Das Protokoll

Version 1.0.0

Von der Gleichheit aller Daseinsformen

Der Debütroman des damals 23jährigen französischen Schriftstellers Jean-Marie Gustave Le Clézio wurde mit dem renommierten Prix Renaudot ausgezeichnet, gleich zu Beginn ein Ritterschlag also für den späteren Nobelpreisträger. Er sei, hat die schwedische Jury in ihrer Begründung geschrieben, «ein Autor neuer Ansätze, poetischer Abenteuer und sinnlicher Ekstase, Erforscher neuer Menschlichkeit jenseits und unterhalb der herrschenden Zivilisation.» In dem außerordentlich informativen Vorwort zu seinem ersten Roman hat sich der junge Autor über das Verhältnis zwischen Schriftsteller und Leser folgendermaßen geäußert: «Es gibt einen Augenblick, in dem sich zwischen dem Erzähler und dem Zuhörer das Vertrauen einstellt und Gestalt annimmt. Dieser Augenblick ist vielleicht der Augenblick des ‹aktiven Romans›, dessen wesentlicher Faktor in einer Art Zwang zur Mitarbeit besteht. Wobei der Text nur ab und zu mit einer Prise Handlung nachhilft». Er möchte nicht an den veristischen Geschmack des Publikums appellieren, «mit Seelen-Zergliederung und Bilderbuch-Deutlichkeit, sondern an seine Gefühle.» Wie auch immer, eine Zuordnung seines Schreibens zum Nouveau Roman ist allenfalls sehr entfernt zu erkennen. In einem längeren Interview hat er später dann erklärt, seine Lieblings-Romanciers seien Robert Louis Stevenson und James Joyce.

Adam, der 29zigjährige Protagonist der Geschichte, hat sich in einer unwirtlichen, verlassenen Villa an der Côte d’Azur einquartiert und lebt dort ziellos und glücklich in den Tag hinein. Der introvertierte, seltsame Hausbesetzer weiß weder, wie er da hingekommen ist, noch ob er vorher im Militärdienst war oder im Irrenhaus. Als Eigenbrödler hat er kaum Kontakte zu anderen Menschen, auch nicht zu seinen Eltern, die er vor zehn Jahren Knall auf Fall verlassen hat. Äußerer Anlass dafür war damals eine von ihm zerbrochene blaue Schüssel, was den Vater sehr in Rage gebracht hat. Aber daneben war der Wunsch nach Freiheit außerhalb der elterlichen Sphäre ebenfalls mit im Spiel, Adam hat sich immer eingeengt gefühlt bei den Eltern und hat seither keinerlei Kontakt mehr mit ihnen. Auf endlosen Spaziergängen durch die Stadt und am Strand entlang sinniert er vor sich hin, beachtet jedes Detail in seiner Umgebung, hinterfragt den Sinn all dessen, was er wahrnimmt, spekuliert über die Zusammenhänge der Dinge. Er ist finanziell ständig abgebrannt, leiht sich kleine Beträge, ohne dass jemals von Rückzahlung die Rede ist oder vom Geldverdienen. Wovon er lebt, bleibt offen, wie auch so vieles Andere in diesem rätselhaften Roman, der nichts auserzählt und alle Realitäten souverän ausblendet.

Auch die junge Michelle, an die Adam öfter Briefe schreibt in seinem gelben Heft und die sie dort sogar beantwortet, steckt ihm manchmal Geld zu und versorgt ihn mit Zeitungen. Er schnorrt sich scheinbar überall durch. Hin und wieder stielt er zuweilen Kleinigkeiten in den Läden, er lebt immer nur von der Hand in den Mund. Die Natur und auch Tiere spielen in seinem Leben eine große Rolle, minutiös werden die maritim geprägte Landschaft, die Gärten und Strände, die Jahreszeiten und das mediterrane Wetter beschrieben. Wenn er Michelle trifft, aber auch bei allen anderen Begegnungen, hält er endlose Monologe, philosophiert über Gott und die Welt. Adam raucht viel, trinkt auch gern mal einen Schluck zuviel und landet am Ende des Romans zur Beobachtung in einer psychiatrischen Klinik. Dort läuft der Antiheld zur Höchstform auf, verblüfft das Ärzteteam mit seinen Erkenntnissen, scheinbar hat er sogar mal studiert, – er ist jedenfalls intellektuell auf Augenhöhe mit den Göttern in Weiß.

Stilistisch arbeitet Le Clézio mit den verschiedensten Textgattungen, baut Aufzählungen, Briefe, Zeitungsartikel und Formeln mit ein, spielt mit Auslassungen, Unterstreichungen, Schwärzungen und Tabellen in seinem Text. Der Versuch des Autors, eine Art Anti-Existenz zu beschreiben, sein Credo von der Gleichheit aller Daseinsformen, führt den Leser en passant durch ein Labyrinth philosophischer Fragen, die allesamt unbeantwortet bleiben, aber inspirierend wirken.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Die Nacht, die Lichter

Stories von den Underdogs

Die mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Geschichten-Sammlung mit dem Titel «Die Nacht, die Lichter» von Clemens Meyer enthält 15 betitelte «Stories», nach einer davon ist dann auch das Buch benannt. Schon die Genre-Bezeichnung weist darauf hin, dass hier in bester amerikanischer Erzähltradition knapp und pointiert berichtet wird, der Autor hat insbesondere Charles Bukowski als Referenz für sein Schreiben benannt. Es herrscht eine eher trostlose, oft sogar bedrückende Stimmung in diesen Kurzgeschichten über Antihelden, die einen Querschnitt der Außenseiter unserer modernen Gesellschaft abbilden. Es sind allesamt Männer mit Problemen, denen sie nicht gewachsen sind. Frauen spielen nur Nebenrollen, der Fokus in den Kurzgeschichten liegt eindeutig bei den Machos. Und so fehlen in diesen Erzählungen von den Schattenseiten des Lebens denn auch weitgehend emotional erfreuliche Aspekte in den Beziehungen der Figuren zueinander.

Clemens Meyer kennt das Unterschicht-Milieu, von dem er berichtet, aus eigener Erfahrung nur zu gut, er hat sich vor seinem Durchbruch als Schriftsteller jahrelang mit allerlei Aushilfsjobs durchschlagen müssen. Seine Äußerung: «Ich will Geschichten schreiben, die leuchten», muss demnach wohl als ein Alarmsignal aus der Düsterkeit seiner Stories umgedeutet werden. Denn nicht nur die Grundstimmung ist düster, fast alle seine Geschichten spielen in der Nacht. Schon das Buchcover zeigt ja als dunkles Bild die besudelte Theke einer Kneipe mit zwei leeren Gläsern und weist damit auf das Thema Alkohol hin. Der fließt in Strömen in diesen Geschichten, quasi einen roten Faden bildend durch die Trostlosigkeit des darin beschriebenen Lebens. In den meisten dieser Kurzgeschichten bildet der Suff den scheinbar unverzichtbaren Treibstoff des Geschehens. Es sind Heimatlose, von denen da so kundig erzählt wird, Hartz IV-Empfänger, Nachtschwärmer, Arbeitslose, Boxer, Barfrauen, Hundebesitzer, sogar Gabelstapler-Fahrer.

Der einsame Rentner zu Beispiel, dessen innig geliebter, alter Hund plötzlich vor Schmerzen kaum noch laufen kann, träumt von einer sündhaft teuren Operation, mit der man seinen treuen Begleiter noch zwei Jahre am Leben halten könnte. Weil er aber das Geld dafür nirgendwo auftreiben kann, will er mit Pferdewetten sein Glück erzwingen. Ein mittelmäßiger Boxer ist den Machenschaften hinter den Kulissen des korrupten Schaugeschäfts ausgeliefert und lässt sich für kleines Geld auf manipulierte Kämpfe ein, die hohe Gewinne beim Wetten versprechen. Und auch eine junge Frau will ausgerechnet beim Boxen Karriere machen, sie träumt schon von der ersten Liga, in die sie aufsteigen will. Als Zwei sich nach langer Zeit zufällig wiedertreffen, reden ein Mann und seine Ex-Freundin eine Nacht lang miteinander, – aber er weiß genau, zu einer Zweisamkeit wird es doch niemals kommen.

Es geht oft ums nackte Überleben in diesem von Alkohol, Drogen, Geldmangel, Arbeitslosigkeit, Schlägereien, Skandalen und Affären geprägten Buch. Jeder der ruhelosen Nachtschwärmer, Säufer, Junkies, Pechvögel, heimatlosen Träumer und Versagertypen hofft darauf, einmal in seinem Leben zu den Gewinnern zu gehören und nicht immer nur alle sich bietenden Gelegenheiten zu verpassen. Beschrieben wird ohne Larmoyanz, aber auch ohne jede Sozialkritik, das bei diesem Autor wie eine Epidemie auftretende, existenzielle Unglück seiner Figuren, seinen sozial Abgehängten und desillusionierten Versagern. Auffallend ist zudem, dass es zwischen den Figuren kaum mal zu nennenswerten, stimmigen Dialogen kommt, diese Sprachlosigkeit ist symptomatisch. Und es wimmelt geradezu von wohlfeilen negativen Klischees in diesen handlungsarmen Stories von den Underdogs aus dem Parallel-Universum des Clemens Meyer.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Fischer Verlag

Leben

In seinem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik ausgezeichneten, autobiografischen Buch von 2013 mit dem Titel «Leben» schildert der Schriftsteller David Wagner die Geschichte seiner Organ-Transplantation. Wegen einer Autoimmun-Hepatitis, die dazu führt, dass die Leber als Fremdkörper aus dem Organismus ausgestoßen wird, wartet er als todkranker junger Mann auf ein Spenderorgan. Das Buch beginnt mit einem Anruf aus dem Krankenhaus, in dem ihm mitgeteilt wird, dass eine passende Spenderleber gefunden wurde und er umgehend zur Operation kommen solle. Die Erzählung ist, deutlich markiert, in zwei Teile getrennt, in Vor und Nach der Operation. Gegliedert in 277 unterschiedlich langen, völlig ungeordneten Erzählschnipseln endet sie mit einem Epilog, in dem im Medizinerlatein vom Ergebnis der ersten Kontroll-Untersuchung berichtet wird, die routinemäßig ein Jahr nach dem Eingriff durchgeführt wurde und die zu einem positiven Ergebnis geführt hat.

So sehr er auch darauf gewartet hat, ein Spenderorgan zu bekommen, so sehr kommen ihm anfangs auch die Zweifel, ob er sich dieser sein ganzes Leben verändernden OP wirklich unterziehen soll. Es drängen sich ihm plötzlich viele Fragen auf: Wie wird sich das Leben für ihn ändern in dem Bewusstsein, ein fremdes Organ in sich zu tragen? Mit welchen Komplikationen muss er rechnen? Ist er danach wirklich noch der Selbe? Lebt er dann nicht auf Kosten des unbekannten Spenders? Ist so ein Leben überhaupt erstrebenswert? Lohnen sich denn die Opfer, die er dafür bringen muss? Und bekommt er mit der neuen Leber letztendlich auch wirklich die Chance, länger leben zu können? Solche Fragen stehen im Mittelpunkt dieser Erzählung von einer Transplantation, von der familiär auch sein Kind und sein Vater betroffen sind.

In vielen Rückblicken erzählt er Begebenheiten und Erlebnisse aus seinem Leben, berichtet von seinen Gedanken, Hoffnungen, Ängsten und seiner Verzweiflung. Er reflektiert über das Leben und über den Tod, über moralische Fragen, aber auch über die emotionalen Herausforderungen und Zumutungen, die seine Krankheit für ihn und die Seinen bedeutet, und natürlich auch über die Chancen, die sich damit für ihn ergeben könnten. Wie von einer Insel aus beobachtet er aus der Geborgenheit seines Krankenbettes heraus die medizinischen und pflegerischen Aktivitäten des Personals, das sich unermüdlich rund um die Uhr um ihn und seine Bettnachbarn und Leidensgenossen bemüht. Die Langweile eines zumeist im Bett liegend und vor sich hindösend verbrachten Tagesablaufs ermuntert manchen Kranken sogar zu Lebensbeichten. Sie reden also nicht nur über ihre Krankheiten und Gebrechen, sie berichten auch von Schicksals-Schlägen. So etwa der Libanese, der davon erzählt, dass er seine beiden Brüder im Bürgerkrieg verloren hat. Und da ist auch der Getränkehändler im Nachbarbett, der sich heimlich aus ihrem Zimmer davonschleicht, um seine Geliebte zu besuchen, wie er gesteht. Immer wieder schielt auch der Ich-Erzähler nach den Frauen, die ihn umsorgen und dabei Sehnsüchte in ihm wecken, deren er sich in seiner hilfsbedürftigen Situation durchaus schämt, die er aber partout nicht zu unterdrücken vermag.

Als Buch ohne Gattungsbezeichnung besteht «Leben» aus literarischen Miniaturen, die in ihrer Fülle und thematischen Vielfalt ein enges narratives Geflecht bilden. Darin enthalten sind neben Glücksmomenten voller Zuversicht auch dramatische Szenen des Überlebens-Kampfes und der Todesnähe. Die phonetische Nähe der dieses Buch prägenden Begriffe «Leben» und «Leber», die für den Ich-Erzähler ja fast identisch sind, führen dann prompt auch tatsächlich einmal dazu, dass er sie in einer SMS verwechselt. Stilistisch distanziert, oft essayartig  erzählt, wirkt dieses nachdenklich machende Buch gleichwohl berührend auf den Leser. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil er ja jederzeit selbst an einem solchen Kipppunkt seines Lebens stehen könnte.

Fazit:  lesenswert

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Genre: Belletristik, Essay
Illustrated by Rowohlt

Reise nach Laredo

Schade eigentlich

In seinem neuen Buch «Reise nach Laredo» hat Arno Geiger die beiden Genres historischer Roman und eskapistischer Roadtrip trickreich miteinander verbunden. Sein Protagonist ist der sterbenskranke Kaiser Karl V, der sich nach seiner Abdankung 1556 in seinen Palast neben dem Kloster Yuste in Spanien zurückgezogen hat. Zwei Jahre später, in der letzten Nacht vor seinem Tod, träumt er von einer Reise ans Meer, die den Hauptteil dieser Erzählung von der späten Selbstfindung eines Menschen bildet. Er war in den 58 Jahren seines Lebens wie in einer Blase eingebunden in eine völlig abgehobene, höfische Gesellschaft fernab vom realen Leben.

Schon die erste Szene zeigt den alten Kaiser nackt, als ein Mensch wie jeder andere auch. Der übergewichtige, kaum noch gehfähige und von opiumhaltigem Laudanum abhängige alte Mann wird mit einer speziellen Vorrichtung in einen Zuber mit warmem Wasser gehoben, um sich darin reinigen zu können, bevor er zu Bett geht. In der folgenden Nacht träumt Karl, wie er einen Jungen aus dem Garten zu sich heranwinkt und mit ihm ein Gespräch beginnt. Der aufgeweckte Elfjährige ist sein illegitimer Sohn, der als Page zum Palast gehört, aber natürlich nicht weiß, dass der abgedankte Kaiser sein Vater ist. Karl fordert ihn auf, um Mitternacht mit zwei gesattelten Pferden an der Klosterpforte auf ihn zu warten, sie würden sich beide heimlich auf eine weite Reise begeben, – Geronimo ist hellauf begeistert. Auf der beschwerlichen Flucht begegnet Karl allerlei Menschen, er durchlebt schwierige Situationen und Entbehrungen und zahlt einen hohen Tribut für seinen Drang nach Freiheit, ohne es aber jemals zu bedauern oder gar an Umkehr zu denken.

Zu einer kritischen Situation kommt es, als sie einer Gruppe von Ganoven begegnen, die ein junges Geschwisterpaar von Cagots in ihrer Gewalt haben, also Angehörigen einer rechtlosen Minderheit, die sich durch einen Gänsefuß aus rotem Stoff an der Kleidung kennzeichnen musste. Das Mädchen kommt ihnen nackt und laut schreiend entgegengelaufen, der ältere Bruder ist an seinen Wagen gebunden und wird bestialisch ausgepeitscht. Karl geht dazwischen, zieht schließlich sogar seine Pistole. Ungewollt löst sich ein Schuss, und einer der Männer hat plötzlich ein Loch im Hut, – woraufhin die brutalen Kerle eiligst Reißaus nehmen. Eine alte Bäuerin nimmt sich des geschundenen jungen Cagots an und pflegt ihn mit verschiedenen Kräutern gesund. Zu viert ziehen sie anschließend gemeinsam weiter und landen schließlich in der Toten Stadt, wo ehemals Silber abgebaut wurde. Dort bleiben sie für längere Zeit in einem Wirtshaus, Karl beginnt zu trinken und wird von dem heimtückischen Wirt beim Kartenspiel ausgenommen, bis er schließlich pleite ist. Verzückt entdeckt Geronimo im Hof der Wirtschaft einen Greif, den er als Symbol der Freiheit bisher nur als Motiv in einem Wandteppich des Palastes kennt. Nach heftigem Streit mit dem Wirt, in dem auch der Greif eine Rolle spielt, ziehen Karl und Geronimo weiter und landen schließlich am Atlantik, in dessen Wellen der Traum endet.

Vor allem gehe es ihm, hat der Autor im Interview erklärt, um Karl als Mensch, als «Privatmann», der in seinem privilegierten Leben niemals auf das nackte Menschsein zurückgeworfen war, er ist «ein Versehrter», fügte er hinzu. Wie reagiert einer, der Krone, Macht und Ruhm hinter sich gelassen hat und Freundschaft, Liebe und Freiheit erstmals erlebte? Und der erfährt, wie hart und entbehrungsreich dieses einfache Leben wirklich ist. Dabei hilft thematisch die Figur des lebensfrohen Geronimo als unbescherter Gegenpart zum eingeengten, angepassten höfischen Dasein, wie es Karl immer nur erlebt hat. Was die philosophischen «Weisheiten» anbelangt, mit denen der trübsinnig machende Roman zahlreich aufwartet, erweisen sie sich meist als belanglose Plattitüden. Den Leser erwartet letztendlich ein stilistisch anspruchslos erzählter, langweiliger Plot ohne Erkenntnisgewinn. Schade eigentlich!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Verletzlichen

Narratives Können und gedankliche Tiefe

Die amerikanische Schriftstellerin Sigrid Nunez hat in ihrem neuesten Roman «Die Verletzlichen» die Zeit der Corona-Pandemie mit allen ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft thematisiert. Schon mit dem Buchtitel wird auf Covid 19 hingewiesen, denn vulnerabel waren nicht nur Alte und Vorerkrankte, unter dem Lockdown litten auch die medizinisch nicht betroffenen Menschen. Die Autorin und ihre namenlose Protagonistin sind beide Schriftstellerinnen im Alter um die siebzig, wohnen in New York, arbeiten als Dozentinnen für kreatives Schreiben. Sie sind kinderlos, beide unverheiratet geblieben, und sie lieben Tiere, quasi als die besseren Menschen. In diesem zeitlich im Frühjahr 2022 angesiedelten, autofiktionalen Roman markiert ein kleiner Papagei, ein grüner Ara namens Heureka, narrativ eine rote Linie durch den fast ereignislosen Plot, denn gerade diese Spezies leidet ebenso unter Einsamkeit wie der Mensch, kann daran sogar zu Grunde gehen.

Eine in einem anderen Bundesstaat lebende Freundin bittet die alternde Protagonistin, sich um einen Ara zu kümmern, der in einer luxuriösen New Yorker Wohnung ganz in ihrer Nähe Opfer des Lockdowns geworden ist. Denn sein mit ihr eng befreundetes Besitzerpaar wurde auf einer Reise von der Pandemie überrascht und kann nun wegen der strengen Restriktionen nicht mehr zurückkehren. Und so geht die Protagonistin täglich für mehrere Stunden in die fremde Wohnung, nicht nur um den Papagei zu füttern, sondern auch, um mit ihm zu spielen und zu ihm zu sprechen. Eines Tages ist plötzlich ein junger Mann in der Wohnung, der schon vor ihr den Vogel versorgt hatte und sich nun wieder um ihn kümmern will. Trotz des großen Altersunterschieds und dem anfänglichen Unmut zwischen den Beiden kommt es zu interessanten Gesprächen zwischen ihnen zu den verschiedensten Themen, wobei ihr lebhafter Gedanken-Austausch manchmal sogar durch gemeinsames Kiffen wohltuend beflügelt wird.

In der typisch amerikanischen, schnörkellosen Schreibweise verfasst, ähnelt dieses Buch durch seine Fülle an tiefgründigen Gedankengängen eher einem Essay als einer autofiktionalen Erzählung. Der Papagei dient der Autorin dabei als Katalysator für ihre Selbst-Beobachtungen zu Themen wie Älterwerden, Einsamkeit und Erinnern sowie den Schreibprozess als solchen, wobei sie auf Texte, Zitate und Äußerungen von berühmten und weniger bekannten Kollegen aus der schreibenden Zunft zurückgreift. Es ist ein Füllhorn literarischer Erfahrungen und Erkenntnisse, die sie unermüdlich vor dem Leser ausbreitet, immer eng verbunden mit dem Schreiben als schöpferische Tätigkeit, an der die raue Wirklichkeit gespiegelt wird. Wer halbwegs belesen ist, begegnet bei der Lektüre so manchem ihm wohlbekannten Schriftsteller. Man wird allerdings auch mit amerikanischen Autoren konfrontiert, deren Namen man noch nie gehört hat, die nicht auf der eigenen Leseliste stehen und deren Bedeutung man als an die deutsche Sprache gebundener Leser nicht einzuschätzen vermag. Sigrid Nunez trifft mit ihrem melancholischen Roman einen Nerv der Zeit, der die eigene Verletzlichkeit ebenso aufzeigt wie die vielen Leerstellen in den zwischen-menschlichen Beziehungen, die das Miteinander erschweren oder sogar völlig unmöglich machen.

Obwohl vom Stil her essayartig angelegt, wird diese allumfassende Erkundung des eigenen Innenlebens leichthändig, oft humorvoll und unterhaltend erzählt, ohne dadurch an Relevanz einzubüßen. Besonders stechen dabei die vielen Anekdoten der zitierfreudigen Autorin hervor, die pointiert fast alle Felder der Literatur abdecken. So ganz nebenbei gewähren sie viele erhellende Einblicke in eine Kunstgattung, die wie keine andere als unabdingbare Voraussetzung für die kulturelle Entwicklung des Homo sapiens gelten muss. Narratives Können und gedankliche Tiefe verbinden sich hier auf unterhaltsame Weise zu einer lang nachwirkenden Lektüre.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Wild nach einem wilden Traum

Der jüngst erschienene Roman «Wild nach einem wilden Traum» von Julia Schoch ist der letzte einer unter dem Titel «Biografie einer Frau» erschienenen, unabhängig voneinander zu lesenden Buchreihe. Auf dem Umschlag des Buches hat sie dazu erklärt: «Was ich in der Trilogie erzähle? Dass wir unterschiedliche Rollen im Leben haben und oft nicht wissen, was wir für andere sind. In den drei Büchern möchte ich Gerechtigkeit walten lassen. Ein Wunschtraum, vielleicht. Aber ein schöner.» Herausgekommen ist dabei zum Abschluss nun dieser autofiktionale Roman, in dem von einer Schriftstellerin aus Mecklenburg-Vorpommern erzählt wird, die an einem Kipppunkt ihres Lebens steht. Die namenlos bleibende Protagonistin des Romans erzählt in zwei Handlungs-Strängen von der Liebesaffäre mit einem Mann und von der für ihr Leben folgenreichen Begegnung als Mädchen mit einem jungen Soldaten.

Anlässlich eines Stipendiums in den USA lernt sie als angehende Schriftstellerin einen spanischen Kollegen kennen, der nicht müde wird zu betonen, er sei Katalane. Was sie als in der DDR aufgewachsenes Kind sehr erstaunt, war doch die Wiedervereinigung der zwei deutschen Staaten für sie ein endlich wahr gewordener, lang ersehnter Traum. Der ebenfalls namenlos bleibende Katalane hingegen träumt von der staatlichen Abtrennung seiner Region von Spanien. Sie ist fasziniert von diesem charismatischen Mann, der als Schriftsteller bereits sehr erfolgreich ist, und sucht bei den abendlichen Gesprächen der Stipendiaten seine Nähe. Denn er ist auch ein begnadeter mündlicher Erzähler, dem alle gern zuhören. Als er ihr wenige Tage später nach einem Abendessen per Handzeichen signalisiert, er erwarte sie in fünf Minuten in seinem Zimmer, folgt sie ihm ohne Zögern. Sofort, ohne jedes verliebte Vorgeplänkel, haben sie einfach nur rauschhaften Sex miteinander. Unmittelbar danach reden sie dann wieder über Literatur und das Schreiben, für das sie ja alle hierher gekommen sind, in die ablenkungsfreie Ruhe einer ländlichen Ödnis nahe New York.

Die Begegnung der damals zwölfjährigen Protagonistin mit dem jungen NVA-Soldaten aus der benachbarten Garnison am Stettiner Haff, in der auch ihr Vater als Offizier stationiert ist, markiert einen zweiten Kipppunkt ihres Lebens. Sie trifft ihn zufällig bei einem Spaziergang im Wald, wo er Pilze sucht, unterhält sich angeregt mit ihm, und bald treffen sie sich dann regelmäßig an gleicher Stelle. Er ist sehr an Literatur interessiert und bestärkt sie wirkungsvoll in ihrem «wilden Traum», eine Schriftstellerin zu werden. Beide Themen, die Liebe und die Schriftstellerei, werden in diesem Roman abwechselnd und in parallelen Handlungssträngen mit allerlei philosophischen Gedankengängen verknüpft. Erzählerisch auffallend distanziert, quasi nebenbei, erfährt der Leser dass die Protagonistin verheiratet ist, zwei Kinder hat, früher gerne mit ihrem Mann gereist ist und ihn jetzt nur noch manchmal zum Essen in einem Restaurant trifft. Mehr erfährt man nicht dazu!

Julia Schoch nähert sich ihrer Thematik völlig emotionslos. Der Katalane im Roman ist Liebhaber der Ich-Erzählerin für wenige Wochen, von einer verzehrenden Liebe ist hier nicht die Rede. Ihre Affäre mit ihm war letztendlich nur der Anstoß für die Protagonistin, ihr bisher eher langweiliges, angepasstes Leben neu zu  ordnen. Es geht um das Verstehen in diesem Roman eines Frauenlebens, um die Wechselwirkungen des Lebens und des Schreibens, letztendlich um die Frage, was wahr ist. Schafft das Schreiben eine neue Wahrheit? Verändert das Schreiben die Wahrheit? Ist Liebe Wahrheit oder Illusion? Ist Liebe überhaupt ein eindeutiger Begriff? Wie verändert Zeit die Liebe? Kann Literatur Wirklichkeit schaffen? In stilistischer Form des Bewusstseinstroms geht ein wahrer Regen an Fragen auf den Leser nieder, die ihn förmlich zu kontemplativer Mitwirkung anregen, vielleicht sogar dazu zwingen. Wenn Literatur das schafft, hat sie wahrhaftig ihren Zweck erfüllt!

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Die Vegetarierin

Vielschichtig und lange nachwirkend

Das bisher wohl beste und auch bekannteste Werk der gerade erst mit dem Nobelpreis ausgezeichneten, südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang mit dem Titel «Die Vegetarierin» wurde 2016 mit dem ‹Booker Prize International› geehrt als bester fremdsprachiger Roman. Die Feuilletons feierten das in mehr als 25 Sprachen übersetzte und inzwischen auch verfilmte Buch in höchsten Tönen. Wie schon in anderen ihrer Romane ist auch hier ein Traum der Auslöser für das thematisch an Kafka erinnernde, verstörende Geschehen. «Ich hatte einen Traum» ist die immergleiche Erklärung der Protagonistin für ihre plötzliche Obsession, mit der die Abwärts-Spirale zu den letztendlich sogar ihre Existenz vernichtenden Wahnvorstellungen zunächst scheinbar ganz harmlos beginnt.

«Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar», lautet der erste Satz. Und lakonisch weiter: «So fühlte ich mich weder von ihr angezogen noch abgestoßen und sah daher keinen Grund, sie nicht zu heiraten.» Alle seine Versuche wie auch die ihrer Familie bleiben erfolglos, Yeong-hye  von ihrer abrupten, kompromisslosen Entscheidung abzubringen, auf Fleisch zu verzichten, was in Korea schon fast als Sakrileg gilt. Das und ihre Ablehnung, einen BH zu tragen, führt schon bald zu einer für den Ehemann höchst peinlichen Situation. Als sie nämlich zum Essen mit seinem Chef eingeladen sind, wird ihr Vegetarismus zum Diskussions-Thema, und auch die sich unter ihrer dünnen Bluse deutlich abzeichnenden Brustwarzen sind für alle am Tisch recht peinlich.

Zwei Jahre später, im zweiten Teil des dreiteiligen Romans mit dem Titel «Der Mongolenfleck» wechselt die Perspektive zum Schwager von Yeong-hye, der als Video-Künstler arbeitet. Inspiriert von einer Theateraufführung möchte er ein neues Projekt angehen, bei dem sich ein am ganzen Körper mit Blumen bemaltes Paar eng umschlungen wie im Tanz bewegt. Er beschließt, seine inzwischen in Scheidung lebende Schwägerin Yeong-hye zu fragen, ob sie bereit wäre, für ihn Modell zu stehen und sich nackt bemalen zu lassen. Denn er weiß, dass sie ein als Mongolenfleck bezeichnetes Muttermal trägt, auch das eine Inspiration für ihn. Ohne Zögern sagt sie zu und lässt sich in seinem Atelier mit Blumen bemalen, wobei er den gesamten Arbeitsprozess per Video aufzeichnet. Er bitte sie, die Bemalung nicht abzuwaschen und noch ein zweites Mal zu kommen, um nun zusammen mit einem Kollegen Modell zu stehen. Sie ist bereit dazu, er bemalt auch den jungen Mann und fordert die beiden Nackten dann auf, sich miteinander in erotischen Posen zu bewegen, wobei er sie filmt. Während Yeong-hye keine Probleme damit hat und sogar bereit wäre, Sex mit dem Mann zu haben, bricht der Kollege die nach seiner Ansicht pornografisch werdende Aktion ab. Sie sein feucht geworden, gesteht sie dem Video-Künstler danach, lehnt es aber ab, statt mit dem Kollegen doch mit ihm zu schlafen. Es wäre die Bemalung des Mannes gewesen, die sie so erregt habe. Daraufhin lässt er sich sofort von einer ehemaligen Kollegin selbst bemalen und fährt noch in der gleichen Nacht zu Yeong-hye, wo sie rauschhaften Sex haben. Als seine Frau die Bemalten morgens im Bett findet, ruft sie den Notarzt, der die beiden ja ganz offensichtlich Geisteskranken in die Psychiatrie einweist.

Aus der Perspektive der Schwester wird im dritten Teil lakonisch der verhängnisvolle Abwärtsstrudel beschieben, der mit dem Erlöschen der Existenz von Yeong-hye endet, die schließlich glaubt, ein Baum zu sein. Der aus ursprünglich drei Novellen entstandene, abgründige Roman thematisiert subversiv, in einer betont nüchternen Sprache, das Unverständnis einer abweichenden Ernährungsweise gegenüber, ferner die Gefahren eines moralisch unkonventionellen Verhaltens und letztendlich eine Psychose, die apokalyptisch endet. Dieser vielschichtige Roman, der auf ganz verschiedene Weise gedeutet werden kann, wirkt thematisch, aber auch wegen seiner stilistischen Schlichtheit sehr lange nach.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Umlaufbahnen

Raumfahrt für Träumer

Der 2024 mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnete Roman der englischen Schriftstellerin Samantha Harvey hat eine ungewöhnliche Thematik. Er beschreibt einen Tag in der ISS, der internationalen Raumstation, die seit 1996 die Erde in etwa 400 Kilometer Höhe umkreist. Dem Buch ist eine Grafik vorangestellt, auf der die sechzehn ca. 90 Minuten langen Erdumkreisungen dargestellt sind, denen die sechzehn Kapitel des Buches entsprechen. Auslöser für ihren Roman war, wie die studierte Philosophin bekundet hat, eine spezielle Form des Eskapismus gewesen, ihre Sehnsucht nach dem Gefühl des Schwebens, im Übrigen aber war die reine Schönheit ihr Antrieb.

Die sechsköpfige Crew der Station besteht aus zwei Frauen und vier Männern, die mit unterschiedlichen Aufgaben betreut, im ständigen Kontakt mit der Bodenstation verschiedene wissenschaftliche Experimente durchführen. Sechzehn Mal am Tag geht für sie die Sonne auf und wieder unter, was ebenso Auswirkungen auf ihren Körper hat wie die permanente Schwerelosigkeit, der sie ausgesetzt sind. Täglich kontrollieren sie deshalb alle Körperfunktionen, analysieren permanent ihre Laborwerte, machen Aufzeichnungen über ihr seelisches Befinden. Neben diesen alltäglichen Tätigkeiten beobachten sie immer wieder die Erde, was sich im Roman zu gefühlt hundertfach wiederholten Schilderungen der Kontinente und Meere niederschlägt, über die sie hinweg fliegen. Wobei die «reine Schönheit» in immer neuen Formulierungen wiederkehrender Gegenstand dieser poetischen Beschreibungen ist. «Natural Writing» in einer fürwahr extremen Form, weil ja der Planet Erde nur immer aus dem gleichen Blickwinkel, aus 400 Kilometern Höhe beschrieben wird.

Das wird mit der Zeit ähnlich langweilig wie die Aktivitäten in der Raumstation selbst. Dem begegnet die Autorin, indem sie in vielen Rückblicken von der familiären Vorgeschichte der Crewmitglieder erzählt. Sie schildert den schwierigen Weg ihrer Figuren als künftige Astronauten und Kosmonaten, einen Traum, der sich ja nur für eine verschwindend kleine Anzahl von Bewerbern erfüllt. Die Rivalitäten zwischen den amerikanischen Astronauten und den russischen Kosmonauten an Bord manifestieren sich schon allein in der abweichenden Bezeichnung. Vor Beginn an hatten die Russen ganz unbescheiden ihre Ambitionen für die Raumfahrt mit «Kosmos» deutlich weiter gesteckt als die USA. Die aber waren seit dem 20. Juli 1969 schon sechs Mal auf dem Mond, ein Russe bis heute nicht. Da wundert man sich dann auch nicht als Leser, wenn es auf der Raumstation eine Toilette nur für Amerikaner gibt und eine separate für Russen. Natürlich wird auch die Geschichte der bemannten Raumfahrt behandelt, von der Explosion der Raumfähre Challenger im Jahre 1986 bis zu den verschiedenen Missionen zum Mond. Der Tod ist ständiger Begleiter dabei.

Es sind im Übrigen die großen Fragen der Menschheit, die von der Autorin angesichts der bestaunten Kulisse von Mutter Erde behandelt werden. Dabei bezieht sie die Kunst mit ein in ihre philosophischen Betrachtungen, zum Beispiel den Roman «Die Wellen» von Virginia Woolf mit einem ähnlichen Setting. Immer wieder wird auch das berühmte Gemälde «Las Meninas» von Velázquez herangezogen zur Verdeutlichung der Perspektive auf das Dargestellte. Der Kontrast zwischen der Winzigkeit der menschlichen Existenz angesichts der Großartigkeit des blauen Planeten und der Unendlichkeit des Weltalls ist Thema dieses Romans, der weder eine Handlung noch so etwas wie einen Spannungsbogen aufzuweisen hat. Was man als Leser der Lektüre dieses Romans zu verdanken hat, das ist das Weiten der Perspektive über den begrenzten Radius hinaus, an den das Erdendasein uns unerbittlich fesselt. Ganz unwillkürlich löst dieser Roman zwar auch viele rationale Fragen aus zum Thema Raumfahrt, aber eigentlich ist er ja wohl doch eher zum Träumen gedacht!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Findet mich

Eher verstörend als unterhaltend

In ihrem Debütroman «Findet mich» zeichnet die Schweizer Schriftstellerin Doris Wirth das düstere Bild eines Mannes in einer psychischen Krise, die sich zu einer handfesten Psychose auswächst. Dabei beschreibt sie nicht nur den Krankheitsverlauf ihres Protagonisten, sie schildert vielmehr in allen Details auch dessen familiäres Umfeld, das unter den Symptomen seiner Erkrankung am meisten zu leiden hat. Oberflächlich betrachtet könnte man von einer späten Midlifecrisis des gerade arbeitslos gewordenen 51Jährigen sprechen, aber die Ursachen für sein zunehmend krankhafter werdendes Verhalten liegen in Wahrheit tief in ihm selbst, sein Seelenfrieden ist massiv gestört. Der narrative Rahmen des Romans beginnt mit der unangekündigte Flucht seines Protagonisten Erwin, der sich eines Tages einfach in sein Auto setzt und seine Familie im Kanton Zürich mit unbekanntem Ziel verlässt, und er endet mit dem pflegebedürftigen, kaum wieder zu erkennenden Kranken, nur noch ein Schatten seiner selbst, der nach langer, intensiver Therapie wieder zu Hause ist.

In einem fünf Generationen umfassenden Prolog führt Florence, die erwachsene Tochter von Erwin und Maria, den Leser als Ich-Erzählerin in die familiäre Geschichte ein. Aus auktorialer Perspektive wird dann im ersten Teil des Romans der Aufbruch von Erwin geschildert, der seinen rigorosen Rückzug aus der Familie als Spiel begreift, immer nach dem titelgebenden Motto: «Findet mich». Er wird, hat er sich vorgenommen, höchstens hier und da mal eine Spur von sich hinterlassen, hält sich aber für so clever, sich trotzdem nicht erwischen zu lassen bei seiner Flucht. Denn er fühlt sich klar überlegen und lacht bei dem Gedanken, was er da alles auslösen wird bei der bald beginnenden, hektischen Suche nach ihm. Aus Erwins Innensicht erzählend, oft in der narrativen Form des Bewusstseinsstroms, schildert die Autorin die vordergründigen Motive für seine odysseeartige Irrfahrt aus der für ihn unerträglich gewordenen Realität in eine imaginierte, rosige Zukunft. Er träumt vom geradezu archaischen Leben in unverfälschter Natur, frei von allen lästigen Zwängen und von den nervtötenden, alltäglichen Querelen, insbesondere die mit seinen beiden Kindern. Florence leidet an Bulimie, und Lukas ist ein Kiffer, der sich nicht für die Schule. sondern nur für seine Musik interessiert.

Aus ständig wechselnden Perspektiven und zeitlich vor und zurück springend beschreibt Doris Wirth sehr anschaulich und nachvollziehbar ihren Protagonisten als einen naiven Freigeist, der untertaucht in ein vermeintlich wildes Abenteuer. Er wird dargestellt als kompromissloser Aussteiger aus dem verachtenswert angepassten und miefigen Leben des typischen Spießbürgers zwischen Arbeit, Kleinfamilie und dem obligatorischen Feierabendbier. Der dann auch noch jeden Samstag vor der Garage sein Auto auf Hochglanz poliert wie all die Nachbarn auch. Seine Tochter Florence, aber auch sein Sohn Lukas fordern mit ihrer nachlässigen Lebensweise zunehmend seinen Unmut heraus, er ist bald nicht mehr bereit, ihren Schlendrian und die Faulheit hinzunehmen, die sie an den Tag legen im familiären Zusammenleben. Am Ende rastet er schon beim kleinsten Anlass aus und brüllt die Beiden völlig unbeherrscht an, ohne damit allerdings irgendwas ändern zu können. Seine Frau steht auf Seiten der Kinder und versucht ihn zu bremsen, meistens allerdings vergeblich.

In kurzen Sätzen und bunt durcheinander werden die Ereignisse aus wechselnder Perspektive aller vier Familienmitglieder sehr ausführlich geschildert, oft auch als innerer Monolog, wobei eine gewisse Orientierungslosigkeit erkennbar ist, die familientypisch zu sein scheint. Jeder von ihnen sucht seine Freiräume, nicht nur der Vater, der dies am konsequentesten tut, ausgedrückt nicht nur durch seine irre Flucht, sondern auch durch sexuelle Kapriolen, die seine Frau zu akzeptieren gezwungen ist. Konsequent am Thema einer Reise in die unbekannten Tiefen einer Psychose bleibend, wirkt dieser Roman als Lektüre eher verstörend als unterhaltend.

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Geparden-Verlag Zürich

Kaltblütig

Ohne den genre-typischen Horror

Mit «Kaltblütig», seinem bekanntesten Werk, hat der amerikanische Schriftstellers Truman Capote das neue literarische Genre New Journalism  geschaffen, den Tatsachenroman. Darin schildert er mit den narrativen Methoden einer literarischen Erzählung den im November 1959 tatsächlich passierten, vierfachen Mord an der Familie des Farmers Clutter im Westen des US-Staates Kansas. Darauf aufmerksam geworden ist er durch einen Artikel in der Zeitschrift «The New Yorker». Er begann schon bald mit umfangreichen Recherchen zu dem großes Aufsehen erregenden Fall. Sein Buch erschien dann sechs Jahre später. Er musste sogar warten, hat er erklärt, bis die Hinrichtung der beiden Täter nach verfahrens-technischen Verzögerungen dann auch tatsächlich stattgefunden hatte. Und wer nicht vorinformiert ist als Leser, dem winkt natürlich der größte Lesegewinn, was spätestens ab dieser Stelle hier wirklich wohlmeinend zur Nachahmung empfohlen wird!

Aus wechselnden Perspektiven erzählend berichtet der Autor zunächst sehr ausführlich von der Familie Clutter, deren Oberhaupt es als strebsamer, prinzipientreuer Farmer zu einigem Wohlstand gebracht hat. Er ist als fairer Arbeitgeber bei seinen Arbeitskräften sehr beliebt und zahlt gut. Im Haus wohnen außer den Eltern die halbwüchsige Tochter Nancy und der kleine Kenyon. Zwischen die Beschreibungen der Opferfamilie wird immer wieder mal ein kurzer Schwenk zu den Tätern eingefügt, dem 28jährigen Dick und seinem 31jährigen Kumpel Perry. Die Beiden kennen sich aus dem Gefängnis, wo sie für unterschiedliche Straftaten einige Jahre eingesessen haben. Dick hat ebenfalls dort von Floyd Wells, einem Mitgefangenen, von der Farm der Clutters gehört, wo Floyd ein Jahr lang gearbeitet hat. Dort im Büro befände sich ein Tresor, der tausende von Dollars enthalten müsse, so reich wie Clutter ist. Nach ihrer Entlassung beschließen Dick und Perry, diese Farm, die sie nur aus der Erzählung kennen, nachts zu überfallen. Um nicht erkannt zu werden, wollen sie sich schwarze Damenstrümpfe über den Kopf ziehen. Die sind aber nirgendwo zu bekommen in der dünn besiedelten, ländlichen Gegend. Der Überfall findet statt, ein Tresor aber ist nicht vorhanden, denn Mr. Clutter hat aus Prinzip nie Bargeld im Haus, er zahlt immer nur mit Scheck. Als Bargeld aus den verschiedenen privaten Geldbörsen der Familie kommt letztendlich nur ein Betrag von 40 Dollar zusammen, ein Fiasko für die Verbrecher. Denn ohne Maskierung müssen sie ja alle Anwesenden als Augenzeugen töten, um unerkannt zu bleiben. Und das tun sie denn auch, absolut kaltblütig!

Die Polizei steht vor einem Rätsel, es wurden kaum Spuren hinterlassen, und es fehlt vor allem auch ein Motiv für die schrecklichen Morde, mit dem sich ein Täterkreis eingrenzen ließe. In der kleinen Ortschaft kursieren die wildesten Gerüchte, aber die Clutters waren als brave Kirchgänger überall sehr beliebt, niemand hätte einen Grund gehabt, sie alle umzubringen. Die um drei Beamte des FBI verstärkte Mordkommission bekommt nach drei Monaten plötzlich einen Tipp von Floyd Wells, der als Informant für die Tat lange gezögert hat, sich zu melden, weil er nicht mit hineingezogen werden wollte. Nun geht alles ganz schnell, die Täter werden gefasst, vor Gericht gestellt und zum Tod durch den Strang verurteilt.

Minutiös berichtet Truman Capote von der spannenden Ermittlungsarbeit, dem komplizierten Prozessverfahren, und er legt zudem geradezu sezierend die psychologischen Defekte der Täter offen, denen bis zuletzt, bis zum Galgen, aber jedes Unrechts-Bewusstsein fehlt. Auch hier gilt «Der Weg ist das Ziel», dieser journalistisch präzise erzählte Bericht ist eine bereichernde Lektüre, die so ganz ohne die genretypischen Horror-Szenarien auskommt.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Die Glücklichen

Bonjour Tristesse

Die Schriftstellerin Kristine Birkau hat für ihren schwermütigen Debütroman den ironischen Titel «Die Glücklichen» gewählt. Denn Glück ist es ja gerade nicht, über das sie da schreibt, es sei denn, man ist psychisch ein Masochist, der seinen eigenen sozialen Abstieg genießen kann. Der vor zehn Jahren erschienene Roman erweist sich im Nachhinein als geradezu prophetisch, indem er konkret soziale Ängste beschreibt, die sich inzwischen sogar schon politisch, im Wahlverhalten der jungen Generation nämlich, nieder zu schlagen beginnen, eine latente ökonomische Skepsis hat inzwischen die Oberhand gewonnen, Zuversicht war gestern!

Mit scharfem Blick für verborgene Details beschreibt die Autorin ein junges Paar aus dem Mittelstand, das sich über ihren zweijährigen Sohn freut und ihn liebevoll umsorgi, ja geradezu verhätschelt. Ehemann Georg ist Journalist bei einer großen überregionalen Zeitung, Isabell spielt Cello im 15köpfigen Ensemble eines Musical-Theaters. Sie leben als überzeugte Großstädter komfortabel in einer schönen, geräumigen Wohnung, ihre Ehe ist harmonisch, und der kleine Matti macht das familiäre Glück vollkommen. Aber schon auf Seite Zwei des Romans deuten sich Störungen dieser von der Gesellschaft allgemein als selbstverständlich angesehenen Komfortzone an, in der man sich wohlversorgt und unbeschwert tummelt. Isabell hat nach der Mutterpause Schwierigkeiten, als Mitte-Dreißigjährige in ihren Beruf als Cellistin zurück zu kehren. Ihre Hände zittern zuweilen völlig unkontrolliert, sie findet einfach nicht mehr in ihr souveränes Spiel von früher zurück. Alle ihre Bemühungen scheitern, die Ärzte können ihr nicht helfen, es scheint ein psychisches Problem zu sein, mit dem sie es da zu tun hat, kein physisches. Trotz diverser Psychotherapien gelingt es ihr aber nicht, sich aus diesem beruflich katastrophalen Dilemma zu befreien, sie verliert schließlich bei einer anstehenden Verkleinerung des Ensembles völlig resigniert ihren Job.

In Verlagskreisen tauchen schließlich Gerüchte auf, die Zeitung, für die Georg arbeitet, würde verkauft werden, andere sprechen gar von Auflösung des Verlags. Auch hier setzt sich die Spirale nach unten für das junge Paar fort, denn auch Georg verliert seinen Arbeitsplatz, beide leben nun von Arbeitslosengeld. Isabell gibt fortan Musikunterricht, springt gelegentlich schon mal als Cellistin ein und bewirbt sich, allerdings vergeblich, auch mit einem Vorspiel bei einer Tanzkapelle. Der 42jährige Georg bewirbt sich erfolglos für alle möglichen Stellungen. Er muss viele Angebote ausschlagen, weil er sich mit der Arbeit einfach nicht identifizieren kann, sich aber auch sein Renommee in der Branche nicht endgültig zerstören will. Neben den beruflichen Pleiten werden die beiden Protagonisten auch mit einer kaum zu stemmenden Mietpreis-Erhöhung konfrontiert, sie werden den Gürtel künftig viel enger schnallen müssen. Während Isabell große Schwierigkeiten hat, ihre konsumtiven Ansprüche zurück zu stellen, ist sich Georg als Realist des drohenden finanziellen Desasters bewusst und wäre bereit, aufs Land zu ziehen. Er bringt seine widerstrebende Frau sogar dazu, ein günstig zu mietendes Objekt auf dem Lande zu besichtigen, aber realistisch betrachtet ist das im Vergleich zu Großstadt bedenklich kulturarme, eher dröge Landleben letztendlich denn doch keine Option für die Beiden.

Diese aus permanent wechselnder, weiblicher und männlicher Perspektive der Protagonisten erzählte Geschichte von Verlust und Niedergang räumt auch gründlich auf mit dem Anspruchs-Denken der heutigen Konsum-Gesellschaft, mit dem alles beherrschenden, biblischen «Tanz ums goldene Kalb». Und es gibt auch kein Licht am Ende des Tunnels, denn der trickreich als Leitmotiv in den Plot eingebaute, wiederentdeckte Tresor im Wohnzimmer lässt sich ebenso wenig knacken wie sich die Hürden überwinden lassen, mit denen die leider ziemlich farblos bleibenden, voll mit sich selbst beschäftigten und nicht gerade sympathischen  Protagonisten konfrontiert sind.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Grün ist die Hoffnung

Nur Unterhaltung

Als einer seiner frühen Romane bestätigt «Grün ist die Hoffnung» geradezu archetypisch das narrative Konzept des amerikanischen Schriftstellers T. C. Boyle, Komik sei seine Art, mit Tragik und Verzweiflung umzugehen. Schon im ironischen Titel dieses Romans deutet «Grün» auf Pflanzen hin und «Hoffnung» auf ein Scheitern. Konkret geht es um den illegalen Anbau von Marihuana, mit dem ein alternder Hippie reich zu werden hofft, der Spoiler ist hier also schon im Buchtitel enthalten. Was den Lesegenuss aber keineswegs schmälert, denn wie es dazu kommt, das ist das Thema dieses amüsanten Buches, frei nach Konfuzius also: «Der Weg ist das Ziel».

Der 31jährige Ich-Erzähler Felix aus San Francisco, der sich als Arbeitsloser mehr schlecht als recht mit Haus-Renovierungen durchschlägt und ständig in Geldnöten ist, bekommt eines Tages zu später Stunde überraschend Besuch von seinem alten Freund Vogelsang. Der unterbreitet ihm das Angebot, auf einer von ihm erworbenen, einsam gelegenen und seit zwanzig Jahren nicht mehr bewirtschafteten Farm Nord-Kaliforniens in der kommenden Saison illegal Marihuana anzubauen. Dabei würde für Felix ein Gewinn von einer halben Million Dollar herausspringen. Felix nimmt dieses verlockende Angebot ohne Zögern an, holt seine Freunde Gesh und Phil mit ins Boot, um ihm zu helfen, und bietet ihnen jeweils ein Drittel seines Anteils dafür an. Alle Drei malen sich aus, wie sie künftig als reiche Männer das Leben genießen würden. Begeistert starten sie ins «Sommerlager», wie sie ihr ländliches Domizil in der Nähe von Willits für die nächsten neun Monate verharmlosend bezeichnen. Vogelsang hat einen Botaniker engagiert, der den drei Großstädtern sporadisch bei der ungewohnten Landarbeit zur Seite steht und für alles Fachliche zuständig ist.

Die so frohgemut angetretene und streng geheime Unternehmung steht von Anfang an unter einem Unglücksstern, beginnend bei einer Polizeikontrolle auf dem Highway, wo Felix mit einem sadistischen Polizisten aneinander gerät und nun befürchten muss, dass der ihn künftig äußerst argwöhnisch beobachten wird. Auch der neugierige Nachbar in der ländlichen Einöde stellt eine Gefahr dafür dar, dass ihr Unternehmen auffliegt, weil er sie bei der Polizei anzeigt. Zudem läuft ein neues Programm des Staates zur Bekämpfung des Marihuana-Anbaus an, das stärkere Kontrollen aus der Luft einschließt. Und auch die mühevolle Arbeit mit dem Einzäunen der Anbauflächen, dem Ausheben von zweitausend Pflanzlöchern, dem Heranziehen der Samen in ihrem improvisierten Gewächshaus gestaltet sich schwierig und wird von allerlei Rückschlägen begleitet. Immer wieder ist Felix kurz davor, alles hinzuschmeißen und der trostlosen Hölle ihrer äußerst primitiven, vermüllten, vor Schmutz strotzenden Unterkunft zu entfliehen. Denn auch der zu erwartende Gewinn schrumpft von Rückschlag zu Rückschlag dramatisch zusammen. Das geht so bis zur vorzeitigen Noternte in einem herbstlichen Dauerregen, der den Ertrag letztendlich auf eine lächerliche Menge reduziert und sie dazu zwingt, die Trocknung der Pflanzen schließlich in der kleinen Wohnung von Felix in San Francisco vorzunehmen. Alles endet im Desaster, und es stellt sich auch heraus, dass Vogelsang sie hinters Licht geführt hat, er allein hat durch den Verkauf des Anwesens einen satten Gewinn eingefahren. Einziger Lichtblick bleibt für Felix, dass er dort in den nahen Ortschaft Willits eine nette Frau kennen gelernt hat, und frustriert kehrt er am Ende dorthin zurück.

Mit einer Überfülle von nicht immer gelungenen Metaphern erzählt der Autor seine klug ausgedachte Geschichte dreier Underdogs, die von einem aalglatten, undurchschaubaren, aber eben auch charismatischen Gauner bös hereingelegt werden. Die in einer leicht lesbaren, nüchternen Sprache verfasste Story ist originell und unterhaltsam. Sie entspricht damit dem erklärten Motto des Autors: «Literatur kann in jeder Hinsicht großartig sein, aber sie ist nur Unterhaltung». Und genau das trifft hier auch zu!

 Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Der Weltensammler

Vom Clash of Civilizations

Im umfangreichen Œuvre des bulgarisch-stämmigen Schriftstellers Ilija Trojanow ist sein zweiter Roman «Der Weltensammler» auch gleich sein bekanntester geworden. Er wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und in den Feuilletons teils euphorisch gefeiert als ein Abenteuer-Roman, der aufzeigt, wie wenig die westliche Welt von den Geheimnissen des Orients versteht. Der Plot orientiert sich an drei Phasen im Leben des authentischen, englischen Abenteurers Richard Burton, ein wagemutiger Exzentriker, der im neunzehnten Jahrhundert in den britischen Kolonien Asiens herumgereist ist, um unter Hintanstellung der eigenen Lebensgewohnheiten wissbegierig Land und Leute kennen zu lernen. Sein besonderes Augenmerk lag dabei auf den Sprachen der Einheimischen, die er eifrig studiert hat und die ihm als wichtige Voraussetzung galten, die Kulturen und Religionen jener Länder zu begreifen. Vor allem aber sollten sie auch helfen, die allfälligen Missverständnisse zwischen den unterschiedlichen Kulturen zu vermeiden, insbesondere im Verhältnis zur äußerst überheblich agierenden Kolonialmacht jener Zeit, dem British Empire. Derartige Gegensätze sind begrifflich als «The Clash of Civilizations» 1996 in die Politik-Wissenschaft eingegangenen.

Es sind drei markante, biografisch wesentliche Episoden, denen sich der Autor in den drei Teilen seines Romans widmet: Richard Burtons Jahre auf dem indischen Subkontinent, seine Reise nach Mekka und die Expedition auf der Suche nach den Quellen des Nils in Ostafrika. Ingesamt decken sie einen Zeitraum von etwa sechzehn Jahren ab, der damit beginnt, dass der 21Jährige als Angestellter der Ostindien-Kompanie die Nähe zu den Einheimischen sucht, oft lebt er wochenlang mitten unter ihnen. Bei seinem privaten Sprachlehrer lernt er eifrig diverse Landessprachen. Er findet eine einheimische Geliebte und lernt mit dem Sanskrit auch das Kamasutra kennen, das er später ins Englische übersetzen wird.

Während seine Jahre in Indien neben dem Studium der Sitten und Gebräuche dort vor allem dem Aufbau seiner Karriere dienen, sucht er durch die Wallfahrt nach Mekka, durch den Haddsch, als christlich geprägter Mensch Glaubengewissheit zu erlangen. Als indischer Moslem verkleidet bricht er zu seiner Pilgerfahrt nach Mekka und Medina auf, die letztendlich für ihn die Frage aufwirft, ob er nicht innerlich bereits längst zum Islam konvertiert ist. Als Forschungs-Reisender nimmt er an der Seite von J. H. Speke die Suche nach den Nilquellen auf, die er 1858 im Tanganjikasee gefunden zu haben glaubt. Trotz seiner Erfolge erreicht er nicht alle seine hochgesteckten Ziele, viele Hoffnungen und Erwartungen erfüllen sich nicht, er scheitert an seiner abendländischen Gesinnung. Und er muss auch erkennen, dass er sich rein menschlich immer mehr von seiner Umgebung entfremdet hat, bei seinem Tod in Triest erklärt ihn der Bischof mangels klarer religiöser Orientierung kurzerhand zum ‹Katholiken ehrenhalber›. Und seine niemandem mehr nützlich erscheinenden, persönlichen Notizen landen im Feuer.

Durch die Beschränkung auf sehr wenige, wirklich markante Lebensdaten seines realen historischen Vorbildes Richard Burton gelingt es Ilija Trojanow, einen Protagonisten zu erschaffen, dem er als literarischer Figur alles andichten kann, was ihm seine überreiche Phantasie eingibt. Diese aus wechselnden Perspektiven erzählte Geschichte vom Scheitern ist in einem flüssig zu lesenden, den Handlungsorten und Figuren entsprechenden Stil geschrieben. Nicht immer aber ist es gelungen, die innere Zerrissenheit des Romanhelden wirklich glaubhaft darzustellen, zumal häufig auch ein in der Jetztzeit gründendes, politisches und soziales Bewusstsein erkennbar wird, welches hier als wesensfremd der historischen Figur im wahrsten Sinne des Wortes regelrecht angedichtet wird. Und auch die arabeskenreiche Sprache lenkt eher ab, ja sie stört zuweilen sogar den Lesegenuss, den diese bereichernden Geschichten aus fernen Ländern und vergangenen Zeiten so manchem Leser ansonsten zu bieten vermögen.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Unmöglicher Abschied

Unterhaltsam schon gar nicht

Der Nobelpreis für Literatur des Jahres 2024 wurde jüngst der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang verliehen, fast zeitgleich erschien ihr neuester Roman «Unmöglicher Abschied» in deutscher Übersetzung. Die Grundprinzipien ihres Schreibens seien «Liebe und Schmerz», hat sie in ihrer aufschlussreichen Stockholmer Rede bei der Preisverleihung erklärt. Wie für ihre Erzählerin am Anfang dieses Romans sei ein Traum auch für sie selbst die Initialzündung für den Beginn ihrer Arbeit an diesem Buch gewesen, hat sie hinzugefügt. Das Traumbild eines mit schwarzen Baumstämmen bewachsenen Berges, das ihrer Protagonistin Gyeongha wie ein mit Grabsteinen übersäter Friedhof erschienen ist, dient im Roman als Metapher für das jahrzehntelang tabuisierte Jeju-Massaker von 1948. Sie beschwört mit dieser bedrückenden Thematik auf sehr subtile Weise die Geister einer fürchterlichen Vergangenheit herauf.

Als dreiteiliger Roman beginnt die Geschichte in nicht chronologischer Reihenfolge mit dem dringlichen Wunsch von Inseon, der besten Freundin der Ich-Erzählerin, die nach einem Unfall im Krankenhaus von Seoul liegt, ganz schnell zu ihr zu kommen. Die allein in einem abgelegenen Bergdorf auf der südkoreanischen Insel Jeju wohnende Freundin bittet sie dringend, zu ihrem Haus zu fahren und dort ihren innig geliebten Papagei zu versorgen, den sie nach dem eiligen Abtransport mit dem Rettungswagen allein zurücklassen musste. Ohne Wasser und Nahrung könne er dort maximal drei Tage überleben. Gyeongha macht sich bei beginnendem Schneegestöber spontan und völlig ohne Gepäck auf den Weg, ihr Flug auf die Insel ist wetterbedingt der letzte an diesem Tage. Auch die Weiterfahrt mit dem Bus zu dem kleinen Bergdorf ist schwierig, alle Straßen sind menschenleer, nirgendwo ist noch ein Geschäft geöffnet, wo sie sich mit dem Nötigsten eindecken könnte. Nach einem odysseeartigen Fußmarsch durch Wald und Flur trifft sie schließlich spätnachts in völliger Dunkelheit an dem einsam gelegenen Haus der Freundin ein, – zu spät allerdings, der Vogel liegt tot in seinem Bauer.

Schnee ist allgegenwärtig in diesem bedrückenden Roman einer Freundschaft zwischen zwei Frauen, der Schriftstellerin Gyeongha und ihrer langjährigen Freundin, der Fotografin Inseon. Beide hatten beschlossen, das Traumbild von Gyeongha in einem gemeinsamen Projekt als Installation bildlich umzusetzen und dafür einen Hang in der Nähe ausgesucht, mehr als hundert schwarze Baumstämme sind neben Inseons Haus dafür schon eingelagert. Im Haus trifft Gyeongha schließlich ganz unvermutet auf Iseon, die ihr von dem Insel-Aufstand erzählt, der als Jeju-Massaker auch die leidvolle Geschichte ihrer eigenen Familie widerspiegelt. Zwischen Traum und Wirklichkeit mäandernd verwischen hier die Grenzen. Realität und Imagination, aber auch Lebende und Tote stehen erzählerisch kaum noch unterscheidbar völlig gleichberechtigt nebeneinander. Wie ein Menetekel schwebt in diesem Roman die düstere Vergangenheit drohend über dem Erzählten, und all das kommt hier dann nur sehr zögerlich und nur nach und nach ans Licht.

Im Stil des magischen Realismus geschrieben, bestimmt der Schnee als omnipräsente, letztendlich aber auch kaum zu deutende Metapher diesen poetischen Roman, in dem sich oft unvermittelt verschiedene Realitätsebenen miteinander vermischen, was zu erhöhter Aufmerksamkeit beim Lesen zwingt. Neben den irgendwann lästig werdenden Schnee-Passagen, die durch ihre ständigen Wiederholungen schon bald ermüden, sind auch die geradezu fantastisch wirkenden Passagen über die eherne Freundschaft der beiden Frauen irgendwann nur noch lästig. Sprachlich zum Teil etwas holprig, für eine Nobelpreis-Trägerin also wenig überzeugend, ist dieser depressiv machende Roman, der so ziemlich alles offen lässt am Ende, weder wirklich bereichernd noch gar erfreulich, – und unterhaltsam schon gar nicht!

Fazit:  mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Handy

Vom Risiko profaner Abschweifung

Mit dem Erzählband «Handy» deutet Ingo Schulze schon in dem bemerkenswerten Untertitel «Dreizehn Geschichten in alter Manier» auch gleich sein Stilmittel des einfachen Erzählens an. Der kleinen Form der Belletristik, dem Sammelband «33 Augenblicke des Glücks», verdankte er 1995 auch seinen Durchbruch als Schriftsteller. Und mit dem vorangestellten Zitat von Friederike Mayröcker weist er zudem recht deutlich auf den Geist des vorliegenden Buches hin, auf das dominante Prinzip der Beiläufigkeit: «Dann folgte ein Tag dem anderen ohne dasz die Grundfragen des Lebens gelöst worden wären.» Als ein in der DDR sozialisierter Schriftsteller, hat er im Interview erklärt, empfinde er seinen Blick auf die Gesellschaft zumindest teilweise immer noch als den eines Außenstehenden, und das sei auch prägend für dieses Werk gewesen.

Für viele der Geschichten habe er die Ideen lange mit sich herumgetragen, ohne zu wissen, was daraus werden könnte beim Schreiben. Im Vordergrund seiner autofiktional inspirierten Erzählungen steht dabei die Anmutung von Unmittelbarkeit, die Illusion des wahrhaftig Erlebten, auch wenn das meiste davon der Phantasie entsprungen ist. Eine eigenwillige Umkehr des vorherrschenden Prinzips, das Faktische des Lebens in erzählende Literatur umzusetzen. Hier steht also die Literarizität obenan, der literarische Grad eines Werkes also, dem Ingo Schulze dann seinen fiktionalen Erzählstoff überstülpt. Er tut das in einer so allgemein gehaltenen Weise, dass seine Geschichten oft unverständlich bleiben und meist auch völlig belanglos sind, weil scheinbar Realität und Fiktion anders für ihn nicht in Einklang zu bringen sind.

Damit geht der Autor bewusst unter das eigene wie auch unter das Milieu seiner Leser, er biedert sich also volkstümlich an mit Hilfe des Profanen. Sein literarisches Mittel dafür ist die Beiläufigkeit, in der da erzählt wird, ein sprachlicher Stil, der schnell Gefahr läuft, langweilig zu werden. Den Leser beschleicht nämlich schon bald das Gefühl, scheinbar grotesk unterfordert zu sein. Hinzu kommt, dass all das Banale in den Erzählungen stilistisch adäquat in anspruchsloser Umgangs-Sprache geschildert wird, der Leser wird also auch hiermit intellektuell nicht gefordert. Es wird allerdings, ob man will oder nicht, ein Gefühl der Vertrautheit erzeugt, man wird also fast zwangsläufig in eine zeitgemäße Lebenswirklichkeit hineinversetzt.

Bei aller literarischen Schlichtheit versteht es Ingo Schulze in diesen Erzählungen, alles sehr detailliert zu beschreiben und seine Themen zudem in stimmigen Dialogen zu artikulieren. Die politische Wende in Deutschland hat natürlich mentale Veränderungen der Menschen bewirkt, die auch soziale Auswirkungen haben und den Erzählstoff mitprägen. Das «Handy» steht als Metapher sinnbildlich für die Ausweitung des eigenen Lebensbereiches, es wirkt einer engbemessenen Abschottung der Lebenswirklichkeit des Individuums entgegen, mit für nahezu jedermann spürbaren Auswirkungen, denn man kann sich nun der äußeren Welt kaum noch entziehen. Mit diesem literarischen Unterbau und mit einem solch bunten Sortiment an Themen bleibt es nicht aus, dass recht inhomogene Texte entstanden sind, die qualitativ ziemlich unterschiedlich ausgefallen sind und natürlich auch nicht alle wirklich zu überzeugen vermögen. Der Reiz der Lektüre liegt sicherlich bei der scheinbar zufälligen Kombination unterschiedlichster Motive und Szenerien, die erst durch ihre Beziehungen zueinander an Gehalt gewinnen und Zusammenhänge verdeutlichen. Wer so unkonventionell und, immer wieder weit abschweifend, profan zum Thema der menschlichen Glückssuche schreibt, der läuft Gefahr, nicht verstanden zu werden und die potentielle Leserschaft zu verschrecken. Ingo Schulze hat dieses Risiko sehr beherzt und offensichtlich auch recht selbstbewusst auf sich genommen. In wieweit er damit eine individuell wirklich bereichernde und unterhaltsame Lektüre geschaffen hat, kann jeder Leser nur ganz allein für sich entscheiden!

Fazit:  mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Berlin Verlag Berlin