„Ich will jetzt leben und nicht irgendwann. Nicht später“
Paul und Birgit verlieben sich in den Siebzigern in der DDR. Doch Paul lässt den nötigen Ehrgeiz vermissen, findet Birgit. Und das, wo doch Netzwerken in der DDR lebensnotwendig ist. Egal ob neue Küche, ein Telefon oder ein Auto, für alles benötigt man Beziehungen.
Und da kommen auch die tollen Pakete der Westverwandschaft. Mit Sachen, die man nicht mal mit Beziehungen bekommen kann. Birgit möchte das immer haben.
Paul will das alles nicht. Er will Birgit auf Händen tragen, das ist sein Wunsch und zum Netzwerker ist er ungeeignet. Sei einziger Freund ist Jürgen, der ist in der SED und ein guter Netzwerker. Er schafft es , dass Paul Birgit so manchen Traum erfüllen kann. Aber sagt ihm auch: Ihr führt eine Beziehung wie in dem Märchen „Der Fischer und seine Frau“.
Dann kommt und Gorbatschow und die Perestroika. In der DDR träumen alle davon. Birgit träumt mit, Jürgen auch. Paul ist skeptisch. Obwohl, im Betrieb endlich frei entscheiden zu können, das wär was. Nicht immer auf die nötigen Bauteile warten, die man braucht.
Die Wende und der Westen strömt in die DDR. Jetzt entscheidet die „Treuhand“ und plötzlich bemüht man sich um Paul, dem Abteilungsleiter. Hier ein Geschenk, dort ein Geschenk. Auch Westdeutschland kennt Bürokratie und fünfzigseitige Anträge, die ausgefüllt werden müssen …
Ein Pärchen, das sich mit Umbrüchen auseinandersetzen muss. Und ständig das Gefühl hat: Ich kann nicht entscheiden.
Sehr einfühlsam erzählt von Rita König, sie zieht uns in die verschiedenen Settings hinein, wir erleben sie hautnah, sowohl die DDR, wie die Wende und das Gefühl vieler Ex-DDRler in ein einem plötzlich ganz anderem Umfeld, sie seien Deutsche zweiter Klasse.
Das Buch habe ich verschlungen und nur wenige Bücher haben mir so ein anschauliches Erlebnis der Zeitläufe vermitteln können.
Unbedingt lesenswert.
Fast schon ein ganzes Leben
Nach Grau kommt Himmelblau- von einer Raketenkarriere in die Depression und zurück
Thomas Reinbacher legte eine sagenhafte Karriere hin, Amazon, Google, alle stellten ihn ein. Also gar kein Grund für Depressionen?
Doch die schwarze Dame Depression ist tückisch und sie kann jede Person befallen, egal, wie erfolgreich sie ist, egal wie glücklich ihr Leben von außen aussieht.
Und wenn du im tiefen Tal der Dunkelheit sitzt, kann man dir den Nobelpreis verleihen, du wirst immer noch überzeugt sein, dass du versagt, nichts geleistet hast und dass alle dich verachten.
Wer noch nie eine Depression erlebt hat, kann sich das schwer vorstellen.
Dieses Buch lässt es uns erleben. Der Autor erzählt schonungslos seine Geschichte und wir können nachverfolgen, wie sich eine Depression anfühlt und was sie anrichtet. Er gibt uns aber auch Hoffnung. Es gibt Wege aus dem Tal der Tränen, sie sind schwer, sie können lange dauern, aber nicht nur der Autor, auch viele andere haben sie zurückgelegt.
Und er schildert nicht nur die eigene Geschichte. Er sagt uns, welche Mittel es gibt gegen die Depression, welche bei ihm geholfen haben. Auch, von welchen Maßnahmen er sich nichts erhofft hat, dann aber feststellte, dass sie ihm viel geholfen haben. Aber auch die, die nicht geholfen haben. Jede Depression ist anders. Bei den meisten hilfreichen Mitteln kann ich nur mit dem Kopf nicken, sie haben auch mir geholfen. Bei einigen war es unterschiedlich. Für den Autor waren die Gespräche mit Mitpatienten nicht so hilfreich, für mich waren sie mit das Wichtigste. Der Autor hat wenig über die Depression gelesen, als er drin steckte, ich sehr viel.
Unter einer Depression leiden auch Angehörige enorm, vor allem, weil sie keine Vorstellung davon haben, was da abgeht und sie die Persönlichkeitsveränderung erschreckt. Im Buch schreibt auch die Frau des Autors, wie es ihr mit der Depression ergangen ist. Dazu kommen eine Menge Infos am Schluss des Buches.
Natürlich ist das Buch nicht das einzig gute Buch über Depression, aber sicher eines der besten.
Hans Peter Roentgen
Noras Welten
Bitte keine Bücher aufschlagen …
… das sagt Nora, denn sie versinkt sofort in jeder Geschichte. Und taucht nur wieder auf, wenn jemand das Buch zuschlägt und sie befreit.
Um sich diese Reaktion abzutrainieren, sucht sie einen Psychotherapeuten auf. Doch der will einen Test sehen. Unglücklicherweise reißt Nora ihren Therapeuten mit in das Buch. Und es ist vor Ostern und wird lange dauern, bis jemand die Praxis betritt und das Buch zuschlagen kann.
Also muss Nora mit ihrem Therapeuten die Geschichte durchleben. Die um Intrigen und Kämpfe der Thronfolge gehen. Besser, sie greifen nicht in in die Geschichte ein. Doch dann …
Eine spannende Fantasygeschichte, die mich bis zur letzten Seite gefesselt hat und für die die Autorin den Selfpublisher Preis gewonnen hat. Mittlerweile druckt Piper das Buch. Und da es Ostern spielt, wäre jetzt die Gelegenheit, es zu lesen.
Grenzlandfrau
Eupen, Malmedy, St Vith liegen bei Aachen, wurden 1815 Preußen zugeschlagen, nach dem Ersten Weltkrieg belgisch, 1940 wieder deutsch, 1945 wieder belgisch. In diesem Gebiet wächst die junge Jacki auf, doch offiziell heißt sie mal Jakobine, mal Jaqueline, je nach politischen Umständen. Weiterlesen
Schreiben mit ChatGPT für Autorinnen und Autoren: Von der Ideenfindung bis zur Vermarktung
Sandra Uschtrin hat sich ausführlich mit Chatgpt auseinandergesetzt und der KI Aufgaben gestellt. Und die Ergebnisse finden Sie in diesem Buch. Zahlreiche Beispiele zeigen, was die KI kann – und was eher nicht. Menschliche Hilfe und Nachkontrolle ist immer nötig, mal mehr, mal weniger. KI kann Autorinnen und Autoren auf neue Ideen bringen, sie kann Ihnen mit Klappentexten, Exposés und Pressetexten erheblich unterstützen, aber ist kein Wundermittel.
Das Buch ist gut geschrieben, liest sich leicht und wartet mit zahlreichen Beispielen auf. Obendrein gibt es zahlreiche Tipps, wie man das Beste aus der KI herausholen kann.
Die Autorin weiß, weiß, wovon sie spricht. Und hat mit den Zeitschriften „Federwelt“ und „Der Selfpublisher“ schon vielen aus dem Buchbusiness geholfen.
Danke, Sandra Uschtrin!
Hans Peter Roentgen
Leseprobe: https://www.uschtrin.de/buecher/uschtrin-schreiben-mit-chatgpt/
Ravna – die Tote in den Nachtbergen
Beim Glauserpreis auf der Criminale hat das Buch den Jugendglauser gewonnen. Aber eigentlich ist es ein All-Ager.
Und nach der Leseprobe konnte ich nicht widerstehen und habe es in einem Rutsch durchgelesen. Die raue Landschaft in Norwegens nördlichster Provinz wird lebendig, ich spüre den Wind, die Kargheit, die Sonne, die nicht untergeht, sehe die Rentiere bei der Rentierscheide in der hellen Nacht, und den Zwiespalt Ravnas, der jungen Polizeischülerin, der ersten Lappin in der Polizeischule in Oslo.
Eigentlich macht man die Dinge hier hoch im Norden unter sich aus. Regierung und Polizei haben keinen guten Ruf, die Älteren können sich noch gut erinnern, wie beide sie früher drangsaliert haben.
Und jetzt soll Ravna im Umkreis ihrer alten Bekannten ermitteln. Für die ist sie damit eine halbe Verräterin und für manchen Polizisten gehört sie zu den Verdächtigen. Obendrein hat sie die Leiche gefunden.
Und die lag da schon gut versteckt zehn Jahre nach einer Party von Teenagern, die alle eifrig getankt hatten und angeblich nichts gesehen haben. Oder sich nicht erinnern wollen?
Tolles Buch, spannend bis zur letzten Seite, auch wegen der ungewöhnlichen Umgebung und der Einblicke in das Leben der Samen zwischen Tradition und Moderne.
Atme
Nile kauft in einer Boutique ein Kleid. Ihr Freund wartet im Vorraum, als sie es anprobiert. Doch als sie zurückkommt, ist er fort. Die Verkäuferin kann sich nur erinnern, dass er da saß. Auf der Straße ist er auch nicht. Die Freunde, die sie anruft, behaupten, lange nichts mehr von ihr gehört zu haben.
Bis auf seine Ex-Frau, mit der Nile verfeindet ist …
Alle Menschen suchen Liebe.
Alle.
Und dabei ist Liebe so schwer zu finden.
Manche denken, dass man Liebe lernen kann. Dass man
sie berechnen kann. Oder bestellen. Dass man an sich selber
arbeiten muss. Oder am anderen. Dass man dafür sehr besonders sein muss. Oder so wie alle.
All das ist falsch. Das weiß ich. Denn das Einzige, was
man wirklich braucht dafür, das ist der passende Andere.
[…]
Der dich in
den Arm nimmt und sagt: Hab keine Angst. Der zu dir unter
die Decke schlüpft und sagt: Mach die Augen zu. Der nach
deiner Hand greift und sagt: Wir schaffen das. Oder: Du bist
schön. Oder: Alles wird gut.
Hüte dich vor allem vor seiner Exfrau, am allermeisten aber vor dem Vorhang
einer Umkleidekabine.
Halt ihn einfach fest, jede Sekunde.
Sonst kann es sein, dass du eines Tages auf der Straße
stehst und begreifst, dass etwas Schreckliches geschehen ist.
So wie ich.
Vor mir lärmen Autos von links nach rechts, hupen,
quietschen, stoßen stinkende Wolken aus …
Ein ganz ungewöhnlicher Krimi, in dem es gar nicht um eine Mordaufklärung geht. Eher darum, die Geschichte der Ich-Erzählerin aus den hingeworfenen Puzzleteilen zu rekonstruieren. Und warum sie so seltsam ist.
Judith Merchant hat sich völlig in ihre Hauptfigur verwandelt, wir erleben sie mit, ihre Geschichte, wie sie ihren Freund kennenlernt, auf den sie sich absolut verlässt, an den sie sich klammert und den sie verzweifelt sucht.
So entsteht ein spanndes Personenportrait anhand eines kriminellen Verschwindens, das den Leser in Bann schlägt und nicht mehr loslässt.
#atme #krimi #psychostudie
Der Werkzeugkasten einer Bestsellerautorin
Meisterklasse von Elizabeth George
Elizabeth George hat zahlreiche Bestseller geschrieben. Und einen sehr nützlichen Ratgeber für Schreibanfänger, „Wort für Wort“.
Jetzt lässt sie uns mit „Meisterklasse“ in Ihre Schreibwerkstatt blicken. Wie geht sie vor, wenn sie ein Buch schreibt? Sie schildert das genauestens am Beispiel ihres Buchs „Und die Sünde ist scharlachrot“.
Sie bleibt dabei nicht dabei stehen, einfach Rezepte zu verteilen: Schreib so, vermeide das, verwende jenes. Nein, sie zitiert ausführlich etliche Seiten aus ihrem Roman und wir verstehen, warum sie was geschrieben hat. Und welche Technik dahinter steht.
Ganz besonders interessant sind die Kapitel über die Entwicklung der Personen. Sie begnügt sich nicht mit Stichpunkten zum Ankreuzen (braune Augen, lange Haare), sondern lässt sich ganz in ihre Personen fallen, verfasst ausführliche Essays auch über Nebenfiguren. Wie denken sie, welche Lebenserfahrungen haben sie, was streben sie an, wo sind sie gescheitert? Allein diese umfangreichen Kapitel gehen weit über das hinaus, was man in üblichen Schreibratgebern findet und allein deshalb lohnt sich schon der Kauf des Buches.
Hinzu kommen Kapitel zu Erzählstimme und wie man eine Szene strukturiert. Auch da hat George einiges Neues zu sagen. Und auch zum Dialog finden sich neue Techniken. Statt nichtssagender Handbewegungen (er kratzte sich am Kopf) schildert sie im Dialog, wie die Personen weiter ihre Arbeit verrichten. Ein Erbauer von Surfbrettern überzieht seine Konstruktionen sorgfältig mit Harz, eine Farmerin gräbt während des Verhörs ihren Garten um. Allein wie sie das tun, verraten den Polizisten und den Leserinnen einiges über die Personen. Diese Technik des Dialogs habe ich noch nirgendwo vorher gelesen, dabei kenne ich mehr als hundert Schreibratgeber.
Nicht jeder wird genauso arbeiten wie sie, nicht alles taugt für jeden, aber allein dieser Blick in den Werkzeugkasten einer erfolgreichen Autorin hilft, die eigenen Techniken des Erzählens weiterzuentwickeln.
Gerade wegen der ausführlichen Beispiele bleibt es nicht bei grauer Theorie. Ein Buch über das Schreiben eines Romans, das im Regal jedes Anfängers und auch jeder Fortgeschrittenen stehen sollte.
Elizabeth George, „Meisterklasse“,, Goldmann,
ISBN 978-3442315628, 20 Euro, 416 Seiten, 3/2022
Die Selbstgerechten
Sahra Wagenknecht hat ein Buch geschrieben. Über unsere Gesellschaft, durch die ein Riss geht, die sich in unterschiedliche Filterblase aufteilt, und in der immer öfter nicht mehr diskutiert, sondern nur noch moralisiert wird.
Ich bin moralisch und jeder der meine Meinung nicht teilt, folglich minderwertig. Ganz neu ist dieser Effekt nicht, schon vor zweitausend Jahren sagte ein Pharisäer: »Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin, wie dieser Zöllner neben mir.«
Schon damals waren viele Intellektuelle voller Verachtung für die unteren Schichten der Bevölkerung. Sie liebten das Volk, hassten aber die Bevölkerung. FB und Internet haben diesen Effekt verstärkt und vor allem ist es mittlerweile »in« geworden, Menschen danach zu beurteilen, ob sie die gerade gängigen Worte benutzen, ob sie den letzten Schrei an moralischer Empörung teilen. Weiterlesen
Im Banne der AfD
„Jeder normale Mensch greift sich doch an den Kopf und würde fragen, ob wir noch alle Latten am Zaun haben. Ich habe so langsam keinen Bock mehr auf den Menschenmüll, der bei uns einläuft.“
Das schrieb 2018 kein AfD-Gegner, sondern ein Mitglied der AfD. Nicolai Boudaghi und Alexander Leschik berichten es im Vorwort Ihres Buches »Im Banne der AfD«. Jahrelang haben sie für diese Partei und deren Jugendorganisation gearbeitet, erreichten hohe Positionen. Bis sie sich eingestehen mussten, dass sie einem Irrweg gefolgt sind. Jetzt zogen sie einen Schlussstrich und haben über ihre Erfahrungen berichtet. Mit vielen Zitaten aus internen E-Mails, Foren und Veranstaltungen. Weiterlesen
Mao – das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes
Mao – der Trump der Kommunisten?
Neulich hat mich Mao angelächelt. Auf einem Buch, das an einen Zaun gelehnt zum Mitnehmen stand. Das passiert im Viertel hier häufig, dass Menschen die Bücher nicht wegwerfen, sondern zum Mitnehmen vors Haus stellen.
Ich habe Mao mitgenommen. Über Stalin wusste ich schon immer viel, die Begeisterung der Marxisten-Leninisten für ihn in den Siebzigern habe ich nie geteilt.
Aber Mao, der schien nicht so schlimm zu sein. Selbst viele Konservative fanden ihn toll.
Und für uns Jugendliche klang Kulturrevolution so verführerisch. Wir haben sie 1968 und später geliebt. Aufstehen gegen eingerostete Kultur, eingerostete Institutionen, Bürokraten. Nicht nur ich, auch viele andere junge Leute haben daran geglaubt.
Das Mao-Buch allerdings erzählt eine Geschichte darüber, die ich so nicht kannte.
Die Kulturrevolution war eine geschickte Intrige Maos. 1958-61 hatte er den großen Sprung nach vorne ausgerufen, überall brannten kleine Hochöfen und sämtliche nützlichen Dinge aus Eisen wanderten dort hinein. Den Bauern wurden die Lebensmittel abgepresst, die Mao ins Ausland verkaufte, um Geld für seinen Traum, die chinesischen Atombombe, zu bekommen. Er glaubte wirklich, dass China mit dem Eisen aus Mini-Hochöfen zur Großmacht werden würde.
1962 wagten dann doch einige Funktionäre den Aufstand. Erstmals kam zur Sprache, dass Millionen beim großen Sprung verhungert waren. Dass Maos Vorstellung, man müsse nur viel Stahl erzeugen, um zur Weltmacht zu werden und die USA zu überholen, ein gigantischer Schwindel war. Mao musste klein beigeben und den großen Sprung abblasen. Natürlich schob er anderen die Schuld in die Schuhe, den örtlichen Funktionären, der Sowjetunion und den Planungskommissionen. Nur einer war unschuldig; der Erfinder des großen Sprungs vorwärts, der Schrott produzierte und Millionen verhungern ließ:
Gott vergibt. Mao niemals. Liu chao Shi, der zweite Mann in der KP Chinas, hatte ihm widersprochen. Und mit ihm viele andere Funktionäre. Widerspruch vertrug Mao nicht und vergaß ihn nie.
So rief er die Kulturrevolution aus. Die Jugend sollte gegen die Bürokraten und die alte Kultur aufstehen. Sie tat es gerne, die Bürokratie war verhasst. Wie immer delegierte Mao die Aufgabe, diesmal an seine Frau Jiang Qin und an seinen Verteidigungsminister Lin Biao. Liu chao Shi wurde gedemütigt und in Isolationshaft genommen. Zahlreiche Funktionäre wurden durch die roten Garden gefoltert, getötet oder, wenn sie Glück hatten, nur öffentlich gedemütigt und zu »Selbstkritik« gezwungen.
Mao legte Quoten fest, die vorgaben, wie viele in jedem Bezirk verhaftet, wie viele ermordet werden mussten. Wer zu wenige erschoss, war ganz sicher ein Rechtsabweichler und musste ebenfalls verfolgt werden.
Das Ganze war nicht neu. Wie Stalin benutzte Mao andere Menschen und ließ sie beseitigen oder ins Arbeitslager schaffen. Die Taktik hatte er bereits seit der Gründung des ersten kommunistischen Staats 1931 in einer chinesischen Provinz angewandt. Um seinen Traum vom »neuen Menschen« zu verwirklichen, der allen Egoismus fahren ließ, nur für das Kollektiv lebte, immer die gleiche Meinung wie alle vertrat und sich auch gleich wie alle anderen kleidete. Wie Ché Guevara hasste Mao Individualismus.
Und wie viele Puritaner predigte er Wasser und trank Wein. Er selbst hungerte nie. Den Chinesen waren Bücher verboten, außer der roten Mao-Bibel. Mao wollte die Kultur nicht revolutionieren, er wollte sie »ermorden«. Unnützes Zeug, das die Menschen von der gesellschaftlich nützlichen Arbeit abhielt.
Er selbst besaß ein eigens konstruiertes Bett, damit die vielen Bücher, die er dort stapelte, nicht in der Nacht auf ihn fielen.
Jung Chang und Jon Halliday schildern Mao ausführlich mit zahlreichen Quellenangaben in »Mao – das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes«. Ein trauriges, aber notwendiges Buch, das den Aufstieg eines Intriganten schildert, der die Welt beherrschen wollte, jeden Widerspruch brutal unterdrückte und die Chinesen hungern ließ.
Das Buch zeichnet Maos Weg gut nach, leider verliert es einiges dabei aus den Augen. Anfang der Zwanziger hatte die KP Chinas knapp über vierzig Mitglieder, Anfang der Dreißiger konnte sie ihren ersten kommunistischen Staat in China gründen, Ende der Vierziger beherrschte sie das chinesische Festland.
Mao beherrschte die KP. Der Frage, warum so viele ihm nachgelaufen sind, geht das Buch leider nicht nach. Und auch nicht der Frage, warum das Konzept der leninistischen Partei, der »Führung der Arbeiterklasse«, nicht nur Mao und Stalin, sondern auch massenhaft weitere Bürokraten, Intriganten und Opportunisten hervorbrachte.
Auch in anderen Gesellschaften wimmelt es von Opportunisten und Intriganten in der Politik. Mit Trump haben wir gerade ein eindrückliches Beispiel erlebt. Genau wie Mao vertrug er keinerlei Widerspruch, glaubte, alles besser zu wissen als die Fachleute, schlug jeden Ratschlag in den Wind und entließ jeden, der ihm auch nur ein bisschen widersprach.
Aber die USA hatten seit langem Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit, die selbst ein Trump nicht abschaffen konnte, obwohl er es immer wieder versucht hat. Lenin hat beides bei seinem Revolutionskonzept völlig außer Acht gelassen. Die Rechnung wurde bald präsentiert, als Stalin an die Macht kam. Und später bei Mao wiederholte es sich. Kein unabhängiges Gericht konnte ihnen auf die Finger klopfen, keine freie Presse die gefälschten Erfolgszahlen anprangern, die Hungersnot und die Morde der Geheimpolizei aufdecken.
Das Buch hat mich traurig gestimmt, ich konnte es nur nach und nach lesen, weil es mich an meinen Idealismus und den zahlreicher Anderer erinnert hat. Und die Frage aufwirft, warum so viele Intellektuelle diesem Kriminellen nachgelaufen sind, überall sein Loblied sangen und jeden verteufelten, der ihnen widersprach. Schon damals gab es eine Cancel-Culture, die unbequeme Wahrheiten lieber unter der Decke halten wollte.
Aus Liebe zu Deutschland – ein Warnruf
Abdel-Samad ist in Ägypten geboren, lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Mich interessieren immer die Meinungen derer, die nicht hier geboren sind, aber unser Land gut kennen. Aus der anderen Perspektive sieht man vieles besser, das indigene Deutsche gar nicht wahrnehmen, weil es für sie selbstverständlich ist.
In seiner Jugend hat Abdel-Samad erlebt, dass Fragen, andere Meinungen, ein absolutes No-Go waren. Er kam nach Deutschland, weil er sich dort diese Freiheiten erhoffte. In diesem Buch schreibt er über Deutschland, das er liebt, aber auch über die Probleme, die er wahrnimmt.
»Deutschland ist das Produkt all dessen, was auf seinem Boden geschah, und es ist die Stimme aller Menschen, die hier leben. Es gibt für mich nur ein Deutschland, das viele Gesichter hat und viele Widersprüche vereint. […] Weiterlesen
Requiem für einen Freund
Eine Restaurantquittung, ein penibler Steuerprüfer und ein Berliner Korruptionssumpf
Der erfolglose Rechtsanwalt Vernau bekommt eine Steuerprüfung, ein pedantischer Prüfer zieht an seinem Schreibtisch ein und weckt ihn nachts, weil er Details über eine Restaurantquittung wissen will. Und dann liegt er erschossen auf Vernaus Schreibtisch. »Selbstmord« ordnet die Staatsanwaltschaft an. Wegen einer Restaurantquittung?
Vernau glaubt nicht daran. Und entdeckt bald seltsame Verbindungen. Denn auf der Restaurantquittung stand ein Freund von ihm, ein erfolgreicher Freund aus Studientagen, der Berliner Baulöwen berät, aber auch Politiker aus dem Senat.
Der Freund scheffelt damit Geld. Vernau verachtet und beneidet ihn gleichzeitig.
Elisabeth Herrmann entwickelt langsam ihre Geschichte, lässt uns das Berlin der Spekulanten erleben und einen Steuerprüfer, der sein Berufsethos ernst nimmt. Was ihm nicht gut bekommt. Überhaupt sind die Personen und mit ihren Verflechtungen, Netzwerken, ihren ganz unterschiedlichen Charakteren das, was uns Leser die Seiten umblättern lässt. Immer neue Facetten blitzen da auf und was eben noch sicher schien, dreht sich und erscheint plötzlich in neuem Licht.
Einzig die Auflösung am Schluss klingt etwas arg wie ein Info-Dump. Was nichts daran ändert, dass es ein spannender Roman ist, gut geschrieben, den zu lesen sich lohnt.
Rauklands Sohn
„Was hast du getan?“
Der Schrei trieb durch seine bleierne Müdigkeit. Ein Schatten wuchs über ihm, Hände krallten sich in sein Haar und rissen seinen Kopf zurück. Der Schatten war sein Vater.
Ronans Herz pochte so wild gegen seine Rippen, dass es schmerzte. Er konnte sich nicht rühren, es war, als läge eine tonnenschwere Felswand auf ihm. Nichts ergab einen Sinn.
Sein Vater schlug ihm ins Gesicht. „Du bist betrunken!“
Ronan ist der beste Schwertkämpfer rund um das ganze Nordmeer. Doch die Liebe zum Schwert ist die einzige Liebe, die er kennt. Dann legt ihn ein Mädchen mit vergiftetem Wein herein und seinetwegen verliert sein Vater, der König von Raukland, eine Schlacht. Der König ist nicht für seine Nachsicht bekannt, er lässt den Sohn auspeitschen und verbannt ihn auf eine einsame Insel im Nordmeer, die bisher noch ein unabhängiges Königreich ist. Das soll er für Raukland gewinnen, sonst verliert er Thron und Leben.
Doch diese Insel namens Lannoch hat strenge Vorschriften. Wer dort herrschen will, muss seine Tauglichkeit in mehreren Prüfungen beweisen. Die erste: Finde einen Freund. Ronans einziger Freund ist sein Schwert und das reicht nicht.
Da wird ein Schiffbrüchiger angespült. Ronan rettet ihn und glaubt, jetzt habe er seinen Freund gefunden. Doch so einfach ist das nicht …
Ich muss ehrlich sein. Ich bin nicht objektiv, was dieses Buch angeht. Denn ich habe es schon bei der Entstehung ein Stück weit begleitet und die Geschichte hat mich schon damals fasziniert. Spröde wie der Norden liest es sich und fasziniert gerade dadurch. Abenteuer, Schwertkämpfe und ein junger Mann, der seinen Weg finden und lernen muss, dass man mit dem Schwert allein keine Herzen erobert. Eine Coming of Age Geschichte der ganz eigenen Art, ein All-Ager und vor allem ein Buch, das auch Jungen jeden Alters wieder zu Lesen animieren könnte. Das man mit 16 ebenso verschlingt wie mit 60.
Leseprobe: http://www.jordis-lank.de/raukland-trilogie/1-rauklands-sohn/leseprobe/
Und der Zukunft zugewandt
Auf den Lügen aufgebaut
Antonia lebt seit zehn Jahren im Arbeitslager in Workuta. Als Kommunistin ist sie vor Hitler in die Sowjetunion geflohen, nicht in die Länder des Klassenfeindes. Und wurde wegen »Spionage« verurteilt. Ihr Mann wurde erschossen, weil er aus dem Lager ausbrach, um seine Tochter zu sehen.
1952 kommt sie frei. Als einzige Überlebende der kommunistischen Gruppe, mit der sie geflohen ist. In der DDR empfängt man sie freundlich, ihr wird eine Wohnung gestellt, sie erhält eine leitende Stellung. Die Kommunisten der SED haben ein schlechtes Gewissen.
Und sie wollen Stalins Säuberungen und Verbrechen geheimhalten. Sie muss eine Erklärung unterschreiben, dass sie niemandem erzählt, dass sie im Lager war und die Schergen der Kommunisten ihren Mann erschossen haben. Ohne Grund, in einem Verfahren, in dem es keine Verteidigung gab und das Urteil vorab feststand.
Wenn das bekannt wird, nützt es dem Klassenfeind, so die Begründung. Erzählt sie die Wahrheit, macht sie sich strafbar. Der Aufbau des Sozialismus ist auf Lügen aufgebaut. Heute würde man sagen: Fake News sind das Fundament.
Antonia glaubt weiter an den Kommunismus. Sie unterschreibt, dass sie nichts sagen wird. Und setzt sich für die neue Gesellschaft ein.
Beim Tod Stalins feiert sie mit Mithäftlingen. Und trinkt und ihr Liebhaber erfährt die Wahrheit. Die SED schlägt zu, sie landet im Knast.
Der Film greift die Lebenslügen der DDR auf. Was man sagen durfte und was nicht, was man wahrnehmen durfte und was nicht.
Die Lügen vergifteten den Staat. Sie sollten dem Sozialismus nützen und trugen doch und gerade deswegen zu seinem Untergang bei. Wer Probleme unter den Teppich kehrt, nicht über sie spricht, kann sie nicht lösen. Deshalb ist Meinungsfreiheit so eine Erfolgsstory. Und so nötig.
Großartige Schauspieler, ein hervorragendes Drehbuch und ein ebensolcher Film setzen all denen ein Denkmal, die so oft vergessen wurden. Den Kommunisten, die eine bessere Gesellschaft schaffen wollten und von dieser verraten wurden. Nicht vom Klassenfeind. Sondern von den eigenen Genossen und der eigenen Partei.
Ich gestehe, ich habe geweint, als ich aus dem Kino kam. Immerhin stamme ich auch aus der Generation 68, die den Sozialismus so verehrte. Und habe die vielen erlebt, die die Geschichte einfach nicht wahrhaben wollten, in DKP, den K-Gruppen, anderen linken Organisationen. Die in der Kneipe die Verbrechen zugaben und sie in der Öffentlichkeit und ihren Zeitungen leugneten. Und die sich heute immer noch im Verschweigen üben.
Mein Dank an die Filmemacher, die Schauspieler und alle die anderen, die zum Gelingen dieses Films beigetragen haben.
Und danke an die Tilsiter Lichtspiele, in dessen Minikino ich den Film sehen durfte!