hollywood-Schmafu ist. Emmanuel Darwin, der bei seiner Mutter ohne Vater aufwächst, findet nach langer Suche endlich einen Job, allerdings ein Job, den ihm seine Religion verbietet. Auch seine Mutter hat einiges dagegen einzuwenden, und so muss er sich von ihr, die außerhalb der Stadt lebt, trennen und in die Stadt (“Babylon”) ziehen, in die Nähe des Friedhofs Fidelis. Er hat dort als Totengräber angeheuert und seine neuen Kollegen und sein Chef sind abgebrühte Jungs, die gerne mal einen trinken, auch das etwas, was ein Rastafari niemals tun würde.

Darwin und Yejide

Darwin raucht lieber ab und zu von dem heiligen Kraut, aber auch das in Maßen, schließlich ist die Arbeit, die er annimmt, nicht nur körperlich, sondern auch psychisch schwer zu verarbeiten. Eines Tages lernt er in der Verwaltung dieses Friedhofs eine Frau kennen, die darauf besteht, dass ihre Mutter auf demselben Grab wie ihre Tante begraben wird. Allerdings gibt es dabei die Schwierigkeit, dass ihre Tante damals nicht tief genug gelegt wurde und sich zwei Särge übereinander nicht ausgehen könnten. Darwin nimmt sich – trotz des Gespötts seiner Kollegen – dem Anliegen der jungen Frau, Yejide, an. Vielleicht auch deswegen weil er sich sofort in sie verliebt. Aber das darf natürlich niemand wissen.

Karibische Melancholie und Hoffnung

Die kriminellen Machenschaften seiner Kumpane und die Suche nach seinem verschwundenen Vater sind nur zwei von vielen Schwierigkeiten gegen die die junge und neu erwachte Liebe der beiden ankommen muss, aber sie können es schaffen, wenn sie zusammenhalten und mutig genug sind. Ayanna Lloyd Banwo holt in ihrem ersten Roman weit aus, erzählt von einer Zeit als wir Vögel waren und die Corbeaux (Raben) alles überwachten. Ganz so wie in der Erzählung von Yejides Großmutter, aus einer Zeit vor der Zeit. Sie erzählt auch von der Trennung des Sohnes von der Mutter, der trotz seiner Trennungsschmerzen weiß, dass er nicht ewig bei ihr bleiben kann und gehen muss. Nicht nur um seinen Vater zu finden, sondern vor allem um sich selbst zu finden. Der Abschied des Sohnes von der Mutter ist ein Aufbruch in eine Welt, in der niemand sich um seine Seele kümmern wird, ruft sie ihm nach. Aber Darwin selbst wird nun zum Herr seines Schicksals und dem Kapitän seiner Seele. Das wird auch für seine Mutter Früchte tragen, wie wir am Ende des Romans erfahren.

Als wir Vögel waren

Trauer hat keine Ende – sie ist kein Seil“, aber dennoch gelingt es Darwin, draußen in der Welt zu bestehen und seinen Weg zu gehen, der ihn auch zu seinem Vater führt, ein Mann, der ihm gar nicht so unähnlich ist. Ayanna Lloyd Banwo erzählt ihre Geschichte in einer wunderbaren Sprache, frei von Schnörkeln und voller Hoffnung für die Zukunft. “Weißt du, ich glaub an das Leben, und das Leben ist ziemlich einfach – gut leben, hart arbeiten, Leuten helfen, wenn man kann, sich ein reines Herz bewahren, positiv denken, aber die letzte Zeit… Irgendwie hab ich mich auf die Weg verirrt und weißt nicht mal warum.” Aber mit der Liebe als Kompass wird Emmanuel Darwin auch dieses Problem lösen. Er ist nun ein Mann und Yejide seine Frau.

Ayanna Lloyd Banwo
Als wir Vögel waren. Roman
Aus dem trinidad-kreolischen Englisch von Michaela Grabinger
2023, Hardcover Leinen, 352 Seiten
ISBN: 978-3-257-07224-2
€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 24.70
diogenes


Genre: Gesellschaftsroman
Illustrated by Diogenes

Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde

Spannende Lektüre: ein Städtevergleich Wien – Berlin

Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde. Die vorliegende Hardcoverausgabe und mit 24 Abbildungen versehene Publikation des Reclam Verlages sticht nicht nur durch ihre Gestaltung hervor. Der gelernte Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke, der am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München lehrt, beschäftigt sich mit einem Thema, das viel zu oft vernachlässigt wird: der Städtekomparatistik.

Beziehungsgeschichte Wien – Berlin

Die mehr als faszinierende Beziehungsgeschichte der beiden mittel-europäischen Metropolen Wien und Berlin fördert nicht nur amüsante Anekdoten zutage, sondern zeigt auch, wie verwoben die Schicksale der beiden Städte sind und waren. Denn nicht nur das 19. und 20. Jahrhundert – die “klassische Moderne” – nimmt der Autor des ebenfalls bei Reclam erschienen Bandes “Die 1920er Jahre. 100 Seiten.” in den Fokus seiner Betrachtungen, sondern auch die Gegenwart. Oft wurden nämlich gerade diesen beiden Städte als Gegensatzpaar verstanden und diejenigen, die verglichen, stammten meist selbst aus der jeweils anderen Stadt. Denn oft dienen Vergleiche und Zuschreibenden gerade dazu, Kritik an den herrschenden Verhältnissen der eigenen Gegenwart zu äußern. Als “Magnetfeld” verordnet Wietschorke das mentale Minenfeld zwischen Wien und Berlin. Eine spannende entangled history oder histoire croisée hat er verfasst, wenn er über das “Spannungs- und Gravitationsfeld” Wiens und Berlins enthüllt, dass es sich geradezu um “Dauerbrenner des Feuilletons” gehandelt hab, gerade zwischen 1870 und 1930, die beiden Städte zu vergleichen. Wien spielte bei diesen Vergleichen oft die gemütliche alte Dame, während Berlin ganz vom “modernen Amerikanismus in Besitz genommen” dargestellt wurde.

Gegensätze, die sich anziehen

Die Hauptstadt der Hässlichkeit nannte Scheffler sie einst, und das war noch lange vor den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges. Auch anfangs des 20. Jahrhunderts war Berlin schon eine “permanente Baustelle”, eine “Stadt für Entrepreneurs, traditionslos, rasant und oberflächlich”. Aber eben auch voller Chancen, die es in Wien nie gab, da es dort nur die Alteingesessenen zu etwas brachten: sie waren ja immer schon wer. Während Wien schon seit Jahrhunderten die Haupt- und Residenzstadt eines Kaisers gewesen war, wurde Berlin quasi from scratch erfunden. Eine Nicht-Landschaft wurde ihr attestiert, auch auf Sand gebaut, wie es in der Bibel lautet. Erst in den Zwanzigern verfügte sie über eine große kulturelle Anziehungskraft für Kunstschaffende aus ganz Europa und der Welt. Berlin war lange Zeit der Parvenu unter den Großstädten, da sie erst durch die Reichsgründung Friedrichs als wirkliche Stadt bezeichnet werden konnte. “Wir nennen den Namen Wien und alle Herzen fliegen ihm zu“, brachte es Rodenberg auf den Punkt, “aber wir sprechen den Namen Berlin nicht aus, ohne Vorurteilen zu begegnen“. Das hing auch mit anti-modernistischen Großstadtklischees zusammen und so wurde Wien von vielen Publizisten als positiver Gegenpol zum Sehnsuchtsort und zur Traumstadt stilisiert. Übrigens auch ein Klischee dem sie später die Nazis sehr gerne bedienten, wie Wietschorke dankenswerterweise in einem eigenen Kapitel ausführt.

Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde

Berliner Tempo (“Elektropolis“) und Wiener Gemüt wurden ein Begriffspaar das dem jeweiligen Sprecher Argumente gegen das jeweils Unerwünschte lieferte. Das hatte klarerweise nicht viel mit den wirklichen Städten zu tun, sondern allein mit deren Projektionen und Imaginationen. “Während man Wien immer deshalb liebt, weil es dort viel schöner ist als anderswo, liebt man Berlin obwohl es anderswo viel schöner ist“, wie Wietschorke es pointiert ausdrückt. Aber auch schon Reinhard Mey hatte in Wien “Heimweh nach Berlin” verspürt, wie er im gleichnamigen Lied singt.

Heimweh nach Berlin

Elias Canetti hingegen musst sich von seinem sechsmonatigen Berlinaufenthalt bei mehreren Spaziergängen am Stadtrand seines Wiens erst wieder erholen, bevor er “Die Blendung“, sein Nobelpreisstreich, verfassen konnte: “Offensichtlich hatte Canetti den Rückzug nach Wien gebraucht, um den in Berlin erlebten Irrsinn aufzeichnen zu können.“, schreibt Wietschorke süffisant. Über weitere Celebrities wie Max Reinhardt oder Bert Brecht und die bis heute zu Unrecht vergessene Schriftstellerin Lili Grün (“Herz über Bord“) weiß Wietschorke ebenso zu berichten wie über “Stars und Sternchen” der Unterhaltungs-industrie die zwischen Wien und Berlin pendelten.

Klischees als Propagandafutter

Wien lieferte den Stoff, Berlin brachte ihn in Umlauf“, hieß eine damals geltende Formel, die sich beizeiten aber auch wieder umdrehte. Dabei war es allerdings gerade die politische Rechte, die Konservativen und Reaktionäre, die sich ihr traditionelles Wien-Bild nicht vermiesen lassen wollten. Sowohl die Nazis als auch der Heimatfilm der 50iger Jahre hielt an diesem verklärten Bild der “guten alten Zeit” fest und stilisierten Wien gleichzeitig zu einem Bollwerk gegen Amerikanismus und Bolschewismus. Nicht zuletzt Hitler hatte das Klischee vom “volkstümlichen Wien” als Hort und Heiligtum des deutschen Volkes auserkoren, obwohl Wien auch damals schon ganz anders war (und er Wien eigentlich hasste). Und so wurde Wien – die Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im Deutschen Reich – zum “Experimentierfeld für die `Endlösung´”, wie Wietschorke, fulminant geschrieben, herausarbeitet. Aber wie schrieb Polgar in jenen Tagen so treffend an Schnitzler: “Wien, Wien, nur du allein – es ist, um die Seele aus dem Leib zu kotzen“.

Inszenierung eines Traums, Traum der Inszenierung

Das Reale ist eben relational“, wusste schon Bourdieu, denn erst im Vergleich treten die Charakteristika hervor. Das Typische sei nicht einfach da, es werde gesucht, Klischees sind einfach dauerhafter als soziale Realität, weiß Wietschorke: “Für Wien und Berlin bedeutet das: Das kulturelle Imaginäre folgt einer eigenen Konstruktionslogik. Es übergeht den Wandel und ignoriert die Widersprüche.” Dass die Vorstellung sich aber auch in die Realität einschreibe, bestätigt auch Claudio Magris: Wien sei mit der Inszenierung seiner selbst identisch. 17,4 Millionen Touristen im Jahr 2019 (vor der Pandemie) können nicht irren. Oder sind sie etwa einem Klischee auf den Leim gegangen?

Jens Wietschorke
Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde
2023, Geb. mit Schutzumschlag. Format 13,5 × 21,5 cm, 345 S. 24 Abb.
ISBN: 978-3-15-011442-1
Reclam Verlag

 


Genre: Literatur, Metropolen, Städte
Illustrated by Reclam Verlag

25/100 Jahre The Big Lebowski

Am 19. März 1998, vor 25 Jahren, fand in Deutschland die Premiere zu dem wohl besten Film der Coen Brüder statt. In der Hauptrolle der unvergleichliche Jeff Bridges, aber auch eine Menge anderer Stars in den Nebenrollen eines Plots, der irgendwie dem Big Sleep von Raymond Chandler nachempfunden ist und dann wieder doch nicht.

Welcher Lebowski ist The Big Lebowski?

“LET ME EXPLAIN SOMETHING TO YOU. UM, I AM NOT ‘MR. LEBOWSKI.’ YOU’RE MR. LEBOWSKI. I’M THE DUDE. SO THAT’S WHAT YOU CALL ME. YOU KNOW, THAT OR, UH, HIS DUDENESS, OR UH, DUDER, OR EL DUDERINO IF YOU’RE NOT INTO THE WHOLE BREVITY THING.” – THE DUDE“

The Big Lebowski schrieb Geschichte. Ein Vierteljahrhundert ist es nun schon her, dass John Goodman (Walter Sobchak), Steve Buscemi (Theodore Donald „Donny“ Kerabatsos) und Julianne Moore (Maude Lebowski) um die Gunst des potrauchenden Kaliforniers ritterten, der zum Synonym für den Hedonismus der Hippie-Kultur wurde – und das 30 (!) Jahre nach 1968. Immerhin soll Lebowski in den Sechzigern einer der Unterzeichner der Port Huron Erklärung gewesen sein, dem Gründungsdokument der Students for a Democratic Society (SDS). Aber der Film spielt Jahrzehnte später, Anfang der 90er, als der “Dude” sich längst in sein Privatleben zurückgezogen hat und vorzugsweise mit seinen Freunden Walter und Donny bowlen geht und hin und wieder einen durchzieht. Am liebsten in seiner Badewanne – wie in Amerika üblich – mit der Pinzette in der Hand. Doch eines Tages bekommt er genau dort Besuch von einem Frettchen.

Jeffrey “The Dude” Lebowski

Die Besitzer des lieben buschigen Schwanztieres halten ihn für einen gewissen Jeffrey Lebowski (The Big Lebowski), der mit seinem Butler Brandt (Philip Seymour Hoffman) stark an Mr. Burns und Waylon Smithers Junior der Cartoonserie The Simpsons erinnern, so überzeichnet sind die beiden Charaktere. Aber die Nihilistenbande (in einer Nebenrolle: Flea von den RHCP), die His Dudeness, unseren Lebowski, bedrohen sind einfach zu dumm, zu begreifen, dass er unmöglich der Vater der vermeintlich entführten Frau von The Big Lebowski, Bunny (Tara Reid), sein kann und ziehen wieder ab, nachdem sie auf seinen Teppich gepisst haben. Für alle die es bisher nicht glauben konnten: “The Big Lebowski” ist nämlich nicht nach Jeffrey “Dude” Lebowski benannt, sondern nach Jeffrey Lebowski, dem Millionär. Ersterer hat aber nicht nur eine junge Frau, Bunny, die vermeintlich Entführte, sondern auch eine Tochter, Maude (Julianne Moore), eine Walküre, die im Leben des zweiteren noch eine Rolle spielen wird.

Aus dem Leben gegriffen

“That rug really tied the room together.” – The Dude

Der Dude macht sich also auf den Weg zum Millionär Lebowski und fordert einen Ersatz für seinen ruinierten Teppich und so nimmt die Handlung eines der besten Filme der Cinematagraphie seinen Lauf, wobei es eigentlich völlig nebensächlich ist, wie diese ausgeht. Denn “The Big Lebowski” ist gar kein Film, sondern ein Lebensgefühl, eine Aneinanderreihung komischer Situationen voller Ironie und Irrsinn, wie es nicht nur in der Stadt der Engel, sondern tatsächlich auf der ganzen Welt passieren könnte. The Big Lebowski ist authentisch und echt, wie kaum ein anderer Film, der aus der Traumfabrik kommt. Ein Film wie ihn das Leben schrieb. Bald stellt sich nämlich heraus, dass The Big Lebowski die Entführung seiner Frau Bunny benutzte, um aus der Stiftung seiner ersten Frau 1 Million Dollar abzuzwacken. Und dann wäre da noch der Pornofilmproduzent Jackie Treehorn (Ben Gazzara). Das Geld macht eben alle verrückt. Außer eben den Dude.

25 Jahre Kult um The Big Lebowski

Seit 25 Jahren also treffen sich die Dudeists der ganzen Welt auf gewissen Look-A-Like Parties, hören den fabelhafte und einzigartigen Soundtrack des Films (keine Eagles!) oder huldigen sogar eine Religion, die sich 2005 als Church of the Latter-Day Dude gegründet hat. John Turturro, der als Jesus Quintana eine der stilprägendsten Szenen im Film bekam, dreht 2019 sogar ein Remake mit dem Titel The Jesus Rolls. In der Titelrolle natürlich John Turturro selbst. Auch der Trip auf den der Pornofilmproduzent Jackie Treehorn den Dude schickt hat, natürlich eine Reihe von Nachahmern gefunden. Außerdem gab es immer wieder Gerüchte, dass eine Fortsetzung von The Big Lebowski von den Coen-Brüdern gedreht werden würde, denn der Film hatte anfangs zwar nur das Doppelte seiner Produktionskosten eingespielt, sich aber über die Jahre zu einem echten Kultfilm entwickelt und das wirft natürlich jedes Jahr auch wieder Tantiemen an Merch ab.

The Big Lebowski Merchandise

Abgesehen von T-Shirts, Tassen und Postern werden immer wieder neue Ausgaben des Filmes als DVD oder BluRay herausgegeben. Mal in Bowlingkugeln verpackt, mal mit neuem Cover. Dauerbrenner sind aber auch der Strickpullover oder die Streifenhosen und eine Perücke des Dude sowie diverse Paraphernalia. Auch der Soundtrack hat schon einige Reissues hinter sich, die teilweise mit Neuabmischungen der alten Klassiker glänzen. Aber auch ein Teppich mit dem Dude als Muster eingewoben fand schon seine Abnehmer. Wer dafür kein Geld hat, kann seinem Lieblingsfilm aber immer noch mit einem “White Russian” huldigen.

White Russian for Conception

Der Drink – der zu jeweils einem Drittel Vodka, Kaluha (Kaffeelikör) und half/half (halb Milch/Sahne) sowie natürlich Eiswürfeln am besten zu einem Spliff schmeckt, soll von Lebowski selbst im Film immerhin neun mal verdrückt worden sein. In einer der legendärsten Szenen – in der Maude, die Tochter von Big Lebowski, ihre Schenkel nach oben reckt, um die Möglichkeit der Befruchtung (link zum Film O-Ton) zu erhöhen – spuckt er allerdings die Hälfte davon wieder zurück in sein Glas.

“I was, uh, one of the authors of the Port Huron Statement. The original Port Huron Statement. Not the compromised second draft. And then I, uh… Ever hear of the Seattle Seven?” – The Dude, The Big Lebowski

Seine Überraschung, dass eine Frau wie Maude ausgerechnet von einem wie ihm ein Kind bekommen wolle, überrascht ihn dann doch zu sehr. Aber was wurde eigentlich aus Jeffs und Maudes Befruchtung? Inzwischen – nach 25 Jahren – könnte das Erbe ja schon alte genug sein, selbst den Rezepten und dem Lifestyle seines/ihres Vaters zu folgen. Fortsetzung folgt hoffentlich doch noch…

PS: Die Anliegen des Port Huron Statements, das Gründungsstatement des SDS, sind natürlich auch heute, mehr als 50 Jahre später noch gültig: “If we appear to seek the unattainable, as it has been said, then let it be known that we do so to avoid the unimaginable.

Alle Bilder/Fotos Creative Commons!

Weiterführende Literatur zu Big Lebowski und Gewinnspiel

Bill Green, Ben Peskoe, Will Russell, Scott Shuffitt
Ich bin ein Lebowski, du bist ein Lebowski: Die ganze Welt des Big Lebowski
Heyne Verlag
ISBN:3453676033

Jenny Jones
The Big Lebowski: an Illustrated, Annotated History of the Greatest Cult Film of All Time
Voyageur Press
ISBN: 9780760347096

Edward P. Comentale, Aaron Jaffe
absolute(ly) Big Lebowski
Orange-Press Gmbh
ISBN: 9783936086522

Wer an den Verfasser schreibt, kann ein Exemplar eines Buches oder anderes Merch gewinnen! rakoushan@web.de

Walt Disneys Mickey Mouse

(Fast) 100 Jahre Mickey Mouse

Walt Disneys Mickey Mouse. Kleine Maus ganz groß. TASCHENs XXL-Ausgabe zu Walt Disneys Mickey Mouse ist die wohl umfangreichste Publikationen über das Disney-Universum einer kleinen Maus aus New York. Über 1.250 Illustrationen, darunter die allerersten Entwürfe, Animationszeichnungen, Storyboards, Hintergründe, Plakate und zahlreiche Fotografien sowie Informationen über alle rund 122 Zeichentrickfilme und die zeitlosen Comicabenteuer in einem Band.

Alles begann mit einer Maus

Zudem werden alle Künstler, die Mickey je Leben eingehaucht haben – ob im Trickfilm oder Comic – vorgestellt. Denn seit der kleine Mäuserich das erste Mal, am denkwürdigen Abend des 18.11.1928, in dem Cartoon Steamboat Willie in New York über die Kinoleinwand flimmerte war sein Siegeszug nicht mehr aufzuhalten. Aber eigentlich stammt die Maus gar nicht aus der großen Stadt, sondern aus Kansas City, Missouri. Denn dort wurde ihr Schöpfer Ub Iwerks 1901 geboren. Übrigens ein Name,
Der sich aus seinen ostfriesischen Wurzeln erklärt, denn sein Vater war in die USA ausgewandert. Ub Iwerks war ein Jahrgänger des berühmten Walt Disney und auch sein erster Angestellter. Ihm wurde 1999 auch der Dokumentarfilm “The Hand Behind the Mouse: The Ub Iwerks” gewidmet, denn er war maßgeblich am Erfolg der Disney-Studios beteiligt, obwohl er sich 1930 von Disney getrennt hatte. Nach dem Misserfolg seines Iwerks-Studios kehrte er aber 1940 zu Disney zurück. “Steamboat Willie” (1928) gilt als der erste vertonte, öffentlich aufgeführte Zeichentrickfilm mit einer Cartoonfigur.

Micky Maus, der Musterknabe

Walt Disney, his brother Roy, and Mickey pose proudly © Disney Enterprises, Inc.

Der Erfolg von Micky Maus und seine Freunden könnte aber auch damit zusammenhängen, dass viele Menschen währende der Großen Depression Trost in den lustigen Abenteuern der kleinen Maus suchten, denn bereits 1935 war Disney ein millionenschweres Unternehmen. Das war aber nicht nur den Filmen, sondern auch den Comic-Strips zu verdanken, die auch in Deutschland schon ab 1930 erschienen. Diese “Parallelaktion”, die mit der Filmabteilung bei Disney nicht abgesprochen war, sei vor allem dem Zeichner Floyd Gottfredson zu verdanken gewesen, wie Brancheninsider verlauten ließen. Das Erfolgsrezept der Figur beruht übrigens auf einer einfachen Wahrheit: Der vormals leichtfertige Mickey wurde immer mehr seiner jugendlichen und wilden Eigenschaften beraubt und diese dann neuen Figuren, meist Gegenspielern überschrieben. So konnte die Zensur umgangen werden und es entstanden Pluto als Prügelknabe, Goofy als Dummerchen, Donald Duck als Choleriker und Faulpelz oder Kater Karlo als Bösewicht. Übrig blieb Micky Mouse als Musterknabe und Identifikationsfigur für die amerikanische und europäische Jugend.

Walt Disneys Mickey Mouse: Inhalt

Die vorliegende TASCHEN XXL-Publikation feiert (fast) 100 Jahre der berühmtesten, pfiffigsten und charmantesten Maus der Welt mit einer Neuausgabe einer der umfangreichsten illustrierten Biografien, die es je zu dieser Comicfigur gegeben hat. Aus dem Inhalt: Mickey im Zeichentrickfilm, Mickey im Comicstrip, Mickey im patriotischen Einsatz während des Zweiten Weltkriegs, sein Auftritt als Zauberlehrling in dem abendfüllenden Spielfilm Fantasia, einer ambitionierten und unvergesslichen Visualisierung klassischer Musik, Mickey im Radio, im TV (The Mickey Mouse Club) u.v.m. Der Disney-Konzern (ursprünglich als Disney Brothers Cartoon Studio gegründet) besteht inzwischen aus Disneylands in der ganzen Welt und macht sowohl Kinder als auch Erwachsene glücklich. Nicht nur in Zeiten der (Großen) Depression. Einen Umsatz von 74,8 Milliarden US-Dollar ist der Konzern schwer, bei einem Gewinn von 10,4 Milliarden US-Dollar. Einer der fünf größten Medienkonzernen der Welt und laut den Forbes Global 2000 auf Platz 36 der weltgrößten Unternehmen (Stand: 2020). „Ich kann nur hoffen, dass wir eine Sache nie aus den Augen verlieren: dass es alles mit einer Maus begann.“, soll Walt Disney einmal rückblickend auf sein Imperium gesagt haben.

David Gerstein, J. B. Kaufman, Daniel Kothenschulte
Walt Disneys Mickey Mouse. Die ultimative Chronik
Hardcover, 25 x 34 cm, 3,16 kg, 496 Seiten
ISBN 978-3-8365-8356-5 (Deutsch)
ISBN 978-3-8365-8355-8 (Englisch)
Taschen Verlag
€ 60 | CHF 60


Genre: Comics
Illustrated by Taschen Köln

Großmutters Haus

Thomas Sautner – Großmutters Haus

Großmutters Haus. Der aus dem Waldviertel stammende Autor ließ zuletzt (2023) mit einem amüsanten Roman über zwei alte Männer aufhorchen, die sich ihren Lebensabend mit der Gesellschaft einer gewissen Julia versüßen. Aber auch zuvor schon hat sich der fleißige Essayist immer wieder interessanten Außenseitern unserer Gesellschaft gewidmet. Darunter etwa ein ein Roman über die Jenischen, die fahrenden Gesellen, in “Fuchserde” (2008), aber auch der Hanf anpflanzenden Großmutter von Malina, seinem alter ego.

Großmutters Haus: Refugium der Triebe

Für “Großmutters Haus” schlüpft der Erzähler Sautner in die Rolle einer Frau, der jungen Malina, die von ihrer tot geglaubten Großmutter, Kristyna, eines Tages ein großes Paket bekommt. Bald findet sie heraus, warum ihre Großmutter in ihrer Verwandtschaft eine “persona non grata” angesehen wird und gerne totgeglaubt wurde, aber im Gegenteil sehr lebendig ist. Sie ist nämlich zu genau jener verrückten alten Frau geworden, die schon Brecht in seiner Kurzgeschichte “Die unwürdige Greisin” 1939 beschrieb: Eine Frau, die sich über alle Konventionen hinwegsetzt und einfach das tut, was sie will. So nimmt sie sich nicht nur mehrere Liebhaber, sondern pflanzt in ihrem Haus im Wald auch noch ein Kraut an, das für manche Spießbürger einige Offenbarungen bereithält. Wenn wir hier von “Trieben” sprechen, sind also durchaus auch pflanzliche und nicht nur menschliche gemeint.

Zeit: eine physikalische Wechselbeziehung

Drei Sorten sind es sogar, die sie eigenhändig kreiert: die “Godfather5000”, die “Sputnik” und die “Able”. Alle drei haben unterschiedliche Auswirkungen und natürlich hängt es auch von dem ab, der sie raucht, was mit ihm oder ihr dann passiert. Malina zum Beispiel verliebt sich in Jakob, den schweigsamen Besucher ihrer Großmutter, der ihr immer wieder unter die Arme greift. Manchmal noch mehr. Aber es gibt ja auch noch andere Männer, die Kristyna besuchen, während Malina über die Literatur, das Bücher lesen und den Sinn des Lebens nachdenkt. An einer Stelle setzt sie sich etwas mit der Zeit auseinander und begreift, dass diese ein Teil von uns ist. “Ich denke, dass die Zeit uns ausmacht” beschließt sie eines abends, es sei wie eine physikalische Wechselbeziehung, denn auch wir würden sie beeinflussen, nicht nur sie uns. “Wenn ein Bild, ein Buch, eine Lebenszeit glückte, waren Inhalt und Form eins“. Form follows function, FFF, der Designleitsatz aus dem Produktdesign und der Architektur wird für Marina zum Lebensmotto. “Die Form folgt immer der Funktion, und dies ist das Gesetz. Wo die Funktion sich nicht ändert, ändert sich die Form nicht.“, wusste Louis Sullivan schon 1896. Aber was bedeutet das Sullivan-Axiom für das Leben im Allgemeinen und für Malina im Speziellen?

Anker in stürmischer See

Die durchwegs amüsante Geschichte von Krystina und ihren unterschiedlichen Liebhabern wird für ihre Enkelin Malina zum formgebenden Erlebnis ihrer Adoleszenz, ihrem “Coming of Age”, wie dieser Lebensabschnitt in dem sie sich befindet gerne genannt wird. Denn es sind vor allem die Freunde und das soziale Milieu der Großmutter, die Marina für ihr Leben prägen werden und einen wichtigen Einfluss auf ihre Genese haben. Malina hat Glück, dass sie eine so coole Großmutter hat, denn das ist eine Ressource, die ihr immer wieder nützlich sein wird. Der Generationenvertrag sollte noch einmal neu überdacht werden, neu geschrieben werden. Vielleicht sind “Zwei alte Männer” (2023) und “Großmutters Haus” (2019) beide ein Plädoyer dafür, alte Menschen wieder mehr in unseren Alltag zu integrieren. Denn sie sind eine unglaubliche Ressource für uns alle. “Der Mond stand am Himmel wie eine Schüssel dampfende Vanillemilch”, schreibt Thomas Sautner. Sie, die “Alten”, sind die eigentliche “Tätowierung”, die sich unser Fleisch eingebrannt haben, die “ein Anker (sind), der sie (uns) während der Fahrt auf das offene Meer an daheim erinnerte, an den sicheren Hafen, den es gab, geben musste, irgendwo“. Gut immer wieder daran erinnert zu werden, dass man wo hingehört.

Thomas Sautner
Großmutters Haus. Roman
2019, Hardcover, 252 Seiten
ISBN 978-3-7117-2076-4
Picus Verlag
€22,00


Genre: Roman
Illustrated by Picus Verlag

100 Jahre Alice Miller

100 Jahre Alice Miller. Die 1923 in Lwiw als Alicja Englard geborene Psychologin wäre Anfang diesen Jahres 100 Jahre alt geworden. Ein guter Anlass auf das schriftstellerische Werk der aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgetretenen „Kindheitsforscherin“ zurückzublicken. Zeit ihres Lebens hatte sie sich gegen autoritäre Machtstrukturen und für wahre Kommunikation eingesetzt und war dafür von vielen missverstanden worden. Dabei war sie immer auf Seiten der Schwächsten: den Kindern.

Christiane F. und Adolf H.: zwei deutsche Schicksale

Das Drama des begabten Kindes (1979)

Nicht nur in Psycholog:innenkreisen waren ihre Werke wie “Das Drama des begabten Kindes” (1979), “Am Anfang war Erziehung“(1980) oder “Du sollst nicht merken” (1981) Pflichtlektüre und quasi Kult. Denn Alice Miller war eine der ersten, die den Zusammenhang zwischen schlimmer Kindheit und späterer Grausamkeit (etwa bei Diktatoren) untersuchte. Legende ist etwa ihre Abhandlung über Adolf Hitler in “Am Anfang war Erziehung” in der sie auf den Narzissmus und den Größenwahnsinn des Gröfaz eingeht und ihn anhand seiner Kindheitserfahrungen erklärt. Natürlich nicht um ihn zu entlasten, sondern herauszufinden, was ihn auch mit anderen Diktatoren verband, die die Welt seit jeher heimsuchten. Das war damals – Anfang der Achtziger – noch vollkommenes (psychologisches) Neuland und Miller wurde von ihren Kollegen anfangs nicht ernst genommen. Aber was sie bei ihren Untersuchungen zu Tage förderte, war ein durchwegs logisches Gedankengebäude, das nachvollziehbar erklärte, wie Hitler ein ganzes Volk für seine unaufgearbeiteten Kindheitstraumen in Geiselhaft nahm. Auch einem anderen damals sehr breit diskutierten deutschen Schicksal widmete sie sich in ihrem Erziehungsbestseller: Christian F. Die weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt Berlin hinaus bekannte Drogensüchtige (“Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) litt unter einem ebenso gewalttätigen Vater wie AH, aber ihr Trauma führte nicht zur Destruktivität, sondern zur Autodestruktivität durch die Droge Heroin. Christiane hätte früh lernen müssen, dass Liebe und Anerkennung nur mit der Verleugnung der eigenen Bedürfnisse, Regungen und Gefühle (wie Haß, Ekel, Widerwille) zu erkaufen seien, also um den Preis der Selbstaufgabe, schreibt Miller. Ihr ganzes Bestreben sei deswegen dahingegangen, diese Selbstaufgabe zu erreichen, d.h. “cool zu sein“. Wie die Eltern früher mit Hilfe des Schlagens die Gefühle des Kindes nach ihren Bedürfnissen erfolgreich unter Kontrolle bekommen hätten, so versuchte jetzt das zwölfjährige Mädchen, Christiane, ihre Stimmungen mit Hilfe von Drogen zu manipulieren und ihre jugendliche Lebendigkeit unter Kontrolle zu bekommen. Damit sei die “Tötung des Lebendigen“, das eigentlich, was das Leben eines gesunden Kindes ausmache, erfolgreich abgeschlossen worden, was AM in einer Kapitelüberschrift treffend als “Vernichtungskrieg gegen das eigene Selbst” auf den Punkt bringt. Christiane F. selbst beschreibt es als Triumph “normal” zu sein: nämlich ohne Gefühle. Unser Erziehungssystem sei eben auf Anpassung, Hörigkeit und Unterwürfigkeit ausgerichtet, wie das Leben in Gefängnissen: Hausarrest als Erziehungsmethode oder eben Freiheitsentzug. Die “Ideologie der Unterdrückung und Manipulierung des Lebendigen” habe in unserer Gesellschaft den höchsten Wert. Schreber-Erziehung nannte man das damals.

Die Sprache des Körpers: Krankheit

Die Revolte des Körpers (2005)

Alice Miller machte sich im Laufe ihres späteren Lebenswerkes vor allem daran, den Grund für diese Ideologie herauszufiltern und widmete sich fortan dem Kampf gegen das IV. Gebot. Die “Ehr-Furcht” vor den Eltern, die darin – im IV. Gebot – ausgedrückt werde, sei die Grundlage für die Unterdrückung und Deformation unserer Kinder und damit mitverantwortlich für die Verheerungen unserer Gesellschaft durch Diktatoren wie Hitler oder Krankheiten wie Drogensucht u.ä. Natürlich war dies provokantes Material, das Alice Miller da servierte und das stieß naturgemäß auf sehr viel Widerstand – vor allem von Eltern. Aber ihr Ideengebäude ist durchaus schlüssig. So schrieb sie etwa in “Die Revolte des Körpers” (2005), dass das Vierte Gebot durchaus als Lebensversicherung für alte Menschen gesehen werden könne. Die destruktive Macht des Vierten Gebotes bestehe nämlich gerade darin, Kinder im Namen der bedingungslosen Liebe zu angepassten, unterwürfigen und hörigen Wesen zu machen, die niemals die Autorität der Eltern in Frage stellen dürften. Die Idealisierung von Vater und Mutter würden zur Unterdrückung des wahren Selbst führen und dies wiederum zu Krankheiten. Da authentische Gefühle nicht ausgelebt werden dürften (siehe oben Christiane F.), sondern Schein, Zwang, Fassade, Maske und Selbstbetrug verlangt würden. Aber der Körper merke sich all das und speichere das. Sein Verlangen nach Wahrheit kann niemals betrogen werden, Miller nennt es das “Körperbewusstein“, die Sprache des Körpers ist die Artikulation einer Krankheit. So kann Krankheit aber auch als Chance begriffen werden. Anhand einiger weiterer Celebrities wie etwa Dostojevski, Tschechow, Kafka, Proust oder Nietzsche exerziert Miller ihre Vorstellungen durch und beweist mit diesen “Fallbeispielen” die Richtigkeit ihrer Thesen. Über Arthur Rimbaud schreibt sie etwa: “So verbringt er sein Leben mit der ständigen Suche nach seiner eigenen Wahrheit, die ihm verborgen bliebt, weil er sehr früh gelernt hat, sich selbst für das zu hassen, was seine Mutter ihm angetan hat.” Seine Suche nach der Liebe endete im Gefängnis der Kindheit. Das “Karussell der Gefühle” bestehe für viele darin, ihr Leben lang so zu sein wie ihre Eltern es von ihnen verlangten, um jene “Illusion der Liebe” nicht zu verlieren, die die Kindheit prägte. Mit weiteren weniger prominenten Fallbeispielen untermauert Miller dann ihre Theorie, dass auch die Vergebung nicht zur Heilung führen könne. Rimbauds Flucht- und Befreiungsversuche seien gescheitert, weil er keinem Menschen begegnet sei, der ihm die destruktive Wirkung seiner Mutter vollständig zu erkennen gab. Auch er habe “das Loch, das die Mutter hinterließ” mit Drogen zu füllen versucht, nur um später immer wieder zu ihr zurückzukehren. “Weshalb aber fahren wir fort, uns für Phantome zu opfern? Warum bleiben wir an Beziehungen kleben, die uns an alte Qualen erinnern?” Fragen, die sich nicht nur Alice Miller stellte und wohl jeder für sich beantworten wird lernen müssen.

Wider das Vergessen – wider das Verzeihen?

Abbruch der Schweigemauer (2003)

In “Abbruch der Schweigemauer” (2003) spricht sie sich selbst und anderen Mut zu, auch ihre Eltern in Frage stellen zu dürfen. Denn jeder von uns sei “Opfer von verborgenen oder manifesten Misshandlungen, die häufig harmlos Èrziehung´ genannt werden“. Miller tritt auch ihren Kampf gegen eine Psychoanalyse an, die ihre Klient:innen bevormundet und mit Medikamenten das Gedächtnis zerstört. Denn man müsse erinnern, was man verdrängt habe, um sich zu befreien, auch von Krankheiten. Man müsse die Türen zur Vergangenheit öffnen, statt sie verriegelt zu halten, schreibt sie und nicht, wie viele Psychoanalytiker:innen, vor der “eigenen schmerzhaften Kindheitsgeschichte auf Kosten des Patienten” ausweichen. Gerade der Faschismus habe gezeigt, dass der unbewusste Zwang, verdrängte Verletzungen zu rächen, stärker sei als jede Vernunft. Es liege deswegen im Interesse der gesamten Gesellschaft, die “verborgene Geschichte der Zerstörung” nicht zu verdrängen, sondern zu verarbeiten, denn an die Oberfläche käme sie ohnehin eines Tages, nur dann eben pervertiert. Hitler habe die Allüren einer bedrohlichen Vaterfigur trefflich geschauspielert und seinen eigenen Judenhass einer ganzen Gesellschaft als Ventil für die eigenen Frustrationen der Kindheit und Erziehung, zur Verfügung gestellt. Deswegen seien ihm die Massen nachgelaufen, weil jeder einzelne sich so von den Schlägen seiner Eltern an den Juden rächen konnte. An Nicolae Ceausescu macht Miller in “Abbruch der Schweigemauer” nochmals alles das deutlich, was Schläge in der Kindheit anrichten können und welche verheerenden Konsequenzen daraus erwachsen: Das rumänische Grauen war entsetzlich, besonders gerade für Kinder. “Wege des Lebens” (2007) zeigt anhand einiger Fallbeispiele von Lebensschicksalen normaler Menschen in Briefen und Selbstzeugnissen, wie die Wege des Wiederholungszwangs verlassen werden können und was getan werden kann, um die innere Freiheit wiederzuerlangen. “Was meine Seele nicht wissen wollte, hat sich mein Körper gut gemerkt“, scheint der rote Faden zu sein, den Alice Millers “Geschichten” in diesem Band verbindet. In ihrer Zusammenfassung am Ende ihrer Ausführungen bringt sie nochmals ihre wichtigsten Thesen auf den Punkt. So erzählt sie etwa von der Feeling-Sekte und erklärt wie Führungsstrukturen mit Gurus funktionieren und wie man Menschen dank der Regression beherrschen kann. Genau wie ein Führer bietet sich auch der Guru als väterliche Rettungsfigur an, der die Frustrationen der Kindheit wieder gut machen könne. Miller erklärt es auch mit Hilfe des sog. Wiederholungszwangs: Unbewusste Erinnerungen würden Menschen dazu treiben, “die verdrängten Szenen immer wieder aufs neue zu reproduzieren, um sich so von Ängsten zu befreien, welche die frühen Misshandlung zurückgelassen haben“. Der Betreffende schaffe mit Vorliebe immer wieder solche Situationen, in denen er den aktiven Teil übernehme, “um der Ohnmacht des Kindes Herr zu werden und den unbewussten Ängsten zu entfliehen“.

Nur die Wahrheit kann uns retten

Past behavior predicts future behavior, wie es in der Kriminalpsychologie heißt. Wer in seiner Kindheit aber das Glück habe, von wissenden oder helfenden Zeugen begleitet zu werden, würde später seine Frustrationen tendenziell weniger an anderen auslassen, als Menschen die keine solchen Zeugen gehabt haben. So sei es Christiane F. immerhin gelungen, niemand anderen in ihr Elend zu ziehen, während Adolf Hitler gleich mehrere Millionen in seinen eigenen persönlichen Abgrund zog. Bestenfalls hätte aber Kommunikation und ehrliche Zuwendung beide Schicksale – jenes der Autodestruktivität und jenes der Destruktivität – verhindern können: “Indem wir auf die Suche nach der Wahrheit verzichten, retten wir die Liebe nicht, auch nicht die Liebe zu unseren Eltern. Der Akt der Verzeihung hilft uns nicht, solange er das Geschehene verschleiert. Denn Liebe und Selbstbetrug schließen einander aus. Aus der Unwahrheit, der Leugnung des Leidens in der eigenen Vergangenheit, ist der auf Unschuldige verschobene Haß geboren. Er ist eine Bindung an den Selbstbetrug und eine Sackgasse. Echte Liebe erträgt die Wahrheit.”

Alle Zitate stammen aus den bei Suhrkamp erschienenen Werken von Alice Miller.

The Shining

The Shining. Der Roman von Stephen King, der 1977 erstmals in den USA erschien, habe in Bret Easton Ellis den Wunsch geweckt, Schriftsteller zu werden, wie er in seinem neuen Roman, “The Shards“, der 1981 spielt, freimütig bekennt. Seine Beschreibung seines ersten Shining-Kinobesuchs liest sich so spannend, wie das Meisterwerk von Stanley Kubrick schon im Auftakt ist. “Nie zuvor hatte ein Film mit so wenig Blutvergießen einen derartigen Gruselfaktor“, wissen die Herausgeber.

Shining: Gruselhorror vom Feinsten

Denn das Grauen, der Horror, spielt sich hauptsächlich im Hauptdarsteller selbst, dem Hausverwalter und ehemaligen Lehrer Jack Torrance (Jack Nicholson) ab. Auch er möchte nämlich gerne Schriftsteller werden, aber den einzigen Satz, den er auf seiner deutschen Adler-Schreibmaschine zustande bringt lautet: “All work and no play makes Jack a dull boy“. In der deutschen Version wiederum „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“, was man ohne weiteres als nicht ganz so treffend bezeichnen könnte. Kubrick habe den Satz eigenhändig mehrmals auf mehrere Seiten Papier geschrieben, erzählen damals einige Insider. Der Film kommt zwar ohne Blutvergießen aus, aber natürlich nicht ohne Blut, wie eine der eindringlichsten Szenen erinnert: der Blutaufzug.

Neue Details über den Film des Jahrzehnts

Die vorliegende exklusive XXL Publikation des TASCHEN Verlages eröffnet ungeahnt tiefgründige Einblicke in den Entstehungsprozess eines filmischen Meisterwerks, das Kubrick selbst allerdings gehasst haben soll. Das und noch viel mehr erfährt man aus Hunderten von Stunden an exklusiven Interviews mit den Darstellern und der Crew, aus denen für diesen Band die spannendsten Passagen ausgewählt wurden. Manche werden den Kultklassiker von 1980 nun in einem völlig neuem Licht sehen, etwa wenn man die Details über die mysteriösen Feuer, die während der Dreharbeiten in den Elstree Studios ausbrachen, erfährt oder mehr über die Technik des berüchtigten „Blutaufzugs“ erfährt. Kubricks bahnbrechender Einsatz der Steadicam machte ebenso Schule wie die endlosen Drehbuchänderungen und die unzähligen Takes, die der Perfektionist Kubrick seiner Crew abverlangte. Auch heutige Schauspieler:innen könnten ein Lied davon singen.

Die Macher und Fans

Der Oscar-prämierte Regisseur Lee Unkrich, den The Hollywood Reporter als den „führenden Shining-Kenner“ bezeichnet hat. Die vorliegende limitierte Collector’s Edition von 1.000 nummerierten Exemplaren mit einem begleitenden Textbeitrag von Bestsellerautor J. W. Rinzler herausgegeben. Die dreibändige Sammlung umfasst Hunderte von unveröffentlichten Set- und Backstage-Fotografien, seltene Originaldokumente, Kubricks private Korrespondenz sowie Szenenbildentwürfe aus dem Stanley Kubrick Archive und den Privatarchiven der Darsteller und der Crew sowie exklusives Set mit Faksimiles von Ephemera aus dem Film. “Sie müssen dieses Buch lesen und dann The Shining noch einmal anschauen. Es ist egal, ob Sie den Film schon 50 Mal gesehen haben, Sie werden ihn nie wieder auf dieselbe Weise sehen. Das Buch verändert alles.“, so Regie-Kollege Steven Spielberg über die vorliegende Publikation.

Lee Unkrich, J. W. Rinzler
Stanley Kubrick’s The Shining
Box mit 2 Bänden und einem Ephemera-Set mit
Faksimile-Reproduktionen und originalen
Artwork-Büchern, 36,5 x 42,4 cm, 19,9 kg, 2198
Seiten, XXL Formatt

ISBN 978-3-8365-7717-5
TASCHEN Verlag
€ 1.500 | CHF 1.500


Genre: Film, Horror, Literaturverfilmung
Illustrated by Taschen Köln

130 Jahre Maria Lazar

130 Jahre Maria Lazar. 2025 wird der 130. Geburtstag von Maria Lazar (1895-1948) gefeiert. Die österreichische Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin zahlreicher Romane erlebt dieser Tage aber schon eine Renaissance. Der Wiener Verlag “Das vergessene Buch” veröffentlicht erstmals den bislang nur in einer gekürzten englischen Exilausgabe erschienenen Roman “Leben verboten!” und das Wiener Akademietheater hat eine Bühnenfassung ihres Romans “Die Eingeborenen von Maria Blut in seinem Programm.

130 Jahre Maria Lazar: Vom Familienroman zum Politikum

Die Ausgabe “Leben verboten!” Stellt sogar die zum ersten Mal veröffentlichte deutsche Erstausgabe des Romans in der Originalfassung von 1932 dar. Das mag verwundern, verkehrte Maria Lazar doch durchwegs mit der Prominenz ihrer Tage, darunter Elias Canetti, Hermann Broch, Ernst Fischer u.a. Sie war außerdem mit Friedrich Strindberg verheiratet und wurde von Oskar Kokoschka in dem Gemälde “Dame mit Papagei” (1916) verewigt. Sie kannte Helene Weigel und legte sich auch mit deren Mann, Bert Brecht (siehe Peter Weiss’ “Ästhetik des Widerstands”), an. Ihre Schwester Auguste war eine bedeutende Kinder- und Jugendbuchautorin. Mit 1920 verfasste Maria Lazar ihren ersten 150-seitigen Roman, der 2020 ebenfalls beim Wiener Verlag “Das vergessene Buch” mit einem Nachwort des Wiener Universitätsprofessors Johann Sonnleitner erschienen ist. Dieser bezeichnet “Die Vergiftung” als Zeugnis einer untragbaren Familiensituation aus der Sicht des zwanzigjährigen Mädchens Ruth, das nicht unbedingt autobiographisch gelesen werden müsse. Die Autorin – zur Zeit des Schreibens ihres Romanerstlings selbst erst fünfundzwanzig – habe sich mit ihrer Mutter nämlich durchaus gut verstanden, ganz anders als die Protagonistin Ruth. Diese hat einen älteren Bruder Richard und eine Schwester Martha, die das Leben in dieser Familie, das als Kerker erfahren wird, unterschiedlich meistern.

Gutbürgerliche Familie und Doppelmoral

Aber auch die Mutter selbst ist trotz der gutbürgerlichen Fassade nicht ganz ohne Makel, pflegt sie doch ein Verhältnis mit einem Liebhaber. Das Familienleben ist geprägt von Statusdenken, Standesdünkel und -allüren sowie einer alles beherrschenden Doppelmoral. Zudem unterdrückt auch Martha, die als Lehrerin arbeitet, ihre artistische Ader zugunsten einer finanziellen Verbindung mit einem ungeliebten Mann – ein Schicksal das auch ihre Mutter hatte und nun ebenso Ruth droht. “Alle Mitglieder der Familie leiden an einem selbstverschuldeten Unglück, indem sie allesamt ihr eigentliches Leben verfehlen, das dem gesellschaftlichen Prestige und Status opfern”, schreibt Sonnleitner in seinem lesenswerten Nachwort, das auch die Biographie und anderen Werke Lazars zum Inhalt hat.

Vom Kosmopolitismus zum Nationalismus

Anders als das sehr expressionistisch geprägte Debüt Lazars wird in “Leben verboten!” ein vollständiger abenteuerlicher Plot angeboten, wie man ihn schon aus “Die Eingeborenen von Maria Blut” (1932) kennt. Der Berliner Bankier Ufermann, der ungeliebte zweite Sohn, ist auch in seiner Firma nur der zweite und wird von seinem Kompagnon ausgebootet. Als Ufermann sein Flugzeug versäumt und dieses sodann abstürzt halten ihn alle für tot und seine Frau kassiert einen Millionenbetrag seiner Lebensversicherung. Anfangs ist sich Ufermann unschlüssig, ob er das Missverständnis überhaupt aufdecken soll und übernimmt einen halbseidenen, wohl illegalen Auftrag zur Übermittlung eines Umschlags von Berlin nach Wien. In Wien angekommen verliebt sich die Tochter seiner Zimmerherrin in ihn und er baut sich Stück für Stück eine zweite Identität auf. Das für die Zwischenkriegszeit so typische transitorische Identitätskonstrukt, das schon von anderen Autoren so trefflich beschrieben wurde, kann auch als Parabel auf die politischen Krisen der frühen 30er Jahre in Österreich verstanden werden.

Seismographische Analyse der Zwischenkriegsgesellschaft in Österreich

Der Vielvölkerstaat, der nach dem Ersten Weltkrieg in mehrere Nationen zerfiel, hinterließ bestenfalls Identitätshybride, denn so einfach ließ sich die Seele eines Mitteleuropäers nicht auf seine nationale Identität reduzieren. An dieser Stelle sei auch auf das berühmte Robert Musil Zitat über die neun (!) Identitäten eines “Österreichers” verwiesen. In einem geschickt arrangierten Verwirrspiel thematisiert Maria Lazar in “Leben verboten!” den zunehmenden Hass auf Andersartige oder Fremde und die nationale Verhetzung der Zwischenkriegszeit, die ihr Ventil in einem schamlos ausgelebten Antisemitismus fand, sich aber durchwegs gegen alle richtete, die nicht stramm alpenländisch oder patriotisch waren. Aus dem Hochmut gegenüber Bettlern und Arbeitslosen wird schnell ein Hass auf Ausgesteuerte und Kriegsinvalide oder andere Verlierer des großen “Vaterländischen Krieges”. Österreichertum wird nunmehr klerikal, katholisch und kulturell und nicht mehr kosmopolitisch (also: über das Nationale hinausgehend) definiert.

Empfehlung einer Vergessenen

Maria Lazars Romane registrierten seismographisch genau jene Veränderungen in der österreichischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit, die das Land alsbald zu einem willfährigen und willkommen “ersten Opfer” Hitlerdeutschlands machten. Aber als die deutsche Wehrmacht das Land überfiel, befand sich bereits die gesamte gesellschaftliche und kulturelle Opposition im Anhaltelager. Eine Wiederentdeckung der Autorin und ihrer Werke wird dringend empfohlen.

Verlag das vergessene buch

Akademietheater Die Eingeborenen von Maria Blut

 

Die Eingeborenen von Maria Blut

Die Eingeborenen von Maria Blut – Maria Lazar

“Die Eingeborenen wollen ihren Messias haben”, meint Meyer-Löw, prophetisch in Maria Lazars 1935 fertiggestellten Roman, der erst 1958 veröffentlicht wurde. Maria Lazar ist heute noch eine gänzlich Unbekannte in der österreichischen oder deutschsprachigen Literaturgeschichte und das obwohl sie nicht nur Oskar Kokoschka (“Dame mit Papagei“) porträtiert hatte, sondern sie sogar in Peter Weiss’ “Ästhetik des Widerstands” einem gewissen Bertolt Brecht die Stirn bietet. Ganz zu schweigen von ihrem eigenen Werk, das neben zwei Werken zum Herandäuen des Klerikalfaschismus und Nazismus in Österreich aus den Dreißigern, sich sogar bis Anfang der Zwanziger zurückverfolgen lässt und neben Prosa und Lyrik auch Theaterstücke umfasste.

Österreich zwischen Faschismus und Nazismus

In “Die Eingeborenen von Maria Blut” nimmt Maria Lazar, die Entwicklung, die ihr Heimatland Österreich in den Dreißigern nehmen wird, schon vorweg. Der Titel ist gut gewählt, verknüpft er doch die vermeintliche Landidylle eines provinziell geprägten Landes mit dem Katholizismus. Dass sich Marienkult und Geschäft schon immer gut verbinden ließen und für so manchen Wallfahrtsort, wo diverse Wunder geschehen, die Kasse (oder den Opferstock) klingelt, dürfte seit der österreichischen Satire “Braunschlag” kein Geheimnis mehr sein. Maria Blut wird im Roman sogar dreimal als “österreichisches Lourdes” bezeichnet, wo nicht nur Wunder geschehen, sondern damit auch einiges verdient wird. Auch ein Wunderheiler beteiligt sich am Schröpfen der Ahnungslosen von Maria Blut und trägt so zur Wundergläubigkeit der Bevölkerung bei. Aber natürlich gibt es auch in Maria Blut Ungläubige und Verräter, so zum Beispiel der Sozialdemokrat Lohmann, der Arzt des Dorfes, oder der bereits eingangs erwähnter Meyer-Löw, der Jurist des Dorfes.

Die Eingeborenen von Maria Blut

Beiden wird von den Eingeborenen allerhand angedichtet und nachgesagt, aber nichts davon ist wahr. Aber Gerüchte und Tratsch halten die Dorfgemeinschaft der Eingeborenen eben zusammen und schaffen Identität nach außen. Auch die Wipplingers oder die Marischka, Haushälterin und Köchin, gehören zum sympathischen Teil der Dorfbevölkerung, während der Rest entweder klerikal oder nazistisch geprägt ist. Die Prädispositionen der katholischen Provinz für den Faschismus werden in Maria Lazars Roman schonungslos und authentisch dargestellt und gipfeln in dem allgemein verbreiteten Hass auf das Rote Wien, das all das verkörperte, was wohl die Bibel als “Sodom und Gomorrha” bezeichnete. Maria Lazar antizipierte in ihrem Roman nichts weniger als den herannahenden Untergang der zivilisierten Welt oder wie es Meyer-Löw ausdrückt: “Es kommen grausame Jahre”.

Nationalsozialismus Made in Austria

Für all jene, die heute immer noch behaupten, man hätte nichts gewusst oder nichts wissen können, sei “Die Eingeborenen von Maria Blut” ins Stammbuch geschrieben, denn es legt bitteres Zeugnis darüber ab, dass der Nazismus kein preußisch-junkerisches Phänomen war oder gar auf Bismarck oder Friedrich den Großen zurückgeführt werden könne, sondern original “Made in Austria”. Der Antisemitismus und Slawenhass entstand nämlich in Böhmen und wurde von einem “böhmischen Gefreiten” zur Ideologie eines rassistischen Herrschaftssystems, das selbst die größten Despotien der Gegenwart und Vergangenheit im Ausmaß seiner Grausamkeit noch heute in den Schatten stellt stilisiert. Abschließend kann ich nur beipflichten, was Birgt Nielsen mit folgenden Worten ausdrückt: “Die zwei Romane über Österreich (Leben verboten! und Maria Blut, JW) verdienen es, dass sie heute im Zusammenhang mit den Reflexionen über die Vergangenheit in Österreich neu aufgelegt werden.”

Neuauflage des Gesamtwerks

Dies hat der Wiener DVB (“das vergessene buch”) Verlag dankenswerterweise in besonders schönen gebundenen Ausgaben 2020 gewagt und somit ist es auch ihm zu verdanken, dass 2022/23 vorliegender Roman von Maria Lazar am Wiener Akademietheater in einer Adaptation als Bühnenfassung von Lucia Bihler und Alexander Kerlin als Theaterstück gespielt wird. Diese Inszenierung wurde auch zum Berliner Theatertreffen 2023 eingeladen. Maria Lazars Gesamtwerk umfasst acht Romane, drei Dramen, eine Zitatensammlung, Gedichte, einige Essays und viele Artikel aus der Zeit als Publizistin und Journalistin für Der Tag, Das Wort u.a. Näheres zur Biographie erfährt man in dem lesenswerten Nachwort von Prof. Johann Sonnleitner zu Leben und Werk der wiederentdeckten Autorin.

Maria Lazar
Die Eingeborenen von Maria Blut
2., durchgesehene Auflage.
Mit einem umfangreichen Nachwort von Johann Sonnleitner
2020, hochwertiges Hardcover mit SU, Prägung und Lesebändchen, 313 Seiten
ISBN 978-3-903244-06-1
DVB (“das vergessene buch”) Verlag
24 Euro


Genre: Faschismus, Nationalsozialismus, Österreich, Roman
Illustrated by DVB Verlag

Marvel Comics Library. Fantastic Four.

Fantastic Four in XXL

Fantastic Four. Reed Richards, sein bester Freund Ben Grimm, seine Freundin Sue Storm sowie ihr kleiner Bruder Johnny Storm: eine echte “family affair“. Die Rede ist natürlich von den Fantastischen Vier oder auch Fantastic Four, “F4”. Seit 1961 begeistert die wohl “fun”-tastischste Familie des Marvel Universe Leserinnen und Leser rund um den Globus und in fernen
Galaxien und läutete damals sogar das “Silver Age” des Comics ein.

Achtung: Kosmische Strahlung!

Vorliegender Band im XXL-Format enthält Reproduktionen von makellosen Originalausgaben der ersten 20 Hefte, die in enger Zusammenarbeit mit Marvel und der Certified Guaranty Company (CGC) geöffnet und neu abfotografiert wurden. Darüberhinaus umfasst dieser Band einen ausführlichen Essay des bekannten Marvel-Autors Mark Waid, ein Vorwort des ehemaligen NASA-Astronauten Mike Massimino sowie Originalgrafiken, Fotografien und andere Raritäten. Darunter auch eine der ersten Geschichten der F4, in der die Richards und Grimm von den legendären kosmischen Strahlen getroffen werden, die sie nach einer Bruchlandung mit ihrer Rakete zu den Helden macht, als die man sie heute kennt.

Der “grimmige Mr. Grimm”

Stan Lee & Jack Kirby schufen damals ein Team aus Superhelden, das die Romantik-, Horror- und Kriegscomics wieder in den Hintergrund drängte und die “family values” wieder zurück an ihren angestammten Platz rückte. Im amerikanischen Original tragen die F4 übrigens die Namen Mr. Fantastic, Invisible Girl, The Thing und The Human Torch. Ob es sich bei ihrem “Unfall” um einen Fluch oder einen Segen handelt, stellen sie immer wieder erneut in Frage. Besonders “Das Ding”, Ben Grimm, hat es ja hart getroffen, kann er seine Verwandlung doch am wenigsten kaschieren oder gar rückverwandeln. Der “grimmige Mr. Grimm” ist deswegen besonders im deutschsprachigen Raum zur Kultlegende geworden.

Superhelden als family affair

Lee wollte damit „endlich einmal die Art von Story erzählen, die ich selbst gerne lesen würde“, so ein Originalzitat. Die Fantastic Four haben die Karrieren und Leben ihrer beiden Schöpfer sowie die gesamte Comic-Branche wohl für immer verändert, denn sie legten den Grundstein für das Superheld:innnen-Multiversum, das wir heute kennen. „Nach 20 Jahren in der Branche war Stan Lee 1960 bereit, das Schreiben von Comics aufzugeben. Doch seine Frau ermunterte ihn, es mit einem Comic zu versuchen, der ihm gefallen würde. Das Ergebnis war Fantastic Four.“, schrieb CNN über das Ersterscheinen der Fantastischen Vier.

Viele Extras und Zugaben

Der vorliegende Band der Serie bringt nicht nur die ersten 20 Abenteuer der Fantastic Four und präsentiert auf den ersten 11 Seiten Fantastic Four Comic-Motive in einem knalligen Rot-Weiß Druck, drei weitere Rot-Weiß-Drucke folgen dann noch am Ende des Bandes. Der Mitherausgeber und ehemalige US-Astronaut Mike Massimino hat das Vorwort verfasst und beschreibt darin u.a. seine Faszination vom Weltraum und welche Rolle die Fantastic Four dabei gespielt haben. Der Essay „The World’s Greatest Comic Magazine!“ stammt von Comic-Autor Marc Waid (Superman, Batman, Archie und die Fantastic Four). Originale Werbeseiten und Leserbriefe der Fantastic Four Fan Page ergänzen diese unglaubliche Publikation, die mindestens so “fun-tastisch” ist wie ihr Inhalt. Comicfans aller Galaxien vereinigen sich zu einem großen Dankeschön an den TASCHEN-Verlag, der der 9. Kunst (den “Comics”) einen so ehrenvollen Platz in solchen XXL Prachtausgaben einräumt.

Die Marvel Comics Bibliothek, Teil 3

Bald in TASCHEN shops in Berlin und Köln: 25-75% von 1.-4.2.2023

MARVEL COMICS LIBRARY ist eine exklusive, langfristige Zusammenarbeit zwischen TASCHEN Verlag und Marvel. Bisher erschienen schon seltene Comic-Klassiker-Ausgaben von Spider-Man, Avengers und Captain America in ihrer ursprünglichen Schönheit in einem extra-großem Format akribisch reproduziert. Die Marvel Comics Bibliothek bietet Sammlern rund um den Globus und in weiteren Galaxien des unendlichen Marvel Multiversums die einmalige Gelegenheit, die begehrtesten Comics der Welt in wahren Prachtausgaben zu erstehen. Zudem enthält jeder Band einen Essay eines Comic-Historikers sowie Hunderte von Fotos und Fundstücken, darunter seltene Original-Comiczeichnungen. In der Reihe sind bisher erschienenen: Spiderman. Vol. 1. 1962–1964, Avengers. Vol. 1. 1963–1965, Fantastic Four. Vol. 1. 1961–1963. Geplant ist ein eigener Band zu Captain America. Für alle Comics und Buchfans in Berlin hier ein Hinweis:

Mark Waid, Mike Massimino, Stan Lee, Jack Kirby
Marvel Comics Library. Fantastic Four.
Vol. 1. 1961–1963
Hardcover, 28 x 39,5 cm, 4,77 kg, 700 Seiten
€ 150 | CHF 150
ISBN 978-3-8365-8231-5 (Englisch)

Helden. Klassische Sagen der Antike

Stephen Fry Helden

Oh Ikarus, Ikarus, mein geliebter Junge. Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum musstest du so nah an der Sonne fliegen?“, klagt der Erfinder Daidolos seinen Sohn und sein Schicksal. Viele Väter dürften dieses Lamento schon gehegt haben, denn zumeist ist der Jugend kein Rat der Alten teuer. Dabei könnte man so viel von ihnen lernen!

Götter: personifizierte  Gefühle, Ideen, Impulse

Stephen Fry, der britische Schriftsteller, Schauspieler, Moderator, Kolumnist und Regisseur, legt mit “Helden” die Fortsetzung seiner klassischen Sagen der Antike vor, sie gehört ebenso wie “Mythos” und “Troja” zur Trilogie des fleißigen Mythologen. Wie im Vorgängerwerk habe er darauf geachtet, “die Geschichten ohne Erklärungen oder Deutungen zu erzählen”, wie er im Nachwort schreibt. Denn gerade die Produkte des “kollektiven Unbewussten” bedürften keiner solcher. Schließlich habe der Euhemerismus, die rationalistische Deutung von Mythen, längst bewiesen, dass etwa Troja oder Mykene wirklich existierten. Aber auch die Götter selbst existieren, denn es ist letztendlich egal ob wir die beschriebenen Regungen als “Gott, Impuls oder fixe Idee” bezeichnen, die Griechen seien einfach schlauer gewesen: “Sie zu personifizieren ist ziemlich schlau – vielleicht nicht ausreichend um mit ihnen klarzukommen, aber doch gut genug, um den unkontrollierbaren und unergründlichen Kräften, die uns im Griff haben, Form, Dimension und Charakter zu geben.

Helden ohne Furcht und Tadel

Wenn also Ikaros vom Himmel fällt, weil er mit seinen mit Wachs geklebten Flügeln zu nahe nahe an die Sonne geraten ist, beschreibt dies treffend ein Bild und vermittelt der unter ihm ihn beobachtenden Schiffsmannschaft von Theseus zugleich Trost und Verheißung. Daidolos war es nämlich, der Theseus half, den Minotaurus zu besiegen worauf er von König Minos eingesperrt wurde. Aber dank seines Erfindungsreichtums konnten er und sein Sohn fliehen. Ariadne hingegen bleibt alleine auf Naxos zurück, ein Schicksal da an anderer Stelle weitererzählt werden sollte. Aber was soll man sagen? “Theseus interessierte sich nicht für die Vergangenheit, nur für die Zukunft. Das ist eines der Merkmale von Helden, das sie anziehend und abstoßend zugleich macht.

Die vorliegende Ausgabe ist mit Gemälden aus der Kunstgeschichte illustriert und hat im Anhang zudem ein Register mit Helden und solchen, die es gerne geworden wären. Weitere Geschichten in diesem Band drehen sich um Jason und die Argonauten, den smarten Ödipus und die Sphinx, Perseus und die Perser, Herakles und seine 10-12 Aufgaben, Bellerophon, der mit Hilfe des fliegenden Pferdes Pegasos die Chimäre tötete, Orpheus, der nicht nur singen konnte und Atalante, die sich nur von dem entjungfern ließe, der sie im Wettkampf besiegte.

Stephen Fry
Helden. Die klassischen Sagen der Antike neu erzählt
Übersetzer: Matthias Frings
Gehört zu Die Mythos-Trilogie Bandnummer 2
2020, Paperback, 461 Seiten
ISBN 978-3-351-03481-8
Aufbau Verlag
26,00 €

 


Genre: Geschichte, Heldensagen, Legenden, Mythen, Sagen
Illustrated by Aufbau Berlin