Zeitzuflucht

Amnesie statt Anästhesie

Der kryptische Titel «Zeitzuflucht» des neuen Romans von Georgi Gospodinov steht für eine kreative Thematik. Der Ich-Erzähler, ein bulgarischer Schriftsteller, hat sich einen Psychiater als Protagonisten erschaffen, den er Gaustin nennt, ein Zeitreisender, der durch die Jahrzehnte des 20ten Jahrhunderts flaniert. Mit seiner amüsanten Dekonstruktion nostalgischer Sehnsüchte desavouiert der Autor gekonnt den aktuellen politischen Rechtsruck in Europa, der alles andere als lustig ist. Nicht zuletzt deshalb, und für die literarisch exzellente Umsetzung des Stoffes, erhielt der Autor 2023 den International Booker Prize für fremdsprachige Erzählungen.

Die Figur des Gaustin hat sich im Roman quasi verselbständigt, der Autor und er arbeiten eng zusammen, diskutieren miteinander und vertreten sich gegenseitig. Bei der Behandlung von Demenzkranken ist Gaustin auf die Idee gekommen, den Patienten durch einen Rückgriff auf die Vergangenheit zu helfen. Und zwar durch eine vertraute Umgebung, an die sie sich erinnern können und wo sie sich dann auch wieder zurechtfinden im Leben, immer nach dem Motto: «Amnesie statt Anästhesie!» Er baut in Zürich eine Klinik auf, in der in jedem Stockwerk ein anderes Jahrzehnt des 20ten Jahrhunderts detailgetreu wie im Museum rekonstruiert ist. Ein therapeutischer Ansatz, der sich als äußerst erfolgreich erweist und andernorts viele Nachahmer findet. Alle haben die Hoffnung, durch diesen Zeitenwechsel den Schrecken der Gegenwart entfliehen zu können, und schon bald verwandelt sich die Therapie in ein politisches Programm. In kürzester Zeit werden ganze Stadtviertel in ein vergangenes Jahrzehnt zurückversetzt, bald auch ganze Städte. Schließlich ist die Sehnsucht nach Vergangenheit so groß, dass einzelne Staaten und dann auch die gesamte EU sich in die Vergangenheit zurückversetzen wollen. In verschiedenen Ländern werden Referenden abgehalten, bei denen die Bevölkerung das vergangene Jahrzehnt wählen kann, in dem die Menschen künftig wieder leben wollen.

Mit nicht zu übersehendem Spott berichtet der Schriftsteller von den Diskussionen mit seinem Protagonisten Gaustin, der ziemlich entrückt das Geschehen aus der Ferne verfolgt und dann immer wieder mal für Jahre spurlos verschwunden ist. Genüsslich schildert Georgi Gospodinov das von ihm erdachte, aberwitzige Szenario, berichtet von seinen Erlebnissen in den verschiedenen Jahrzehnten, die er besucht. – Wohlgemerkt, man besucht nicht mehr Orte, sondern Zeiten! Und geschickt nutzt der Autor auch das entstandene Chaos zu vielfältigen Reflexionen über politische und historische Gegebenheiten, so wenn er gegen Schluss ausführlich über die Referenden in den einzelnen Staaten Europas berichtet. Dabei lässt er sich kenntnisreich und amüsant über dortige Animositäten, Befindlichkeiten und Sehnsüchte aus. All das ist eine kontemplative Tour d’Horizont auf nostalgischen Pfaden der europäischen Geschichte, prall gefüllt mit Anekdoten, Ereignissen, Wegmarken und Irrwegen. Konsequent lässt er die Menschen in diesem speziellen Setting alle historischen Stationen durchlaufen, auch Erster und Zweiter Weltkrieg nicht ausgeschlossen, er thematisiert die Balkankriege ebenso wie den Brexit oder Donald Trump. Besonders aber die ehemaligen Ostblockstaaten werden kritisch durchleuchtet in ihren Befindlichkeiten. Viel Raum nimmt dabei natürlich Bulgarien ein, das zwar mit Spott und Häme überzogen wird, letztendlich aber immer die Heimat des Autors bleibt, soviel Patriotismus sei ihm erlaubt!

Diesen Roman zu schreiben ist ein wahrhaft schwieriges Unterfangen mit vorhersehbaren Problemen gewesen, die der Autor aber souverän zu unterlaufen versteht mit allerlei literarischen Tricks. Zu denen gehört insbesondere die scheinbar eigenmächtig handelnde Figur des Gaustin, Spießgeselle des Autors. Es gibt dermaßen viele historische Verweise, literarische Bezüge und philosophische Thesen, dass der Leser über so manche surreale Konstellation hinweg liest oder das Fehlen von Realität partout nicht empfindet. Er schwebt vielmehr gedanklich in anderen Jahrzehnten, zumal wenn er zu den «älteren Semestern» zählt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Weil da war etwas im Wasser

Alles ist letztendlich Nichts

Der Debütroman «Weil da war etwas im Wasser» von Luca Kieser wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Damit gehörte er also zu den zwanzig Neuerscheinungen des Jahres 2023, die als Vorauswahl aus 196 eingereichten Titeln für die werbe- und verkaufsträchtige Longlist ausgewählt wurden. Betrachtet man im Nachhinein anhand von Feuilleton-Rezensionen und Leser-Kommentaren die Rezeption dieses Buches, so ist das Ergebnis auffallend negativ. Denn die Rezeptions-Ästhetik geht nun mal davon aus, «dass nicht die Intention des Autors im Vordergrund steht, sondern dass der Leser selbst maßgeblich an der Erzeugung des Textsinns beteiligt ist.» Genau das aber gelingt mit diesem Roman nicht! Neben dem Diktum der Literatur-Wissenschaft ist aber auch die demonstrative Nichtbeachtung des Feuilletons ein deutlich ablehnendes Signal, von den überregionalen Zeitungen gibt es nur eine einzige Rezension. und in den Kommentaren der Leserschaft herrscht weitgehend Unverständnis. Man scheitert nicht an der postmodernen Erzählweise, sondern schlicht und ergreifend am kaum zu entschlüsselnden und schon gar nicht nachvollziehbaren Textsinn!

Der Autor hat für sein Roman-Experiment ein eigenwilliges Setting gewählt, in dem Tier- und Menschenwelt eng ineinander verflochten sind, wobei ein Riesenkalmar, einem aktuellem Trend folgend, im Mittelpunkt steht. Er ist einem Frosttrawler in der Antarktis beim Krillfang ins Netz geraten und liegt nun auf dem Oberdeck, das Netz ist zerrissen. Seine riesigen Tentakel führen ein ungewöhnliches Eigenleben, denn zu den vielerlei Perspektiven, aus denen in diesem Roman erzählt wird, gehören eben auch seine sprechenden Fangarme, die Namen tragen wie beispielsweise «Der Blendende», «Der Süße», «Der Halbe», «Der Schüchterne», «Der Müde» und ähnliche mehr. Als ein monströser, weiblicher Tintenfisch ein Tiefseekabel berührt, erwacht sein sexueller Trieb, und von einem zufällig vorbei schwimmenden Männchen wird es dann geschwängert.

Berichtet wird ferner von einem Seemann namens Sanz, der 1861 beim Anblick eines Riesenkraken derart entsetzt war, das er schockiert seinen Beruf aufgeben musste und in Luxemburg eine Familie gegründet hat, deren Stammbaum im Anhang des Romans abgebildet ist. Alle dort verzeichneten Nachkommen verdanken ihr Leben letztendlich also einem angriffslustigen Riesen-Tintenfisch. Diese Genealogie wird im Roman immer wieder mit dem Kalmar in Verbindung gebrach, die Familien-Mitglieder tauchen regelmäßig in jeweils einem der Kapitel dieses Romans auf und bilden so einen losen Rahmen für die unkonventionelle Erzählung. Die Studentin Sanja Sanz, im Jahr 2000 geboren und jüngstes Mitglied der Familie, absolviert auf dem Frosttrawler in der Antarktis ein Praktikum. Sie muss damit klar kommen, dass dort ein halbes Jahr lang Dunkelheit herrscht. Sanja ist es auch, die ein Herz hat für den Riesenkalmar, der den Krillfängern ins Netz geraten ist und nun am Oberdeck liegt, sie versucht alles, um ihn am Leben zu erhalten. Ihr Tagebuch bildet das Ende des Romans. Es gibt auch literarische Verweise, zum Beispiel auf Jules Verne, der in «20.000 Meilen unter dem Meer» eine solche Riesenkrake publikums-wirksam zum Monster hochstilisiert hat,

Luca Kieser verwendet eine angenehm lesbare Diktion, bei der immer auch ein gewisses Pathos mitschwingt. Von einem Plot allerdings kann man nicht sprechen bei dieser chaotischen Erzählung, die vor allem durch wilde Zeitsprünge und geradezu irre Perspektiv-Wechsel gekennzeichnet ist. Der Text wird häufig durch längere Fußnoten ergänzt, wie sie zwar in Sachbüchern üblich sind, in der Belletristik aber den Lesefluss nur stören, ebenso wie es auch die gelegentlichen Verweise des Autors zu anderen Kapiteln seines Buches tun. Kaum gelungen erscheinen auch die philosophischen Exkurse, zum Verhältnis zwischen Leib und Seele beispielsweise oder zur Evolutionstheorie mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Die Intention des Autors, seine gigantische Themenfülle zudem, überfordert (fast) alle Leser, denn: ‹Alles ist letztendlich Nichts› !

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Picus Verlag Wien

Risse

Literarische Zumutung

Das neue Buch «Risse» von Angelika Klüssendorf trägt nur auf dem Vorsatzblatt verschämt die Bezeichnung Roman, nicht aber auf dem Cover, wo es ja verkaufsfördernd wäre. Der Text besteht aus zehn Kurzgeschichten, die schon 2004 unter dem Titel «Aus allen Himmeln» erschienen sind. Mit gleicher Thematik erschien 2013 der erfolgreiche Debütroman «Mädchen» als Teil einer Trilogie. Es geht in diesen allesamt autofiktionalen Werken um die verheerenden Auswirkungen eines lieblosen und teilnahmslosen, aber auch chaotischen, sadistischen Elternhauses auf die Entwicklung der in solch prekären Milieus aufwachsenden Kinder. «Kein Wohlfühlroman», ist meine Buchbesprechung von «Das Mädchen» betitelt, und das gilt für das jetzt vorliegende neue Buch der Autorin gleichermaßen, nichts für literarische Hedonisten also!

Entsprechend den zehn Kurzgeschichten als Grundlage ist «Risse» in zehn Kapitel aufgeteilt, in denen die einzelnen Motive ihres Erzählbandes über ein von Armut geprägtes Kinderleben in ein Ganzes übertragen wurde. Ergänzend sind jeweils kursiv gesetzte Kommentare der Autorin als Ich-Erzählerin zwischen die Kapitel eingefügt, die ihre Arbeit an dem Buch selbst verdeutlichen sollen. Ihre in der DDR der sechziger und siebziger Jahre angesiedelten Kurzgeschichten sind von erschütternden Szenen der seelischer Grausamkeit an dem Mädchen geprägt, die ihre teilnahmslosen Eltern, manchmal sogar mit sadistischen Übergriffen, an ihr und ihrer Schwester begehen. Die nur ganz selten mal beim Namen genannte, bedauernswerte Heldin schwankt zwischen depressiver Erduldung und verzweifeltem Aufbegehren, um die eigenen Eltern «auszuhalten».

Einzig der große Kirschbaum im Garten ist zuweilen ein Trost für sie. Es ist dieser Kirschbaum, der als Leitmotiv fungiert und ihre Sehnsucht nach Geborgenheit symbolisiert. Auf seine Weise wirkt er tröstend für das Mädchen, verheißt ihm Verlässlichkeit und Beständigkeit trotz all der traumatischen Zumutungen, denen es ausgesetzt ist. Für den Leser stellt der Kirschbaum außerdem so etwas wie einen hilfreichen roten Faden dar im Seelenchaos des emotionslos und allzu sprunghaft erzählten, unübersichtlichen Plots. Aber auch die Beschäftigung mit Büchern liefert dem Mädchen Halt, sie taucht dann wenigstens zeitweise in andere Welten ein. Und dem Lesen folgt quasi automatisch auch das Schreiben, aus dem sich einst mit den Kurzgeschichten ihre erste Veröffentlichung ergeben hatte. Die autofiktionalen Geschichten und der zu ihnen hinführende Schreibprozess sind hier ineinander verwoben. Eine geradezu klassische Konstellation vom Buch-im-Buch also, die, wie ja auch die Autofiktion, zunehmend populärer wird im Genre der Belletristik, – und geradezu eine Domäne weiblicher Wortakrobaten zu sein scheint!

Von sexuellen Übergriffen wird in Angelika Klüssendorfs Geschichten berichtet, von ersten Versuchen der Selbstbefriedigung, von einer überraschenden ersten Menstruation des Mädchens. Ausgerechnet auf der Beerdigung des Vaters läuft ihr das Blut am Bein herunter. Es gibt keine Körperflüssigkeit, von der hier nicht die Rede ist, Blut, Eiter, Schweiß, Sperma, Rotz, Urin, Kot. Erzählt wird auch von einer Entjungferung in den Dünen oder von den Anstiftungen der Mutter zum Ladendiebstahl. Das geht so weit, dass die Mutter ihrer Tochter einen «Diebstahlzettel» schreibt, auf dem sie genau notiert hat, was das Mädchen wo für sie stehlen soll. Und natürlich ist bei allem Schnaps im Spiel, die Mutter ist, wie der Vater auch, alkoholkrank. Der Vater hat zudem schon viele Suizidversuche hinter sich, nun versucht er es mit Gas in der Küche. Vater und Tochter liegen nebeneinander auf dem Küchenboden, als die Mutter hinzukommt. Das Mädchen wird im Krankenhaus gerettet, für den Vater kommt jede Hilfe zu spät. Ob Verdrängtes ans Tageslicht befördert wurde mit der späten «Selbstbefragung» der Autorin, das kann nur sie selbst beurteilen. Viele Kritiker aber schütteln nur den Kopf angesichts dieser literarischen Zumutung!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Gittersee

Verrat und Gegenverrat im Teenager-Milieu

Es ist sicher kein Zufall, dass neben Anne Rabe auch Charlotte Gneuß mit «Gittersee» einen DDR-Roman geschrieben hat, der es als Debüt immerhin auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 geschafft hat. Anders als ihre schreibende Kollegin ist Charlotte Gneuß ein Wessi, eine Schwäbin ohne jede DDR-Prägung, ihre Geschichte beruht also auf Erzählungen und Recherchen, nicht auf eigenem Erleben. Ihre Protagonistin schildert als 16jährige Ich-Erzählerin sehr anschaulich ihr Leben in einer zerrissenen Familie mit den «werktätigen» Eltern, einer strengen Oma und der kleinen Schwester. Die zu hüten ist ihre ständige Pflicht, was ihr eigenes Leben als Pubertierende zwar stark einschränkt, was Karin aber gerne tut, sie liebt das Kleinkind inniglich. Schauplatz des Geschehens ist der titelgebende Stadtteil «Gittersee» von Dresden, der durch seinen Bergbau bekannt ist. Erzählzeit ist das Jahr 1976, das von den innerdeutschen Verträgen ebenso geprägt war wie von der KSZE. Das stelle, wie die Autorin im Interview erklärt hat, für Ostdeutschland eine ähnliche Zäsur dar wie das Jahr 1968 für Westdeutschland.

Im Fokus des Romans steht die Stasi, allgewaltige Spitzel-Krake, deren Tentakel überall hin reichen im Arbeiter- und Bauernstaat, auch bis zu Karin hin. Deren älterer Freund Paul, Bergarbeiter in der Wismut, ihre erste Liebe, macht ihr den Vorschlag, sie bei seinem geplanten dreitägigen Kletterausflug in die Tschechoslowakei zu begleiten. Paul hat eine Schwalbe, ein damals in der DDR außerordentlich weitverbreitetes Kleinkraftrad, auf dem er sie mitnehmen könne. Er schärft ihr ein, aber ja niemandem davon zu erzählen. Wegen ihrer Pflichten in der Familie muss Karin jedoch absagen, Paul fährt mit einem Freund allein los. Nach der ersten Nacht im Zelt ist er spurlos verschwunden, und prompt stehen kurz darauf zwei Stasi-Mitarbeiter vor Karins Tür. Sie wollen von ihr wissen, ob sie von Pauls Plänen gewusst habe. Wenn ja, wäre das eine strafbedrohte Beihilfe zur «Republikflucht», – was für ein perverses Staatsverständnis steckt in diesem Wort! Guten Gewissens beteuert Karin, sie habe keine Ahnung gehabt und wisse nicht, wo Paul sei, sie habe auch keinerlei Lebenszeichen von ihm erhalten.

Von nun an ist die Stasi Dauergast bei Karin, ihre fragile Welt bricht zusammen, nichts ist mehr so. wie es war. Denn auch in der Familie rumort es, ihre Mutter verlässt Mann und Kinder und zieht zu einer Freundin in die Stadt. Sie fühlt sich zu Größerem berufen, möchte sich in anderen sozialen Kreisen bewegen als in der drögen Vorstadt-Gesellschaft mit ihren prekären Lebens-Bedingungen. Der Vater ist alkoholkrank und säuft sich gelegentlich ins Koma, kümmert sich aber immerhin mit Hilfe der Großmutter um die zwei Töchter. Einer der Stasi-Männer ist besonders hartnäckig und führt nun beinahe wöchentlich Gespräche mit Karin. Sie müsse doch etwas gespürt haben, wird ihr vorgehalten, ob ihr denn wirklich gar nichts aufgefallen sei! Schließlich hat er Karin so weit, sie verpflichtet sich als IM, als informelle Mitarbeiterin der DDR-Staatssicherheit, von denen es in ‹Blütezeiten› 200.000 gab, etwa jeder achtzigste also. Karins Motive bleiben unklar: Erhofft sie sich Informationen über Paul? Will sie Karriere machen als Geheimdienst-Mitarbeiterin?

Dieser Roman hält sich strikt an das Private, er beleuchtet auf subtile Weise das zerrüttete Familienleben seiner Heldin Karin, die schon so früh eingespannt ist in die alltäglichen Pflichten. Schule und Freundschaften unter Teenagern sind ebenfalls Themen, die Charlotte Gneuß wichtig sind und von ihr, nicht ohne ironischen Unterton, mit einbezogen werden in ihren Debütroman. Stilistisch ist er durch seine sprachliche Verknappung geprägt, die vor allem in den Dialogen zum Ausdruck kommt. Der Plot ist von diversen Einschüben wirrer Träume durchzogen, lebt nicht zuletzt von einem gewissen Spannungsbogen und lässt auch Vieles im Schwebezustand. Wenig überzeugend allerdings ist das kriminalistisch inspirierte Ende dieser Story von Verrat und Gegenverrat im Teenager-Milieu der DDR.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Paradise Garden

Mix aus Coming-of-Age und Roadnovel

Mit ihrem Debütroman «Paradise Garden» ist Elena Fischer eine flotte Coming-of-Age-Geschichte gelungen. Der Buchtitel weist auf den wohl glücklichsten Tag im Leben der 14jährigen Protagonistin und Ich-Erzählerin Billie hin, als ihre Mutter ihr nämlich in der örtlichen Eisdiele den größten Eisbecher mit dem Namen «Paradise Garden» spendiert. Damit wird eine tragische Zäsur angedeutet, von der die alleinerziehende, in prekären Verhältnissen lebende Mutter und ihre pubertierende Tochter noch nichts ahnen können. Etwa die Hälfte der Geschichte handelt von dem äußerst bescheidenen Leben der Beiden in der kleinen Wohnung einer städtischen Hochhaus-Siedlung. Der erste, nach literarischem Dogma oft schon die ganze Story enthaltende Satz des Romans lautet: «Meine Mutter starb diesen Sommer». Damit wird hier schon gleich auf das verhängnisvolle Ereignis hingewiesen, dem sich dann in der zweiten Buchhälfte ein geradezu klassischer Roadtrip anschließt. Schon früh weist die Autorin listig, en passant nämlich, in einer Szene darauf hin, als die Mutter ihre Tochter auffordert, doch ihr Buch zu Ende zu lesen. Es handelt sich um «Unterwegs», original «On the Road» von Jack Kerouac, dem stilprägenden Kultroman für dieses Genre, Vorlage für den berühmten Spielfilm «Easy Rider».

Billie, in Ungarn geboren und nach dem Willen der dominanten Großmutter mit erstem Vornamen Erzsébet getauft, weiß nicht, wer ihr Vater ist, sie kennt nicht mal dessen Namen. Alle Fragen dazu bleiben unbeantwortet, dieses Thema ist ein absolutes Tabu für ihre Mutter. Die war früher mal Ballett-Tänzerin, Billie findet auf dem Dachboden ein Tutu, das davon zeugt. Und es gibt ein Foto von der Mutter vor einem Gartenhaus, auf dem auch der Arm eines Mannes erkennbar ist, der Rest wurde weggeschnitten. Obwohl die Mutter zwei Jobs hat, reicht das Geld hinten und vorne nicht, oft gibt es dann am Monatsende tagelang immer nur Nudeln mit Ketchup. Trotzdem ist ihr Zusammenleben sehr harmonisch, mit ihrer unbeirrbaren Resilienz meistern die Beiden immer wieder alle Fährnisse des Lebens. Die Mutter versteht es, Billie mit viel Fantasie eine bunte Kindheit zu bieten, in der sie sich prächtig amüsieren auch ohne viel Geld. Dieses Jahr aber wollen sie in den großen Ferien ans Meer fahren, Billie träumt immer wieder davon. Sie hat etwas Geld gewonnen, und auch wenn es für Florida nicht reicht, werden sie wenigstens ans Meer fahren mit dem fast schrottreifen Nissan der Mutter, dessen TÜV seit einem dreiviertel Jahr abgelaufen ist, – aber er fährt noch!

Die Reise-Euphorie endet abrupt, als die Großmutter aus Ungarn unangekündigt vor der Tür steht und damit alle Urlaubspläne zunichte macht. Billies Mutter hatte nie ein gutes Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter, es gab häufig Streit, und das ist auch jetzt nicht anders. Nach dem tragischen Unfalltod der Mutter fährt die 14jährige Billie beherzt alleine los mit dem Nissan, die Roadnovel beginnt. Sie hatte privaten Fahrunterricht bei ihrer Mutter, übte heimlich auf dem Supermarkt-Parkplatz, sie traut sich die Fahrt ohne Weiteres zu. Und sie hofft, mit den wenigen Informationen, die sie hat, ihren Vater zu finden. Auch die Großmutter hatte ihr nicht weitergeholfen mit Hinweisen auf den Vater, angeblich wüsste sie auch nichts über ihn. Billie, die schon immer gerne geschrieben hat, beginnt mit Aufzeichnungen, sie notiert sich eifrig äußere Erlebnisse und innere Erkenntnisse auf ihrer abenteuerlichen Reise. Dabei trifft sie meist auf freundliche Menschen, die ihr weiterhelfen bei ihrer unbeirrten Suche.

Sehr überzeugend hat die Autorin in ihrem Plot Roadnovel und Coming-of-Age als Genres miteinander verbunden, wobei sie stilistisch eine dem Alter ihrer Protagonistin angepasste, schlichte Jugendsprache mit kurzen Sätzen verwendet. Dieser Roman ist eine leicht lesbare, unterhaltsame Lektüre, die beim vorhersehbaren Ende so etwas wie Hoffnung aufscheinen lässt und manchmal leider dicht am Kitsch vorbeischrammt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Die Inkommensurablen

Intellektueller Höhenflug

«Die Inkommensurablen», der dritte Roman von Raphaela Edelbauer, die in Wien Sprachkunst und Philosophie studiert hat, weist wie die zwei vorherigen Romane einen erstaunlich kreativ angelegten Plot auf. Ihre Erzählung beginnt am 30. Juli 1914 um 6:32 Uhr und endet am nächsten Tag mit dem Ablauf des Ultimatums und der umgehend erfolgenden Kriegserklärung an Serbien, gemeinhin als der Beginn des Ersten Weltkriegs angesehen. Die Stadt liegt im Taumel, die jungen Männer melden sich scharenweise freiwillig, sie können es kaum erwarten, sich für das tödliche Attentat auf den österreichischen Kronprinzen an den Serben zu rächen. Es wimmelt von Menschen auf den Straßen Wiens. Mitten in dieses Gewimmel hinein gerät, gerade erst mit dem Nachtzug am Wiener Hauptbahnhof angekommen, der siebzehnjährige Pferdeknecht Hans aus Tirol. Auch er will sich freiwillig melden, nicht zuletzt um der unerträglichen Fron seiner harten Arbeit auf dem armseligen, heimischen Bauernhof zu entkommen.

Vorher aber will er sich noch bei der bekannten Wiener Psychoanalytikerin Helen Cheresch vorstellen, er hat für den gleichen Tag einen Termin in ihrer Praxis vereinbart. In acht Kapiteln erzählt die Autorin chronologisch von den Erlebnissen ihres Protagonisten Hans in diesen turbulenten eineinhalb Tagen. Er hat sich schon als kleiner Junge, der nicht in die Schule gehen durfte und als Arbeitsknecht gnadenlos ausgebeutet wurde, heimlich das Lesen und Schreiben beigebracht und bildungshungrig jede Möglichkeit ergriffen, um seinen geistigen Horizont zu erweitern. Vor der Praxis trifft er auf Klara, die mit der berühmten Psycho-Analytikerin befreundet ist und sich als eine hochintelligente Mathematik-Studentin erweist. Sie ist denn auch eine der ersten Frauen in Österreich, die in ihrem Fach promovieren will, – am folgenden Tag schon ist der Termin für ihr Rigorosum. Und während Hans und Klara sich sofort in einem für beide fruchtbaren, ersten Gespräch anfreunden, stößt auch noch Adam, ein musisch begabter, aristokratischer Sohn aus reichem Hause, zu ihnen und erweitert das diskussions-freudige Duo zum Trio.

Dieser wortwörtlich am Vorabend des Ersten Weltkriegs angesiedelte Roman wird von Beginn an in einer wohltuend klaren, sachlichen Sprache erzählt. Er spiegelt damit die Geschichte des zu Höherem strebenden Pferdeknechts Hans vor dem Panorama eines gerade endgültig aus den Fugen geratenden, spät-habsburgischen Österreichs. Das genialische Hochbegabten-Trio versinkt in endlosen Diskussionen, denen zu folgen zusehends schwerer wird. Da wird zum Beispiel versucht, das Wesen der «Inkommensurablen» anhand eines Vergleichs mit den irrationalen Zahlen zu erklären. Aber als ebenso inkommensurabel, als unvergleichbar mithin, erweist sich dieses intellektuelle Trio selbst. Und dass in den mit der Musik beschäftigen Diskursen Arnold Schönberg als Komponist im Mittelpunkt steht, verwundert dann kaum noch. Allmählich aber entwickelt sich die Erzählung von den drei ebenso hyper-begabten wie inkommensurablen Figuren zu einer Art Traumnovelle, die zusehends ins Irreale steuert mit von Drogen befeuerten Trugbildern. Intellektueller Höhepunkt ist am Ende des Romans ein längerer Vortrag Klaras mit ihrer schriftlich verfassten Einleitung zum Rigorosum, dem allenfalls studierte Mathematiker wirklich folgen können.

Intellektuell also auf sehr hohem Niveau angesiedelt, ist der detail-versessene Erzählstoff nicht immer ganz frei von Anachronismen, trotzdem aber liest man die mathematischen, musik-wissenschaftlichen und psycho-analytischen Exkurse der österreichischen Autorin mit Gewinn. Sachlich beruhigend sind dabei die im Anhang aufgelisteten Quellen für ihre hochgestochenen Diskurse, die manchen Kommentatoren als zu gestelzt, aber auch als zu konstruiert erscheinen. Dabei wird übersehen, dass doch etliche, gerade in den intellektuellen Höhenflügen zweifellos vorhandene, satirische Elemente all das hochgestochen Erscheinende wohltuend relativieren.

Fazit:  erfreulich


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Der große Wunsch

Innere Befreiung im islamistischen Getto

In «Der große Wunsch» des in Ostberlin geborenen Schriftstellers Sherko Fatah bestimmen die irakisch-kurdischen Wurzeln seines Vaters, durch die er selbst auch einen besonderen Zugang zu dieser nahöstlichen Krisenregion hat, die spezielle Thematik seines neuen Romans. Protagonist der Geschichte ist der in Berlin lebende Murat, dessen Name «Der große Wunsch» bedeutet, – damit auch das schon mal geklärt ist! Seine volljährige Tochter Naima ist spurlos verschwunden, sie hat auch seiner geschiedenen Frau keinerlei Nachricht hinterlassen. Seine Nachforschungen ergeben, dass sie wohl mit einem Gotteskrieger französischer Herkunft, den sie im Internet kennen gelernt hat, nach Syrien aufgebrochen ist, um dort zu heiraten. Murat macht sich Vorwürfe, ihr viel zu wenig von seinem krisen-geschüttelten Herkunftsgebiet erzählt zu haben, in dem verschiedene politische Kräfte und diverse Terrorgruppen in völlig undurchschaubare Kämpfe verwickelt sind und Grenzen nur auf dem Papier existieren.

Als Murat die Ungewissheit nicht mehr aushält, borgt er sich von verschiedenen Freunden Geld, hebt als Teilhaber einer kleinen Firma auch noch alle Bankguthaben ab und reist über die Türkei in das vom Islamischen Staat beherrschte Gebiet, in dem er seine Tochter vermutet. Er will sie nach Hause holen, eine gefährliche Reise, wie er schon bald merkt. Denn die Schleuser, zu denen er über das Internet Kontakt aufgenommen hat, erweisen sich als unzuverlässig und geldgierig, sie vertrösten ihn immer wieder, liefern aber nichts Konkretes, das Schicksal seiner Tochter bleibt ungewiss. Nur in kleinsten Häppchen bekommt er von seinem einheimischen Fahrer und anderen dubiosen Mittelsmännern dann nach und nach Informationen über Naima. Man habe sie in einer Kolonie von IS-Kämpfern mit Frauen aus westlichen Ländern ausfindig gemacht, die im Neubaugebiet der Stadt Rakka zusammen wohnen. Murat bekommt immer wieder mal Fotos, auf denen er aber nichts erkennen kann, weil die junge Frau, die da fotografiert wurde, voll verschleiert ist, man sieht nur ihre Augen. Später liefern die Schleuser ihm dann auch Kassetten mit Aufnahmen aus einem Audio-Tagebuch, auf denen eine Frauenstimme zu hören ist, die Murat jedoch ebenso wenig als die seiner Tochter Naima identifizieren kann. Sie könnte es sein, aber es gibt keine eindeutigen Hinweise, zum Beispiel typische Redewendungen oder irgendwelche Bemerkungen, die auf ihre Vita hindeuten.

Im Wesentlichen aber handelt der Roman vom Warten, denn Murat kann selbständig nichts tun, und die Schleuser lassen ihn zappeln, liefern nichts Konkretes, versichern aber mit wachsender Zuversicht, dass die Frau, die sie im Visier haben, die gesuchte Tochter ist. Diese zeitliche Leere, die der phlegmatische Murat in einer wüstenähnlichen Landschaft verbringt, verleitet ihn zu endlosen Reflexionen, insbesondere über die konkreten Flucht-Ursachen seiner Tochter. Vor allem aber sinniert er über sein Versäumnis, Naima nicht abhalten zu können von ihrem radikalen Schritt, der wohl als innere Befreiung gedacht war. Der dann aber tatsächlich in einem frauen-feindlichen, islamistischen Getto endet, was sich auch Naima so sicherlich nicht hatte vorstellen können.

Obwohl also so gut wie nichts passiert in diesem Roman, ist er doch prall gefüllt mit Gedanken, Beobachtungen, Spekulationen, Mutmaßungen, zudem mit schier endlosen Beschreibungen der unwirtlichen, kargen Landschaft. Gefüllt mit literarischen Arabesken also, die sehr schnell langweilig werden, weil sie rein gar nichts zum eigentlichen Thema beisteuern. Gerade weil nichts passiert, wird man als Leser regelrecht auf die Folter gespannt, erwartet man jeden Moment eine erlösende Wendung der verzwickten Situation in diesem ‹lethargischen› Plot, auch und gerade dann, wenn man irgendwann nur noch zehn, nur noch fünf, nur noch zwei Seiten zu lesen hat. Uff! Und buchstäblich alles, was hier thematisch angerissen wurde, bleibt offen. Antworten auf die aufgeworfenen Fragen gibt es also nicht, die muss der Leser selber finden!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Birobidschan

Literatur als Widerstand gegen die Zeit

Das Roman-Debüt des israelischen Schriftstellers Tomer Dotan-Dreyfus weist schon im Titel «Birobidschan» auf den Ort der Handlung hin, die Hauptstadt der von Stalin in den 1930er Jahren gegründeten jüdisch-autonomen Oblast gleichen Namens, ein Verwaltungsgebiet in Sibirien, wo der Amur die Grenze zu China bildet. Über einen Zeitraum von etwa siebzig Jahren hinweg erzählt der Autor Geschichten aus diesem typischen Schtetl, beginnend schon vor dessen Gründung mit dem mutmaßlichen Einschlag des Tunguska-Asteroiden ganz in der Nähe, um den sich viele Mythen ranken. Über die stilistisch dem Magischen Realismus verpflichtete Geschichte heißt es im Vorwort des Autors: « der Text ist mein Labor, und ich bin der Versuchsleiter.» In seinem Epilog berichtet er dann auch von der Entstehung seiner Geschichte, sie sei ihm «außer Kontrolle geraten».

Die Zeit scheint still zu stehen in dem Schtetl an der Sibirischen Eisenbahn, die täglich einmal dort hält, die einzige Verbindung zur großen weiten Welt. Der Zeitungsmann bringt dem arbeitslosen Sascha Rosenzweig dann jedes Mal die Moskauer Zeitung, und so kann er täglich lesen, «was zwei Wochen zuvor passiert war.» In verschiedenen Handlungs-Strängen wird von Boris dem Fischer erzählt, einem der ältesten Birobidschaner, ferner von der seit Kindertagen andauernden Liebe zwischen Alex und Rachel. Berichtet wird auch von Dmitrij und seinen Wahn-Vorstellungen, seiner unbegründeten Angst vor Wölfen. Und schließlich von einem Roadtrip von Gregory und Sascha, die mit dem Auto Richtung Tunguska fahren. Der philosophisch bewanderte Sascha erhofft sich von der abenteuerliche Fahrt und den langen Gesprächen, die sie dabei führen würden, den alten Freund von seinen Depressionen befreien zu können.

Fernab des Weltgeschehens verläuft das Leben im Schtetl gemächlich und überschaubar, jeder kennt jeden und alles soll möglichst immer so bleiben, wie es ist. Die genügsamen Bewohner haben aus Prinzip alle gleich viel Geld, es geht also allen gleich gut und keiner strebt nach mehr, man lebt ein utopisches, sozialistisches Ideal. Als ein junger Mann von Durchreisenden als Dank 500 Rubel geschenkt bekommt, hat er große Mühe, dieses überschüssige Geld loszuwerden, denn wenn er es im Rathaus abgeben würde, hätte er nur misstrauische Fragen zu beantworten. Kurz entschlossen befestigt er es an einem Stein und wirft ihn in den See. Und wie es so ist, ausgerechnet Boris, der alte Fischer, findet den Stein in seinem Netz, und nun hat er das Problem mit dem Geld! Sehr poetisch werden die hormon-getriebenen Jungen und Mädchen des Ortes beschrieben, «die ihre ersten Schritte in die Welt der inneren Sonnenuntergänge wagten», – was für eine schöne Umschreibung!

Ein kleines Manko des ansonsten erstklassigen Romans ist die kaum überschaubare Figurenfülle, wobei erschwerend hinzu kommt, dass der auf 81 Kapitel verteilte Erzählstoff auch noch in oft wilden Zeitsprüngen aneinander gereiht ist. Nur mit einem Spickzettel behält man da den Überblick! Als Verbeugung vor dem jiddischen Schriftsteller heißt eine der Straßen in Birobidschan «Scholem-Alejchem-Alle». Man stößt beim Lesen auch immer wieder auf jiddische Begriffe, und im Alltagsleben richtet man sich hier noch streng nach den religiösen Gesetzen, der Rabbi ist die von allen anerkannte Respektsperson. Wohldosiert streut der Autor auch einiges an typischen Redewendungen in seine Erzählung ein, ergänzt durch ganz unakademische Alltags-Philosophie, und er garniert das Ganze mit einem gehörigen Maß an jiddisch geprägtem Humor. In seinem Epilog resümiert der Autor tiefsinnig: «Kunst ist vor allem ein Widerstand gegen die Zeit.» Und er ergänzt: «Wenn man ein großartiges Buch verschlingt, wird man nicht satt, sondern im Gegenteil hungrig.» Genau diese Lese-Erfahrung macht man denn auch mit diesem außergewöhnlichen Roman!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Voland & Quist

Muna

Gefahren toxischer Männlichkeit

Als erster Band einer geplanten Trilogie zum Thema ‹Frauen› ist der Roman «Muna» der Schriftstellerin Terésia Mora auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 gewählt worden. Die deutsch-ungarische Büchner-Preisträgerin thematisiert in ihrem neuen Roman eine latente Frauenfeindlichkeit, die sich hier in der psychischen und physischen Gewalt gegen die Ich-Erzählerin Muna Abbelius artikuliert. Mit dem Untertitel «Die Hälfte des Lebens» wird auch auf den zeitlichen Rahmen der Handlung hingewiesen. Die Geschichte beginnt kurz vor dem Abitur der Protagonistin in der DDR, wenige Jahre vor der Wende, und endet, als sie Anfang vierzig ist. Damit wird etwa die Hälfte ihres Lebens als Erwachsene überspannt, die entscheidende Zeit der beruflichen Weichenstellung und dem weiteren Verlauf ihrer Karriere. Beherrscht aber wird die Erzählung von der unverbrüchlichen Liebe der jungen Mona zu dem gutaussehenden, etwas älteren Magnus, ein Intellektueller, der sich auch ernsthaft als Fotograf betätigt, ohne dabei aber beruflichen Ehrgeiz zu entwickeln.

Monas alleinerziehende, alkoholkranke Mutter ist Schauspielerin in einem fiktiven, kleinen Städtchen Ostdeutschlands, das Mona, mit einem glänzenden Abitur in der Tasche, gleich zu Beginn des Romans verlässt, um zu studieren. Die attraktive, junge Frau strebt eine literarische Karriere an und übt zur Finanzierung ihres Studiums diverse Jobs aus, die zu ihrem Interessengebiet passen und ihren Horizont erweitern, notfalls auch ohne Bezahlung. Magnus ist ihre erste Liebe, sie verbringt eine Nacht mit ihm und ist überzeugt, dass er der Mann ihres Lebens ist. Er jedoch verschwindet spurlos und taucht dann erst in der zweiten Hälfte des Romans wieder auf, ganze sieben Jahre später, nach den Turbulenzen des Mauerfalls. Obwohl er sie so herzlos ohne ein Wort verlassen hatte, finden die Beiden wieder zueinander, haben rauschhaften, beglückenden Sex und werden ein Paar, nicht zuletzt auch, weil sie als Akademiker intellektuell bestens zusammenpassen. Magnus arbeitet als Französischlehrer, strebt aber eine wissenschaftliche Karriere an, publiziert und hält Vorträge. Sie haben zudem kulturell gleiche Interessen, denen sie gemeinsam nachgehen, Theater, Kunst-Ausstellungen, Musik, über die sie sich ergiebig austauschen.

Als Magnus karrierebedingt in verschiedene Positionen an anderen Universitäten wechselt, begleitet ihn Mona notgedrungen, ohne Rücksicht auf die eigene Zukunft, sie möchte ihn keinesfalls verlassen. Deutlich wird in dem unberechenbaren Verhalten von Magnus seine seelische Kälte, die sich mit der Zeit zunehmend auch in physischer Gewalt äußert, der Mona hilflos ausgesetzt ist. Und er verschwindet auch wieder öfter mal, ohne ein Wort zu sagen, übt also auch psychischen Terror auf sie aus, unter dem sie genauso leidet. In ihrem Liebeswahn aber erträgt sie ungerührt alle diese Demütigungen, findet immer eine Entschuldigung für sein doch so deutlich abweisendes Verhalten.

Terésia Mora verwendet auch in diesem stimmig erzählten Roman wieder verschiedene typografische Besonderheiten wie durchgestrichenen Text oder Schwärzungen, was einen kreativen Schreibprozess simulieren soll, in dem eben auch Fehler vorkommen. Hier werden sie sichtbar gemacht, die Illusion eines Manuskripts erzeugend! Durch eine mitreißende, geradezu intime Schilderung der Charaktere ist man als Leser so nahe an den Figuren, dass man Mona am liebsten in den Arm nehmen möchte und sie kräftig durchschütteln. Damit sie aufwacht und die Realität ihrer seelischen Abwärtsspirale erkennt, die Gefahren toxischer Männlichkeit. Damit sie aus dem Teufelskreis ausbricht, der ihr Leben zu ruinieren droht. Sie schafft am Ende gerade noch ihre Promotion mit «Cum laude». Deutlich erkennbar ist dieser Roman auch eine Satire auf den akademischen Betrieb, es tummeln sich Koryphäen aller Couleur darin, manche als wahre Lachnummern. Erfreulicher Weise wird all das, ganz ohne didaktische Absichten, mit leichter Hand erzählt, es wird hier also konsequent auf eine wohlfeile Botschaft verzichtet!

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Die Möglichkeit von Glück

Die Mär von den Ossis

Als großer DDR-Roman gelobt und auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gewählt, hat das Debüt von Anne Rabe mit dem Titel «Die Möglichkeit von Glück» im vergangenen Jahr einen wichtigen Beitrag zum aktuellen literarischen Diskurs geleistet. Auf starken Widerspruch stieß dabei vor allem die in diesem Roman vertretene These, dass erzieherische Gewalt und emotionale Kälte in den unter der Knute der sozialistischen Diktatur stehenden Familien in letzter Konsequenz zu den bekannten Gewaltexzessen und zum Erstarken der Rechtsextremen geführt hätten. Die auf dem Gebiet der DDR lebende Gesellschaft, die 56 Jahre lang, von 1933 bis 1989, also über Generationen hinweg, nur Diktatur erlebt hat, ist in Teilen mit der Demokratie offensichtlich überfordert und trauert dem «ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden» nach. Ein politisches Phänomen übrigens, das man ja überall auf der Welt wiederfindet und das von gewissen Protestierenden derzeit in der ­ allen Ernstes ­ vorgetragenen Forderung nach einem Kalifat gipfelt. Man braucht den starken Mann, man will «geführt» werden! Aber das sind Abschweifungen.

Eine der Autorin ähnelnde, drei Jahre vor dem Mauerfall geborene Ich-Erzählerin namens Stine beschreibt im vorliegenden Roman schonungslos ihre Kindheit im Kreise der Familie. Dabei konzentriert sie sich meist auf das Private, beschreibt detailreich die Verhältnisse während der Nach-Wende-Zeit in ihrer kleinen Stadt an der Ostsee, in der sie aufwächst. Ihre Eltern sind gar nicht erfreut über die Wiedervereinigung, zu tief waren sie verwurzelt in das sozialistische Unrechtssystem, dessen markantestes Kennzeichen die alles beherrschende, absurde Stasi war. Sie sind trotzdem überzeugt, das «richtige Leben» gelebt zu haben, sie halten weiterhin den Sozialismus für die bessere, gerechtere Staatsform, halten hartnäckig an ihrer Lebenslüge fest.

Die dominante Rolle in der Kindererziehung hat Stines Mutter, der Vater hält sich da weitgehend raus. Er ist ein liebevoller Vater, den bohrenden Fragen der älter werdenden Tochter nach der Vergangenheit aber weicht er hartnäckig aus. Innig verbunden ist Stine mit ihrem jüngeren Bruder, der wie sie unter der lieblosen Mutter leidet, die ihre Kinder, völlig emotionslos, mit harter Hand und viel Prügel erzieht. Dabei wendet sie ungerührt sogar sadistische Methoden an, denen ihre Kinder völlig schutzlos ausgeliefert sind. Der Vater greift in der Regel nicht ein, lässt die Mutter gewähren mit ihren grausamen Strafen. Diese schlimmen Erfahrungen und die heftigen Streitereien mit der Mutter, auch nachdem Stine schon selber ein Kind hat, führen zum Bruch mit den Eltern. Die Mutter traut ihrer Tochter die richtige Erziehung der Enkel nicht zu, sie geht sogar so weit und will ihr das Kind entziehen lassen. Weil doch die Stine einen total unkonventionellen Lebenswandel hat, und die falschen politischen Überzeugungen sowieso!

Formal changiert diese DDR- Geschichte zwischen Erzählung und akribisch recherchierter Dokumentation, wobei viele interessante Details zum Vorschein kommen und demonstrieren, was die politischen Umbrüche doch für deutliche Spuren in der Familien-Historie hinterlassen haben. Als eine besonders fragwürdige Figur stellt sich letztendlich der von Stine innig geliebte Opa heraus, der Stines Fragen immer ausgewichen ist. Aber genau dessen politische Verstrickungen sind es schließlich, die Stine am Ende des Romans, nach hartnäckigen Recherchen, doch noch offenlegen kann, ­ geahnt hat sie es ja schon immer! Im ständigen Wechsel zwischen Ich-Erzählung und dem kursiv gesetzten inneren Monolog entwickelt die Autorin ihre Geschichte in einer angenehm lesbaren Sprache. Indem sie sich meist an das Private hält, benutzt sie in ihren episodischen Rückblicken auch mundartliche Einschübe, kurze Gedichte oder Kinderreime, landestypische Redewendungen. Es findet sich zudem aber auch die ironisch präsentierte Amtssprache der «besseren» Deutschen, die sich ihre DDR-Landsleute zu sein dünkten in den seligen Zeiten des sozialistischen Musterstaates.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Drifter

Das Geschirr neu sortiert

Auf raffinierte Weise steuert «Drifter» von einem rasanten Gegenwartsroman zu einer ziemlich durchgeknallten Erzählung hin, steigert also das Irreale dieser amüsanten Gegenwarts-Geschichte von Ulrike Sterblich genüsslich bis zu einem Feuerwerk der Absurditäten. Der Ich-Erzähler Wenzel und sein Freund Marco Killmann, von allen nur Killer genannt, sind seit frühster Jugend ein unverbrüchliches Freundespaar. Sie leben am Rand einer Großstadt in einem dafür typischen Hochhaus-Viertel. Gegensätze ziehen sich an, glaubt man einer alten Volksweisheit, vielleicht ergänzen sich die unterschiedlichen jungen Männer ja gerade deshalb so gut. Vom ersten Moment an jedenfalls sind einem die beiden Figuren überaus sympathisch, ihre Geschichte bildet stimmig die Jetztzeit ab, mit dem dazugehörigen Wording der Yougsters.

Es ist vordergründig die Geschichte einer Freundschaft, die da erzählt wird. Wenzel arbeitet nach abgebrochenem Publizistik-Studium im Community-Team eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders, dessen Social-Media-Kanäle er betreut. Ein wahrlich frustrierender Job angesichts der oft banalen, zuweilen aber auch wütenden bis bösartigen Äußerungen der Zuschauer. Der belesene Wenzel verkörpert den melancholischen Verlierer-Typ, er hat resigniert und seine hehren Träume vom Journalismus aufgegeben. Bei den Frauen ist er gleichermaßen erfolglos, ein kurzes Techtelmechtel mit seiner Kollegin endet abrupt, als die sich in den glamourösen Sieger des Hahnenkamm-Skirennens verliebt. Sein Freund Killer, ein eloquenter und sympathischer Draufgänger, ist hingegen ein äußerst geselliger Typ. Er ist PR-Chef eines großen Lebensmittel-Konzerns, ein lukrativer Job. Nur hadert er, insgeheim natürlich, mit der seiner Ansicht nach fragwürdigen Compliance seines Arbeitgebers, die er ja nach außen hin überzeugend vertreten muss.

Der eigentliche Plot des Romans ist eine mysteriöse Geschichte, die damit anfängt, dass Wenzel in der S-Bahn eine Frau im goldenen Kleid sieht, die ein Buch des Schriftstellers «Drifter» in Händen hält. Als glühender Anhänger kennt Wenzel alle Bücher dieses Autors, nicht jedoch «Elektrokröte», wie der Titel des ihm unbekannten Buches der Frau heißt. Sein Buchhändler kennt das Buch auch nicht, will es bestellen, findet es aber nicht in den Computer-Listen. Durch Zufall trifft er die mysteriöse Frau wieder, die sich als die erfolgreiche Social-Media-Entertainerin Ludovica Malabene entpuppt, kurz Vica genannt. Sie kann zaubern, gibt Geldanlage-Tipps, will in die Buchbranche investieren. Was folgt ist ein turbulenter, sich zunehmend ins Absurde hinein steigernder Plot. Wenzel schreibt eine immer länger werdende Liste der Fragen, die er an Vica hat, die er ihr aber noch nicht stellen konnte mangels Gelegenheit. Killer wird beim Besuch der Pferde-Rennbahn von einem in unmittelbarer Nähe einschlagenden Blitz getroffen. Er trägt nur äußerliche Blessuren davon, hat sich aber mental verändert, hört plötzlich «A-cappella-Gesang aus Pustgeräuschen», wo nichts zu hören ist, riecht überall Orangen, ‑ und fängt dann auch noch an zu philosophieren. Er ist nicht mehr der alte ‹Killer›, schmeißt schließlich sogar seinen Job hin. «Es ist nicht so», heißt es im Roman, «als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hat das Geschirr neu sortiert.»

Dem magischen Realismus verpflichtet, streut Ulrike Sterblich ideenreich und lässig neben vielen skurrilen Figuren auch tanzende Hunde ein in ihre Geschichte, psychoaktive Pilze und wundersam variable Gebäude jenseits aller Statik, immer nach dem Motto: ‹Nichts ist unmöglich›! Damit verbunden ist auch eine deutliche Gesellschaftskritik, die ironisch und fein dosiert daherkommt, realisiert oft durch angesagte Nerd-Diskurse ihrer Figuren, beispielweise über die Frage, ob es eigentlich auch Horror-Opern gibt. Was dann natürlich zu der erwartbaren Antwort führt: «Du, alle Opern sind Horror!» Mit der Zeit nehmen die immer verwegeneren Winkelzüge und bewussten Irritationen allerdings überhand, verwirren als Albernheiten zunehmend den Leser, mäandern ziellos ins Sinnfreie. Seinen Spaß hat man trotzdem!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Schnell leben

Live fast, die young

Das Buch mit dem Titel «Schnell leben» der französischen Schriftstellerin Brigitte Giraud wurde 2022 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Im französischen Sprachraum ein literarischer Ritterschlag mit entsprechend hohen Auflagen, blieb das Buch in Deutschland relativ unbekannt. Obwohl es in vielen Besprechungen meist als Roman apostrophiert wird, handelt es sich tatsächlich um ein Memoir, also ein erzählendes Sachbuch. Der deutsche Verlag meidet denn auch konsequent die sicherlich verkaufsträchtigere Bezeichnung Roman. Das neue, fast ausschließlich von weiblichen Autoren verwendete, literarische Genre Memoir erfreut sich wachsender Beliebtheit! Soviel vorab, wer eine fiktionale Prosa-Erzählung erwartet, liegt somit falsch!

In «Schnell leben» thematisiert die Ich-Erzählerin minutiös die Umstände, die zum Tod ihres Mannes geführt haben. Er starb bei einem Motorradunfall in Lyon. Seine Frau, eine erfolgreiche Schriftstellerin, beginnt nach dem ersten Schrecken, darüber nachzudenken, welche Umstände zu diesem schrecklichen Unglück geführt haben, drei Tage vor dem Einzug in ihr gerade erst gekauftes Haus. «Was wäre wenn» ist die Kardinalfrage, und so hangelt sich ihre gedankliche Aufarbeitung des tragischen Geschehens von Detail zu Detail, von Zufall zu Zufall. Die «Litanei des Wenn» hat sie jahrelang gequält, hat aus ihrem «Leben eine Existenz im Konjunktiv gemacht», das sie nun, zwanzig Jahre später, schreibend zu überwinden hofft.

«Wenn die Tage vor dem Unfall sich nicht zu einer Abfolge von Ereignissen zusammen geballt hätten, eines unerwarteter als das andere, und alle unerklärlich.» Es sind die vielen Zufälle, die in einer langen, kettenartigen Reihe zu dem Unglück geführt haben. Gleich zu Beginn des Buches findet sich eine Liste von 26 mit «Wenn» beginnenden Geschehnissen, die alle in das gleiche «Dann» münden, nämlich dann hätte Claude nicht sterben müssen. Hätte die Ich-Erzählerin ihre Reise zum Verlag nach Paris nicht verschoben, hätte sie ihrer Mutter nicht erzählt, dass sie schon die Schlüssel zum neuen Haus haben, hätte ihr Bruder seine Honda 900 CRB Fireblade nicht in ihrer neuen Garage abgestellt, wäre diese Rennmaschine als ‹zu gefährlich› von der EU nicht zugelassen worden wie in Japan, hätte Claude gewusst, dass er seinen Sohn nicht von der Schule abholen muss an jenem schicksalsträchtigen 22. Juni 1999, und und und! In einer labyrinthisch anmutenden Ereigniskette voller Geschehnisse, die jedes für sich dem Schicksal einen andern Lauf hätten geben können, müht sich die Autorin, einen Sinn zu erkennen. Es ist wohl unmöglich, alle Zusammenhänge zu verstehen, jedem noch so kleinen Puzzlestück des persönlichen Dramas den richtigen Platz zuzuweisen.

Es sind letztendlich existentielle Fragen, die in der detailverliebten Seelenschau der Autorin radikal subjektiv behandelt werden, eine mit der Zeit ermüdende Litanei des «Was wäre wenn», die zu keinem Ergebnis führt, weil es eben in dieser Verkettung der Umstände keine rationalen Antworten gibt. Es sind auch keine Erkenntnisse zu gewinnen, weder aus dem dominierenden Thema «Motorrad» noch aus den Details um die Immobilien-Odyssee der jungen Paares in Lyon, in die dann auch jede Menge wohlfeile Gesellschaftskritik eingebaut ist. Auch die Musik-Besessenheit von Claude, der als Leiter der Mediathek von Lyon ein Pop-Musik-Fan war, wird thematisiert. Der Song «Live fast, die young» spiegelt exemplarisch ein damaliges Lebensgefühl junger Leute wieder. Was die Lektüre lesenswert macht ist die Rasanz, mit der da in kurzen Sätzen ganz unsentimental ein Szenarium aufgebaut wird, dass spannend ist wie ein Krimi. Brigitte Giraud versteht es mit ihren Gedankenspielen, trotz der absolut nüchternen Thematik einen Spannungsbogen aufzubauen, der den Leser nicht ruhen lässt, ehe er über die verästelte Ereigniskette bis zum späten Ende Klarheit gewonnen hat. Hinzugelernt haben aber dürfte er nichts dabei, außer dass er seine Hände besser weg lässt von dem Superbike Honda 900 CRB Fireblade, die mit den vielen PS!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Frankfurter Verlagsanstalt

Maman

Ein Sarg aus Worten

Die in Frankreich geborene Sylvie Schenk bedient mit ihrem autofiktionalen Roman «Maman» ein beliebtes Genre der Belletristik, die Suche nach der eigenen Identität. Der schmale Band befasst sich mit dem Leben von nicht weniger als vier Frauen, beginnend bei der Urgroßmutter über die Großmutter, die Mutter und schließlich die Ich-Erzählerin selbst als deren Tochter. Überhaupt stehen Frauen im Fokus, allein aus der eigenen Familie sind es fast ein Dutzend. Dabei stoßen die zweihundert Jahre zurück reichenden Recherchen auf eine extrem spärliche Faktenlage, bedingt unter anderem durch die zwei Weltkriege. Wie der Buchtitel zeigt, geht es um die Mutter der namenlos bleibenden, in Frankreich geborenen Tochter. Das lebenslang distanzierte Verhältnis der verstorbenen Mutter zu ihrer Tochter ist jedenfalls sehr ungewöhnlich und lässt ihr keine Ruhe. Als Schriftstellerin will sie nun ein Buch schreiben, in dem sie das Leben ihrer Mutter rekapituliert, ein aktuell häufig anzutreffendes Roman-im-Roman-Konstrukt, auf das man auch hier bei der Lektüre immer wieder mal stößt.

Wo Fakten fehlen, werden sie in dieser verzweifelten Aufarbeitung der Vergangenheit kurzerhand durch Vermutungen und emotionale Ergänzungen ersetzt. In nicht weniger als 62 kurzen Kapiteln (bei 173 Seiten!) wird hier eine sehr engagierte, persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft geschildert. Durch viele Gespräche mit den Verwandten, Recherchen bei allerlei Behörden, mit nur wenigen Dokumenten und Fotos versucht die Protagonistin verzweifelt, Licht in das fast schon unheimliche Dunkel zu bringen, welches die seltsam gestörte Empathie ihrer Mutter für sie persönlich bedeutet. Was hat dazu geführt, dass die Mutter so anders war als andere Mütter? Und es kommen zuweilen sogar Selbstzweifel auf: Ist sie womöglich selber schuld an dem gestörten Verhältnis? Jene jedoch, die ihr erzählen könnten, was vor vielen Jahren war, was ihrer Mutter widerfahren ist, sind schon lange tot und haben ihr Wissen mit ins Grab genommen. Die Mutter selbst war ja immer wortkarg, hat nie von ihrem Leben erzählt, hat die vermeintlichen Geheimnise auch auf Nachfrage immer bei sich behalten.

In den miteinander verschachtelten Kapiteln werden mutmaßliche Ereignisse und alle – die vielen Lücken ergänzenden – Gedankengänge der Autorin kurz angerissen, eine angesichts der Faktenlage sinnvolle, fraktionelle Erzählweise für diese Thematik. Weil aber all das, auch zeitlich, ziemlich sprunghaft geschieht, ist man sich nie ganz sicher, was hier Dichtung und was Wahrheit ist. Gleich in den ersten Kapiteln erfahren wir von den Nöten einer ungewollten Schwangerschaft in jenen Zeiten, wo es noch selbstverständlich war, dass ungewollte Kinder einfach den Behörden übergeben wurden, wo man sie dann möglichst bald zur Adoption weitergereicht hat. Erschütternd zu lesen, wie man da mit Babys umgegangen ist, welche freudlose Kindheit ihnen bevorstand, wenn sie als Kleinkind an arme Bauern «vermietet» wurden, für die sie nur eine billige Arbeitskraft waren und kein neues Familienmitglied. Genau das ist der Mutter widerfahren, und die Ich-Erzählerin berichtet mangels Fakten sehr emotional davon. Es wird aber auch deutlich gemacht, dass die prekäre Lage der Mütter sich in der weiblichen Ahnenreihe häufig weitervererbt. Die Mutter hat genau dieses, ihr ganzes Leben prägende Schicksal erlitten.

Unklare Herkunft und zweifelhaftes Selbstbild werden hier in einem erschütternden «Sarg aus Worten», beginnend mit dem Tod der Großmutter, glaubhaft als Ursachen verschiedener seelischer Bedrängnisse dargestellt. Die Fülle der angerissenen Themen steht unter der ständigen Frage nach dem «Was wäre wenn?» Für die gewählte erzählerische Kurzform wirkt die Thematik des Romans eindeutig überambitioniert, zumal hier ja ein ernstes seelisches Problem verhandelt wird, das für verschiedene psychische Erkrankungen ursächlich ist. Diese Überforderung schmälert leider ebenso wie das oft unklare Zusammenspiel von Fakten und Fiktionen in einer sprunghaften Erzählweise den Lesegenuss erheblich.

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Vatermal

 

Ich werde eure Töchter vögeln,
bis sie arabisch sprechen

Der als Dramaturg und Essayist bekannte Necati Öziri hat mit seinem Debüt-Roman «Vatermal» auf Anhieb große Beachtung gefunden. Sein Buch stand 2023 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, die Rezeption war auch im Feuilleton und bei der Leserschaft durchweg positiv. Es handelt sich um einen Familienroman mit Migrations-Hintergrund, aber auch um eine im Jetzt angesiedelte Coming-of-Age-Geschichte eines Jungen, der aufgrund schulischer Leistungen und akademischer Ambitionen beste Aussichten hat, dem migrantischen Prekariat seiner Eltern zu entkommen. Der Protagonist dieses Romans, Arda Kaya, liegt mit der Diagnose Organversagen auf der Intensivstation, sein Immunsystem schädigt durch eine fatale Fehlfunktion die eigene Leber. Alle Therapie-Versuche der Ärzte sind bisher erfolglos geblieben. «Trotzdem würde ich jedem von ihnen die Hand küssen, würden sie es doch noch hinkriegen, dass ich dieses Zimmer nicht mit den Füßen voran verlasse.»

Im Sterben liegend wendet sich der Ich-Erzähler Arda in Briefform an den abwesenden Vater, den er nie kennen gelernt hat. Einzige Verbindung zu ihm ist sein «Vatermal», wie er das Muttermal nennt, das er von seinem Vater geerbt hat, was ein altes Foto beweist. Metin Kaya hat in der Türkei einen politisch motivierten Mord begangen und wird dort in bestimmten Kreisen als Held gefeiert. Nach einem verheerenden Erdbeben emigriert er mit seiner Frau nach Deutschland. Sie lassen ihre Tochter Aylin zunächst in der Obhut der Verwandtschaft und holen sie dann drei Jahre später zu sich ins Ruhrgebiet, wo dann auch ihr Sohn Arda geboren wird. Später geht der Vater, obwohl ihm dort Gefängnis droht, zurück in die Türkei und lässt seine Familie in prekären Verhältnissen zurück. Die Mutter schlägt sich mehr schlecht als recht alleine durch, arbeitet in einem Imbiss und meistert im Kampf mit einer zähen Ausländer-Bürokratie schließlich sogar den für die Familie lebenswichtigen Einbürgerungsakt als Deutsche. Er müsse, erfährt Arda, obwohl hier geboren und aufgewachsen, zur Einbürgerung spontan einen mindestens 300 Zeichen langen Pflichttext in Deutsch schreiben. Wütend über diesen bürokratischen Schwachsinn schreibt der inzwischen Zwanzigjährige und an der Uni für das Fach Literatur eingeschriebene Arda unter anderem: «Ich werde eure Töchter vögeln, bis sie arabisch sprechen.» Er bekommt denn auch um Handumdrehen die begehrte Einbürgerungs-Urkunde, die er für seinen deutschen Pass braucht.

Es sind die sozialen und politischen Hürden und Fallstricke, von denen dem abwesenden Vater Metin in diesem Roman berichtet wird. Eine Geschichte vom Scheitern, ausgelöst vom Absturz der Mutter als Alkoholikerin. Die älteste Tochter Aylin, zeitweise Ersatzmutter und engste Vertraute des Ich-Erzählers, verlässt nach endlosen, heftigen Querelen mit der Mutter die gemeinsame Wohnung. Sie spricht fortan kein Wort mehr mit der Mutter und vermeidet jedes Zusammentreffen. Sohn Arda durchlebt die Exzesse der in prekären Verhältnissen aufwachsenden Jugendlichen, die am Bahnhof herumhängen, Joints rauchen und Drogen verticken, sich als Rapper versuchen, ansonsten nur Blödsinn machen oder sich prügeln. Eine kleinkriminelle Szene mithin, zu der auch immer wieder Kontrollen der Polizei gehören, denn junge Männer mit migrantischem Hintergrund sind ja immer verdächtig!

Dieses bedrückende Auseinanderbrechen einer migrantisch türkischen Familie wird in einem gut durchdachten Plot mit einer betont lockeren Sprache in 21 Kapiteln geschildert. Die Briefform des ersten Kapitels wird allerdings nicht durchgehend eingehalten, Vater Metin als Du-Adressat des Erzählten wirkt somit formal nicht gerade überzeugend. Geradezu erfrischend hingegen ist die lockere, durchaus real wirkende Sprache des Romans, die insbesondere in dem krassen Slang der heutigen Underdog-Jugend zum Tragen kommt. Dem unverkennbar lakonischen Erzählton ist stets auch eine ordentliche Prise Humor beigemengt, wobei insbesondere die extrem lässig wirkenden, lockeren Dialoge von einem Zeitgeist zeugen, wie er aktueller kaum sein kann.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Claasen München

Die sieben Monde des Maali Almeida

 

Groteske aus dem Totenreich

«Die sieben Monde des Maali Almeida», der zweite Roman des sri-lankischen Schriftstellers Shehan Karunatilaka, erhielt 2022 den britischen Booker Prize. In ihrer Begründung hebt die Jury «den Anspruch, die Perspektive, das Geschick, den Mut und die Komik der Ausführung» hervor und betont, dass dieses Buch auch «weiterhin gelesen und weiterhin lesenswert sein werde.» Protagonist dieser Anfang der Neunziger Jahre in Colombo, der Hauptstadt des ehemaligen Ceylon, angesiedelten Geschichte ist der schwule Foto-Journalist Maali Almeida, der nach seinem gewaltsamen Tod in einem absurden Zwischenreich erwacht. Er habe, wird ihm vom Personal der ‹himmlischen Einwanderungs-Behörde› erklärt, sieben Tage Zeit, das «Licht» zu erreichen, gemeint ist der endgültige Übergang vom Totenreich ins Jenseits.

In einem von Geistern und Dämonen bevölkerten, grotesken Setting will der tote Kriegsfotograf diese Zeit nutzen, um herausfinden, von wem und warum er getötet wurde. Außerdem möchte er unbedingt noch erreichen, dass seine Sammlung politisch äußerst brisanter Fotos, die er vorsichtshalber immer gut versteckt hat, nun wenigstens posthum doch noch veröffentlicht wird, um damit erstmals auch einem breiten Publikum zugänglich zu werden. Er erhofft sich, auf diese Weise politischen Druck auszulösen, um die desaströsen Verhältnisse in seinem von Korruption und Bürgerkrieg gebeutelten Heimatland zum Besseren zu wenden. Im Verlauf des skurrilen Plots erinnert sich der unverbesserlich Zocker Maali Almeida an wichtige Stationen seines turbulenten Lebens und damit auch an das politische Geschehen in Sri Lanka zu jener Zeit. Tatsächlich gelingt es ihm in einem wahrhaft grotesken, irrealen Geschehen, als Toter auf die Lebenden einzuwirken, so dass seine Fotos dann auch tatsächlich ausgestellt werden. Allerdings wird damit nicht die erwartete politische Wende erreicht, der erhoffte Skandal bleibt aus.

Gleich zu Anfang dieses Totentanzes erlebt der Protagonist, wie seine, und die Leichen anderer, von dafür eigens angeheuerten Arbeitern in einem See versenkt werden sollen. Das gelingt den ziemlich trotteligen Männern aber nicht, so dass schließlich alle Toten notgedrungen ins Kühlhaus zurück transportiert werden müssen. Der Roman ist regelrecht gespickt mit grausamen Szenen. Da werden menschliche Leiber in Stücke zerlegt, es gibt scheußliche Foltermethoden, man begegnet hunderten von Leichen, die Opfer politischer Kämpfe waren, aber oft auch einfach nur willkürlich zum Tode befördert wurden. Die Todes-Schwadronen in Sri Lanka bestehen stets aus Männern, «die keine Soldaten und keine Polizisten» sind, wie es immer wieder heißt im Roman; es herrscht die reine Anarchie. Bei aller cool geschilderten Grausamkeit ist aber stets auch ein Quentchen Humor im Spiel, was der Lektüre ihren ansonsten reichlich vorhandenen Schrecken nimmt.

Man gewöhnt sich als Leser sehr schnell an die irrealen Elemente dieser kreativ gestalteten Groteske aus der Geisterwelt, die Tod und Töten als Normalität behandelt, indem ein Zwischenreich einfügt wird, das den Schauplatz dieses Romans bildet. Er spiegelt damit auf raffinierte Weise seine fiktive, unfassbare Fantasiewelt in den realen, chaotischen Zeiten des Bürgerkriegs. Erzählt wird durchweg in der zweiten Person, also in der Du-Form, und immer auch aus der Perspektive des toten Protagonisten. Dabei werden viele politische Erkenntnisse und diverse philosophische und theologische Themen, meist in Dialogform, eingeblendet, wozu nicht zuletzt die Theodizee gehört. «Jede Zivilisation beginnt mit einem Völkermord», heißt es da zum Beispiel. Ein Figuren-Register und ein Glossar helfen dem Leser bei der Lektüre des umfangreichen Romans, den man sich ein wenig gestraffter wünscht, weil er doch einige Längen aufweist. Mit oft überraschenden zeitlichen und thematischen Sprüngen erfordert er zudem, neben Durchhalte-Vermögen, auch die volle Aufmerksamkeit. «Der Roman sprudelt vor Energie, Einfallsreichtum und Ideen», so die Booker-Prize-Jury von 2022. Dem kann man letztendlich nur zustimmen!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt