Der Koch

suter-1Geistige Schonkost, kein Feinschmeckermenu

Ich habe das Buch „Der Koch“ von Martin Suter erstaunt zur Seite gelegt und mich gefragt, warum ich bis zum Ende durchgehalten habe. Hoffnung hatte mir nach wenigen Seiten die süffisante Schilderung der Kundschaft eines Nobelrestaurants gemacht, gutsituierte ältere Herren verschiedenster Profession, alle in Begleitung ihrer „großen, dünnen, blonden zweiten Frauen“. Nach „Die dunkle Seite des Mondes“ hatte ich keine hohen Erwartungen an diesen Autor, aber auf das Thema Kulinarik war ich denn doch neugierig. Und man will ja auch jedem Autor seine Chance geben, vielleicht wird es am Ende doch noch interessant, unterhaltend oder gar spannend, also lese ich fast immer alles brav bis zum Ende. Leider kam nichts dergleichen, es blieb fade bis zur letzen Seite.

Gleich bei der ersten minutiösen Beschreibung eines der kulinarischen Meisterwerke des tamilischen Kochs und Protagonisten fragt man sich nach dem Sinn solcher Rezepte, die ja wohl weit jenseits des Erfahrungshorizontes fast aller Leser dieses Bestsellerautors liegen dürften. Und wer gar auf die Idee käme, Derartiges nachzukochen, scheitert unweigerlich an der Beschaffung der exotischen Zutaten, von den noch exotischeren Gerätschaften zu Herstellung solcher Kreationen ganz zu schweigen, wer hat denn schon einen ‚Rotationsverdampfer’ in seiner Küche? Den einen oder anderen Leser mag der Einblick in die Molekularküche vielleicht interessieren, für mich war es jedenfalls sterbenslangweilig.

Bei Suter beliebte Versatzstücke wie Politiker, Nobelrestaurants, Fünf-Sterne-Hotels, reiche Geschäftsleute und die begleitenden dienstbaren Geister des horizontalen Gewerbes, die üblichen Verdächtigen also, finden sich natürlich auch in diesem Buch, hinzu kommt hier die Problematik der Tamilen in der Schweiz, Waffenschiebereien, der Bürgerkrieg in Sri Lanka, sogar die Finanzkrise ist eingebaut. Mit diesen literarischen Zutaten und einfach strukturierten, kurzen Sätzen schreibt Suter offensichtlich für eine ganz spezifische Leserzielgruppe, für Leute, die schmökern wollen. Der Plot lässt kein Klischee aus und plätschert spannungslos seinem vorhersehbaren Ende entgegen, immer nach dem Motto ‚bloß keine Überraschungen’. Die Figuren bleiben allesamt seltsam farblos, man gewinnt keinen Zugang zu ihnen. Geistige Schonkost also, kein Feinschmeckermenü.

Schade eigentlich, denn als Nachttisch-Lektüre wäre das Buch durchaus geeignet, geht es doch um die vorgeblich aphrodisische Wirkung von raffiniert zubereiteten Speisen. Und so gelingt es dem Protagonisten zu Beginn des Buches denn auch auf Anhieb, mit einem solchen Menu seine attraktive Kollegin ins Bett zu kriegen. Wobei die sich am nächsten Tag auch noch als Lesbierin outet, was solch spezifisches „Love Food“ geradezu mystisch erhöht. Wer nach dieser Einführung ins Thema im Weiteren aber prickelnde Lektüre erwartet, wird bitter enttäuscht. Dieses Buch ist so unerotisch wie „Pippi Langstrumpf“, steriler geht es kaum. Als beim Happy End die Liebste ihren Koch beim Frühstück fragt, ob er denn so ein „Love Menu“ auch mal für sie kochen würde, lautet die lakonische Antwort: „Nie“. Das sagt wohl alles, über den Protagonisten wie über den Autor.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Arthur & George

barnes-2Very british

Dem Roman «Arthur & George» von Julian Barnes liegt ein der französischen Dreyfus-Affäre ähnlicher Justizskandal zugrunde, die Edalji-Affäre in England, die sich ebenfalls in der Zeit des Fin de Siècle ereignet hat. Wie in Frankreich Émile Zola, so setze sich auch in England ein berühmter Schriftsteller für den offensichtlich zu Unrecht verurteilten George Edalji ein, Sir Arthur Conan Doyle nämlich, der Schöpfer des berühmten Sherlock Holmes. Der Autor verknüpft in seiner weitgehend auf Tatsachen gestützten Geschichte geschickt Wahrheit und Fiktion, zitiert umfangreich aus zeitgenössischen Quellen und lässt andererseits seiner Phantasie freien Lauf, erfindet das, was nicht überliefert ist, ungeniert, aber durchaus stimmig, hinzu. War in Frankreich unverhohlener Antisemitismus der Treibstoff des Skandals, so war in England ein latenter Rassismus im Spiel, das Justizopfer war Sohn eines anglikanischen Pfarrers indischer Herkunft.

In sequenzieller Erzählweise, in jeweils abwechselnd «Arthur» oder «George» betitelten Kapiteln, schildert der für seinen unterschwellig ironischen Schreibstil bekannte Autor in dem vierteiligen Roman den Lebensweg der beiden ungleichen Männer, beginnend in deren frühester Jugend. Arthur stammt aus prekären Verhältnissen und wird Augenarzt, wobei ihm die nicht gerade florierende eigene Praxis viel Zeit lässt zum Schreiben, dem er sich nach ersten Erfolgen denn auch bald ganz zuwendet, und mit seiner faszinierenden Detektivfigur wird er schließlich dann weltberühmt. George, lebensfern und lustfeindlich erzogener Pfarrerssohn, eifert nicht dem Vater nach, er studiert Jura und lässt sich als Rechtsanwalt nieder, lebt aber weiterhin bei seinen Eltern und entwickelt sich allmählich zum Sonderling. Er wird für Straftaten, die er nicht begangen haben kann, zu einer siebenjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Als er sich mit seinem Fall hilfesuchend an Doyle wendet, erreicht dieser in an Sherlock Holmes erinnernder, deduktiver Ermittlungsarbeit und mit Hilfe einiger aufsehenerregenden Zeitungsartikel aus seiner Feder eine halbherzige Rehabilitierung Edaljis.

Neben dem zweifellos spannenden Kriminalfall gewährt dieser Roman auch einen aufschlussreichen Einblick in die englische Gesellschaft jener Zeit, entlarvt deren erschreckende Doppelbödigkeit. Barnes erzählt weit ausholend und genüsslich, man fühlt sich regelrecht in das Geschehen hineingezogen in bester Sherlock-Holmes-Manier, sitzt mit Zigarre und Brandy ebenfalls mit am Kamin. Der Disput von Doyle mit dem böswilligen Polizeichef, der die stümperhaften, vorsätzlich einseitigen, sich bewusst auf unqualifizierte Gutachten stützende Ermittlungen zu verantworten hatte, geführt an eben jenem Kamin, gehört für mich zu den Höhepunkten dieses Romans. Geradezu süffisant erzählt sind die köstlichen Passagen, in denen der atheistische Autor die biedere anglikanische Kirche und den rührend naiven Glauben ihrer zumeist engstirnigen Mitglieder karikiert. Amüsant zu lesen auch die Details einiger Séancen des im Alter zunehmend zum Spiritismus neigenden Sir Arthur Conan Doyle, deren Höhepunkt eine grandiose Gedenkfeier nach seinem Tode bildet, die in der Royal-Albert-Hall mit zehntausend Teilnehmern zelebriert wird, unter denen natürlich auch ein zeitlebens dankbarer George Edalji zu finden ist.

Barnes bislang umfangreichster Roman ist nichts für ungeduldige, ihre Lieblingslektüre verschlingende Krimi-Leser. Man muss sich Zeit nehmen dafür, darf auch scheinbare Umwege nicht scheuen, wird aber stets gut unterhalten in diesem spannenden und den eigenen Horizont erweiternden Gesellschaftsroman aus einer längst vergangenen Epoche. Geduld aber, die gehört nun mal zu den elementarsten britischen Tugenden.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Das Mädchen

kluessendorf-1Kein Wohlfühl-Roman

«Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig». Ob schon im berühmten ersten Satz die ganze Geschichte steckt, wie Edgar Allan Poe als bedeutender Literaturtheoretiker des Neunzehnten Jahrhunderts konstatierte, sei dahingestellt, aber dieser erste Satz hier führt uns gleich äußerst brutal hinein in das bedrückende Leben eines heranwachsenden Mädchens. Und das Foto auf dem Buchumschlag passt so gar nicht dazu, aber auch der Klappentext, in dem von trockenem Humor in der Prosa der Autorin die Rede ist, führt uns in die Irre, denn Humor ist an keiner einzigen Stelle dieses Romans zu finden. Im Gegenteil! Beklemmend, düster, brutal geradezu werden etwa fünf Jahre im Leben der namenlos bleibenden Protagonistin geschildert, der Zeitraum der Pubertät dieses bedauernswerten Menschenkindes. Eine der eher seltenen Geschichten aus dem Prekariat der DDR, die aber ebenso stimmig in der Bundesrepublik hätte angesiedelt sein können, Politik ist kein Thema also, auch wenn immer wieder mal ein Foto von Honecker an der Wand hängt. Der Handlungsort deutet vielmehr auf die biografische Nähe der Verfasserin zu ihrer Figur hin, in der Berufswahl Zootechniker/Mechanisator am Ende des Romans stimmen beide darin jedenfalls überein.

Distanziert, emotionslos, geradezu lakonisch erscheint Klüssendorfs Sprache, in der die Erzählung permanent für Spannung sorgt, indem sie ständig zwischen Ausweglosigkeit und Hoffnung pendelt, den Leser damit aber auch einem ständigen Wechselbad der Gefühle aussetzt, ihn immer wieder zwischen Abscheu und Mitleid schwanken lässt in dieser unsäglichen Geschichte. «Das Mädchen» lebt völlig vernachlässigt mit ihrer alkoholsüchtigen Mutter und ihrem kleineren Bruder in einer familiären Hölle aus Armut, Lieblosigkeit und brutaler Gewalt bis hin zum Sadismus. Die Wirkungen sind verheerend, das malträtierte, vernachlässigte Mädchen reagiert ihrerseits mit Hass, wehrt sich gegen den psychischen und physischen Terror, gleitet in die Kleinkriminalität ab, flüchtet sich aber auch in ihre Träume, sucht verzweifelt einen Halt in der Literatur, versucht dem sozialen Abstieg entgegenzusteuern, die Opferrolle los zu werden. Es gibt keinen Spannungsbogen in diesem Roman, keinen Höhepunkt, auf den alles zuläuft, lauter kleine Begebenheiten reihen sich gleichberechtigt aneinander bis hin zum abrupten Ende, das uns ohne jeden positiven Ausblick in völliger Hoffnungslosigkeit zurücklässt.

Zu dieser düsteren Thematik passt die knapp und kühl wirkende Sprache ideal, durchgängig im Präsens formuliert, fast reportageartig wirkend und sich sehr radikal zurückhaltend mit Deutungen oder Hinweisen, damit den Leser in eine Stimmung versetzend, die nicht gerade als erfreulich bezeichnet werden kann, ihn aber eher wütend macht als melancholisch. Man kommt ins Sinnieren, inwieweit hier Realität abgebildet wird, hofft, es wäre nicht so, ahnt aber, leider doch, es ist real! Was kann aus Menschen werden, die so heranwachsen, die kaum eine Chance haben nach ihrer traumatischen Kindheit, an der sie selbst ja überhaupt keine Schuld tragen?

Ein Wohlfühl-Roman ist dieses schmale Buch also nicht, irgendwie ist man froh, wenn man das Ende erreicht hat, kann aber dann nicht umhin, immer wieder noch mal auf die Geschichte zurückzukommen, ihre Botschaft zu ergründen, auch wenn sich die Autorin jedweder Interpretation enthalten hat. Wofür man ihr dankbar sein muss! Was die Lektüre bewirkt beim Leser, unterscheidet sich erheblich voneinander, aber auch wenn die Mehrheit begeistert ist, ich war es nicht! Was natürlich ganz allein meine Schuld ist, mich hat letztendlich weder der Plot noch die karge Sprache überzeugt in ihrer fragwürdig erscheinenden Sprunghaftigkeit.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Catch 22

heller-1Fragwürdiger Kultroman

Joseph Hellers 1961 erschienener Debütroman «Catch 22» stieß in seiner Heimat USA zunächst auf wenig Begeisterung, wie in einem Nachwort zur deutschen Ausgabe von 1994 nachzulesen ist, wo der Autor sich zur Editionsgeschichte seines Buches äußert. Der absurde Antikriegsroman traf dann später während des Vietnamkrieges den Nerv der kriegsmüden Bevölkerung und wurde plötzlich ein großer Erfolg. Im Unterschied zu «Im Westen nichts Neues» von Remarque wird der Krieg hier als absurd chaotische Veranstaltung dargestellt, sein Wahnsinn durch einen aberwitzigen Plot mit einem völlig irrealen Geschehen karikiert. Eine gewagte literarische Gradwanderung, die dem Kriegsgrauen mit Satire entgegen zu treten sucht, wobei dem Leser das Lachen nicht selten im Halse stecken bleibt.

Handlungsort der absurden Geschichte ist die kleine italienische Insel Pianosa im toskanischen Archipel, nordwestlich der Insel Monte Cristo, die durch Alexandre Dumas’ Roman weltweit bekannt wurde. Hier ist im Zweiten Weltkrieg eine Staffel von B-25 Bombern der US Air Force stationiert, der Protagonist Captain Yossarián ist dort als Bombenschütze eingesetzt. Er hat panische Angst vor dem Tod und versucht mit allen Mitteln, sich durch Krankschreibung vor den Einsätzen zu drücken, oder aber, besser noch, durch Erfüllung der Sollzahl für die Feindflüge gleich ganz aus dem Militärdienst entlassen zu werden. Letzteres wird dadurch vereitelt, dass diese Sollzahl ständig erhöht wird und damit unerreichbar bleibt. Die Problematik des Romans ist in seinem Titel bereits vollständig enthalten, «Catch 22» steht für einen klassischen Circulus vitiosus. Denn nur wer geisteskrank wird, kann auf Verlangen nach Hause geschickt werden; wer dies jedoch verlangt, kann nicht geisteskrank sein, denn genau dieser Wunsch sei ja der Beweis für ein völlig normal funktionierendes Gehirn. Der Truppenarzt Doc Daneeka erklärt Yossarián, dass seine Angst beim Feindflug völlig normal sei, denn hätte er keine Angst, müsse er verrückt sein und wäre folglich ja gar nicht flugfähig. Das absurde «Catch 22» als infame Schikane der amerikanischen Stabsoffiziere wird im englischen Sprachraum inzwischen als geflügeltes Wort für einen Teufelskreis benutzt.

Seine karikaturhaft überzeichneten Figuren dienen als literarisches Vehikel, mit dem Joseph Heller die Dummheit eines absurden militärischen Systems an den Pranger stellt. Sei es, dass sie nur Aufmerksamkeit erregen wollen oder gar Kriegsruhm anstreben, um befördert zu werden, oder ein florierendes Schwarzmarktgeschäft betreiben wie der Verpflegungsoffizier, bei dem selbst der Feind zum Kunden wird, wobei die vorbildliche Zahlungsmoral der Deutschen höchste Anerkennung findet. Als Milo seinem erstaunten Vorgesetzten bei einer Fahrt mit dem Jeep sein erfolgreiches Geschäftsmodell erläutert, landet ein angeschossener B-25 Bomber und explodiert, sie aber fahren ungerührt an dem brennenden Wrack vorbei, völlig in ihr Gespräch über Profite vertieft, – die Süddeutsche Zeitung hat diese bezeichnende Szene aus dem Spielfilm für das Cover ihrer Edition verwendet. Der Verrückteste dieser Truppe desertiert, indem er seine Maschine im Mittelmeer notwassert, um von dort mit seinem Ein-Mann-Rettungsboot nach dem neutralen Schweden zu paddeln! Andere, wie Hungry Joe zum Beispiel, wollen einfach nur nackte Frauen fotografieren, sonst interessiert ihn nichts. Zwischen diesen und noch vielen anderen kauzigen Figuren, von denen fast alle umkommen im Verlaufe des Romans, erscheint Yossarián als zweiter Schwejk, ein Antiheld, der lediglich mit heiler Haut aus dem Schlamassel herauskommen will.

Es wimmelt von Absurditäten in dieser aus aneinander gereihten, grotesken Szenen bestehenden Satire auf menschliche Schlechtigkeit und Dummheit. Die Lektüre erfordert einige Geduld, es stellen sich schon bald störende Längen heraus, und der narrative Wahnsinn nervt in seiner Häufung dann irgendwann auch. Ein für mich eher fragwürdiger Kultroman!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Andernorts

rabinovici-1Auschwitz als Gottesbeweis

Mit seinem zweiten Roman «Andernorts» schaffte der in Tel Aviv geborene Schriftsteller Doron Rabinovici den Sprung auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2010. Der politisch gegen Antisemitismus und Rechtspopulismus á la Jörg Haider engagierte Autor lebt in Wien, wo er über ein historisches Thema promoviert hat, das eng mit den Schicksalen seiner Eltern verbunden ist. Der rumänische Vater war 1944 nach Palästina geflüchtet, die litauische Mutter ist Überlebende eines Vernichtungslagers. Dementsprechend ist das zentrale Thema seiner Geschichte die Suche nach Identität, stehen für ihn die Fragen nach Herkunft und Zugehörigkeit innerhalb einer jüdischen Familie im Blickpunkt, der Titel «Andernorts» weist darüber hinaus auf eine gewisse Zerrissenheit hin, was die Heimat anbelangt.

Und so jettet einer der Protagonisten, Ethan Rosen, hochangesehener Kulturwissenschaftler mit Aussicht auf eine Professur an der Wiener Universität, hektisch rund um den Erdball zu Vorträgen und Konferenzen. Er pendelt zwischendurch der Familie wegen zwischen Tel Aviv und Wien, ist bemerkenswert weltläufig, scheinbar auch überall heimisch und doch nirgends richtig zu Hause. Im Flugzeug lernt er Noa kennen, die sich zwischen den Beiden anbahnende Beziehung jedoch wird seltsam unterkühlt geschildert, Noa bleibt eine farblose Figur. Ethans Gegenspieler und Konkurrent um die Professur ist der Österreicher Rudi Klausinger, mit dem er sich kampfeslustig in Zeitungsartikeln einen verbalen Krieg um Auswüchse der Erinnerungskultur in Auschwitz liefert. Er trifft den Kontrahenten, der als uneheliches Kind in Tel Aviv auf der Suche nach seinem Vater ist, ausgerechnet am Krankenbett des eigenen Vaters wieder. Und der bestätigt denn auch prompt, dessen Erzeuger zu sein, die Zwei sind also Halbbrüder. Nicht genug der irrwitzigen Einfälle in bester Woody-Allen-Manier, stellt sich beim Gentest später heraus, dass die frisch gekürten Halbbrüder weder miteinander noch mit dem Vater verwandt sind, der Vater ist zeugungsunfähig, wie er daraufhin kleinlaut zugibt. Und vollends abstrus wird diese hanebüchene Geschichte, als ein obskurer Rabbi den Messias, der nach seinen unwiderlegbaren Forschungen 1942 als Embryo zusammen mit seiner Mutter in der Gaskammer umkam, mit der DNA direkter männlicher Nachkommen in der Retorte neu entstehen lassen will. Damit bewegt sich Rabinovicis Plot auf Jurassic-Park-Niveau, wenn nun aber zu allem Überfluss ausgerechnet Felix Rosen, der Nicht-Vater unserer beiden Wiener Koryphäen, genetisch als potentieller Spender in Frage kommt, dann ist dieser aberwitzige Plot nur noch peinlich.

Positiv muss man anmerken, dass die Erzählung viele Einblicke liefert in die Mentalität seiner jüdischen Figuren, anschaulich Sitten und Gebräuche schildert und eine Fülle von Begriffen liefert, die Religiöses ebenso beleuchten wie den Alltag jüdischer Familien, und Vieles davon stammt natürlich aus dem Jiddischen. So kann man zum Beispiel über die «Vereinigten Schtetl von Amerika» schmunzeln, als amüsant aber ist die Lektüre trotzdem eher nicht einzustufen. Oder sollte das Alles doch nur ein ironisch gemeinter Bluff sein?

Wohl kaum! Es ist der missglückte Versuch, Vieles auf einmal zu bieten, todernste Themen mit grell Bizarrem zu vermischen wie in dem Disput mit dem Rabbiner, der Auschwitz als Gottesbeweis anführt. Die sprachliche Umsetzung bleibt nüchtern und ist wenig originell. Dabei hätte die Idee mit den vermeintlichen Halbbrüdern oder die Liebesgeschichte einiges an erzählerischem Potential geboten, stattdessen wird der an sich ja interessante akademische Teil fast schon peinlich prätentiös ausgebreitet. Die Identitätssuche der Hauptfiguren wie auch die Darstellung der inneren Zerrissenheit heutiger Israelis zwischen unseliger Vergangenheit und unsicherer Gegenwart lässt den Roman trotz aller Schwächen insoweit als lesenswert erscheinen, – man muss dann allerdings auch bereit sein, öfter mal ein Auge zuzudrücken.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Zeit der Nähe

maxwell-1Reine Beziehungskiste

Der erste literarische Erfolg des US-amerikanischen Schriftstellers William Maxwell stellte sich zwölf Jahre nach seinem Debütroman mit dem im Original 1945 erschienenen Roman «The Folded Leaf» ein, der 1959 in einer überarbeiteten Version neu erschienen ist. Zweiunddreißig Jahre später erst wurde das Buch mit einer Neuübersetzung unter dem Titel «Zeit der Nähe» auch einem breiteren deutschen Publikum bekannt. Maxwell war vierzig Jahre lang als Redakteur für Belletristik im Feuilleton des literarisch einflussreichen «The New Yorker» tätig, ein nach Bekunden seines ersten Herausgebers «nicht für biedere Leser mit eher provinziellen Vorstellungen gedachtes Magazin». Maxwells ungleich berühmterer Kollege John Updike hat über ihn gesagt: «Seine Stimme gehört zu den klügsten und scharfsinnigsten der amerikanischen Literatur». Gleichwohl hat trotz einer Neuauflage in der SZ-Bibliothek der Autor hierzulande wenig Aufmerksamkeit gefunden, ist fast vergessen inzwischen. Warum, fragt man sich.

Wir haben es hier mit einem klassischen Entwicklungsroman zu tun, der sich von 1923 an zeitlich über fünf Jahre erstreckt und örtlich in Chicago angesiedelt ist. Geschildert wird darin die Phase der Adoleszenz zweier Freunde, die sich in einer Highschool erstmals begegnen. Spud Latham, ein durchtrainierter Draufgängertyp, neu an der Schule, befreit beim Wasserpolo den schmächtigen, verträumten Lymie Peters aus misslicher Lage, er wäre beinahe ertrunken. Aus der schier grenzenlosen Dankbarkeit des intelligenten Lymie entwickelt sich eine tiefe Freundschaft der beiden Jungen, sie sind bald unzertrennlich. Spud lädt den mutterlosen Lymie zu sich nach Hause ein, er wird bei den Lathams wie ein Familienmitglied aufgenommen, gehört wie selbstverständlich dazu. Voller Demut ist Lymie stets hilfreich an Spuds Seite, macht sich nützlich, reicht ihm das Handtuch oder schnürt ihm die Boxhandschuhe zu, auf dem College dann teilen sie sich sogar ein Zimmer. Als Spud sich in Sally verliebt, toughe Tochter eines Professors, entsteht auch zwischen ihr und Lymie eine enge Freundschaft, die Drei verstehen sich bestens. Bis Spud irgendwann eifersüchtig wird, sich daraufhin immer mehr zurückzieht, den Kontakt mit seinem devoten Freund meidet. Im Showdown wird es schließlich dramatisch, endet letztendlich aber doch versöhnlich, ganz nach dem von Hollywood repräsentierten Publikumsgeschmack der damaligen Zeit.

«Zeit der Nähe» lässt sich kaum mit den thematisch ähnlichen Romanen von Hesse, Robert Walser, Musil oder Salinger vergleichen, die ich gelesen habe. Zu nüchtern, geradezu spartanisch wird hier erzählt, ein wenig origineller, typisch journalistischer Stil, ohne die Raffinesse eines Ernest Hemingway allerdings. Die erzählerische Wirkung entsteht weitgehend aus den präzise geschilderten Geschehnissen, was minutiöse Ortsbeschreibungen ebenso einschließt wie die Charaktere der handelnden Figuren. Wobei die Protagonisten trotz allem seltsam blutleer bleiben, man bekommt emotional keinen Zugang zu ihnen, eine Identifikation gar mit ihrer Persönlichkeit findet nicht statt.

Umso ergiebiger ist die im Erzählstoff steckende psychologische Problematik, einerseits eine schon fast ins Homoerotische deutende Intimität zwischen den beiden Freunden, ein klassisches Herr-und-Diener-Verhältnis mit masochistischer Komponente zudem, andererseits jene plötzlich aufbrechende Rivalität, die in ihrer Verschiedenheit begründet liegt. Hinzu kommt der weibliche Störfaktor in Person von Sally, mit der eine fragile Dreier-Konstellation entsteht, die auf Dauer kaum gut gehen kann. Maxwells Fokus ist einseitig auf das Herausarbeiten dieser problematischen Verflechtungen gerichtet, vieles andere bleibt einfach ausgeblendet in seinem Mikrokosmos. Psychologisch interessierte Leser dürften sich wohl fühlen in Maxwells tiefgründiger Seelenlandschaft, plot-orientierte hingegen werden sich langweilen und stilistisch anspruchsvolle werden enttäuscht sein.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Sturz der Tage in die Nacht

ravic strubel-1Faustisches Begehren

Der 1988 erschienene Roman «Lob der Stiefmutter» gehört in die Reihe erotischer Werke des peruanischen Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa, dem neun Jahre später mit « Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto» eine Fortsetzung folgte. Der Autor hat seinen Text von der Unausweichlichkeit des Begehrens als «ein klein wenig surreal» bezeichnet und sich unter anderem von de Sade inspirieren lassen, schon im Titel kann man die Dramatik seiner Geschichte vorausahnen. «Man trage seine Laster wie einen Königsmantel», zitiert er in einem vorangestellten Text aus César Moros Gedicht «Tödliche Liebe» und weist damit bereits auf die verstörende Souveränität der Protagonisten seiner lüsternen Tragikkomödie hin.

Der verwitwete Don Rigoberto hat die geschiedene Doña Lukrezia geheiratet, eine vierzigjährige, schöne und sinnenfrohe Frau mit üppig ausgeprägten weiblichen Attributen, denen sich ihr liebestoller Mann immer wieder genussvoll widmet. Alfonso, der engelsgleiche Stiefsohn, im Roman nur als das «Kind» bezeichnet, sucht die Nähe zu seiner Stiefmutter, schmust mit ihr, überschüttet sie geradezu mit kindlichen Liebesbezeugungen. Die laszive Frau gibt den Avancen des «Kindes» in einem schwachen Moment schließlich nach: «Es war ein unbezwingbarer Affekt gewesen, stärker als ihr Instinkt für Gefahr. Sie ließ sich auf das Bett gleiten, während sie gleichzeitig den Kleinen an sich zog, sanft, als fürchtete sie, ihn zu zerbrechen». Es folgen weitere Sexualakte, bis Alfonso eines Tages den Vater naiv fragt: «Papa, was heißt eigentlich Orgasmus?» Das Wort habe er von der Stiefmutter, erklärt er seinem völlig konsternierten Vater, «Sie hat mir gesagt, dass sie einen wunderschönen Orgasmus gehabt hat». Als der Vater, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, nach den heutigen Hausaufgaben fragt, zeigt das «Kind» ihm einen Aufsatz unter dem Titel «Lob der Stiefmutter», in dem Alfonso von seinen erotischen Erlebnissen erzählt. Don Rigoberto jagt daraufhin seine untreue Frau aus dem Haus, Alfonso aber gesteht dem Hausmädchen im Epilog, dass er die Stiefmutter vertreiben wollte, um mit ihr und dem Vater allein zu sein.

In den vierzehn Kapiteln seines Romans breitet Vargas Llosa trickreich seine erotischen Fantasien vor dem Leser aus, wobei er seine literarische Methode der Desorientierung ebenso einsetzt wie die gezielten Tabubrüche. Das Alter des «Kindes» ist dabei besonders verstörend, Alfonso erscheint einerseits als kleiner, engelsgleichen Knabe, der andererseits aber sehr wohl in der Lage ist, seiner Stiefmutter «einen wunderschönen Orgasmus» zu bescheren. Der vermeintliche Inzest allerdings ist keiner, es fehlt die Blutsverwandtschaft als Kriterium, allenfalls liegt Pädophilie vor. Mit diversen Einschüben erweitert der Autor seine Geschichte ins Mystische, so im zweiten Kapitel über Kandaules, den König von Lydien, von dem wir erfahren, dass sein ganzer Stolz die erogene Kruppe seiner Frau sei. «Ich wiederhole es noch einmal: Kruppe. Nicht Hintern, nicht Arsch, nicht Gesäß, nicht Hinterbacken, sondern Kruppe». Vargas Llosa interpretiert im Buch abgebildete Gemälde wie «Diana nach dem Bade», «Venus mit Amor und Musik» und ein abstraktes Werk, das im Wohnzimmer hängt und zu obszönen Deutungen Anlass gibt, er berichtet über die Sexualität einer verstörenden, homunkulus-artigen Kreatur, sogar eine Sequenz mit der Jungfrau Maria fehlt nicht. Breiten Raum nimmt auch der kultische Reinheitsfimmel Don Rigobertos ein, seine heiligen Waschungen werden gekrönt von intimsten Details seines Verdauungsapparates, das Klo fungiert quasi als literarische Bühne.

Man könnte vom Lob der Sexualität sprechen bei diesem aphrodisischen Roman über die weibliche Souveränität, die Lukrezia hier so unbeirrt vorlebt, er handelt aber auch von den faustischen Abgründen, die sich in der teuflischen Figur des perfiden Alfonso auftun, literarisch überzeugt allerdings haben mich diese zusammen gewürfelten Textpassagen leider nicht.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Lob der Stiefmutter

vargas llosa-2Faustisches Begehren

Der 1988 erschienene Roman «Lob der Stiefmutter» gehört in die Reihe erotischer Werke des peruanischen Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa, dem neun Jahre später mit « Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto» eine Fortsetzung folgte. Der Autor hat seinen Text von der Unausweichlichkeit des Begehrens als «ein klein wenig surreal» bezeichnet und sich unter anderem von de Sade inspirieren lassen, schon im Titel kann man die Dramatik seiner Geschichte vorausahnen. «Man trage seine Laster wie einen Königsmantel», zitiert er in einem vorangestellten Text aus César Moros Gedicht «Tödliche Liebe» und weist damit bereits auf die verstörende Souveränität der Protagonisten seiner lüsternen Tragikkomödie hin.

Der verwitwete Don Rigoberto hat die geschiedene Doña Lukrezia geheiratet, eine vierzigjährige, schöne und sinnenfrohe Frau mit üppig ausgeprägten weiblichen Attributen, denen sich ihr liebestoller Mann immer wieder genussvoll widmet. Alfonso, der engelsgleiche Stiefsohn, im Roman nur als das «Kind» bezeichnet, sucht die Nähe zu seiner Stiefmutter, schmust mit ihr, überschüttet sie geradezu mit kindlichen Liebesbezeugungen. Die laszive Frau gibt den Avancen des «Kindes» in einem schwachen Moment schließlich nach: «Es war ein unbezwingbarer Affekt gewesen, stärker als ihr Instinkt für Gefahr. Sie ließ sich auf das Bett gleiten, während sie gleichzeitig den Kleinen an sich zog, sanft, als fürchtete sie, ihn zu zerbrechen». Es folgen weitere Sexualakte, bis Alfonso eines Tages den Vater naiv fragt: «Papa, was heißt eigentlich Orgasmus?» Das Wort habe er von der Stiefmutter, erklärt er seinem völlig konsternierten Vater, «Sie hat mir gesagt, dass sie einen wunderschönen Orgasmus gehabt hat». Als der Vater, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, nach den heutigen Hausaufgaben fragt, zeigt das «Kind» ihm einen Aufsatz unter dem Titel «Lob der Stiefmutter», in dem Alfonso von seinen erotischen Erlebnissen erzählt. Don Rigoberto jagt daraufhin seine untreue Frau aus dem Haus, Alfonso aber gesteht dem Hausmädchen im Epilog, dass er die Stiefmutter vertreiben wollte, um mit ihr und dem Vater allein zu sein.

In den vierzehn Kapiteln seines Romans breitet Vargas Llosa trickreich seine erotischen Fantasien vor dem Leser aus, wobei er seine literarische Methode der Desorientierung ebenso einsetzt wie die gezielten Tabubrüche. Das Alter des «Kindes» ist dabei besonders verstörend, Alfonso erscheint einerseits als kleiner, engelsgleichen Knabe, der andererseits aber sehr wohl in der Lage ist, seiner Stiefmutter «einen wunderschönen Orgasmus» zu bescheren. Der vermeintliche Inzest allerdings ist keiner, es fehlt die Blutsverwandtschaft als Kriterium, allenfalls liegt Pädophilie vor. Mit diversen Einschüben erweitert der Autor seine Geschichte ins Mystische, so im zweiten Kapitel über Kandaules, den König von Lydien, von dem wir erfahren, dass sein ganzer Stolz die erogene Kruppe seiner Frau sei. «Ich wiederhole es noch einmal: Kruppe. Nicht Hintern, nicht Arsch, nicht Gesäß, nicht Hinterbacken, sondern Kruppe». Vargas Llosa interpretiert im Buch abgebildete Gemälde wie «Diana nach dem Bade», «Venus mit Amor und Musik» und ein abstraktes Werk, das im Wohnzimmer hängt und zu obszönen Deutungen Anlass gibt, er berichtet über die Sexualität einer verstörenden, homunkulus-artigen Kreatur, sogar eine Sequenz mit der Jungfrau Maria fehlt nicht. Breiten Raum nimmt auch der kultische Reinheitsfimmel Don Rigobertos ein, seine heiligen Waschungen werden gekrönt von intimsten Details seines Verdauungsapparates, das Klo fungiert quasi als literarische Bühne.

Man könnte vom Lob der Sexualität sprechen bei diesem aphrodisischen Roman über die weibliche Souveränität, die Lukrezia hier so unbeirrt vorlebt, er handelt aber auch von den faustischen Abgründen, die sich in der teuflischen Figur des perfiden Alfonso auftun, literarisch überzeugt allerdings haben mich diese zusammen gewürfelten Textpassagen leider nicht.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Fräulein Smillas Gespür für Schnee

hoeg-1Eiskalte Groteske

Dem dänischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Peter Høeg gelang mit seinem Roman «Fräulein Smillas Gespür für Schnee» 1992 international der Durchbruch. Der mit einigen Preisen, unter anderem dem Deutschen Krimipreis, ausgezeichnete Roman erlangte schnell Bestsellerstatus und wurde schon bald auch verfilmt, wenig überzeugend allerdings. Nicht zuletzt unter diesem Eindruck hat der Autor eine Verfilmung seiner Werke künftig generell ausgeschlossen, er wolle nicht, dass der bildlichen Phantasie seiner Leser durch den Film Grenzen gesetzt werde. Eine wie ich meine durchaus honorige und nachahmenswerte Position, misslungene Verfilmungen gibt es ja zuhauf, wie Romanleser aus leidvoller Erfahrung wissen. Diametral steht dem allerdings der schnöde Mammon gegenüber, die kaum auszuschlagenden finanziellen Verlockungen für die Autoren.

Das Kopfkino des Lesers bekommt jedenfalls reichlich zu tun, um den rasanten Plot mit Smilla Jaspersen, der robusten und überaus zähen Ich-Erzählerin, in Bilder umzusetzen. Der in drei Teile gegliederte, vorwärtsdrängend im Präsenz erzählte Roman ist mehr als ein Krimi, er ist zugleich auch Großstadt-, Wissenschafts- und Grönland-Roman, widmet sich der entseelten Metropole ebenso wie der Gletscherkunde und der Unterdrückung der indigenen Eskimo-Bevölkerung Grönlands. Smilla, halb Inuk und halb Dänin, eine 37jährige arbeitslose Mathematikerin und Geologin, kommt nach dem rätselhaften Todessturz eines kleinen Eskimojungen vom Dach ihres Wohnblocks in Kopenhagen einem kriminellen Komplott von skrupellosen Naturforschern auf die Spur. Sie erkennt an einem winzigen Detail der Spur des Jungen in dem Schnee, der auf dem Dach liegt, dass es Mord war. Dessen Hintergründe will sie klären, die Polizei allerdings ist wenig interessiert, behindert sie eher, und wie besessen von ihrer Mission stürzt sie sich couragiert in ein ebenso turbulentes wie gefährliches Abenteuer, das im Grönland-Eis endet. Mehr zu erzählen verbietet sich bei einem von der Spannung lebenden Roman wie diesem natürlich.

Auch wer wie ich nicht gerade ein Krimifreund ist, wird von dem erzählerischen Sog des handlungsreichen Romans unweigerlich mitgerissen, es geht quasi Schlag auf Schlag. Aber nicht nur das ist Grund für den Spaß beim Lesen, weit mehr hat mich die flapsige, schlagfertige, immer wieder überraschende, ebenso kreative wie amüsante Erzählweise des Autors in ihren Bann gezogen, man kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus. «Moritz verkehrt dort, weil die Küche gut ist, die Preise sein Selbstgefühl anregen und er es mag, dass man durch die fassadenhohen Spiegelscheiben einen guten Ausblick auf die Leute auf der Straße hat. Benja geht mit, weil sie weiß, dass die Leute auf der Straße durch dieselben Scheiben einen guten Ausblick auf sie haben. Sie haben einen festen Tisch am Fenster und einen festen Ober, und sie essen immer dasselbe. Moritz nimmt Lammniere, Benja eine Schale mit der Sorte Futter, die man Kaninchen gibt.»

Wie zu befürchten lässt der Schwung der Erzählung ab der Mitte spürbar nach, es schleichen sich Längen ein in den 500seitigen Roman, speziell was die wissenschaftliche Thematik anbelangt. Man hat oft Probleme, die Fülle von Details richtig einzuordnen, ihre Relevanz für die Geschichte zu erkennen, wobei die vielen Figuren, speziell was die skurrile Besatzung des Schiffes anbelangt, ebenfalls für einige Verwirrung sorgen. Auch das Ende hat mich nicht wirklich überzeugt, es bleibt zu vieles unplausibel, der Showdown ist absurd überzeichnet. Bei einem ansonsten konsequent dem Realismus verpflichteten Text ein ziemliches Manko, zumindest für die plot-orientierten Leser. Bereichend jedoch sind Grönland, Eis und Schnee als unwirtliche arktische Kulisse, auch die Verhältnisse auf einem Küstenmotorschiff sind für Landratten natürlich interessant, erheiternd aber ist die unbekümmert nassforsche Sprache, in der diese zuweilen fast groteske Geschichte erzählt wird.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Die Gesellschaft vom Dachboden

kreuder-1Ein Griff in die hinterste Reihe

«Meine Zeit wird kommen» hat der Komponist Gustav Mahler, der letzte Romantiker nach eigenem Bekunden, einst prophezeit, und er sollte Recht behalten, die Wiederentdeckung seines sinfonischen Werkes mehr als fünfzig Jahre später verlief triumphal. Dem literarischen Werk Ernst Kreuders ist eine solche späte Anerkennung, bisher jedenfalls, versagt geblieben, er gehört zu den vergessenen Literaten, ein Los, das er mit vielen anderen teilt. Wer die Erzählung «Die Gesellschaft vom Dachboden» gelesen hat, 1946 erschienen, das bekannteste und seinerzeit erfolgreichste Buch des mit dem Büchner-Preis geehrten Autors, dürfte über die Ignoranz des lesenden Publikums unserer Tage ins Grübeln kommen. Eine Haltung übrigens, die jeden Verlag zögern lässt, solche alten Schätze in Neuauflage noch einmal herauszubringen, was natürlich schade ist.

Kreuder gehört zu den romantischen Dichtern, seine Erzählung über eine Gruppe von «Aussteigern«, wie man heute sagen würde, ist ebenso gesellschaftskritisch wie mystisch, sie trägt darüber hinaus unverkennbar märchenhafte Züge. Den wundersamen Plot zu erzählen erspare ich mir, nur soviel sei verraten: Der Dachboden eines Kaufhauses, voll gestellt mit Gerümpel, dient einer illustren Gruppe von Männern als Treffpunkt und Unterkunft. Man gründet einen «Bund der Sieben», beschließt ein Programm für die Gruppe und definiert als deren Tugenden Aufrichtigkeit, Anhänglichkeit, Beharrlichkeit, Barmherzigkeit, Überschwänglichkeit, Friedfertigkeit und Unüberwindlichkeit. Ich-Erzähler Berthold, dessen Erlebnisse die Handlung bilden, ist Schriftsteller, in seinen Ansichten und seiner Haltung ein Alter Ego von Ernst Kreuder. Alle Protagonisten sind ebenso wundersame wie urige Gestalten, von ihm liebevoll charakterisiert und darüber hinaus dargestellt als krasse Gegenentwürfe zu den Normalbürgern, die nicht zu leben verstünden. «Viele leben gar nicht, denn sie haben keine Zeit. Sind wie Leichen, die man auf Arbeit schickt. Die Städte sind voll davon, nur die Sucht nach Genüssen bewirkt, dass sie sich regen, dass sie zappeln und toben».

Der Wortführer der Gruppe, der gerne Reden hält und sich dabei oft ins Pathetische verliert, resümiert an einer Stelle, auch wenn «Dostojewski versichert hatte, es gäbe für ihn nichts Dümmeres als eine Tatsache», seien alle modernen Schriftsteller gleichwohl doch «Tatsachenschreiber». An anderer Stelle heißt es ergänzend: «Dummheit ist der Mangel an Phantasie». Genau den aber kann man Kreuder nicht vorwerfen, seine Erfindungsgabe scheint grenzenlos, er phantasiert sich unbeeindruckt von den Fakten einer «physikalischen Welt» seine ganz eigene «metaphysische Welt», die keiner Logik unterworfen ist, ohne aber ins naiv Utopische abzugleiten.

All das wird in einer angenehm zu lesenden, klaren und schnörkellosen Sprache ohne jedes literarische Raffinement vor dem Leser ausgebreitet, was in einem durchaus reizvollen Kontrast steht zu dem traumhaften, weltfremden Geschehen, über das da so nüchtern und sachlich berichtet wird. Zweifellos aber ist diese Geschichte nicht als Parodie gedacht oder als Märchen für Erwachsene, Kreuder erfüllt damit seine ganz eigene Mission, die Bloßstellung gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, das Anprangern einer sinnentleerten Lebensweise und der kollektiven Blindheit für das elementar Schöne in der Welt. Insoweit also ein Buch zum Träumen, aber auch zum Nachdenken, zum Weiterdenken. Mir haben besonders die Passagen gefallen, in denen es um Literatur geht und Kreuder so manchen Seitenhieb auf die Kollegen seiner Zunft austeilt, denen er Phantasielosigkeit unterstellt, dabei aber die Erwartungshaltung der Leserschaft ignorierend. Auch über die verblüffende Selbstverständlichkeit, mit der die aberwitzigsten Situationen geschildert werden, musste ich oft schmunzeln, was ja schön ist und den Lesegenuss angenehm erhöht. Manchmal, das hat sich hier gezeigt, lohnt sich der Griff in die hinterste Reihe des Bücherschranks eben doch, einer allgemeinen Wiederentdeckung allerdings dürfte der Zeitgeist entgegenstehen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Der große Gatsby

fitzgerald-1Man kann wohl nicht alles haben

Bereits als junger Schriftsteller hatte Franzis Scott Fitzgerald beachtliche Erfolge mit seinen Kurzgeschichten, was ihm schon früh ein Leben auf großem Fuße ermöglichte. Gleichwohl war er, der sich in den 1920er Jahren in Paris mit Hemingway angefreundet hatte, als typischer Vertreter der Lost Generation skeptisch veranlagt. Gerade auch, was sein schriftstellerisches Werk anbelangt, und in der Tat war er 1940 bei seinem frühen Tod mit nur 44 Jahren bereits weitgehend in Vergessenheit geraten. Einem breiteren Publikum wurde er erst posthum durch die erfolgreiche Verfilmung seines Romans «Der große Gatsby» bekannt. Dieses stark autobiografisch beeinflusste Buch entwickelte sich daraufhin ebenfalls weltweit zum Bestseller und zählt inzwischen zur bedeutendsten Prosa der amerikanischen Moderne. Zu Recht?

Der Roman ist eine literarische Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Traum in den Roaring Twenties. Nick, ein armer junger Mann vom Lande, kommt aus dem College nach New York, um Börsenhändler zu werden. Er mietet sich ein bescheidenes kleines Häuschen, unmittelbar neben einer feudalen Villa gelegen. Ein geheimnisvoller, unermesslich reicher junger Selfmademan scheint dort ununterbrochen pompöse Partys zu feiern, mit einer ebenso riesigen wie illustren Gästeschar. Als Nick, aus dessen Perspektive die gesamte Geschichte erzählt wird, seinen Nachbarn Jay Gatsby näher kennen lernt, stellt sich heraus, dass dessen ganzes Streben nur darauf gerichtet ist, seine Jugendliebe Daisy wieder für sich zu gewinnen. Er war damals, fünf Jahre ist das her, ein junger Habenichts, sie stammte aus reichem Elternhause. Der Militärdienst hatte sie getrennt, inzwischen ist Daisy nun verheiratet. Und wie es der Zufall will – oder besser der Autor -, ist Daisy Nicks Cousine, eine lebenslustige und verwöhnte Frau, die mit ihrem reichen Mann ein luxuriöses Leben führt. Wie man sich denken kann, ist in dieser Konstellation bereits ein veritables Drama angelegt, verschärfend kommt aber noch hinzu, dass Daisys Ehemann Tom ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hat, für die Tete-a-tetes mit ihr hat er in New York extra eine Wohnung angemietet.

Mehr zu erzählen wäre unfair dem potentiellen Leser gegenüber, interessant finde ich, dass Fitzgerald als junger Mann selbst in einer solchen Situation war, als armer Schlucker nämlich einer jungen Upperclass-Frau nichts bieten zu können, vergeblich um sie zu werben. Bei seiner späteren Frau Zelda Sayre ging es ihm zunächst ähnlich, sie lehnte eine Ehe mit ihm ab, erst nach einigen finanziellen Erfolgen hat sie ihn schließlich doch geheiratet – und mit ihm einige wilde Jahre verbracht. Diese Klassenunterschiede in der Gesellschaft der Vereinigten Staaten thematisiert der Autor hier ebenso wie Probleme durch Alkoholismus oder Depressionen, aber auch durch Hedonismus und Dekadenz als Folgen einer ungerechten, einseitig die Oberklasse begünstigenden Prosperität.

Ernest Hemingway hatte den Schreibstil seines Freundes Fitzgerald als zu affektiert bezeichnet. Mich hingegen hat dieser dialogreiche Roman sprachlich durchaus überzeugt, vom Duktus her passt er nämlich bestens zum Sujet einer zum Scheitern verurteilten, süßlichen Traumwelt á la «Vom Winde verweht». Angenehm zu lesen also, einlullend geradezu, der bewährten amerikanischen Erzähltradition folgend, nur dass es hier mit drei Toten krimineller zugeht als bei Margaret Mitchell. Der Plot ist wahrhaft kinotauglich konstruiert, es gibt dementsprechend entschieden zu viele Zufälle, um ihn wirklich ernst zu nehmen. In diesem Drama, einem geradezu psychotisch anmutenden Kampf des superreichen Ex-Lovers um seine gleichermaßen genusssüchtige wie oberflächliche Traumfrau, ist die Katharsis mit ihrer Geld-macht-nicht-glücklich lautenden Botschaft auch nicht gerade originell. Man kann wohl nicht alles haben, das gilt für Jay Gatsby, erst recht aber für den Leser dieser banalen Geschichte.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Anaconda

Billard um halb zehn

boell-4Balsam auf des Lesers Seele

Wer würde sich das nicht wünschen, als unverrückbaren Fixpunkt «Billard um halb zehn» in seinem Tagesablauf eingebaut zu haben wie der Statiker Robert Fähmel in Heinrich Bölls gleichnamigem Roman von 1959? Nach einer Stunde Büroarbeit nämlich verbringt sein Held täglich eineinhalb Stunden am Billardtisch im besten Hotel der Stadt, bei gutem Cognac, versteht sich, und niemand darf ihn stören dabei. Der Autor erzählt die Geschichte dreier Generationen einer Kölner Architekten-Dynastie, in der sich die politischen Ereignisse von 1907 bis 1958 spiegeln, fünf Jahrzehnte also, die überdeutlich ihre Spuren hinterlassen haben mit zwei Weltkriegen, zwischen Kaiserreich und Wirtschaftwunder.

Vordergründig spielt sich der Roman in der (damaligen) Jetztzeit ab, mit Kulminationspunkt am 6. September 1958, dem achtzigsten Geburtstag des Patriarchen Heinrich Fähmel. Dessen erster Großauftrag, nach überraschendem Gewinn einer Ausschreibung für ein neues Kloster, legte einst den Grundstein für seinen Erfolg als Architekt. Sohn Robert hat sich lieber der Statik zugewendet, am Ende des Zweiten Weltkriegs sprengt er als hochqualifizierter Spezialist die gesamte Klosteranlage, – vordergründig auf Anweisung eines verrückten Generals, der freies Schussfeld fordert zur Abwehr des alliierten Vormarsches, letztendlich aber auch nicht ganz ohne eigene politische und persönliche Motive. Enkel Joseph wiederum ist als Architekt am Wiederaufbau der Abtei seines Opas beteiligt, will die Arbeit aber nicht zu Ende führen und lieber als Statiker in das Büro des Vaters eintreten. In weiträumigen Rückblenden wird um diesen engen Handlungsrahmen herum die wechselvolle Geschichte der Architekten-Familie erzählt, beleuchtet aus den unterschiedlichsten Perspektiven, auch Freunde und Randfiguren sind intensiv mit einbezogen. Dabei steht, wie immer, die Moral im Mittelpunkt von Bölls Interesse, der Gegensatz von hochanständig handelnden Menschen zu den skrupellosen Opportunisten, im Roman von ihm symbolisiert als «Lamm» versus «Büffel», die Konflikte ziehen sich quer durch die Familien. Obwohl hin und wieder ein wenig Humor durchscheint, ist dies eine eher tragische, geradezu elegische Geschichte, die in einem Pistolen-Attentat auf einen der Nazitäter gipfelt. Gleichwohl wird am Schluss der Geburtstagskuchen angeschnitten, ein grandioses Modell des Klosters, aus Teig geformt, – ein ebenso überraschendes wie versöhnliches Ende, unerwartet nach dem, was voranging.

Individueller menschlicher Größe steht hier die massenhafte Verblendung gegenüber, der kollektive Größenwahn eines fehlgeleiteten Volkes, der in der Katastrophe enden muss. Böll gelingt es, seine Figuren absolut wahrhaftig, wunderbar stimmig darzustellen, man sieht sie greifbar vor sich beim Lesen, authentische Charaktere verkörpernd, die man zu kennen glaubt. Erzählerisches Glanzstück war dabei für mich gleich zu Beginn die humorvolle Szene mit dem Faktotum Jochen im Hotel Prinz Heinrich, wo detailreich und listig aus dem Alltag eines Hotelportiers erzählt wird, eine ganz eigene Welt heraufbeschwörend, in der es menschelt allenthalben. Dieses zutiefst Menschliche ist es, was Bölls originäre Prosa vor allem auszeichnet und das Lesen zur reinen Freude werden lässt. Wobei seine Sympathie unübersehbar den kleinen Leuten gehört, den Schwächeren, den Verlierern, – auch das ist Balsam auf des Lesers Seele.

Sprachlich eine leicht lesbare Lektüre, mit viel rheinischem Lokalkolorit, komprimiert und ohne schwülstige Abschweifungen zielgerichtet erzählt, stellt dieser Roman an die Aufmerksamkeit seiner Leser dennoch erhöhte Anforderungen. Nicht immer erschließt sich einem nämlich sofort die Perspektive, aus der, meist in Form des inneren Monologs, berichtet wird, ein literarisches Puzzle also, bestehend aus nicht chronologisch geordneten Rückblenden, die sich erst allmählich zu einem Gesamtbild formen. Das allerdings ist dann wirklich überzeugend.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Interessengebiet

amis-1Anus mundi

Als Enfant terrible der englischen Literatur ist der erfolgreiche Schriftsteller Martin Amis schon häufig befehdet worden in seiner Heimat. Was ihm jedoch bei seinem neuesten Roman «Interessengebiet» passiert ist, das stellt zweifellos den absoluten Gipfelpunkt der Missbilligung dar. Sein Roman wurde beim deutschen Hanser-Verlag schlicht und ergreifend abgelehnt, in Frankreich bei Gallimard übrigens auch. Wenn man allerdings weiß, dass der Titel des Romans die Bezeichnung der SS für den gesamten Lagerbereich des KZs Auschwitz war, erahnt man den Sprengstoff, der diese drastischen Reaktionen bewirkt hat, der Holocaust ist – und bleibt wohl auf ewig – ein brisantes Thema. Und so fand der umstrittene Roman nur auf dem Umweg über die Schweiz zu uns. Die Aufregung erinnert mich an Jonathan Littels «Die Wohlgesinnten» und wirft natürlich auch hier die gleiche Frage auf, ob nämlich aus Tätersicht erzählte Holocaust-Romane einen fremdsprachigen Autor bedingen. Könnte, frage ich, ein dem Tätervolk angehörender, renommierter Autor, ohne einen Skandal auszulösen, ebenso locker und ironisch das Grauen als wohlfeilen Background für seine Erzählung benutzen?

Äußerer Rahmen der Handlung ist die Geschichte einer Liebe auf den ersten Blick, der draufgängerische Golo Thomsen, isländischer Herkunft, SS-Verbindungsoffizier zu den Buna-Werken der IG Farben, verliebt sich unsterblich in Hannah, die Frau des Kommandanten von Auschwitz, Paul Doll. In sechs Kapiteln, ergänzt um ein mit «Nachspiel» überschriebenes Schlusskapitel, entwickelt der Autor seine verstörende Geschichte, in deren Mittelpunkt im wesentlichen das KZ-Lagerleben steht, das in wechselnden Unterkapiteln aus der Perspektive der drei Ich-Erzähler Golo, dem versoffenen und überforderten Doll sowie von Szmul erzählt wird. Letzterer ist ein Häftling, der als Kapo eines Sonderkommandos fungiert, das den Vergasten die Goldplomben entfernen und die Haare abschneiden muss, um die Leichen anschließend ins Krematorium zu bringen. All dies ist schon vielfach geschildert worden, der Autor fügt dem Schreckensszenario absolut nicht Neues hinzu.

Eine gewisse Spannung erhält der Plot dadurch, dass die sich anbahnende Romanze des als Schwerenöter beschriebenen Golo mit Hannah natürlich hochgefährlich wäre, schließlich ist Doll als Kommandant unumschränkter Herr über Leben und Tod im Lager. Doch Golo genießt seinerseits Protektion aus Berlin, ausgerechnet Martin Bormann nämlich ist sein Onkel, Hitlers einflussreicher Privatsekretär, die graue Eminenz im Tausendjährigen Reich. Genau hier aber gleitet die Geschichte ins Kitschige ab, die Gespräche von Golo mit Onkel Martin und Tante Gerda, in denen auch deren unkonventionelles Sexleben nicht ausgespart bleibt, sind absolut unwirklich. Meist drehen sich die in einem besonderen Lagerjargon gehaltenen Gespräche um die Logistik des Todes, um ökonomische Probleme, um die wenigen Veranstaltungen, die für die Offiziere Abwechslung in das trostlose Lagerleben bringen, und – abstoßend vulgär – um Frauen natürlich. Der Jude Szmul wiederum fungiert als moralische Instanz, er will heimlich notieren, was im Lager wirklich passiert, er will der Nachwelt damit Zeugnis ablegen über das Unsagbare, das doch so unsäglich erscheint.

Die Liebesgeschichte inmitten des Grauens hat einen unerträglich bitteren Beigeschmack, auch wenn uns Lesern ein Happy End erspart bleibt. Das Figurenensemble verkörpert allzu klischeehaft jene scheußlichen Menschentypen, die eine solch extreme Ausnahmesituation auszuformen imstande ist. Die fiktionale Überhöhung impliziert eine Verharmlosung, die mir unerträglich erscheint angesichts des historischen Geschehens. Als Satire im Stil von Monty Python ist der Roman jedenfalls rettungslos missglückt, eventuell vorhandene moralische Absichten werden damit auf böse Art konterkariert. Und ohne Auschwitz, im Lagerjargon Anus mundi, soviel ist auch sicher, wäre «Interessengebiet» ein Schundroman, der kaum jemanden interessiert.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Kein & Aber Zürich

Glücklich die Glücklichen

reza-1Nur für Pessimisten

Unter dem tautologischen Titel «Glücklich die Glücklichen» hat die französische Schriftstellerin Yasmina Reza ihr neuestes Buch vorgelegt. Ihre Karriere begann sie als Schauspielerin und Dramatikerin, seit 1998 hat sie ihr Œuvre um Prosa erweitert. Einem breiteren Publikum ist sie spätestens seit der grandiosen Verfilmung ihres Theaterstücks «Der Gott des Gemetzels» durch Roman Polanski bekannt. Wer diesen Spielfilm gesehen hat mit seinen funkelnden Wortgefechten, dürfte, wie ich auch, neugierig geworden sein auf die Prosa dieser Autorin.

Formal gliedert sich ihr Buch, das als Roman firmiert, in einundzwanzig jeweils für sich stehende Kurzgeschichten, überschrieben mit den Namen der achtzehn Figuren, aus deren Perspektive darin berichtet wird. Es beginnt gleich dramatisch mit Robert, der mit seiner Frau an der Käsetheke eines Supermarktes aus nichtigem Anlass in einen heftigen, beinahe handgreiflichen Streit gerät. Ausraster dieser Art sind als Handlungseffekte typisch für Yasmina Reza, sie arrangiert mit solch verbalem Gemetzel genüsslich die Selbstmontage ihrer Figuren. Der drei Generationen umfassende Menschenzoo, den wir da vorgeführt bekommen, beschränkt sich soziologisch auf die heutige Mittelschicht. Vertreten ist da der Politiker ebenso wie der Jurist, Arzt, Direktor, Journalist oder Chauffeur, die Schauspielerin oder die Sprechstundenhilfe. Es sind Familien, Paare und Einzelgänger, die in einem weiten Beziehungsgeflecht gesellschaftlich, freundschaftlich, familiär, ehelich oder amourös miteinander verbunden sind. Hinter der intakten Fassade erweisen sich viele dieser Beziehungen im besten Fall als brüchig, oft aber auch als längst zerstört. Das Neurotische im personalen Ensemble der Autorin reicht vom tüchtigen Onkologen, der sich im Stadtpark devot mit jungen Strichern einlässt, über die Schauspielerin, die mit ihrer Neigung zur Selbstverleugnung immer bei den unmöglichsten Männern landet, bis hin zum schizophrenen Sohn, der sich derart in seine Begeisterung für Céline Dion hineinsteigert, dass er sich am Ende selbst für die kanadische Popsängerin hält und in der Psychiatrie landet. Es gibt aber auch den total vereinsamten Patienten, der seinem erstaunten Analytiker erklärt: «Wenn ich bei mir zu Hause bin, habe ich Angst davor, dass jemand vorbeikommen und sehen könnte, wie einsam ich bin».

Es sind solche Sätze, die diesem figuralen Geflecht seine besondere Note geben. Die Autorin glänzt mit überraschenden Gedankengängen, zeigt verblüffende Querverbindungen auf, sprüht geradezu vor Wortwitz. «Ich kann mit meiner Frau kein ernsthaftes Gespräch führen. Unmöglich, sich verständlich zu machen. Das gibt es nicht. Schon gar nicht im Rahmen einer Ehe, wo alles gleich zu einer Gerichtsverhandlung wird». Das abenteuerliche Konstrukt des kurzen Romans stellt im Übrigen an den Leser, allein schon von der mehr als üppigen Figurenfülle her, erhöhte Anforderungen, will er die ausufernden Verästelungen und subtilen Querverbindungen sicher erkennen und logisch einordnen. Nicht wenige der Figuren erscheinen auch grotesk überzeichnet, sie bleiben allzu deutlich reine Kunstfiguren, zu denen man kaum Empathie aufbauen kann. Was ist Glück, lautet die Kardinalfrage, und wie kann man es finden, an wen wendet man sich? Eine der Frauen wendet sich stets an ihren verstorbenen Vater, es käme ihr nicht in den Sinn, mit ihren vergleichsweise banalen Problemen zu Gott sprechen zu wollen: «Ich war immer der Ansicht, dass man Gott nicht stören darf». Es nervt sie allerdings, dass ihr Vater, der schon immer eine Niete war, im Himmel so wenig erreicht für sie.

«Die geistreichsten Menschen sind immer Pessimisten. Sie sind auch die humorvollsten. Ich habe noch nie mit einem Optimisten richtig gelacht» hat die Autorin in einem Interview mal geäußert. Demzufolge sollten auch nur ausgemachte Pessimisten dieses vergnügliche Buch lesen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Eine Ahnung vom Anfang

gstrein-1Vorsicht Bücher

Büchern scheint in Norbert Gstreins Roman mit seinem bedeutungsschweren Titel eine geradezu magische Rolle zuzukommen, immer wieder liegen sie zufällig irgendwo herum, Dutzende von ihnen werden erwähnt oder es wird darüber gesprochen, ja es werden sogar zwei Romane geschrieben in diesem Plot, einer vom Protagonisten und einer vom Ich-Erzähler. Letzteren Text halten die Leser gerade in den Händen, erklärt uns der Autor. Gefahren drohen, weil manche dieser Bücher so machtvoll werden, dass sie jugendliche Leser auf falsche Fährten führen, ihr Leben unheilvoll beeinflussen. Lädt also ein Deutschlehrer Schuld auf sich, so ist zu fragen, wenn er seinen Schülern gewisse Bücher empfiehlt, sie ihnen sogar aus seiner eigenen Bibliothek zur Verfügung stellt? Und damit dann womöglich Entwicklungen heraufbeschwört, die sich im Nachhinein als durchaus unheilvoll erweisen können? Es ist seine «Ahnung vom Anfang», die auf ihn wartende typisch bürgerliche Biografie nämlich, die den jungen Helden dieses Romans zu seiner Flucht ins Irreale treibt.

In der Rolle eines Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nicht mehr zu bändigen weiß, glaubt sich der personale Erzähler zu befinden mit seinem hochintelligenten Schüler Daniel. Zwischen beiden besteht eine vermutlich nicht ausgelebte homoerotische Verbindung, der Autor lässt den Leser da im Dunkeln in bester Thomas-Mann-Tradition, und das ist gut so, um mit Klaus Wowereit zu sprechen, denn es gehört einfach nicht zum Thema. Daniel nämlich mit seiner angelesenen skeptischen Weltsicht gerät in die Fänge zweier Seelenretter. Zunächst ist da ein missionarischer Religionslehrer, der ihn während einer Israel-Reise zu einer naiven Religiosität bekehren will, später wird er dann auch noch von einem fanatischen amerikanischen Endzeitprediger quasi einer Gehirnwäsche unterzogen. Er wandelt sich zum nicht mehr ernst zu nehmenden Sonderling, ist von der Vernunft her kaum noch ansprechbar, bricht sein Mathematik-Studium ab, seine Handlungen werden immer unverständlicher, er verschwindet monatelang, ohne zu sagen wohin. Man traut ihm schließlich sogar eine Bombendrohung zu, die beschauliche Tiroler Kleinstadt ist in heller Aufregung deswegen. Sogar sein ehemaliger Deutschlehrer wird scheel angesehen, gerät in den Verdacht der Komplizenschaft. Der psychologisch bewanderte Polizist des Ortes erweist sich als erstaunlich kompetent in terroristischen Denkweisen, die in der Zerstörung einen Weg suchen, ihre Ideen bekanntzumachen, ihre Ideale durchzusetzen.

Auch der Ich-Erzähler driftet in diesem tiefsinnigen Roman immer weiter aus der Realität hinaus, erzählt, am Schüler Daniel gespiegelt, seine eigene Geschichte, die kaum weniger realitätsfern erscheint. Die zwei Handlungsstränge sind eng miteinander verwoben, in beiden gibt es Selbstmorde, Bedrohliches, Trennungen, Scheitern. Die Zusammenhänge bleiben aber mehr oder weniger undeutlich, sind teilweise nur zu ahnen, eine recht unscharfe Erzähllinie des Autors, die nicht jedermanns Sache sein dürfte, auch wenn es, in Maßen, spannend bleibt. Die überaus ambitionierte Thematik wird sprachlich perfekt umgesetzt in diesem Roman, seine Figuren sind klar gezeichnet, allzu viel Empathie können sie allerdings nicht wecken beim Leser.

Der skeptische, eher distanzierte und völlig humorfreie Erzählstil des Autors lässt leider keine wirkliche Lesefreude aufkommen. Dafür erfreut die Lektüre durch ihren geistigen Tiefgang umso mehr, regt zum Nach- und Weiterdenken an mit einer Thematik, die schließlich jeden von uns ganz persönlich betrifft. Unwillkürlich ist man zum Vergleich mit dem eigenen Lebensweg gedrängt und mit den Umständen, die an seinem Anfang vorlagen, und dass wir vielleicht sogar schon so etwas wie eine Ahnung davon hatten.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser