Herr K., der Gelegenheitskritiker

Der Gelegenheitskritiker: Humor vom Feinsten

Der Gelegenheitskritiker: Der Protagonist dieser äußerst lesenswerten und sarkastischen Dialogsammlung, Herr K. ist Gelegenheitskritiker. Gelegenheitskritiker ist er aber nicht, weil er sonst anderen Beschäftigungen nachginge, sondern, „weil er nach Gelegenheiten suchen musste, Bücher besprechen zu können und dafür dringend benötigtes Geld (vornehmer: Honorar) zu erhalten. Er lebte von diesen Gelegenheiten.“ Da es sich davon allerdings mangels Auftragslage nicht besonders gut leben lässt, zieht er von Stuttgart nach Leipzig, denn Leipzig ist. Immer noch. Eigentlich suchte er aber auch einen „guten Platz für seinen Schreibtisch“ und seine Bücher und Bücherregale, denn auch in der neuen Wohnung, die viel geräumiger ist als die alte, stellt sich natürlich die Frage: kaufen oder selber bauen. Natürlich ist Herr K. eine Anspielung an einen ganz großen der Weltliteratur. Sie dürfen selbst raten, wer damit gemeint ist.

Stichhaltige Dialoge voller Häme

Bücherregale sind „die transzendentale Dimension und Fortentwicklung der Arbeit am Schreibtisch“ philosophiert er vor sich hin und beantwortet das Dilemma alsbald mit dem lapidaren Satz: „Bücherregale baut man sich selber.“ Schnell wird auch seine neue Wohnung zu einem Bücherlager: „Er lebte gerne zusammen mit den Büchern, das war die simple Antwort.“ Und warum ausgerechnet mit Lesen und Büchern sein Leben verbringen? Weil sich bei Herrn K. beim Lesen unmittelbar ein „leichtes Gefühl der Benommenheit“ einstellt: „Die Welt drehte sich in einem anderen Takt als er.“ Das tut immer wieder gut. Allein, das Problem ist die Auftragslage, denn Herr K. muss sich seine Auftraggeber immer wieder selbst suchen. Und so entspinnen sich immer wieder witzige Dialoge mit Vertretern des Rundfunks, die seine Rezensionen im Radio unter die Leute bringen. „Zyniker aller Länder vereinigt euch.“, heißt an einer Stelle des Buches, in Abwandlung des berühmten Marx-Zitates über die Proletarier. Von „mäandernder Prosa“ oder „Gesäusel“ kann hier gar keine Rede sein. Klaus Siblewski Humor sticht an vielen Stellen und ist präzise wie ein chirurgischer Eingriff. Sachen zum Lachen auf hohem Niveau.

Der Gelegenheitskritiker: Spott auf hohem Niveau

Spitzfindige Dialoge zu und über die Sinnhaftigkeit von Werken verschiedenster Autoren wie etwa Martin Walser, Martin Mosebach, Thomas Hettche, Fritz J. Raddatz gehören zur Grundausstattung der hier vorliegenden Lektüre, die nicht nur für Literaturkritiker und solche die es werden wollen amüsant zu lesen sind. Die Einsicht in Abläufe jenseits realistischer Zwänge sei eines der vornehmsten Felder der Literatur, so der Protagonist an einer Stelle. Er schreibe schließlich nicht über den Kleidungsstil von Autoren, sondern über deren Werk. Auch wenn man Rundfunkangestellte glauben, dass es dabei einen Zusammenhang gebe. Der pädagogische Auftrag des Rundfunks wird von Herrn K.s Gesprächspartnern immer wieder betont und natürlich ist sich Herr K. dieses Auftrags bewusst: Glänzende Kritiken über lahme Bücher und nicht lahme Kritiken über glänzende Bücher. Denn auch Literaturkritik ist schließlich ein Geschäft, das florieren muss.

Klaus Siblewski

Der Gelegenheitskritiker

Hardcover, gebunden, 240 Seiten

Format:125 x 205

ISBN: 9783701734252

Erscheinungsdatum: 19.09.2017

Residenz Verlag


Illustrated by Residenz Verlag

Die Nachfolge

Nachfolger Christi: Dietrich Bonhoeffer

Die Nachfolge Christi: Zu den wichtigsten Schriften des „Bergpredigt-Christen“ – wie Bonhoeffer gerne auch genannt wird – gehören neben „Widerstand und Ergebung“, den Briefen aus der Haft und dem „Gemeinsamen Leben“ auch die vorliegenden Texte der in „Nachfolge“ abgedruckten Texte.Dietrich Bonhoeffer, der für seine Überzeugungen von den Nazis ermordet wurde, bekam seine Emanation durch die Gottesdienst- und Gemeinschaftserfahrungen in einer schwarzen Gemeinde Harlems, der Abessinian Baptist Church, wo er auch mitarbeitete, wie Peter Zimmerling in seiner Einführung schreibt. Bonhoeffers Hinwendung zu einem persönlichen Christusglauben beruhte auf zwei Pfeilern: der neuen Sicht der Bibel als „Liebesbrief Gottes“ und der Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi. In „Nachfolge“ beschreibt er, wie das „glaubende Erleiden“, das „Halten des Gebotes“ gegenüber dem „Ausweichen“ aussehe, so Zimmerling weiter. Nach dem Ende des Sommerkurses 1936 begann Dietrich Bonhoeffer seine Finkenwalder Vorlesungen zum Thema Nachfolge zu einem Buchmanuskript umzuarbeiten. Inzwischen erscheint „Nachfolge“ in der 16. Auflage und wurde in alle Weltsprachen übersetzt.

Vergebung statt Rache

An Gott glauben kann man vielleicht für sich allein im stillen Kämmerlein. Nachfolge jedoch ist nur möglich in der Gemeinschaft mit den Brüdern und Schwestern.“, interpretiert Zimmerling das Wirken Bonhoeffers.Dietrich Bonhoeffer selbst hat seinen Text in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird gezeigt, wie sich der irdische Jesus von Nazareth Nachfolge gedacht hat, im zweiten Teil entfaltet er wie Nachfolge heute, also nach Kreuzigung und Auferstehung Jesu, in der Gemeinschaft der Kirche aussieht, so der Herausgeber. Das Buch will zeigen, wie konsequente Nachfolge Jesu nach der Bergpredigt im Dritten Reich gelebt werden kann. Das „Außerordentliche des christlichen Lebens“ beschreibt Dietrich Bonhoeffer etwa im Kapitel „Die Bergpredigt“. Die Seligpreisungen aus der Bergpredigt haben sich ja weit verbreitet und jeder in unserem Kulturpreis kennt ein paar Sätze, die mit den Worten „Selig sind, …“ beginnen. Also etwa „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Dietrich Bonhoeffer interpretiert diesen Satz weiter zu: Sie wollen kein eigenen Recht. Sie wollen alles Recht Gott allein lassen; non cupidi vindictae“: Kein Verlangen nach Rache. Oder „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie sollen Gott schauen.“ Dietrich Bonhoeffer definiert „reines Herz“ mit „das einfältige Herz des Kindes, das nicht weiß um Gut und Böse, das Herz Adams vor dem Fall, das herz in dem nicht das Gewissen, sondern Jesu Wille herrsche.

Weg zum Bruder als Weg zu Gott

Wer seinem Bruder zürnt, wer ihm ein böses Wort gibt, wer ihn öffentlich schmäht oder verleumdet, hat als Mörder vor Gott keinen Raum mehr. Er hat sich mit dem Bruder auch von Gott getrennt.“, schreibt Bonhoeffer und so bleibe dem, der den wahren Gottesdienst in der Nachfolge Jesu tun will, nur ein Weg, der Weg zur Versöhnung mit dem Bruder. Auch für den „theologischen Laien“ ist diese Ausgabe der Texte von Dietrich Bonhoeffer gut geeignet. Bei griechischen Wörtern wurde die Umschrift ergänzt und griechische und lateinische Begriffe werden zudem in den Anmerkungen übersetzt sowie auch einige theologische Fachbegriffe ebenso in den Anmerkungen erklärt werden. Weitere Titel von Dietrich Bonhoeffer, die im Brunnen Verlag erschienen sind lauten etwa „Schöpfung und Fall“, „Theologische Auslegung von Genesis 1-3“ oder „Die Psalmen“.

Dietrich Bonhoeffer

Nachfolge. Mit einer Einführung von Dr. Peter Zimmerling

2016, 320 Seiten, gebunden, 14 x 21 cm

ISBN: 978-3-7655-0948-3


Genre: Religion, Spiritualität
Illustrated by Brunnen Verlag

Der Mann, der Verlorenes wiederfindet

Der Mann, der Verlorenes wiederfindet

Dieser Beichtvater benötigte pro Seele nur einen Blick“, heißt es über den Heiligen Antonius, der in Köhlmeiers Novelle gleich zu Beginn schon im Sterben liegt, auf einem Platz, vor 3000 Zuhörern, bei seiner letzten Predigt. Er hätte hinunterschauen können in einen, wie in einen ausgeleuchteten Brunnenschacht, „dorthin wo die Seele hocke und bocke und leide und hoffe“. Nach seiner Predigt sei er um 3000 Blutstropfen ärmer gewesen, bemerkt Köhlmeier lakonisch, denn er habe jedem Gläubigen mit seinem punktierten Finger zum Segen ein Kreuz auf die Stirn gemacht.

Die Hölle dauert ewig

Als Kind habe er den kleinen Zehen verloren, da er abgefroren war. Wenn er sprach, blickten die Menschen auf seinen Mund, wenn er schwieg in seine Augen. Leider litt der Heilige unter Hochmut, ein “Kind des Teufels”, denn er lernte schnell und wusste viel. Der in Lissabon geborene Fernandus und Zeitgenosse Franziskus’ kam aus guter lusitanischer Familie und hatte an den Universitäten Coimbra, Toulouse, Montpellier und Bologna studiert und sogar gelehrt und sich besonders mit “dem Bösen” beschäftigt. Wie kommt das Böse in die Welt? „Satan ist nur ein Name. (…) Er ist der Name für das Nichts …das eigentlich keine Namen haben kann …Hätte es einen Namen, wäre es nicht das Nichts. (…) Das Nichts ist dort, wo Gott nicht schaut. …und wohin Gott nicht schaut, dort ist das Nichts. (…) Wohin aber Gottes Auge blickt, dort blüht die Schöpfung. Gott ist eine Himmelsrichtung.“, lautet die Antwort, die Köhlmeier seinem Heiligen in den Kopf legt. Aber Köhlmeier weiß auch eine gute Antwort auf die Definition von Hölle, denn bei ihm ist sie nicht „die anderen“, wie bei Sartre, sondern: „In der Hölle ist es wie auf der Erde. Hier wird gequält, dort wird gequält. Nur einen Unterschied gibt es: Die Hölle dauert ewig.“

Erklärung unserer Unzulänglichkeiten

„Satan ist das Es-wird.“ Und das Gegenteil? Die Liebe. Sie ist Gnade. Sie macht alle gleich, Diener und Herr. „Und das Glück gehört nie einem allein. Wenn du glücklich bist, vermehrst du das Glück auf Erden.“, glaubt auch Antonius in Anlehnung an Aristoteles. „Unsere Worte sollen sein wie die Mongolen, die über ein stummes Land herfallen, und wenn sie abziehen, ist kein Handfleck breit übrig, auf dem nicht ein Abdruck der Hufe ihrer Pferde wäre.“ Predigen und Beten. Wobei beim Beten jedes Wort durchdenkt werden sollte, als spreche man es das erste Mal. Auch die Erklärung für die Unvollkommenheit des Menschen ist aufschlussreich: Hätte Gott uns eigenhändig, jeden von uns bis ans Ende geformt, wäre jeder von uns vollkommen und nachdem Vollkommenheit einmalig ist, wären wir alle gleich und es wäre eigentlich nicht nötig gewesen, gleich mehrere von uns zu schaffen. Manchmal arbeite Gott einen Menschen perfekt aus und behalte ein Stück zurück, so wie bei Antonius. Gott habe die Zehe des Antonius als Pfand für sich behalten, damit er ein „Teilchen seines Lieblings immer bei sich trage“. Eine rührende Erklärung, auch für unsere Unzulänglichkeiten.

Alleinsein=Beten

Die Wiederholung ist noch schwerer zu ertragen, als die Hoffnung, zugleich aber gibt sie nicht weniger Trost als diese.“ Liegt darin der Zauber des Betens? „In eines Mannes Herzen sind viele Pläne; aber zustande kommt der Ratschluss des Herrn.“ Ein Mensch ist aber nicht nach dem zu beurteilen, was er weiß, sondern was er liebt. Und auch hier findet Köhlmeier wunderschöne Worte: „Auch Franziskus sprach der Seele das Recht zu, hin und wieder allein zu sein, weil die Schönheit der Schöpfung rein und klar nur aus einem Augenpaar gebührend bestaunt werden könne. Will aber die Seele sich selbst schauen, was nichts anderes bedeutet, als in das ebenbildliche Antlitz Gottes zu schauen, dann muss sie für sich allein sein.“ Dem kann auch Antonius etwas abgewinnen.

Eine Meditation über das wahre Beten und das, was einen Menschen, ganz abgesehen von der Legende, eigentlich ausmacht. Die Erklärung warum ausgerechnet der Heilige Antonius für die verlorenen Sachen zuständig ist, bleibt Köhlmeier allerdings schuldig. Ein Buch wie eine Meditation: langanhaltend und nachhaltig.

Michael Köhlmeier
Der Mann, der Verlorenes wiederfindet
2017, Hanser Verlag, 160 Seiten
Hardcover oder ePUB-Format
ISBN 978-3-446-25645-3


Genre: Novelle
Illustrated by Hanser

Ljubljana

Ljubljana: 5 Routen durch die Hauptstadt Sloweniens, Ljubljana, die „Geliebte“, bietet dieser Falter Reiseführer aus der Reihe City Walks. Neben den gut durchdachten Spaziergängen durch die Geschichte Ljubljanas wird aber auch eine Menge an praktischen Tipps geboten: Kultur, Sightseeing, Shoppingtipps und Öffnungszeiten von Museen sowie Nightlife.

„Geliebte“ und Grüne Hauptstadt Europas

Ljubljana bietet neben der stadteigenen Burg auch idyllische Altstadtgassen, quirlige Hotspots, ruhige Grünoasen sowie viele empfehlenswerte Restaurants und Cafés. Der slowenische Architekt Jože Plecnik, der auch in Wien und anderen Städten der ehemaligen Monarchie seine Spuren hinterlassen hat, wird ebenso näher betrachtet, wie Jugendstilbauten und die Parks der grünsten Hauptstadt Europas (Auszeichnung durch die Europäische Kommission 2016). Aber auch das Nachtleben hat es in sich, wie die ansehnliche Menge an Ausgehtipps dieses Reiseführers zeigt. Wie viele andere Städte auch hat Ljubljana, was man mit „Geliebte“ übersetzen könnte, auch einen Fluss, den Ljubljanica, aber wohl kaum woanders findet man so viele Cafés und Geschäfte entlang einer Uferpromenade wie in Ljubljana, das Deutschsprechenden auch als Laibach bekannt ist. Auch dafür bekam die Stadt übrigens einen Preis, den European Urban Public Space: die verkehrsreichste Straße der Innenstadt, die Slovenska cesta, wurde kurzerhand zu Fußgängerzone erklärt.

Drachen, Plecnik und die Antike

Wer schon einmal in Slowenien war, wird sicherlich auch das bekannteste dortige Bier, das Union (gegründet: 1864), getrunken haben. Auf dessen Bierdosen findet sich ein Drache, der nicht nur ein Emblem des Bieres ist, sondern natürlich das Wappentier der Stadt. Es gibt im Zentrum auch eine eindrucksvolle Drachenbrücke, die daran erinnert, dass Jason in den Sümpfen der Stadt einen Drachen getötet haben soll, als er mit seinen Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Flies war. Die vier Drachen der Zmajski most (Drachenbrücke) stammen von Jurij Zaninovic, einem Schüler Otto Wagners und wer diese Route fortsetzt, kann bald in der Slascicarna pri (Konditorei zum Brunnen) einkehren, bevor er den Aufstieg zur Burg wagt. Aber auch dort wird man kulinarisch verwöhnt, wie der Reiseführer erwähnt. Die zweite Route geht auf den Spuren Joze Plecniks bis zum Plecnik-Haus, das heute ein Museum ist. Route3 erklärt, was die griechische Antike für die Slovenska cesta und Ljubljana für eine Rolle spielt(e) und Route 4 bringt genügend Argumente vor, warum die Stadt zur European Green Capital gekürt wurde: Von „Park zu Park durch die grüne Hauptstadt Europas“ heißt diese Tour. Zuletzt wird in Route 5 auch das Nachtleben erleuchtet: etwa „Zoo“, eine ehemalige Tabakfabrik oder Klub Tiffany im Künstlerviertel Metelkova. Natürlich kommen auch kulinarische Genüsse nicht zu kurz, im Anhang befindet sich auch ein Verzeichnis nützlicher Adressen, ein Register und ein kleiner Sprachführer.

Simon Ošlak-Gerasimov

Ljubljana. 5 Routen durch die Hauptstadt Sloweniens.
Geschichte, Kultur, Sightseeing, Essen, Trinken, Stadtleben
ISBN: 9783854395935
2017, Falter Verlag, 136 Seiten
Reihe: City-Walks
€ 12,90


Genre: Reiseführer, Städte
Illustrated by Falter

Boston: Sacco und Vanzetti

Boston von Upton Sinclair

Boston 1927: Die Hinrichtung der beiden italienischen Anarchisten Sacco und Vanzetti für einen Raubüberfall, denn sie nicht begangen hatten, rief international ein großes Echo hervor. Aber schon zuvor hatten sich namhafte Intellektuelle für deren Freilassung eingesetzt. Eine internationale Bewegung zur Befreiung der beiden Unschuldigen hatte sich zwischen 1922 und 1927 formiert, aber dennoch wurden sie am 23. August hingerichtet. Erst 50 Jahre später erfuhren sie (sehr) späte Gerechtigkeit durch den Gouverneur von Massachusetts, Michael S. Dukakis: „The trial and execution of Sacco and Vanzetti should serve to remind all civilized people of the constant need to guard against our susceptibility to prejudice, our intolerance of unorthodox ideas, and our failure to defend the rights of persons who are looked upon as strangers in our midst.“

A Contemporary Historical Novel

Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti wurden zu Sündenböcken der „Bolschewistenpsychose des amerikanischen Bürgertums“ (Albrecht Graf Montgelas) und wurden mehr für ihre politischen Anschauungen und ihre Herkunft verurteilt, als für ein vermeintliches (nicht) begangenes Verbrechen. Die erstmals in der amerikanischen Literaturzeitschrift The Bookman von Februar bis November 1928 erschienene Geschichte von Upton Sinclair mit dem Titel „Boston“ ist genremäßig ein Zwitter zwischen Fiction und literarischer Chronik, der Untertitel des Originals verrät dies: „A Contemporary Historical Novel“. Sinclair recherchierte für seinen Roman mehrere Monate lang und der kann als Fortsetzung des politischen Aktivismus des Autors mit künstlerischen Mitteln bezeichnet werden. Die Parallelgeschichte über Business und High Finance Kreise in New England (die Ostküsten-Sippe Thornwell) Anfang des 20. Jahrhunderts vermischt sich mit dem dokumentarischen Sacco und Vanzetti Teil des Buches, wie auch Dietmar Dath im Nachwort schreibt. Die sympathische „Aussteigerin“ Cornelia Thornwell fungiert als Bindeglied zwischen den beiden Klassen und Lebenswelten.

Sacco und Vanzetti: 90 Jahre Unrecht

Upton Sinclair sei damals dem Vorwurf, sein Roman sei eine „Hagiografie zweier Anarchisten“ oder eine Art „linkes Passionsspiel“ ausgesetzt gewesen. Pointierter noch drückt Dath die Vorteile der vorliegenden Neuübersetzung bei Manesse mit den folgenden Worten aus: „Deshalb wurde in der Neuübersetzung gewissenhaft darauf geachtet, den Rededuktus der Romanfiguren unverfälscht zu erhalten oder adäquat nachzuahmen – sei es das floskelhafte, gestelzte, stets auf Dezenz und Wahrung des schönen Scheins bedachte Idiom der Bostoner Brahmanen, sei es der den Begrifflichkeiten der politischen Theorie verpflichtete Jargon gesellschaftskritischer Aktivisten“. Die Italianismen der beiden Protagonisten, von einer defizitären Diktion der Immigranten gekennzeichnet, werde überzeichnet, ohne dabei den Eindruck geistiger Simplizität zu suggerieren. Tatsächlich spricht der Vanzetti des 20. Kapitels schon viel flüssiger als der des 2. Kapitels.

Ein Buch über eine Zeit in der Ausdruck „Picknick“ noch ein revolutionärer politischer Kampfbegriff war, denn es wurde mit dem harmlosen Begriff eine Zusammenkunft zur politischen Aktion bemäntelt. Ein Fanal für die Justiz eines Rechtsstaates und eine ewige Mahnung an Toleranz und den Mut zur Wahrheit.

Upton Sinclair
Boston. Roman
Gebundenes Buch, Leinen mit Schutzumschlag
Manesse Verlag Zürich, 1025 Seiten
ISBN: 978-3-7175-2380-2
€ 42,00 [D] inkl. MwSt. 
€ 43,20 [A] | CHF 51,90* 
(* empf. VK-Preis)


Genre: Historischer Roman
Illustrated by Manesse Zürich

Franziskus von Assisi

Der Heilige Franziskus in einer umfangreichen Biographie

Franziskus von Assisi: Eine „zeitgemäße“ Darstellung des Lebens und Wirkens von Franziskus liegt im Interesse des Autors, der den „Gaukler Gottes“ auch gerne mit seinem Spitznamen „Poverello“ anspricht, was so viel bedeutet wie der „kleine Arme“. Denn die Darstellung des Heiligen habe sich kontinuierlich – je nach den geistigen und sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen – geändert: von der chevalaresken Tradition als Troubadour und Christus-Ritter bis hin zum Kirchenkritiker und Vorläufer von Martin Luther oder wehrloses Opfer päpstlicher Machtpolitik. Franziskus wurde aber nicht nur von den Faschisten funktionalisiert, sondern auch von den 68ern oder der Befreiungstheologie. Zeit also, sich dem echten Franziskus zu widmen.

Franziskus: Der sanfte Rebell

Franziskus von Assisi (1181–1226), geboren als Giovanni di Pietro di Bernardone wurde als Sohn wohlhabender Eltern geboren. Sein Vater hatte ein Tuchgeschäft und gehörte dem reichen Bürgertum, nicht aber dem Adel an. Ein Bürgerkrieg zwischen den minores und den maiores prägte die Jugend des jungen Heiligen, der sich alsbald als Ritter seine Sporen verdienen wollte. Die zweite Phase seines Lebens sei aber von einem allmählichen Bekehrungsprozess gekennzeichnet gewesen, in dem er sich den Aussätzigen und Randständigen der Gesellschaft zuwendete und ein mythisches Erlebnis in der Kirche San Damiano ihn schließlich überzeugte, sein Leben Gott zu widmen. Dieter Berg unterscheidet insgesamt fünf Phase im Leben des Poverello, die er mit Quellen und historischen Methoden untersucht hat.

Methodisch aufschlussreiche Studie

Methodisch handle es sich bei dieser Biographie um eine Kombination von einem biographischen Längsschnitt und problemorientierten Querschnitt, wie Dieter Berg selbst vorausschickt. Den Hauptteil des Werkes bilden systematische Ausführungen zu wesentlichen Aspekten des Lebens und Wirkens von Franziskus sowie seiner Zielsetzungen. Dieter Berg bettet den Poverello aber auch in seine Zeit ein, denn er war nicht der einzige, der die Amtskirche reformieren wollte. Robert von Arbrissel, Peter von Bruys oder Heinrich von Lausanne und Arnold von Brescia hatten ähnliche Anliegen wie Franziskus und wandten sich genauso wie er gegen Reichtum und Macht und forderten zu einem Leben nach dem Vorbild der Urkirche auf. Petrus Waldes aus Lyon etwa verteilte seinen Besitz an Arme mit dem Erfolg, dass er wie viele andere Laiengruppen etwa die Humiliaten, Katharer oder Waldensern von der Kirche als Ketzer exkommuniziert wurde. Eine „Phänomenologie der Häresie“ wurde 1184 festgelegt und Papst Innozenz (1198-1216) schuf die Päpstliche Inquisition.

Weitere Einzelheiten zum gesellschaftlichen und historischen Umfeld sowie Franziskus’ Schrifttum, Existenz und Charisma sowie der Weiterentwicklung des Ordo Minorum erfährt man in dieser lesenswerten Biographie von Dieter Berg über Franziskus, nach dem sich auch der jetzige amtierende Papst benannt hat. Ein Kapitel beschäftigt sich auch mit Franziskus’ Nachleben in Film und TV.

Dieter Berg
Franziskus von Assisi. Der sanfte Rebell.
Originalausgabe
Geb. mit Schutzumschlag.
Format 15 x 21,5 cm
298 S. 34 Abb.
ISBN: 978-3-15-011146-8
Reclam Verlag


Genre: Biographien, Religion
Illustrated by Reclam Verlag

Krafttiere

Krafttiere: Wieder steht ein Jahreswechsel an und mit ihm die guten Vorsätze für das kommende Jahr. Viele Menschen spielen am Vorabend, dem nach dem Heiligen Silvester benannten Abend, diverse Gesellschaftsspiele. Eines davon könnte auch das Kartenlegen sein und da es nicht immer ausschließlich Tarotkarten sein müssen, vielleicht dieses Jahr die Krafttiere-Karten, damit das Neue Jahr gut getankt neu beginnt? Auf den Schwingen des Adlers etwa oder den Blicken der weisen Eule?

Silvesterunterhaltung mit Helfertieren

 

Diese Originalausgabe besteht aus einer Schmuckschachtel, einem Buch mit 60 Seiten, 49 Karten im Format 95 x 140 mm und vielen Informationen zu den Krafttieren, darunter Eule, Fuchs, Adler und 46 weitere, insgesamt also 49. Das ausführliche Booklet mit 60 Seiten erklärt, wie man mit die Karten benutzt und beschreibt jedes Tier mit seinen besonderen Eigenschaften.  Man kann es dem Zufall überlassen, oder selbst wählen, das jeweils eigene Krafttier wird in jedem Fall helfen, das Neue Jahr gut beginnen zu lassen.

Neue Gedanken für ein neues Leben

Ein Helfertier lässt sich mittels einfachen Kartenziehens eruieren. Damit wähle man dann bewusst – oder unbewusst – die „Fährte der Inspiration“, denn Kartenlegen dient ja hauptsächlich dazu, sich neuen Gedanken auszusetzen und sie für sich selbst zu adaptieren. Das kann oft zu Lösungen führen – oder noch mehr Problemen. Aber die Helfertiere haben ja die Aufgabe, Sie über diese Stromschnellen hinwegzuführen. Nach dem Mischen und Ziehen der Karten, sollte man sich den Text im Booklet dazu gut durchlesen und sich zu neuen Gedankengängen verführen lassen. „die Fragen müssen immer an die Realität angebunden sein“, schreiben die Herausgeber, „egal ob sie in die Vergangenheit oder Zukunft führt“.

Regula Meyer / Karin Lurz
Krafttiere und ihre seelischen Botschaften
Set mit Booklet und Karten
ISBN: 9783868267686
Umfang: Set (Buch + Karten)
2017, Königsfurt-Urania Verlag
17,95 €

Eine liebevolle Geschenkidee zu jedem Anlass. Für Jedermann.


Genre: Spiele
Illustrated by Königsfurt Urania

Bewusst fasten

Fasten mit dem Profi: Rüdiger Dahlke

Bewusst fasten: Wegbegleiter und Wegweiser sind die Bücher von Ruediger Dahlke allemal, hat er sich doch schon 1980 für einen bewussteren Lebensweg entschieden und dieses Buch nun in einer Neuausgabe beim Königsfurt-Urania Verlag herausgebracht. Der 1951 geborene Dahlke ist Arzt, Psychotherapeut, Referent und Bestseller-Autor, einige seiner Bücher wurden in 28 Sprachen übersetzt.
Seine Schwerpunkte sind ganzheitliche Psychosomatik, „Krankheit als Symbol“ und vegane Ernährung. Er betreibt seit mehr als drei Jahrzehnten Seminare zu diesen Themen und das vorliegende Buch ist ein guter Einstieg in sein Leben und Werk.

Solve et coagula

Bewusst fasten – das Buch entstand Ende der 1970er Jahre als lose Blättersammlung – wurde zu Beginn von Dahlkes Karriere noch belächelt, doch heute gelte es bereits als wissenschaftlich erwiesen, dass das Fasten gesunde Körperzellen stärkt und kranke schwächt. Es könne mit Fasten sogar Erfolg bei Geisteskrankheiten erzielt werden und auch gegen Krebs kann es unter Umständen Wunder wirken. Denn wer fastet, beschäftigt sich mit seinem Unbewussten, den eigenen dunklen Seiten, den Schattenseiten und dem Verdrängten. „Fasten ist Körperbehandlung und Psychotherapie in einem“, schreibt Dahlke und wer es einmal ausprobiert hat, der wird zugeben müssen, dass die positiven Effekte des Fastens nicht von der Hand zu weisen sind. „Solve et coagula“, das wussten schon die Römer: „Löse und binde!“

Vertrauen schafft Sicherheit

Das Erfolgsgeheimnis des Fastens liege vor allem in der Übernahme von Eigenverantwortung, denn wer fastet, kann seine Verantwortung nicht mehr delegieren, sondern wird aktiv und selbstbezogen – und gerade das ist sehr heilsam. „Therapie“ bedeute viel zu oft „den Irrweg, Patienten scheinbar abzunehmen“, meint Dahlke, „anstatt ihnen die fürs eigene Gesunden notwendige aufzuzeigen“. Der Sinn des vorliegenden Buches liege darin, Vertrauen zu schaffen, denn daraus erwachse Sicherheit. Selbst Hildegard von Bingen vertraute auf das Fasten als Heilmaßnahme: sie traute dem Fasten zu, 29 von 35 Lastern oder Süchten zu therapieren. „Wenn all mein Fleisch hinwegschwindet, wird die Seele immer heller, des Geistes Wachsein immer fester“, sagte schon Buddha. Der „Reiseführer für eine Reise nach innen“, wie Dahlke sein Buch auch nennt, gibt eine Anleitung wie man es richtig macht, enthält einen Fastenplan, Rezepte, viele Fotos und aufbauende Worte. Und damit es kein Neujahrvorsatz bleibt: am besten heute schon beginnen, denn weniger ist ja bekanntlich mehr.

Dr. Med. Ruediger Dahlke
Bewusst fasten
Ein achtsamer Wegweiser zu neuen Erfahrungen
Taschenbuch, durchgängig farbig, 224 Seiten, 11,8 x 18 cm
ISBN: 9783868261639
2017, Königsfurt-Urania Verlag
9,95 €


Genre: Gesundheit, Ratgeber
Illustrated by Königsfurt Urania

Besoffen – Deutsch. Ein Wiener Sprachführer

Ein Sprachführer durch das Wienerische: Besoffen Deutsch

Homseihinshianschssn?“ Die vorliegende Holzbaum Publikation “Besoffen -Deutsch” widmet sich wie immer mit sehr viel Humor ganz besonderen Verständigungsschwierigkeiten, denn wer versteht den Wienerischen Besoffenen noch, wenn ihn selbst die Wiener nicht mehr verstehen können. Ein kleiner blauer Sprachführer schafft jetzt Abhilfe, denn mit „Besoffen – Deutsch. Ein Wiener Sprachführer
“ von Harald Havas, kann man ihm nun immer und überall und gut vorbereitet begegnen: dem Homo viennensis ebrius, dem betrunkenen Wiener, auch – laut Autor – als „gemeiner Bsuff“ bekannt. Die eingangs erwähnte Floskel kann hier aus Pietätsgründen leider nur sinngemäß und nicht wortwörtlich übersetzt werden: „Geht es auch günstiger?“

Besoffen auf Wienerisch

 

„Sbife is Glas!“ Wer einem betrunkenen Wiener begegnet – und das muss, wie auch der Herausgeber betont durchaus nicht unbedingt immer in der österreichischen Hauptstadt sein – der ist künftig gut gewappnet: in 20 kurzen, aus dem Leben gegriffenen, beispielhaften Lektionen wird archetypisch die Ausdrucksweise der Spezies Homo viennensis ebrius vermittelt und für mehr Verständnis gesorgt. „Denn gar nicht selten ist der betrunkene Wiener auch in den Bergen oder am Meer anzutreffen. Manchmal sogar in Begleitung seines Weibchens, das oft seine Leidenschaft für alkoholisch-induzierte Entrückungszustände teilt“, schreibt Havas und spricht damit zugleich eine Warnung aus: sie können auch in Paaren (!) auftreten. Zum Beispiel am Eislaufplatz: „Das Buffet ist hervorragend.“ Mehr als 600 weitere Floskeln erwarten Sie!

Bonustracks zum Mitsingen

 

Als Bonustracks werden in “Besoffen – Deutsch. Ein Wiener Sprachführer.” auch bekannte Wienerlieder, die beim Heurigen mitgesungen und Austropop zum Mitgröhlen als Quiz vorgestellt. Etwa: „Eif Ah Ah Ah Ah Ah Eifiseif!“ Na, hätten Sie’s erkannt? Was? Na, dann wird’s höchste Zeit!

Harald Havas:
Besoffen – Deutsch
Ein Wiener Sprachführer
978-3-902980-63-2
38 Seiten, Softcover,
ISBN 978-3-902980-63-2
5,00 EUR
Holzbaum Verlag


Genre: Humor, Sprache
Illustrated by Holzbaum Wien

Bei Vollmond

Bei Vollmond: Scherenschnittkunst für Kinder und Erwachsene

Bei Vollmond: Scherenschnittkunst für Kinder und Erwachsene

Ein bestechend schönes Weihnachtsgeschenk könnte dieses wunderschöne Scherenschnittbuch über eine Vollmondnacht im Wald werden. Der Grafikdesigner Antoine Guilloppé, geboren in Chambéry in den französischen Alpen, legt ein beeindruckendes und überzeugendes Bilderbuch vor, das nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene begeistern wird. Passend zur herbstlichen und bald winterlichen Stimmung erzählt dieses wunderschöne Scherenschnittalbum von einer Vollmondnacht im Wald, die ein ganz besonderes Ereignis feiert. Was genau passiert wird hier aber nicht verraten, den die Spannung baut sich durch die schönen Bilder mit wenigen Worten so gut auf, dass sie hier nicht gespoilert werden soll.

Im Wald bei Vollmond …

Etwas Sonderbares geht jedenfalls vor sich, in diesem dunklen Wald. Alle Tiere629(3) des Waldes lauschen aufmerksam, ein Wolf öffnet seine Augen, Reineke Fuchs wird nervös und eine Wildschweinmutter grunzt durchs Unterholz. Ein nicht einzuordnendes Geräusch hat die Tiere des Waldes aufgeweckt. Der Vollmond steht in seiner ganzen weißen Pracht am Himmel und alle Tiere sind plötzlich still und lauschen gespannt in den Wald hinein. Was hat sie aufgeweckt? War es die Helligkeit des Vollmondes oder droht von irgendwoher Gefahr? Antoine Guilloppé zeigt alle Tiere des Waldes in Großaufnahme und man sieht sie vor sich, den Wolf, den Fuchs, einen Uhu, einen Hirsch, sogar eine Fledermaus huscht vorbei und ein Wildschwein grunzt einem flüchtendem Kaninchen nach.

… der Bär sich streckt

629(2)Doch dann tauch plötzlich der Bär auf. Was bringt er mit sich? Gefahr? Warum ist er so stumm, hat auch er Angst? Angst vielleicht ja, aber nicht um sich. Denn selbst die grobschlächtigsten Bestien haben ein Herz. Aber Bären sind keine Bestien. Was also hat er? Fühlt er? Eine Entdeckungsreise in den tiefen, tiefen Wald bei Vollmond, was kann es Schöneres zu entdecken geben? Antoine Guilloppé schafft es mit wenigen Worten aber großartigen Bildern die Sinne anzusprechen und sowohl Erwachsene als auch Kinder für eine weitere Entdeckungsreise zu begeistern.

Antoine Guilloppé
Bei Vollmond
Aus dem Französischen von Ana María Montfort
32.0 x 29.0 cm, gebunden mit SU, 40 Seiten mit 10 schwarz-weiß-Abbildungen
ISBN 978-3-86873-394-5
Knesebeck
24,95 €


Genre: Kinder- und Jugendbuch, Kunst
Illustrated by Azur Verlag Mannheim, Reclam Verlag

Max und Moritz auf Wienerisch

Max & Moritz von Wilhelm Busch im Wiener Dialekt

Max & Moritz von Wilhelm Busch im Wiener Dialekt

Max und Moritz auf Wienerisch: Dass der Wiener Dialekt für Dichtungen aka Verdichtungen oder Mehrdeutigkeiten äußerst geeignet ist haben schon andere bewiesen. H.C. Artmann gehört sicher zu den besten Kennern seines Faches: der Wiener Dialekt. Aber ein bereits existierendes deutsches Werk ins Wienerische umdichten? Hat man das schon gehört?

Max und Moritz auf Wienerisch: Freche Frotzn ohne Rotzn

Hans Werner Skop zeigt schon beim ersten Streich der beiden „Frotz“ Max und Moritz, was in dieser wunderbaren Sprache alles steckt: mit dem Wort „spaunans“. Denn das bedeutet so viel wie „spannen“, aber eben auch „erkennen“. Es reiche aber nicht „blede Witz nur driber reißn/und si denken: Geh doch –fuat“, die Leerstellen kann man sich gerne selbst dazu denken, sondern es geht mehr darum Entsprechungen zu finden, die sich auch reimen. So etwa im fünften Streich, bei dem aus den Mäusen nicht die „Mais“, sondern die Rotzn – also Ratten – werden, denn das reimt sich eindeutig besser auf „Frotzn“.

A Buamgschicht in siebm Stickln

Was in bundesdeutschen Kreisen gerne belächelt und als „herzig“ abgetan wird, ist tatsächlich ein eigenes Universum für sich, das zeigt eben auch die Umdichtung von Wilhelm Buschs Meisterwerk „Max und Moritz“ aus dem Jahre 1865 in den Wiener Dialekt. Aus einer Strophe werde hier wörtlich zitiert, damit die werten LeserInnen sich ein Bild machen kann, was genau sie bei der Lektüre von XX erwartet: „Mauncher tuat si sehr vü au,/Daß er Hendln hoitn kau./Erschtens, d Eier san a Segn,/Wos de Piperln fleißig legn;/Zweitens mocht ma daun und waun/Si an Brotn in der Pfaun;/Drittens oba wern s aa grupft,/Daß ma d feinan Federn zupft,/Tuchantn und Poistern füt,/Weu ma si net gern verküht.“ Wer jetzt Angst bekommen hat, dass er nichts versteht, um was es hier geht, dem sei anvertraut, dass sich natürlich auch eine deutsche Übersetzung in dieser Publikation im Anhang befindet, denn die eigentliche – Wienerische – Erzählung ist natürlich bebildert. Die „Buamgschicht in siebm Stickln“ hätte vielleicht aber doch mit Anmerkungen auf derselben Seite bei ganz schwierigen Ausdrücken ergänzt werden können, da doch gerade die Etymologie und Narration eines Wienerischen Ausdrucks – wie es der Autor an zwei, drei Beispielen im Nachwort ja auch macht – den Hochgenuss dieser Lektüre noch verstärken hätten können. Wenn ich zum Beispiel lese „Des woa scho der zweite Wickl,/Glei kummts dritte Lausbuamstickl“, würde mich der Ausdruck Wickl doch sehr interessieren, der eben nicht „Wickel“ bedeutet, sondern „Kampf, Streit, Auseinandersetzung, Kapriole, etc.“ Aber nein, ich will natürlich „kaan Wickl“, sorry, bitte gerne…

Hans Werner Skop, Magistratsjurist a.D. bei der Stadt Wien, hat nicht nur vom Deutschen ins Wienerische übersetzt, darunter „Wienerisch is aa a Sproch“ (1979), „Sunst samma gsund“ (1984), „Wiener Woikerln“ (1991), „Wienerisches Adventkalenderbuch“ (2005) und „Wienerische Viechereien“ (2012), sondern auch vom Italienischen ins Deutsche: die (hoch)deutsche Terzinenfassung von Dante Alighieris Göttlicher Komödie, erstmals 1983 erschienen.

Hans Werner Skop
Wilhelm Busch
Max und Moritz auf Wienerisch
Übers.: Sokop, Hans Werner
2015, 79 S.
ISBN: 978-3-15-019286-3
Reclam Verlag


Genre: Dichtung
Illustrated by Reclam Verlag

Reiseführer Sardinien

sardiniaReiseführer Sardinien in 15. Auflage: Der vorliegende Reiseführer gliedert Sardinien nach den vier Himmelsrichtungen und dem fünften Kapitel „Innersardinien“ in fünf lesens- und besuchenswerte Destinationen. Auf beinahe 700 Seiten wird Sardinien nicht nur als Ferien-, sondern vor allem auch Kulturregion vorgestellt, das jedem etwas zu bieten hat. Sardinien ist immerhin die zweitgrößte Insel des Mittelmeers und Italiens und die fünftgrößte Europas. Auf 24.090 km2 finden sich Gebirge wie die Punta la Marmora (1834m), der Bruncu Spina (1829m) und das Bergmassiv Supramonte bei Nuoro (1463m) ebenso wie Strand- und Wüstenlandschaften oder Wälder resp. die Macchia. Das italienische Festland ist ca. 190 km entfernt, Tunesien aber sogar nur 180 km. Und was Sardinien besonders attraktiv macht: es gehört zu den Ländern/Inseln mit der geringsten Bevölkerungsdichte: nur 1,66 Millionen Menschen leben auf Sardinien, die meisten davon arbeiten im benachbarten In- oder Ausland.

Festkalender und Attraktionen

Dafür beheimatet die Insel 3,6 Millionen Schafe, knapp 300.000 Ziegen und fast 2 Millionen (!) Rinder, was man wirklich nicht erwartet hätte. In der schönsten Reisezeit, allgemein wird der Mai genannt, wenn alles blüht, begegnet man also auch den vielen Hirten der Insel, die das Bild Sardiniens wesentlich mitgeprägt haben. Korkeichen sind bezüglich der Flora typisch, Mufflon-Schafe und Wildschweine bezüglich der Fauna. Aber auch Hirsche und Mönchsrobben wurden schon gesichtet. Geier, Adler und Mufflons gibt es auch. Der Festkalender der Sarden ist ebenso erwähnenswert wie die alten Trachten und die Volksmusik des Inselvolkes. So gibt es etwas das Reiterfest Sa Sartiglia am Karnevalssonntag und –Dienstag, bei dem weiß maskierte Reiter versuchen einen über die Straße hängenden Stern zu durchbohren. Auch die Mamoiada, ein heidnisches Fest, ist über die Grenzen Sardiniens hinaus bekannt und erinnert an den Perchtenlauf unserer Breitengrade. Ostern wird in dem katholischen Sardinien opulent mit Umzügen gefeiert, das größte Fest des Frühjahres ist die Sagra di Sant’Efisio, bei dem auf einem Umzug von Cagliari nach Nora die schönsten Trachten der Insel gezeigt werden. Weitere Feste werden in dem Reiseführer mit den jeweiligen vormerkbaren Daten beschrieben.

Viel Geschichte, Kultur und Geheimtipps vom Profi

Um Missverständnissen vorzubeugen: die Insel hat ihren Namen nicht von den Sardinen, sondern von srdn resp. Shardana, einem kriegerischen Volk, das aus Ägypten kam. Auf einer Stele bei Nora hat man erstmals das Wort srdn entdeckt und seither trägt Sardinien seinen Namen. Schon Phönizier und Nuraghier, Römer und Barbaren besuchten die Insel, wenn auch zumeist nicht so friedlich wie die heutigen Touristen, die nach Sardinien wegen dem glasklaren Meer und dem Wind zum Surfen kommen. Und natürlich wegen der ausgezeichneten Gastronomie. Der vorliegende Reiseführer gibt eine ausführliche Einführung in die Geschichte des Landes, erklärt sein Wappen (das mit den vier Mohren) und besucht quasi jede Stadt und jedes Dorf, wo es Vorschläge zum Übernachten und Essen, Campen oder für Ausflüge macht. Sehr ausführlich und dennoch sehr übersichtlich gestaltet, viele Fotos und Karten und interessante Zusatzinformationen sowie Geheimtipps: Sardinien hat viel zu bieten: die bizarren Granitbuchten der Gallura im Nordosten, die Tauchgründe und Surfspots, Tropfsteinhöhlen, das Schwemmland des Tirso mit seinen salzigen Lagunenseen und den rosafarbenen Flamingos oder das steile, weißglänzende Dolomitmassiv des Supramonte. Hintergrundinfos für Ausflüge und längere Aufenthalte im Inselinneren bietet Fohrer ebenso wie seinen reichhaltigen Reisebuchautorenschatz.

Der studierte Autor aus Marburg arbeitet nämlich schon seit über dreißig Jahren als hauptberuflicher Reisebuchautor. Seine Bücher sind – laut Verlag – Bestseller und sein Reiseführer zu Kreta (der inzwischen in der 20. Auflage vorliegt) gilt unter Griechenlandkennern anscheinend sogar als „Kreta-Bibel“.

Eberhard Fohrer
Reiseführer Sardinien
2016, 15. Auflage, aktualisiert
Michael Müller Verlag, 708 Seiten + herausnehmbare Karte (1:300.000), farbig
ISBN 978-3-95654-224-4
26,90 EUR (D)/27,70 EUR (A)/39,90 CHF


Genre: Reiseführer
Illustrated by Michael Müller Verlag

99 Songs

99Der Autor will in seinem Buch am Beispiel seiner frei und völlig subjetkiv ausgewählten 99 Songs „gesellschaftliche Hintergründe, kollektive Sehnsüchte oder Konsumentwicklungen und Zeitbrüche erkunden“. Konsenslieder ebenso wie abseits der kommerziellen Warenproduktion entstandene Songs, die zwar keine Hits, aber dafür politische Identifikation bieten und bei Demonstrationen als Protestsongs einsetzbar waren ebenso wie Gassenhauer. Kos’ „99 Songs“ kommen aus unterschiedlichen Musikepochen und kulturellen Milieus und reichen stilistisch von der Oper, dem Musical zu Blues und Country, Schlager und 20er Jahre hin zum Great American Songbook der 30er und 40er, aber auch Chansons und Folk, Rock’n’Roll, Beat, Soul, Rock, Hip-Hop und Rap, partiell wird auch auf Tango, Bossa Nova, Reggae oder Pop aus Afrika zurückgegriffen, um sich dem Vorwurf des Eurozentrismus zu erwehren bevor er noch artikuliert wird. Und natürlich geht es auch um Sex. Und Liebe.

Das 20. Jahrhundert in Liedern

Das Jahrhundert beginnt in „99 Songs“ eigentlich erst 1905 mit der „Lustigen Witwe“ von Lehar/Leon/Stein und zeigt die Frivolität des Begriffs von der „anständigen Frau“. 1900-1920 ist das erst Kapitel in „99 Songs“, das auch den schon von Pedro Orgambide in mythische Größe überhöhten Tangokünstler Carlos Gardel behandelt. Die Zwischenkriegszeit wird dann mit den Bananen der Josephine Baker, Bessie Smith und den Arbeitern von Wien charakterisiert, aber auch dem Buchenwaldlied und Lili Marleen. „This Land is Your Land“ von Woody Guthrie, dem „Flüchtling im eigenen Land“, geht auf die Dust Bowl Ballads des Okie ebenso ein, wie auf seine Krankheit (Huntington) und dem Spruch auf seiner Gitarre: „This machine kills Fascists“. Die Periode des Kalten Krieges wird von Juliette Gréco eröffnet und führt über den Deserteur Boris Vian zu Hank Williams, dem ersten des Club 27, auch wenn er erst mit 29 – von seinem Chauffeur kutschiert – im Delirium in die ewigen Jagdgründe entglitt: „And now I’m lost, too late to pray/Lord I paid the cost, on the lost highway.“ Aber auch der Widerstand gegen „das Imperium“ begann in dieser Zeit mit Hymnen wie „We shall overcome“ oder „Edelweiss“ aus dem Musical „Sound of Music“. Dazwischen keimt der Rock mit „Hoochie Coochie Man“ von Muddy Waters interpretiert oder „Rock Around the Clock“ und „Hound Dog“, „Tutti Frutti“ oder „Johnny B. Goode“.

Widerstand, Protest und Jugendkultur

1960-1970 ist wohl das Kapitel, das auch dem Autor am meisten Spaß gemacht hat. Darin schreibt er nicht nur über die unvergessliche Piaf, deren Großmutter ein Bordell betrieben habe, sondern auch über „Little Boxes“ von Malvina Reynolds, das u.a. von Pete Seeger interpretiert wurde und unlängst der TV Serie Weeds als signation diente. Reynolds’ Mann war immerhin Kommunist, was in den Sechzigern noch genauso unamerikanisch war wie davor und danach und ihr Lied kommt zwar als Kinderlied daher ist aber ein bitterböser Abgesang auf Reihenhaussiedelungen und den amerikanischen Traum. Selbst Kinder waren damals eben vor den Kommunisten nicht sicher, waren sie doch auch als Kinderfresser verschrien. Auch „The Ballad of Ira Hayes“, das von Peter La Farge geschrieben, aber von Johnny Cash bekannt gemacht wurde, kann als in der Tradition des klassischen Protestsongs stehend verstanden werden. Tja, und dann kam Dylan, dem der Autor übrigens gleich mehrere Seiten und Beiträge widmet.

„99 Songs“ ist ein Nachschlagewerk zu den Lieblingssongs des Autors aus einem Jahrhundert, das endlich vorbei ist. Es erzählt vielleicht mehr über die Autoren und die Entstehungsgeschichte als über die Lieder/Songs selbst und die meisten Informationen wären wohl im WWW auch leicht auffindbar gewesen, aber sicherlich nicht so schön bebildert und mit so viel Akribie, Sorgfalt und Liebe verpackt und geschrieben. Oder hätten Sie etwa gewusst, dass der Hit „Amsterdam“ von Jacques Brel auch von David Bowie interpretiert worden war und ersterer sich niemals bei letzterem dafür bedankt hatte? Oder dass Jagger in der Teenagerhymne „I can’t get no satisfaction“ (1965) gezählte dreißig Mal „No“ singt? Und was murmelt John (Lennon) nochmal am Ende von „Strawberry Fields Forever“? „I buried Paul“? Bei Wolfgang Kos steht die Wahrheit darüber, schlagen Sie’s einfach nach!

Alle Songs zum Anhören:

www.brandstaetterverlag.com/buch/99-songs

Wolfgang Kos
99 Songs. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts
Rebellion, Sehnsucht und Lebensgefühl – Die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu erzählt
ISBN: 978-3-7106-0022-7
Format: 19 x 24 cm
320 Seiten, ca. 250 Abbildungen, Hardcover

Brandstätter Verlag
€ 39,90


Genre: Popkultur, Popliteratur
Illustrated by Brandstätter Verlag

Erich Mühsam Tagebücher

MühsamDie Herausgabe der Erich Mühsam Tagebücher ist ein sehr aufwendiges Projekt des Verbrecherei Verlages, das sich derzeit bei Band 12, 1922-1924, befindet und noch bis zum Frühjahr 2019 mit Band 15 1924 fortgesetzt wird. Der gesamte Rahmen umfasst also die Jahre 1910-1924, runde 15 Jahre des anarchistischen Schriftstellers und Dichters Erich Mühsam. Seine Tagebücher erscheinen zugleich auch als Online-Edition und werden unter der gleichnamigen URL im Netz auch von einem Anmerkungsapparat mit kommentiertem Namensregister, Sacherklärungen, ergänzenden Materialien und Suchfunktionen ergänzt. So entsteht eine historisch-kritische Ausgabe, ein großes Vorhaben und „der erste wirklich überzeugende Versuch, Buch und Internet plausibel und produktiv zu kombinieren“, wie rbb Kulturradio über das ambitionierte Projekt schreibt. Auch die Ausstattung ist übrigens wunderschön: in schwarzes Leinen gebunden mit Lesebändchen genügt sich auch ästhetischen Anarchisten des Wortes.

Münchner Bohème vor dem Krieg

Der vorliegende Band 3, der in den Jahren 1912-1914 verfasst wurde und die Hefte 10 und 11 umfasst, spielt am Vorabend des Ersten Weltkrieges und zeigt in welch schwieriger wirtschaftlicher Situation der Schriftsteller sich zu dieser Zeit befand. Obwohl ihm der Simplizissimus ab und zu ein Gedicht abnimmt und er auch Vorträge hält, die durchaus die Kneipen Münchens füllen, will es nicht so recht klappten mit der Schriftstellerei als Einkommensquelle und Mühsam hofft vergeblich auf das Erbe seines Vaters, der 1912 im Sterben liegt: „Jetzt wünsche ich ihm selbst die Erlösung schon so aufrichtig, wie ich sie mir wünsche“. Am 29. Oktober 1912 schreibt er „und nun beginnt damit eine neue Epoche in unsrer Liebe: der Konflikt mit den Eltern“. Die „widerwärtige Konzession“ der religiösen Trauung scheint ohnehin zu platzen, da die Eltern der angebeteten Jenny nicht wirklich bereit sind eine Mitgift zu zahlen. Ohne diese ist das Unternehmen Ehe aber nicht zu bewerkstelligen und Mühsam rät unter diesen Umständen seiner Jenny von dem Zusammenzug ohne Heirat eindringlich ab, obwohl er in ihr „die prachtvolle Entschlossenheit erkenne, um ihrer Liebewillen auf Elternhaus, Wohlstand und jegliche Bürgerlichkeit zu verzichten“. Ihm fehlt jegliche Ambition diesbezüglich, da er keine Möglichkeit mehr sieht, Geld zu verdienen, wie er am selben Tag schreibt. Danach bricht das Tagebuch ab, denn vom 22. November 1912 bis zum 2. August 1914 hat Erich Mühsam gar keines geführt.

Ende der Liebe/Anfang des Krieges

Heft 11 setzt also fort mit dem 3./4. August 1914 an dem der Krieg gerade begonnen hat und dasselbe Heft schließt auch diesen Band 3 der Tagebücher mit den Worten: „Möge das neue Tagebauch eine bessere Zeit registrieren, gesehen durch ein gerechteres und reineres Herz.“ am 31. Dezember 1914 ab. „Wenn ich’s mit dem Verzicht auf alles, was sich einmal erben soll, erreichen könnte, dass der Krieg nur einen Tag früher zu Ende wäre und das Leben nur eines einzigen singhalesischen Bogenschützen gerettet würde – bei Gott, ich besänne mich nicht.“ In der Nachbemerkung zu vorliegendem Band zeichnet Chris Hirte allerdings die weniger ruhmreiche Seite des Anarchisten nach, der durchaus auch vor Chauvinismus nicht gefeit war. Der zu dieser Zeit Mitte Dreißigjährige hatte sich die bequeme „Fiktion des bösen Vaters“ nur zurechtgelegt, um sich selbst die Scham, „keine Frau ernähren zu können, die dafür sorgt, dass er sich ungestört der Arbeit widmen kann“ (Jenny Brünn) zu ersparen. „Der schöne Glaube, dass einer, der sich von inneren und äußeren Zwängen befreit, ein freier Mensch sein müsse, hat sich als Illusion erwiesen. Das eigene Tagebuch lehrt ihn nun, dass auch Leidenschaften und Konflikte unfrei machen, Zwänge und Schuld erzeugen. Statt den Erfolg seines anarchistischen Lebensentwurfs zu beglaubigen, ist das Tagebuch zum Dokument eines Scheiterns geworden.“, schreibt Hirte treffend. Aber es wäre auch verlogen, ihm seine Schwächen anzukreiden, nur weil er sie akribisch dokumentiert hat und dass er das wagte, sei eine Stärke, die er den meisten bis heute voraus hat, so Hirte. Der LeserIn kann an dieser Ausgabe der Erich Mühsam Tagebücher übrigens auch mitwirken, mehr dazu erfährt man online über die Verlagsseite. Ein Sach- und Personenregister und ergänzende Materialien, die digitalisierte Handschrift und umfassende Suchfunktionen lassen sich über die Online Version abrufen.

Christ Hirte/Conrad Piens (Hg.)

Erich Mühsam
Tagebücher
Band 3 1912-1914
Leinen mit Lesebändchen, 432 Seiten,
ISBN: 9783940426796
Verbrecher Verlag
28,00 €
www.verbrecherverlag.de
www.muehsam-tagebuch.de


Genre: Anarchismus, Zeitgeschichte
Illustrated by Verbrecher Verlag

Krähen

Riechelmann_Umschlag_03.inddAus einer ursprünglich im tropischen Regenwald lebenden „Urkrähe“ hätten sich die Krähenvögel in der Zeit vom späten Oligozän bis zum Miozän herausentwickelt und über die ganze Erde verbreitet. Die Kulturgeschichte des Menschen habe sich quasi unter der Beobachtung der Krähen vollzogen, denn beide haben sich entwicklungsgeschichtlich aus dem dichten Dschungel in offene Landschaften bewegt. Auf der Flucht vor Jägern hat sich diese Entwicklung allerdings einige tausend Jahre später wieder umgedreht, denn die Krähen sind vom Land in das Stadtgebiet geflüchtet, wo sie Schutz vor Freiwild-Erklärung des Menschen finden und so ihre Populationen wieder ansteigen konnten. Es gab nämlich eine Zeit da wurde tatsächlich Jagd auf die armen Vögel gemacht, weil diverse Vorurteile über sie kursierten. Diese zu bekämpfen, dazu trägt auch diese wunderschön illustrierte Krähenschau des Matthes & Seitz Verlages aus Berlin bei.

Raben die Singvögel unter den Paradiesvögeln

Es gab aber durchaus auch Völker bei denen die Raben oder Krähen, beide Ausdrücke werden oft synonym verwendet, positiv besetzt waren. So habe etwa Wilhelm der Eroberer, der Wikinger, eine Rabenfahne vorangetragen, was wiederum die Eroberten wohl mit Hass auf diesen Vogel erfüllte. Auch die Tatsache, dass Raben Aasfresser sind trug nicht unbedingt zu ihrer Reputation bei, denn das Aasgeier und eben Raben eine wichtige Rolle in der Natur als Gesundheitspolizei spielen, war noch nicht in alle Köpfe durchgedrungen. Krähenvögel gehören zur Gruppe der Singvögel und als Corvidae sind sie eine Familie in der Ordnung der Sperlingsvögel (Passeriformes) in der Klasse der Vögel (Aves). Von den Corvidae gibt es 123 Arten in 24 Gattungen, schreibt Riechelmann, wozu auch Elstern, Häher und südamerikanische Blauraben gehören. Zu der eigentlichen Gattung Corvus gehören wiederum 23, darunter Nebel-, Raben- und Saatkrähen, sowie Dohlen und der Kolkrabe. Ihre engsten Verwandten sind übrigens die Paradiesvögel.

„Trainspotting“ auf Rabenart

„Du bist in Alaska, am Ende der Welt, nirgendwo ein Zeichen von Leben – und auf einmal ist da der Rabe.“ Noch in der Höhe von 7000 Metern am Himalaya würde man sie antreffen, berichten etwa britische Forscher, wo sie auch gerne Steinlawinen auslösen würden, denn die Kolkraben etwa sind sehr verspielt, und lieben es, mit Steinen zu werfen. Es wurden aber auch schon Krähen in Tokio beobachtet, die Steine auf die Bahngleise legten und dann mit schräggelegtem Kopf auf das Klickgeräsuch warteten, das die Züge erzeugten, wenn sie die Steine zerquetschten. „Trainspotting“ auf Rabenart eben. Es sei auch schon beobachtet worden, dass sie Autos, die bei Rot an Ampeln halten, zum Nüsseknacken benutzten oder verstecken ihre Nahrung unter Dachziegeln, wie etwa die Elstern, die ebenfalls zur Corvidae Gruppe gehören. Kolkraben können übrigens als einzige der Gruppe auch am Rücken liegend fliegen. Kiefernhäher wiederum versteckten zu Vorratszwecken im Herbst bis zu 30000 Samen an bis zu 6000 verschiedenen Orten und graben die jeweilige Sorte auch noch rechtzeitig vor dem Aufkeimen aus. Gedächtnisfähigkeiten, die man sich als Mensch nur wünschen kann.

Im Anhang befinden sich noch Portraits der einzelnen Vögel. Auch der Fleißtext ist reichlich illustriert und erzählt von der unterschiedlichen Wahrnehmung der „Galgenvögel“ in unterschiedlichen Teilen der Welt und ihrer langen Geschichte mit dem Menschen.

Cord Riechelmann/Judith Schalansky (Hg.)

Krähen. Ein Portrait

Reihe: Naturkunden

155 Seiten, Gebunden

Illustration: Falk

Preis: 18,00 €

Matthes & Seitz VerlagKrähen


Genre: Naturkunde, Porträt
Illustrated by Matthes & Seitz