Traumpfade

chatwin-1Verlorene Zeit

Es gibt Bücher, mit denen man partout nichts anzufangen weiß, die einem irgendwie nicht liegen, der Thematik oder Erzählweise, zuweilen aber auch der Botschaft wegen, die sie transportieren sollen. Bruce Chatwins mit allerlei Reflexionen angereicherter Reisebericht «Traumpfade», nach seinem Erscheinen 1987 zum Bestseller avanciert, gehört für mich persönlich eindeutig zu dieser unerquicklichen literarischen Spezies. Für Globetrotter sicherlich interessant, bietet dieses Buch, das Vieles ist, nur kein Roman, trotz etlicher Informationen über die eingeborene Bevölkerung eines fernen Kontinents den übrigen Lesern literarisch rein gar nichts. Weder eine interessante Handlung noch sympathische Figuren, deren Erlebnisse erzählenswert wären oder mit denen man sich irgendwie identifizieren könnte. Es bietet leider auch keine sprachliche Könnerschaft oder einen kreativen Schreibstil, womit das Lesen ja per se zu einem Genuss werden kann. Wer also nicht gerade australophil ist, dessen Geduld mit dem englischen Autor wird 368 Buchseiten lang auf eine harte Probe gestellt.

Im ersten Teil erzählt Chatwin fiktional angereichert von seinen Erlebnissen in Australien, dem fünften Kontinent, der es ihm ganz besonders angetan hat. Zu Beginn schildert er das Zusammentreffen mit Arkady Wolschock, einem russischstämmigen Wissenschaftler, der für eine Eisenbahngesellschaft tätig ist und als Kontaktmann zu den Aborigines fungiert, um mit ihnen die Trasse einer neu zu bauenden Schienenstrecke abzustimmen. Der Autor schließt sich ihm an, begleitet ihn auf seinen Reisen und lernt so die Mythen der Eingeborenen kennen, deren Traumpfade auf uralten Überlieferungen beruhen. Sie nennen sie Songlines, Wege also, die man singen kann, die magische Punkte berühren, von den Aborigines wie Heiligtümer verehrt, da sie den Entstehungsmythos vieler gottähnlicher Kreaturen verkörpern. Auf diesen Fahrten treffen die Beiden mit vielen Eingeborenen zusammen, deren prekäre Lebensumstände einem Europäer eigentlich als unerträglich erscheinen müssten. Seltsamerweise hält sich der Autor aber mit einer Anklage der britischen Kolonialherren ziemlich zurück, obwohl hier eine ebenso rücksichtslose Unterdrückung und auch Ausrottung der indigenen Bevölkerung stattgefunden hat wie in Asien, Afrika oder Amerika.

Chatwins besonderes Thema, ja geradezu sein Herzensthema, ist das Nomadentum, für das er sich maßlos begeistern kann und dem er kritisch immer wieder das sesshafte Leben des modernen Menschen gegenüberstellt. Er führte selbst ein unstetes Leben mit ausgedehnten Reisen, fühlte sich als Autodidakt wohl auch ein bisschen wie ein Privatgelehrter, der mit Konrad Lorenz Gespräche führte und mit vielen Fachleuten auf dem Gebiet der Kulturanthropologie zusammentraf. Seine detaillierten Beschreibungen eines für die meisten Leser völlig fremden, fernen Kontinents mit seiner exotisch anmutenden Flora und Fauna erklärt die große Popularität, die er in dafür empfänglichen Leserkreisen genießt, viele der Lobeshymnen zeugen davon.

Die zweite Hälfte des Buches unter dem Titel «Aus den Notizbüchern» ist eine ebenso kuriose wie überflüssige, bruchstückhafte Sammlung von Zitaten, Aphorismen und Notizen des Autors, mit denen er unverdrossen seine Botschaft zu ergänzen und zu untermauern sucht. Da findet sich dann beispielsweise zum Thema Knochenfunde von Hominiden Tiefsinniges wie: «Wenn bewiesen werden könnte, dass sie von anderen Hominiden in die Höhle gebracht wurden, würden diese sich der Anklage wegen Mordes und Kannibalismus stellen müssen. Wenn nicht, nicht.» Wow! Vom Gilgamesch-Epos bis zu Hitlers Refugium bei den Nürnberger Parteitagen, gipfelnd in der These vom Songline-Urmodell für alle nachfolgenden Systeme, es wimmelt nur so von populärwissenschaftlichem Nonsens. So was kann erheiternd sein, ist es hier nun aber wirklich nicht, – schade also um die verlorene Zeit, in der man ja auch einen richtigen Roman hätte lesen können, womöglich sogar einen guten!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

San Miguel

boyle-2Vom Scheitern des American Dream

«Romane sind wie Rockkonzerte: Entweder bringst du die Leute zum Tanzen, oder sie feuern dir Bierdosen an den Kopf». Wendet man dieses Zitat von T.C. Boyle auf seinen letzten Roman «San Miguel» an, werden wahrscheinlich eher die Bierdosen fliegen, zum Tanzen animiert das elegische Buch wohl kaum. Unter den Fans dieses Romanciers hat es jedenfalls einige Verwirrung ausgelöst, steht es doch wie eine einsame Insel alleine da im üppigen Werk des schreibfreudigen amerikanischen Autors, der für witzige Formulierungen, kreative Plots und skurrile Figuren gleichermaßen bekannt ist (oder war?). Altersweisheit und –milde sei der Grund für den Stilwandel, wird gemutmaßt. «Am schwersten fiel mir, dass mein Buch weder ironisch noch lustig ist» hat der heute 66jährige Boyle geäußert, «Ich wollte sehen, ob ich das kann. Ich hätte tolle Szenen schreiben können, aber ich wollte nicht. Ich wollte, dass alles strikt an den historischen Hintergrund und die Insel gebunden ist. Es geht um San Miguel, diesen bedrohlichen Ort».

Gestützt auf gründliche Recherchen beschreibt der Autor in den drei nach seinen Protagonistinnen benannten Teilen des Romans aus spezifisch weiblicher Sicht das karge Leben auf einer einsamen Insel, im Pazifik vor Santa Barbara in Kalifornien gelegen. Die schwindsüchtige Marantha folgt 1888 ihrem Will auf die Insel, die reine Luft dort würde ihr gut tun, hat er versprochen. Sie hat ihr ganzes Geld hergegeben, er verspricht sich von der dort betriebenen Schafzucht ein gutes Geschäft. Aber schnell wird klar, daraus wird nichts, und für sie und die Stieftochter Edith ist die Insel auch nicht das versprochene Paradies, es ist die Hölle. Beide sind schon bald nur noch von dem einen Wunsch beseelt, der rauen Natur und den primitiven Lebensverhältnissen dort zu entfliehen, aufs Festland zurückzukehren, in die Zivilisation. Als Marantha stirbt, zwingt Will die noch minderjährige Edith, weiterhin mit ihm auf der Insel zu leben, er braucht sie für den Haushalt. Nach einigen gescheiterten Versuchen gelingt Edith schließlich die Flucht, sie strebt eine Karriere als Künstlerin an, wie es ihr ergeht dabei erfahren wir leider nicht. Im dritten Teil übernehmen vierzig Jahre später Elise und ihr Mann die Pacht der Insel, sie bekommen zwei Kinder und leben in deutlich besseren Verhältnissen, die ihnen der technische Fortschritt ermöglicht. Ihr Glück aber währt nicht lange, die Weltwirtschaftskrise und der zweite Weltkrieg bedrohen ihre Idylle, und als Ediths Mann nach einem Unfall depressiv wird und Selbstmord begeht, kehrt sie desillusioniert von einer ihr fremd gewordenen öden Insel aufs Festland zurück.

Geschichten von wagemutigen Pionieren in menschenfeindlicher Natur, der amerikanische Traum also, hier in Form einer auf wahren Geschehnissen basierenden Robinsonade, sind so ganz nach dem Geschmack des Lesepublikums jenseits des Atlantiks. Boyle lässt seine beiden Männerfiguren scheitern, und er erzählt von den tapferen Frauen, die dem stets drohenden Unheil die Stirn bieten, so gut sie eben können. Die Handlung folgt keinem kontinuierlichen Ablauf, sie ist kapitelweise in Einzelszenen gegliedert, die aneinandergereiht jeweils bestimmte Ereignisse fragmentarisch erzählen. Der für Boyle ungewohnt nüchterne Sprachstil ist fast pathetisch, seine Geschichte aber bleibt ohne Spannung und Höhepunkte. Viel wird erzählt, wenig passiert, wobei die gekonnt beschriebene, reizlose Natur der überweideten, baumlosen Insel stets im Mittelpunkt steht, aber irgendwann wird es dann doch langweilig für den Leser. Besser gelungen sind die Beschreibungen der Figuren, deren Innenleben nachvollziehbar und glaubhaft dargestellt ist, ohne wirklich emotionale Tiefe allerdings. Ein historischer Roman, der mich nicht hat überzeugen können, ohne dass ich deshalb nun gleich zum Bierdosen-Werfer werde.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Robinsons blaues Haus

augustin-1… und alle Fragen offen

Schon im Titel des Romans ist ein Widerspruch angelegt, Robinson und Haus, wie passt das zusammen? Und ein Robinson, der in der Welt umherzieht ist auch nicht gerade typisch für Abenteurer dieser Art! Der Roman ist das als Schlusspunkt seines Oeuvres deklarierte Alterswerk des Autors, der als eigenwilliger Vertreter der phantastischen Literatur gilt. Es geht recht bunt zu in diesem Buch, was die Farbe blau anzudeuten scheint, die symbolisch ja für Ferne, Sehnsucht und Klarheit steht, als Hausanstrich aber eher selten vorkommt. Hier deutet blau auch auf die Südseelagune hin, die sich dem Blick bietet im letzten Haus des Protagonisten, das Paradies auf Erden für Robinson. Der immer auf der Flucht ist und immer auf der Suche nach einer Bleibe, die ihn verbirgt und schützt, die ihm vertraut ist, in der sein Glenfiddich auf ihn wartet, sein unverzichtbarer Single Malt Whisky als Symbol für Geborgenheit und Behaglichkeit.

Ernst Augustin ist ein literarischer Zauberer, der uns Vieles, Großartiges zeigt, uns damit verblüfft und dann ratlos zurücklässt. So ist denn das bloße Zeigen, wie er selbst erklärt hat, seine typische Arbeitsweise, der Rest ist Aufgabe des Lesers. So wie beim Stummfilm, wo man nur Bilder sieht und der Ton als Ergänzung fehlt. Wer den wunderbaren, vielfach prämierten Stummfilm „The Artist“ gesehen hat, wird zugeben müssen, dass Minimalismus dieser Art bestens funktionieren kann. Der Autor war als Neurologe und Psychiater tätig und hat die Welt bereist, seine Sehnsucht nach der Ferne ist deutlich zu spüren in diesem Roman, und auch Häuser und Architektur gehören ganz offensichtlich zu seinen Lieblingsthemen. Es ist eine völlig irreale Szenerie, ein Geisterreich der Fantasie, in das uns sein Buch entführt, eine Welt der totalen Imagination. Nichts ist, wie es scheint, alles erweist sich als Trugbild, schön und geheimnisvoll zugleich.

Robinson, der Ich-Erzähler dieser poetischen Erzählung, ist ein eigenartiger, geheimnisvoller Außenseiter, der mit seinem Freitag chattet, ihn aber nie zu Gesicht bekommt. Er lebt unter wechselnden Identitäten, wird ständig verfolgt, entgeht seinen Verfolgern aber immer wieder. Schon als Kind hat er sich verstecken müssen, hat einen zur Taucherglocke umfunktionierten alten Badeofen in den Fluss versenkt und darin Zuflucht gefunden. Sein Maybach fahrender Vater hat ihm unerschöpflich scheinende Finanzmittel hinterlassen, unredlich erworbenes, rein virtuelles Geld, der Zugriff darauf durch einen Code geschützt, den nur er kennt. So virtuell zudem, dass es sich per Tastendruck auf Erase löschen ließe und damit für immer verschwunden wäre. Die Geschichte ist spleenig, versponnen, verquer sogar, von der gefluteten Kirche bis hin zu den als Behausung dienenden Besenkammern und Verließen überall in der Welt, in denen sich der Protagonist verschanzt und es sich gemütlich macht. Man folgt diesen Bildern gern, amüsiert sich über die skurrilen Situationen, bewundert den Einfallsreichtum des Autors und genießt seine unprätentiöse, wohltuend klare Sprache. Solcherart Lektüre ist gute Unterhaltung im besten Sinne des Wortes.

Will der Leser dem Ganzen aber einen tieferen Sinn abgewinnen, ist er doch ziemlich gefordert, vielleicht sogar überfordert von der grenzenlos scheinenden Fantasie des Autors. Wie bei der Traumdeutung wird auch hier jeder etwas anderes finden, wenn er sich an eine Analyse wagt. Wie hieß es doch einst in seligen TV-Zeiten? «Und so sehen wir betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen.» Mit den leicht abgewandelten Brechtworten aus ‚Der gute Mensch von Sezuan’, im Literarischen Quartett als markanter Schlusssatz von Reich-Ranicki in jeder Sendung zitiert, genau damit ist auch mein ganz persönliches Resümee sehr treffend ausgedrückt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Reise an den Rand des Universums

widmer-1Genese eines Schriftstellers

Nach seiner quasiautobiografischen Trilogie über Mutter, Vater und sich selbst hat Urs Widmer nun mit «Reise an den Rand des Universums» auch noch eine richtige Autobiografie geschrieben. Die umfasst zwar nicht sein ganzes Leben, sondern nur die ersten dreißig Jahre, aber es könnte ja sein, dass da noch etwas nachkommt bei dem inzwischen 75jährigen Schweizer Autor. Seinem selbstironischen ersten Satz in diesem Buch, «Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiografie», folgt auch gleich eine Erklärung nach, denn damit wäre das Pulver verschossen, «alles Material verbraucht», wie er schreibt. In einem Interview hatte er über sein Buch gesagt, es sei aus einem «heftigen Gefühl des letzten Buches» heraus entstanden, eine fürwahr fatalistische Formulierung. Die allem autobiographischen Schreiben eigene Problematik der schwierigen Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion wird gleich zu Beginn des Buches thematisiert, und der Autor kommt zu dem Schluss, «dass alles Erinnern, auch das genaueste, ein Erfinden ist». Als jemand, der selbst eine Autobiografie geschrieben hat – komplett allerdings, so weit das möglich ist – sind mir seine diesbezüglichen Überlegungen tatsächlich nicht ganz fremd.

Und so lässt Widmer unbekümmert um die Realität seine Lebensgeschichte bereits mit der Zeugung beginnen, was streng medizinisch gesehen ja durchaus berechtigt ist und von ihm genüsslich und humorvoll vor uns ausgebreitet wird. Überhaupt ist eine der Stärken dieses Erinnerungsbuches der lockere Plauderton des Erzählers, der seine eigene Lebensgeschichte weder streng chronologisch noch lückenlos aufgeschrieben hat, sondern als eine Abfolge von Anekdoten, amüsanten wie ernsten und nachdenklich machenden. Das Geschehen ist gut beobachtet und treffsicher in Sprache umgesetzt, leicht lesbar und angenehm unmanieriert. Probleme machten, mir jedenfalls, die zahlreichen Begleit- und Randfiguren, deren Namen, will man immer alles ganz genau zuordnen können, das Anlegen eines Spickzettels sinnvoll macht. Zuweilen hat der Autor da selbst so seine Probleme, wenn ihm ein Name partout nicht mehr einfallen will, wie er freimütig bekennt.

Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert, die jeweils einen Zehnjahreszeitraum umfassen zwischen seinem Geburtsjahr 1938 und der Fertigstellung seine Erzählung «Alois» 1968, dem Jahr, in dem ein «big bang», wie er formuliert, «eine wirkungsmächtige Reform» in Gang gesetzt hat. Jedem der drei Kapitel folgt ein kursiv gedruckter Abschnitt, in dem die gesellschaftlichen Geschehnisse kurz zusammengefasst sind, die für die Dekade prägend waren, das Buch ist insoweit auch als interessantes Zeitzeugnis anzusehen. Der ungeschönte Blick auf sich selbst und seine Familie erzeugt beim Leser zuweilen Betroffenheit. Da ist der chronisch kranke, gnadenlos egoistisch erscheinende Vater, ein Kettenraucher, der sich ständig in seinem Arbeitszimmer geradezu verbarrikadiert, eine Zurückgezogenheit, die ihn, Ironie des Schicksals, eines Tages einen einsamen Tod sterben lässt. Die Mutter ist depressiv und des Öfteren in psychiatrischen Krankenhäusern, wobei Widmer an einer Stelle dazu kurz erwähnt, dass sie später, außerhalb seiner Berichtszeit, Selbstmord begangen hat. Und er selbst litt zeitweilig auch an Depressionen, wie er unverhohlen bekennt.

Eine gewisse Melancholie ist also auch vorhanden, dominierend aber sind die eher vergnüglichen Schilderungen, eine kurzweilige Lektüre also. Deren viele sehr persönliche, manchmal auch banale Details dürften jedoch nicht alle interessant sein für die Leser, auch wenn sie ungemein eloquent erzählt werden. Und da, wo das Buch dann endet, beginnt es ja eigentlich erst richtig interessant zu werden, Widmers Zeit als Suhrkamp-Lektor und späterer Schriftsteller, der Blick hinter den Vorhang des Literaturbetriebs. Man kann wohl nicht alles haben!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Sand

herrndorf-1Sie dürfen Watson zu mir sagen

Titel wie Umschlagbild dieses Romans deuten zwar auf den Schauplatz der Handlung hin, Genaueres erfährt man aber nicht, man darf vermuten – Marokko, glauben viele. In seiner vielfach hoch gelobten und entsprechend prämierten Parodie eines Agententhrillers bleibt die Örtlichkeit nicht das Einzige, was nebulös ist. Und wenn der Klappentext den palästinensischen Terroranschlag bei der Olympiade erwähnt, ist damit zwar 1972 als Zeit bestimmt, der Leser so aber auch auf eine falsche Fährte geführt, die Untat der Gruppe «Schwarzer September» in München hat nämlich keinerlei Bezug zur Handlung.

Unglaublich einfallsreich schildert Herrndorf in diesem für den Leser mitunter psychedelischen Roman eine haarsträubende Geschichte, bei der man keinen festen Boden unter die Füße bekommt, sondern im Treibsand des Aberwitzigen versinkt. Man kann den Plot als abenteuerliches Verwirrspiel in der Wüste bezeichnen, findet dort ein wahrhaft irres Szenario vor und bekommt auch noch viel Sand in die Augen gestreut. Total skurrile Figuren geraten in völlig absurde Situationen, geschrieben ist dieser bilderreiche literarische Slapstick jedoch in einer knappen, kristallklaren, punktgenauen Sprache, die blitzgescheit und tiefgründig ist, aber Gott sei Dank nicht manieriert.

Wie so oft in anspruchsvolleren Büchern liegt das Besondere in den vielen kleinen, unscheinbaren Details, die ich passend zum Handlungsort als dichterische Arabesken bezeichnen möchte. Köstlich zum Beispiel die Mentalitätsbeschreibung der Araber oder der Lehrlingsschabernack mit Siemens Lufthaken und dem verlängerten Augenmaß. Erstaunt erfährt man sogar von einer zweiten Dreyfus-Affäre: Ein der künstlichen Intelligenz ablehnend gegenüberstehender Philosoph namens Dreyfus ist nach dem verlorenen Schachspiel mit einem frühen Computer der erste Mensch, «der dümmer war als ein paar Kupferdrähte»! Oder der falsche Psychiater, der seinen unter Amnesie leidenden Patienten wegen dessen Schlussfolgerungen erstaunt als Sherlock Holmes bezeichnet und nonchalant hinzufügt: «Sie dürfen Watson zu mir sagen»!

Ein sehr zu lobendes Stilmittel des Autors ist das häufige Rekapitulieren des bisher Geschehenen durch die Protagonisten, im Gespräch oder rein gedanklich. Man kann dem turbulenten Geschehen so leichter folgen, auch wenn man kein Detektivspiel aus der Lektüre machen, nicht alles genau analysieren will. Zartbesaitete müssen dann gegen Ende allerdings einiges aushalten, geradezu sadistisch wir da gefoltert, aber diese Brutalitäten sind natürlich ebenfalls satirisch überzeichnet. Und auch die Zitate am Anfang jedes der 68 Buchkapitel relativieren den nachfolgenden Text, bilden somit ein Gegengewicht zu manch Brutalem.

«Mit einigen harmonischen Akkorden könnte man das Buch also ausklingen lassen» schreibt Herrndorf gegen Ende und macht damit die Fiktion überdeutlich, auch für Diejenigen also, die immer alles ganz ernst nehmen. Folglich werden in den letzten zwei Kapiteln amüsant und locker, als Zugabe quasi, noch einige Fragen geklärt, die dem braven Leser auf der Seele brennen, und dazu gehört auch der Verbleib jener Minen, denen man auf 475 Seiten irritiert hinterher gehechelt ist, wobei man sich bestens unterhalten hat – die entsprechende Mentalität vorausgesetzt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Schall und Wahn

faulkner-3Read it four times

Nach eigenem Bekunden war «Schall und Wahn» für William Faulkner «das wichtigste, ihm liebste seiner Bücher», merkt Frank Heibert im lesenswerten Nachwort zu seiner jüngst erschienenen Neuübersetzung an. Als Südstaatler hat sich Faulkner in seinem Werk immer wieder der Tragik seiner Heimat gewidmet, eine «kraftvolle und künstlerisch selbstständige Leistung in Amerikas Romanliteratur», wie das Nobelkomitee 1949 befand.

Erzählt wird der Niedergang der Familie Compson, deren Wurzeln in der fiktiven Stadt Jefferson bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückreichen. Der Roman ist vierteilig aufgebaut und überrascht seine Leser gleich im ersten Teil, welcher aus einer wahrhaft ungewöhnlichen Perspektive erzählt ist, der des 33jährigen, schwachsinnigen Benjamin Compson. Geistig auf dem Niveau eines Kleinkindes, kann er nicht sprechen, gleichwohl lässt der Autor ihn als Ich-Erzähler fungieren, was stilistisch durch eine ebenso chaotische wie surreale Erzählweise realisiert ist, die dem Leser von Beginn an viel Geduld abverlangt. In einem Zeitsprung von 18 Jahren, zurück auf das Jahr 1910, erleben wir im zweiten Teil dessen Bruder Quentin als Ich-Erzähler an seinem Todestage in Harvard, am Ende seines Studiums. Er erträgt die Beherrschung nicht mehr, sich der inzestuösen Liebe zu seiner Schwester Caddy zu enthalten, und ertränkt sich.

Der jüngste Bruder Jason ist Protagonist des dritten Teils, in dem, jetzt wiederum aus einer weiteren Ich-Perspektive, seine Rolle als Familienvorstand erzählt wird, eine Aufgabe, an der er scheitern muss. Er hat sich an der Börse verspekuliert, und seine Nichte stielt ihm auch noch alle seine Ersparnisse und brennt mit einem Schausteller durch. Abgeschlossen wird dieser Roman vom Untergang einer einst stolzen Familie im vierten Teil mit der auktorial erzählten Lebenswelt der gutmütigen schwarzen Hausangestellten Dilsey, die mit Mann und Kindern im Nebenhaus wohnt und bemüht ist, das desaströse Familiengefüge der Compsons wenigstens einigermaßen intakt zu halten. Aus dieser Außenperspektive heraus wollte der Autor seine Geschichte, wie er selbst sagte, noch ein viertes Mal erzählen, jetzt jedoch aus einer gewissen Distanz.

Sieben Jahre nach dem «Ulysses» von Joyce benutzt auch Faulkner in längeren Passagen, insbesondere in der ersten Hälfte seines vierten Romans, den Bewusstseinsstrom als modernes Stilmittel. Vom Verlag auf dem Buchumschlag als «eines der sieben stilistischen Weltwunder des 20.Jahrhunderts» gefeiert, brennt er ein literarisches Feuerwerk ab, wie man es selten findet, und führt damit unbeirrt alle Lesegewohnheiten ad absurdum. Ihm zu folgen ist Schwerstarbeit in vielerlei Hinsicht, das beginnt schon bei seinen Figuren, die nicht nur unter verschiedenen Namen auftreten, sondern ihren Namen zuweilen mit anderen Figuren teilen. Quentin ist einmal er, der Sohn, im gleichen Satz aber auch sie, die uneheliche Tochter der Schwester nämlich, und Faulkner lässt uns im Ungewissen, wen von den beiden er denn meint. Mit rigoroser Negierung aller Regeln von Satzbau und Grammatik, einem besonders in den ersten beiden Teilen häufigen Stilmittel, das sich gleitend bis hin zum interpunktionslosen Text in Kleinschreibung entwickelt, der seitenlange Passagen einnimmt, wird dem arglosen Leser viel Geduld abgefordert, detektivische Scharfsicht sowieso. Ganz abgesehen davon, dass dem Allen erwartungsgemäß keine stringente Handlung zugrunde liegt und auch kein hilfreicher roter Faden das Verständnis fördert, sind die vielen undurchschaubaren Zeitsprünge ebenfalls kontraproduktiv für den Leser. Darauf angesprochen, dass manche Leser selbst nach dreimaligem Lesen noch immer Verständnisprobleme hätten, war Faulkners lapidare Empfehlung: »Read it four times». Allerdings, das sei noch angemerkt, erleichtern sowohl Faulkners später hinzugefügter Appendix (sic!) sowie das ausführliche Nachwort des Übersetzers das Verständnis ungemein. Ich empfehle dringend, Beides vorab zu lesen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Schloß Gripsholm

tucholsky-1Ich dichte erst ab 12 %

Es gibt nur wenige Schriftsteller, die derart vielseitig geschrieben haben wie Kurt Tucholsky, der als kritischer und weitsichtiger politischer Journalist ebenso erfolgreich war wie als Publizist, Kritiker für Literatur, Film und Musik, als Kabarettautor, Lyriker und nicht zuletzt als Satiriker. Schloß Gripsholm, sein 1931 erstmals erschienener, berühmter «Sommerroman» wurde ein großer Publikumserfolg, er gehört zu den heiteren Erzählungen, die ihm hier nach anfänglichem Sträuben letztendlich doch locker und leicht aus der Feder geflossen ist. Der Erfolg beim Publikum war entsprechend, es folgten immer wieder neue Auflagen. Der notorische Schürzenjäger Tucholsky berichtet von einem Liebesurlaub mit seiner Freundin in Schweden, dessen immer nur ganz dezent angedeutete erotische Komponente der Geschichte eine gewisse Würze verleiht. In einer Art Vorspiel zum Roman ist ein fiktiver Briefwechsel des Autors mit seinem Verleger Ernst Rowohlt abgedruckt, der ihn auffordert, doch mal eine «kleine Liebesgeschichte» zu schreiben. Im Antwortbrief auf die Prozentzahl an Rezensionsexemplare angesprochen bietet ihm Rowohlt 14% an, was der Autor ablehnt: «Bei 14% fällt mir bestimmt nichts ein – ich dichte erst ab 12%.»

«Sie hatte eine Altstimme und hieß Lydia» heißt es im ersten Satz von der Sekretärin, die mit dem Ich-Erzähler Peter ein unkonventionelles Liebespaar bildet, das für fünf Wochen nach Schweden reist, um dort die Seele baumeln zu lassen, sich gründlich zu erholen. Lydia ist gleichzeitig guter Kumpel und engelsgleiche Geliebte für Peter, der sie zumeist «Prinzessin» nennt und unsterblich verliebt ist in sie. Als er sie kennenlernte als balzender Mann, «beleuchtete ich alle Schaufenster meines Herzens. Und dann sprachen wir von der Liebe. Das ist wie bei einer bayerischen Rauferei – die raufen auch erst mit Worten.» Ihr Ferienquartier wird nun Schloß Gripsholm, wo sie in einem Anbau fern von den Touristen genau das finden, was sie suchen: Nichtstun, Faulsein, heiter verliebt die Natur genießen. Der Besuch von Karlchen, einem guten Freund von Peter, unterbricht ihre Idylle für einige Tage, danach taucht plötzlich auch Billy auf, Lydias beste Freundin, die sich von ihrem Liebhaber getrennt hat.

Bei einem ihrer Streifzüge durch die Gegend treffen die Prinzessin und Peter auf Ada, ein kleines, offensichtlich tief verstörtes Mädchen, das in einem Kinderheim lebt und dort von der tyrannischen Leiterin gequält wird. Es gelingt ihnen, die in der Schweiz lebende Mutter davon zu überzeugen, das Kind zu sich zurückzuholen. Dieser zweite Handlungsfaden rückt die Realität wieder etwas mehr in den Vordergrund, brutale Gewalt der Herrschenden den hilflos Unterdrückten gegenüber beschwört bei Peter den Albtraum eines Gladiatorenkampfes herauf, bei dem nichts als die nackte Gewalt regiert. Eine Idylle wie die im Schloß Gripsholm ist also nur auf Zeit vorstellbar, eine ernüchternde Erkenntnis für die beiden Turteltauben. Nach gemeinsamem Kreuzworträtselraten mit Billy kommt es am Ende zu einer Liebesnacht zu dritt, ganz unkonventionell genießen die Urlauber die Unbeschwertheit ihrer schönen Ferientage.

Tucholsky schreibt witzig, verschmitzt, lakonisch, geistreich, weitsichtig. Er benutzt, Gott sei Dank nur im kurzen Abschnitten, plattdeutsch und andere Idiome, was einerseits erheiternd ist, andererseits aber auch den Lesefluss erheblich stört. Sein kreativer Schreibstil ist durch überraschende Wortschöpfungen und verblüffende Gedankengänge geprägt, die satirische Komponente seiner Erzählung wird durch kluge Reflexionen ergänzt. Bei alldem schwingt unübersehbar im Hintergrund oft auch eine gewisse Melancholie mit, die vielbeschworene leichte Sommergeschichte ist jedenfalls nicht ganz so unbeschwert, wie sie vielen Lesern erscheint. Insoweit ist Schloß Gripsholm ein lesenswertes Buch, das oft unterschätzt wird und weit mehr Tiefgang bietet als eine typische Liebesgeschichte das jemals kann.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Wiedersehen in Howards End

forster-1Tea Time

Fünf Jahre nach seinem ersten Roman erschien 1910 schon Edward Morgan Forsters «Wiedersehen in Howards End», das fünfte seiner in schneller Folge herausgegebenen epischen Werke. Der vorliegende Roman wurde dann 39 Jahre später auch auf Deutsch veröffentlicht, einem breiteren Publikum aber wurde der Autor erst nach Verfilmung einiger seiner Romane Ende der achtziger Jahre bekannt. Als Altphilologe und Historiker gilt das Augenmerk dieses weitgereisten Schriftstellers den Konflikten, wie sie zwischen unterschiedlichen Ethnien ebenso entstehen wie zwischen den sozialen Gruppen eines Volkes, den Geschlechtern oder den Generationen. Hier im Roman sind konservativ englisches und idealistisch deutsches Wesen gegenübergestellt, erbbegünstigt Reiche und unverschuldet Arme, quirlige Städter und schwerfällige Landbewohner, andächtig Kulturbeflissene und geldgierige Geschäftsleute.

Eingebettet sind diese Konflikte in einen Plot, bei dem zwei Schwestern mit hälftig deutschen Wurzeln im Mittelpunkt stehen, Margaret Schlegel und ihre um einiges jüngere und attraktivere Schwester Helen. Sie sind früh verwaist, inzwischen beide schon etwas altjüngferlich, sorgenfrei wohlhabend, geistig rege, debattierfreudig, kulturell interessiert. Ihre Wege kreuzen sich mit der archetypisch englischen Familie Wilcox, der Mann erfolgreicher Unternehmer mit einer sehr naturverbundenen Frau, ihnen gehört der schöne Landsitz Howards End nahe London. Dort findet dann auch Helens ebenso harmlose wie kurze Liebelei mit einem der Wilcox-Söhne statt und setzt ein schicksalhaftes Räderwerk an Geschehnissen in Gang, welches, man ahnt es ja schon vom Romantitel her, am Ende alle in eben dieses Landhaus zurückführt. Margaret als Ehefrau des verwitweten Wilcox-Patriarchen, Helen als Mutter eines unehelichen Kindes mit einem so gar nicht standesgemäßen, verheirateten Erzeuger, den dort überraschend auch noch der Tod ereilt.

Der Weg dorthin geleitet den Leser in einer betulich erzählten Geschichte nicht nur durch eine längst vergangene, spätviktorianische Epoche kurz vor dem ersten Weltkrieg, er beleuchtet zudem eindrucksvoll den Kampf zwischen stockkonservativ Denkenden und liberalen Freigeistern. Gleichberechtigung ist noch ein fernes Traumziel, obwohl die emanzipierten Schwestern ihren männlichen Kontrahenten häufig geistig überlegen scheinen, deutlich wendiger sind, zudem auch einfühlsamer, selbst in den schwierigsten Disputen. Und schließlich gibt es ja immer wieder jene segensreiche Zeremonie, die in England geradezu sakrosankte Teestunde, die dann oft auch dazu beiträgt, dass sich alles wieder einrenkt. Forster reichert seinen Plot mit vielen Betrachtungen über Kunst und Natur an, geht philosophischen Fragen nach, hinterfragt skeptisch den technologischen Fortschritt und weist auf dessen negative Folgen hin. All dies bewirkt im Kontext mit einer flüssig lesbaren, anschaulich erzählenden Sprache ein kontemplatives Leseerlebnis, bei dem einige überraschende Wendungen im Geschehen über etliche durchaus vorhandene Längen hinwegtrösten.

Die Seele geht als Sieger hervor im Kampf mit Konvention und Standesdünkel, das ist die Botschaft dieses Romans, und Frauen mit ihrem Idealismus sind dabei die besten Vollstrecker, ihr Gefühl siegt über den nüchternen Verstand. Alle Figuren sind stimmig beschrieben und erwecken durchaus Empathie beim Leser, die Handlung wird zum Ende hin sogar fast spannend und erscheint weitgehend plausibel. Allerdings kam mir Forsters Prosa wie mit Patina bedeckt vor, glanzlos jedenfalls, ohne Esprit, und humorfrei außerdem, was man bei einem der doch für ihren trockenen Humor bekannten englischen Autoren besonders schmerzlich vermisst. Dieser Roman ist das Portrait einer längst vergangenen Zeit, wie man es schon zu kennen glaubt aus etlichen anderen Romanen, es fügt dem Bild seiner Epoche nichts nennenswert Neues hinzu. Das Lesen lohnt sich trotzdem, am besten gemütlich und entspannt bei einer Tasse guten Tees!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Die Welt hinter Dukla

stasiuk-1Transzendentale Herausforderung

Mit dem im Original 1997 erschienenen Roman «Die Welt hinter Dukla» wurde der polnische Schriftsteller, Literaturkritiker und Journalist Andrzej Stasiuk drei Jahre später schlagartig auch dem deutschen Lesepublikum bekannt, sein Buch wurde 2008 sogar in die Anthologie «Hundert große Romane des 20. Jahrhunderts» der Süddeutsche Zeitung aufgenommen. Zu Recht? Fragt man sich, denn die Rezeption war zwiespältig, einig war sich die Kritik nur darin, dass die Lektüre anstrengend und der Roman weitgehend handlungslos sei.

«Um vier Uhr früh hebt die Nacht langsam ihren schwarzen Hintern, steht vollgefressen vom Tisch auf und geht schlafen. Die Luft ist wie kalte Tinte, sie fließt die Asphaltwege herab, zerläuft und gerinnt zu schwarzen Seen. Es ist Sonntag, die Menschen schlafen noch, und deshalb sollte diese Erzählung keine Handlung haben, kein Ding kann schließlich andere Dinge verdecken, wenn wir zum Nichts streben, zu der Feststellung, dass die Welt nur eine vorübergehende Störung ist im freien Fluss des Lichts.» Dieser Romananfang bestätigt die Adjektive «anstrengend» und «handlungslos» eindrucksvoll, über die Mühe des Lesens vermittelt der zitierte Text einen Eindruck, insbesondere wenn man weiß, so geht es weiter bis zum Schluss, und die fehlende Handlung wird hier explizit durch den Autor bestätigt.

Der Romantitel ist metaphorisch zu verstehen, er weist darauf hin, dass die polnische Kleinstadt Dukla für den Ich-Erzähler mehr ist als ein verschlafenes Provinznest am Rande der Karpaten, er sucht nichts weniger als deren Genius loci, benutzt den Ort als Projektionsfläche transzendenter Betrachtungen. «Ich komme immer wieder in dieses Dukla zurück, um es bei unterschiedlichem Licht, zu unterschiedlichen Tageszeiten anzusehen.» Diese nicht enden wollende Spurensuche nach der eigenen Kindheit, nach magischen Orten, nach dem Geist der Schutzpatronin Amalia von Brühl, deren Sarkophag er immer wieder besucht, ist der eigentliche Gegenstand dieses Erzählbandes. Die wenigen den Roman bevölkernden Figuren bleiben konturlos wie der Ich-Erzähler selbst, man erfährt so gut wie nichts von ihnen, und sie agieren auch nicht. Aus allen Himmelsrichtungen kommend, mit verschiedenen Verkehrsmitteln, zu verschiedenen Jahreszeiten, zu verschiedenen Stunden des Tages, bei Licht und bei Dunkelheit, stets münden diese Besuche in tiefsinnige Beschreibungen von Straßen, Plätzen, Gebäuden, der umgebenden Natur, lebender und toter Materie, behandeln existenzielle Fragen in einer nimmermüden Suche nach dem Sinn hinter alldem.

«Schon immer wollte ich ein Buch über das Licht schreiben.» lässt uns der Erzähler wissen, «Ich wüsste nichts, was mehr an die Ewigkeit erinnert». Das Vergehen der Zeit ist sein Thema, seine rastlose Erinnerungsarbeit kreist um philosophische Grundfragen unserer Existenz. Diese anspruchsvolle Thematik ist sprachlich metaphernreich umgesetzt in Textblöcke ohne inhaltlichen Zusammenhang oder erkennbare Gliederung. Ein breit dahinströmender Gedankenfluss, der den Leser zu häufigen Denkpausen zwingt, will er all den Bildern folgen, die da so zahlreich heraufbeschworen werden. «Das Bild, der Zwillingsbruder unseres Verstandes, wird uns überleben» lautet die Erkenntnis. Auf den letzten Seiten wird die unkonventionelle, zu nichts hinführende Erzählweise konkreter, in kurzen Kapiteln wird von einem glücklosen Viehhirten, verschiedenen Tieren, Wetterphänomenen, zuletzt vom Himmel erzählt, auf dem sich weiße Wolken zeigen. «Sie sehen aus wir Knochen, wie eine zerstreute, nebulöse Wirbelsäule. Denn so wird es ganz am Ende sein. Sogar die Wolken werden verschwinden, nur das himmelblaue, grenzenlose Auge wird bleiben über den Resten.» Ob tollkühne Metaphorik und transzendente Reflexionen allein den Leser zufrieden stellen können, muss jeder für sich entscheiden. Ich jedenfalls war enttäuscht, auch die gekonnte Poetik des schmalen Erzählbandes konnte da literarisch nichts mehr retten.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Jakob von Gunten

walser-r-1Die Zucht von Untertanen

Von vielen berühmten Kollegen bewundert, wurde Robert Walser als einer der größten deutschen Schriftsteller des Zwanzigsten Jahrhunderts einem breiteren Lesepublikum erst nach seiner Wiederentdeckung in den 1970er Jahren bekannt. Eines seiner frühen Prosawerke ist «Jakob von Gunten», 1909 unter der Bezeichnung «Ein Tagebuch» erschienen, in seiner Berliner Epoche also, in der vergleichsweise realistische Texte entstanden. Gemeinsam ist ihnen die Perspektive einer an Unterwürfigkeit grenzender Bescheidenheit, der Titelheld Jakob schreibt sein undatiertes Tagebuch als Zögling einer Dienerschule im wilhelminischen Berlin. Der nicht chronologisch gegliederte Text spiegelt eigene Erfahrungen wider, die der Autor in einer derartigen Anstalt gemacht hat, zu Recht wird dieses Buch deshalb häufig auch als Entwicklungsroman bezeichnet. Walsers Realismus trägt hier wahrhaft monströse Züge und ähnelt in seiner märchenartigen, verstörenden Rätselhaftigkeit dem Stil seines Bewunderers Franz Kafka. Das Motiv des gegängelten Zöglings findet sich ähnlich auch in Musils «Törless» und, tragisch endend, auch in Hesses «Unterm Rad».

Anders jedoch liegt hier eine stets präsente Heiterkeit über dem Erzählten, auch wenn der Geschichte fundamentale Ängste zugrunde liegen. Sein Buch sei «zum größten Teil eine erzählerische Phantasie», hat Walser angemerkt, und so steht dem verstörend Servilen ein durchaus robustes Selbstverständnis seines eigenwilligen Protagonisten gegenüber. Jakob stammt aus einer wohlhabenden Familie, er ist von zuhause weggelaufen und ganz bewusst in das Institut «Benjamenta» eingetreten, um sich als Diener ausbilden zu lassen. In dieser merkwürdigen Anstalt lehrt nur Lisa, die Schwester des Vorstehers, die anderen Lehrer sind abwesend oder liegen in tiefem Schlaf. Lehrstoff ist ausschließlich eine Broschüre mit der Selbstdarstellung des Instituts sowie die «Vorschriften». Unter dem Motto «Wenig aber gründlich» werden die Zöglinge einseitig gedrillt, sie lernen ihren «Lehrstoff» stur auswendig. Jakob, der sich für den Gescheitesten unter den Schülern hält, fühlt sich verdummt und rebelliert, was ihm strenge Strafen einträgt, denen er sich geradezu masochistisch unterwirft. Allmählich ändert sich das Verhalten des Vorstehers zu ihm, er avanciert zu dessen Liebling und gewinnt auch das Vertrauen von dessen Schwester. Als Lisa stirbt und auch die Schülerzahl rapide sinkt, schließt der Vorsteher die Dienerschule, er will mit Jakob in die Welt hinaus.

Der flüssig lesbare Bericht des Ich-Erzählers ist in einer altersgemäßen Sprache abgefasst, deren naiver Duktus wirkungsvoll die dahinter liegende Problematik kaschiert. Vor einige Verständnisprobleme stellen den Leser die fehlende Chronologie der fragmentarischen Berichtsteile sowie das Vermischen von Realem mit Jakobs Träumen und Phantasien. Zusammen mit den ebenfalls vorhandenen Leerstellen des Plots werden zwangsläufig eigene Deutungen angeregt, es werden darüber hinaus aber auch spekulative Ergänzungen des märchenhaft Unvollständigen bewirkt. Jakobs Hang zum Servilen wird in seinen Träumen konterkariert, dort wird er als Soldat in den Adelsstand erhoben, zieht mit Napoleon nach Moskau, verlässt mit dem Vorsteher zusammen die Dienerschule, beide reiten auf Kamelen in die Wüste.

Ich habe «Jakob von Gunten» als gekonnte Parodie des klassischen deutschen Bildungsromans gelesen, Figuren wie der undurchschaubare Vorsteher oder dessen feenhafte Schwester, aber auch Schulfreund Kraus als arbeitswütiger, unbeirrbar pflichtbewusster Zögling sind ja geradezu Karikaturen ihrer selbst. Die Sucht nach Erniedrigung macht die Absolventen der Zuchtanstalt  «Benjamenta» zu willfährigen Untertanen, ganz im Sinne der damals Herrschenden. Wohl kaum aber im Sinne von Robert Walser, der das deutsche Obrigkeitsdenken hier fast schon zynisch vorführt, – aus seiner eigenen, eher unterprivilegierten Perspektive, seine Biografie gibt dafür eindeutige Hinweise.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Im Café der verlorenen Jugend

modiano-2Durch die Schattentür

«Wer morgens einen Roman von Patrik Modiano zu lesen beginnt, hat ihn mittags schon gelesen und kann mitreden», hat ein Spötter mal gesagt. Und so ist denn auch der 2012 auf Deutsch erschienene Roman «Im Café der verlorenen Jugend» mit seinen 158 Seiten quantitativ ein Leichtgewicht, dessen qualitative, sprich literarische Bedeutung allerdings eher schwergewichtig ist, wie die weltweit positive Rezeption des schmalen Bändchens eindrucksvoll belegt.

Das Nachspüren zieht sich als Thematik durch viele Werke des Autors, und so steht auch hier eine junge Frau im Mittelpunkt, deren Lebenslinien nachzuspüren die Thematik dieses Romans bestimmt, der zeitlich in den 1960er Jahren angesiedelt ist. Ungewöhnlich ist dabei die von Modiano erstmals verwendete Aufteilung der Erzählperspektive auf nicht weniger als vier Ich-Erzähler, die er in getrennten Kapiteln zu Wort kommen lässt. Mit diesem Kunstgriff stellt er analog vier unterschiedliche Formen des Erinnerns nebeneinander. Da ist zunächst ein Student, der den Leser in die Boheme des Pariser Café Condé einführt, welches einen nicht nur örtlichen Fixpunkt der Erzählung markiert. Eines Tages taucht dort eine geheimnisvolle junge Frau auf, der Leser erfährt zunächst sehr wenig von Louki, wie sie von den illustren Stammgästen genannt wird. Im zweiten, typografisch unzureichend markierten Kapitel ist der Ich-Erzähler plötzlich ein älterer Detektiv, der sich als Kunstbuchverleger ausgibt. Er hat im Auftrag ihres verlassenen Ehemannes dessen Frau Jaqueline im Café Condé aufgespürt. Jaqueline/Louki selbst erzählt aus eigner Perspektive im dritten Abschnitt von ihrer Jugend mit ihrer alleinerziehenden Mutter, die als Platzanweiserin im Moulin Rouge arbeitete. «Als ich fünfzehn war, konnte man mich für neunzehn halten», folglich nutzte sie die nächtliche Abwesenheit ihrer Mutter für Streifzüge durch die Umgebung. Dabei lernt sie Jeanette kennen, macht erste Erfahrungen mit Rauschgift und heiratet Jahre später dann einen deutlich älteren Mann. Ihre Erinnerungen an diese Zeit sind äußerst nebelhaft. Die folgenden beiden Abschnitte sind aus der Perspektive des Schriftstellers Roland erzählt, der Louki bei einer Seance kennengelernt hat. Für ihn verlässt sie ihren Mann, ihr Glück jedoch währt nicht lange, schließlich springt Louki im Beisein ihrer Freundin vom Balkon, «Es ist so weit. Lass dich fallen» sind ihre letzten Worte, bevor sie der Sinnlosigkeit entflieht und sich der ersehnten Schwerelosigkeit überantwortet.

Ich war nach der Lektüre des Romans geneigt, ihn gleich noch einmal zu lesen, denn vieles bleibt unklar und vage, man weiß nicht so recht, wann was genau passiert ist. Damit ist allerlei Deutungsversuchen, um nicht zu sagen wilder Spekulation, Tür und Tor geöffnet, eine Wirkung, die Modiano bewusst anstrebt mit seinem ebenso poetischen wie kryptischen Roman. Die Wahrheit über das Geschehene jedenfalls erweist sich hier als pure Illusion, es gibt sie nicht, da kann man den Roman lesen, so oft man will. Präzise sind nur die örtlichen Details von Paris, wie immer bei diesem Autor. Der rätselhaften Aura von Louki entspricht das nicht näher zu verortende Unbehagen, das sich bei der Lektüre einstellt und den Leser bis zum Schluss nicht mehr verlässt. Melancholie ist die vorherrschende Stimmung, die über der meisterhaft erzählten Geschichte liegt, eine seltsame, mutlos machende Leere, wie sie auch für die Lost Generation im Paris nach dem ersten Weltkrieg typisch war.

Es ist eine Nebentür, im Roman Schattentür genannt, durch die Louki das Café Condé immer betritt, um sich möglichst abseits von den anderen Gästen einen Platz zu suchen, auf dem sie dann im Hintergrund traumverloren dasitzt. Ganz ähnlich mutet Modianos nostalgische Spurensuche an nach einer Boheme, die es längst nicht mehr gibt und die es so auch nie mehr geben wird. Es ist vor allem seine hervorragend eingefangene, wie schwebend wirkende Atmosphäre, die diesen poetischen Roman auszeichnet.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Die Lieben meiner Mutter

schneider-1Psychogramm einer Egomanin

Bekannt geworden ist Peter Schneider als Chronist des revolutionären Umbruchs von 1968, der mit seiner Erzählung «Lenz» 1973 ein zum Kultbuch gewordenes Zeugnis von dessen Scheitern geschrieben hat. Zeit seines Lebens hatte dieser Schriftsteller Briefe seiner Mutter aufbewahrt, ein Schatz, den er nun gehoben hat und der Anlass war für sein 2013 erschienenes Buch «Die Lieben meiner Mutter». Die im Klappentext werbewirksam verheißene Pikanterie einer Ménage-à-trois weist allerdings in die falsche Richtung. Gegenstand dieser Erzählung ist vielmehr die tragische Liebessehnsucht einer leidgeprüften jungen Frau mit vier Kindern in den Wirren des Kriegsendes und der frühen Nachkriegszeit, die in einem zweiten Handlungsstrang das Erinnern des Autors an seine Kindheit bis zum frühen Tod der Mutter im Jahre 1950 thematisiert.

Die in Sütterlin geschriebenen Briefe konnte Schneider selbst kaum entziffern, erst zusammen mit einer schriftkundigen Freundin hat er die Bedeutung und Tragweite dieses Konvoluts erkannt und die Texte mit ihrer Hilfe schließlich in Lateinschrift transkribiert. Völlig unerwartet stößt er dabei auf eine Dreiecksgeschichte, die Mutter hatte offen ausgelebte Beziehungen zu anderen Männern, wobei das Verhältnis zu Andreas, einem egozentrischen Opernregisseur und Freund ihres Mannes, am längsten andauerte, sie seelisch dann auch am tiefsten verletzt hat. Heinrich, ihr meist in der Ferne weilender Ehemann, ein erfolgreicher Komponist und Dirigent, ist offensichtlich eingeweiht, lebt aber ganz in den höheren Sphären seiner Musik, von Eifersucht ist nicht mal ansatzweise etwas zu entnehmen aus den wiederentdeckten Briefwechseln. In der Sammlung von Schriftstücken sind außer Briefen des Vaters auch solche der Liebhaber enthalten. Wobei die Briefe der Mutter oft wohl nur Entwürfe waren, wo Briefumschläge fehlen, die vermutlich also nie abgeschickt wurden, tagebuchartig gleichwohl ihre Sehnsüchte und Alltagsprobleme offenbaren.

Auf der packend geschilderten Flucht vor der Roten Armee ist die Mutter mit ihren vier Kindern nach unsäglichen Mühen schließlich in bayerischen Grainau gelandet. Sie ist auf sich allein gestellt in den Nöten der Nachkriegszeit, schlägt sich mit Näharbeiten durch. Der Autor schildert in dieser Erzählebene seine Kindheitserlebnisse, wobei ihm die Briefe so manches in die Erinnerung zurückrufen, was er längst vergessen hat nach mehr als sechs Jahrzehnten. Mit den Zitaten aus den Briefen zeichnet er ein Psychogramm seiner Mutter, deren Sehnsucht nach Liebe sich nicht erfüllte, deren Liebesschwüre die Liebhaber eher verschreckt haben. Sie verzweifelt an der Lieblosigkeit der Männer, ihre Gefühle prallen ab an einer undurchdringlichen Hülle, die sie umgibt, die nur beim Tête-à-tête nicht vorhanden zu sein scheint.

Nüchtern im Stil beschreibt der Autor seine Entdeckung einer Unbekannten, die zwar seine Mutter war, beileibe aber keine Heldin, deren ebenso unkonventionelles wie rücksichtsloses Liebesleben, soweit es aus den Briefen zu entnehmen ist, ihn deutlich merkbar irritiert. Er arbeitet bei seinen Zitaten jeweils mit kurzen Auszügen, oft nur mit einzelnen Sätzen, die stilistisch manieriert, nicht selten auch kitschig erscheinen im Vergleich zu seiner eigenen, ungekünstelten Sprache. Beklemmend für mich war die Unbedingtheit, mit der die Mutter als egoistische Geliebte, für die ihre Kinder in diesen Phasen nur noch ein Klotz am Bein sind, dem vermeintlichen Glück hinterher jagt. Den Horizont erweiternd sind die Schilderungen der prekären Lebensumstände damals, nicht gelungen jedoch ist die Verschmelzung der beiden Themenkomplexe, Liebeswirren der Mutter und Kindheit des Sohnes, in einen homogenen Erzählfluss. Gleichwohl ist all das mit Gewinn zu lesen, und wie der Sohn die für ihn vermutlich ziemlich peinlichen Erkenntnisse aus dem emotional aufgeputschten Liebesleben seiner Mutter verarbeitet hat, aus männlicher Perspektive auch noch, das ist durchaus bewundernswert.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Der Fuchs war damals schon der Jäger

mueller-1De gustibus non est disputandum

Zugegeben, Herta Müllers Prosa ist gewöhnungsbedürftig, sehr sogar! Das Nobelkomitee spricht von einer Autorin, «die mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit zeichnet». Im Jahr der Preisverleihung 2009 erschien der Roman «Atemschaukel», dessen Lektüre seinerzeit bei mir einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen hatte als sprachlich hochstehendes Werk einerseits, mit einer leider furchtbar düsteren Arbeitslager-Thematik andererseits, die so gar nichts beiträgt zum Lesegenuss, sofern man kein Masochist ist. Leider fand ich auch im vorliegenden Roman mit dem rätselhaften Titel «Der Fuchs war damals schon der Jäger» ein ähnliches Sujet, das Leben im Rumänien unter dem Diktator Ceauşescu kurz vor bis zum Zusammenbruch dieses menschenverachtenden Regimes.

Der offensichtlich vorhandene Determinismus Müllers führt bei diesem siebzehn Jahre vor dem Nobelpreis erschienenen Roman zu einer sehr eigenwilligen sprachlichen Form, deren Poesie sich manchem Leser nur schwer erschließt. Sie ist alles andere als schön, versucht vielmehr, die Lebenszwänge und Ängste der Menschen durch eine häufig grotesk anmutende Wortwahl und Syntax auszudrücken. Das wirkt aufs Gemüt des Lesers und erzeugt eine durchgängig düstere Stimmung, die kaum je aufgehellt wird, selbst ein Witz über Ceauşescu oder die tödliche Fahrt eines Parteikaders im Kettenkarussell ändert daran nichts. Mit kurzen, einfachen Sätzen, ohne Fremdwörter auskommend, weitgehend auch ohne direkte Rede, steht für Herta Müller wie bei einer Lyrikerin der Rhythmus ihrer Texte im Fokus, den sie nach eigenem Bekunden durch lautes Vorlesen überprüft und falls erforderlich korrigiert.

Der poetische Hintersinn dieser speziellen Prosa ist in der Regel zumindest nicht gleich offensichtlich, manchmal aber auch überhaupt nicht zu entschlüsseln, oft als Metapher für die Metapher sozusagen. Zitat: «Der Weg kennt sich selber, hat keine Entfernung. Die Schritte verwackeln und sind immer gleich. Dann beeilen die Schuhe sich, der Kopf ist leer, auch wenn der Fuchs im Kopf steht». Alles klar? Für Leser mit Freude an der Lösung solch kniffliger verbaler Rätsel sicherlich eine wahre Fundgrube, ruft Müllers Sprache bei anderen im günstigsten Fall nur Kopfschütteln hervor, aber auch krasse Ablehnung. Was schade ist, denn das Spektrum auch abseitiger sprachlicher Formen auszuloten ist zumindest bereichernd, selbst wenn es Mühe macht für literarische Warmduscher wie mich.

Der Plot ist banal und nicht weiter erwähnenswert, natürlich ist die Securitate allgegenwärtig, die wenigen Figuren sind nur schemenhaft beschrieben als typische Stellvertreter für ein unterdrücktes rumänisches Volk. Die Trostlosigkeit ihres Lebens wird emotionslos geschildert, wobei die simple Geschichte ab der Mitte des Buches Fahrt aufnimmt und dann auch etwas konventioneller erzählt wird. Am Ende gibt es mit dem Untergang des Regimes fast so etwas wie Optimismus, durchaus selten ja im Werk Herta Müllers, ein Licht am Ende des Tunnels jedenfalls. Auch wenn klar wird, dass die alten Kader schnell wieder Fuß fassen, sich der neuen Zeit scheinbar mühelos anpassen, was die positive Stimmung gleich wieder dämpft. So weit, so gut, wie für jede Kunst gilt auch für diesen Roman: Über Geschmack lässt sich nicht streiten!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Der Mann, der den Zügen nachsah

simenon-1Geschickt kaschierte Trivialität

Die Literaturwelt kennt viele schillernde Persönlichkeiten unter den Schriftstellern, der belgische Verfasser der Maigret-Romane Georges Simenon gehört in deren erste Reihe. Als Vielschreiber reichte sein literarisches Spektrum vom Groschenroman über Kurzgeschichten und Erzählungen bis zu den erfolgreichen Kriminalromanen, die ihn berühmt und reich gemacht haben. Nicht gelungen ist ihm der Durchbruch zum anspruchsvollen Roman, zum echten literarischen Werk, wie er es selbst einst prophezeit hat: «Wenn ich vierzig bin, werde ich meinen ersten wirklichen Roman veröffentlichen, und wenn ich fünfundvierzig bin, werde ich den Nobelpreis erhalten haben.» Der zu jener Zeit, im Jahre 1938 veröffentlichte Roman «Der Mann, der den Zügen nachsah» war ein vergeblicher Versuch in diese Richtung. Kollegen und Kritiker sprachen von einem «Fall Simenon», dem Autor haftete trotz bewundernswertem Erzähltalent mit seinem riesigen Œuvre zeitlebens der Kolportageverdacht an.

Der vorliegende Krimi ist die psychologische Studie eines Mannes aus dem mittleren Bürgertum, den der betrügerische Konkurs seines Chefs völlig aus der Bahn wirft. Gutsituiert mit standesgemäßer Villa, braver Familienvater und gewissenhafter Prokurist der größten Firma für Schiffsbedarf in Groningen, heißt es im ersten Satz über ihn: «Abends um Acht war Kees Popingas Schicksal noch nicht besiegelt, es wäre also noch nicht zu spät gewesen.» Als das Undenkbare aber Gewissheit wird, entdeckt Kees den treulosen Unternehmer in einer Spelunke und wird von ihm ganz unverblümt über den Bankrott aufgeklärt. Er werde sich heute Nacht noch, einen Selbstmord vortäuschend, ins Ausland absetzen, zum Abschied drückt der Chef Kees ein wenig Bargeld in die Hand. Der beschießt, jetzt auch völlig ruiniert, denn all seine Ersparnisse steckten in der Firma, ebenfalls ein neues Leben zu beginnen, sich aus seinem drögen Alltag zu befreien.

Kees verschwindet klammheimlich Richtung Amsterdam, um dort die Lebedame Pamela aufsuchen, die von seinem Chef ausgehalten wurde. Die aber weist ihn ab, lacht ihn aus, er erwürgt sie daraufhin. Was folgt ist eine odysseeartige Flucht, die ihn nach Paris führt, wo er in der festen Überzeugung, intelligenter zu sein als seine Verfolger, als unauffällige Figur in den Menschenmassen der Metropole untertaucht. Allmählich steigert er sich tiefer in seinen Wahn hinein, die Zeitungsmeldungen, die er begierig liest, bezeichnen ihn als schon Paranoiker. In einem ausführlichen Leserbrief erklärt er sein Motiv: «Vierzig Jahre lang habe ich das Leben betrachtet wie ein armer kleiner Junge, der mit der Nase am Schaufenster einer Konditorei klebt und den anderen zusieht, wie sie Kuchen essen.» Was war mein Leben denn schon wert, fragt er sich, welchen Sinn hatte es? Am Ende lässt Simenon ihn ziemlich theatralisch nackt und ohne jede Habe als Selbstmörder scheitern, er landet in der Psychiatrie.

Die in einfachster Sprache erzählte Geschichte ist mäßig spannend, lässt den Leser aber durch das Stilmittel des inneren Monologs über weite Strecken an den Gedankengängen des als intelligent dargestellten Protagonisten teilhaben. Nüchterne Logik ist für das Handeln des hervorragenden Schachspielers Kees bestimmend, alles bleibt für den Leser nachvollziehbar, sogar beim Zusammenbruch am bitteren Ende. Darin mag für Viele der Reiz dieses Plots liegen, auch wenn das, was erzählt wird, vom Gehalt her im Grunde ziemlich banal ist. Stilistisch aber und damit literarisch im Sinne einer Kunstform ist das Ganze unterste Kategorie, mittelmäßige Kolportage, wie François Bondy schrieb, die wie Simenons gesamtes Werk im Zwielicht bleibe. Und so ist denn auch die Rezeption auffallend zwiespältig. Wer Kniffliges mag, sich lesend von einem Bistro zum anderen begeben und Paris in alle Himmelsrichtungen durchwandern will, der ist hier bestens bedient, literarische Gourmets hingegen werden dieser geschickt kaschierten Trivialität nichts abgewinnen können.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Bonita Avenue

buwalda-1Ein literarisches Enschede

Mit dem so gar nicht an Holland erinnernden Titel «Bonita Avenue» für seinen Debütroman hat Peter Buwalda auf Anhieb einen Bestseller geschrieben, der anderthalb Jahre die niederländische Bestsellerliste bevölkert hat und inzwischen auch in einigen Übersetzungen vorliegt. Nun gilt heutzutage, hier wie dort, für anspruchsvollere Leser die aus leidvoller Erfahrung aufgestellte Regel: Vorsicht vor Bestsellern! Ausnahmen bestätigen allerdings die Regel, wie man weiß. Liegt hier eine solche Ausnahme vor?

Der dickleibige Band mit mehr als sechshundert Seiten ist eine Familiensaga der besondern Art, in dem die heutige Zeit mit ihren Patchwork-Idyllen ad absurdum geführt wird. Seine Geschichte ist singulär angelegt, die niederländische Gesellschaft spielt nur eine Nebenrolle, sie wird nicht widergespiegelt in dem turbulenten Geschehen um die Familie Sigerius. Ganz genüsslich demontiert der Autor seine wenigen Figuren, nachdem er sie zunächst als erfolgreiche Idealtypen aufgebaut hat. Und deren wichtigste ist Siem Sigerius, einst erfolgreicher Judoka, der nach einem Unfall die vielversprechende sportliche Karriere aufgegeben muss und auf dem Krankenbett zufällig sein mathematisches Talent entdeckt. Es folgt eine kometenhafte akademische Laufbahn, die ihren Höhepunkt in seiner Berufung als Wissenschaftsminister erreicht. Seine privaten Verhältnisse gestalten sich weniger glamourös, er trennt sich von seiner ersten Frau Margriet, mit der er einen missratenen Sohn namens Wilbert hat, und heiratet die Nachbarin, die aus erster Ehe zwei Töchter mitbringt, Joni und Janis. Als die alkoholkranke Margriet stirbt, nimmt Siem seinen Sohn bei sich auf, ein Fehler, wie er bald merkt. Als sich die Probleme mit Wilbert häufen, nutzt er einen Vorfall, um ihn durch eine Falschaussage von Joni hinter Gitter zu bringen. Kaum entlassen wird er zum Mörder und nun auf lange Zeit weggesperrt. Seine aufgestaute Rache entlädt sich schließlich nach seiner vorzeitigen Freilassung und führt zu einem aberwitzigen Schluss in bester Horrorfilm-Tradition.

Buwalda arbeitet mit brachialer Gewalt bei der Demaskierung seiner Hauptfiguren, zu denen neben Siem dessen ebenso intelligente wie attraktive Stieftochter Joni und deren Freund Aaron gehören. Die beiden betreiben heimlich eine erfolgreiche Pornoseite im Internet, bei der Joni als Akteurin fungiert und Aaron als Fotograf, was die beiden schnell zu Millionären macht. Auf Wirkung bedacht baut der Autor das Unglück von Enschede im Jahre 2000 in seine Geschichte mit ein, und analog der Explosion der dortigen Feuerwerksfabrik fliegt auch die geheime Pornoseite auf, und das fragile Familiengebäude wird ebenfalls zerstört. Die beiden trennen sich, Joni flüchtet vor dem Zorn des prominenten Vaters in die USA, der paranoide Aaron landet am Ende in der Psychiatrie.

Der turbulente Plot wird in verschiedenen Zeitebenen und aus wechselnden Perspektiven erzählt, in der dritten Person aus der von Siem und Aaron, Joni tritt als Ich-Erzählerin auf. Die manchmal abrupten Handlungssprünge erfordern erhöhte Aufmerksamkeit des Lesers. Einen breiten Raum nimmt die Welt der Universität ein, der Judo-Sport wird ausgiebig beschrieben, das frühe Internet sowie die sich daraus entwickelnde Pornobranche. Glücklich war die Familie nur in den Jahren, als sie in der titelgebenden «Bonita Avenue» in den USA wohnte, die holländische Heimat hingegen führt für sie alle in die Katastrophe, «eine Tragödie ohne auch nur die Spur einer Katharsis», wie Siem beim Showdown im Roman betroffen feststellt. Die verstörende Geschichte, die an der Normalität so gar kein Interesse hat, erscheint in Vielem maßlos übertrieben und lässt, in toto erzählt wie sie ist, für eigene Interpretationen keinen Raum. Der Autor lässt es richtig krachen, Zwischentöne sind nicht zugelassen in seinem zerstörerischen Plot, eine geradezu pyrotechnische Prosa, ein literarisches Enschede sozusagen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt