Die weiße Garde

Hochaktuell

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine kommt dem Romandebüt «Die weiße Garde» von Michail Bulgakow plötzlich erhöhte Aufmerksamkeit zu, werden darin doch einige der Hintergründe für das aktuelle kriegerische Geschehen beleuchtet. Das 1924 erschienene Buch diente als Vorlage für das Theaterstück «Die Tage der Turbins», womit auch gleich die Protagonisten des autobiografisch inspirierten Romans genannt sind, die drei Geschwister Turbin. Thematisch wird in dieser Geschichte das politische Chaos behandelt, welches die Oktober-Revolution und der Zerfall des Russischen Reiches auf dem Gebiet der Ukraine ausgelöst haben. Es wurde schließlich mit dem Sieg der Roten Armee beendet.

Im Winter des Jahres 1918 herrscht in der Großen Stadt, wie Kiew im Roman immer nur genannt wird, ein Bürgerkrieg mit mehreren Fronten. Dem Marionetten-Regime des von Deutschland gestützten, konservativen russischen Staatsoberhauptes stehen unversöhnlich die revolutionären Bolschewiki gegenüber, eine dritte Kriegspartei bilden die links orientierten, ukrainischen Nationalisten unter Petljura. Nach dem Rückzug der Deutschen flieht der Staatschef und überlässt seine Soldaten einem aussichtslosen Kampf. Der 28jährige Militärarzt Alexej und sein elf Jahre jüngerer Bruder, aufopfernd unterstützt von ihrer Schwester Jelena, geraten in einen wilden Strudel völlig unübersichtlicher Kämpfe mit verschiedenen Fronten. Während manche der russischen Kommandeure sich dem aussichtslosen Kampf stellen, lösen andere resigniert ihre Einheiten auf und schicken die Soldaten nach Hause. Der auf der Flucht schwer verletzte Alexej wird von einer unbekannten Frau gerettet. Während dessen nehmen die siegreichen ukrainischen Nationalisten unter Petljura Kiew ein und richten unter den als russische Offiziere enttarnten Zivilisten, und vor allem auch an den Juden, ein beispielloses Massaker an. Der inzwischen geheilte Alexej schließt sich, als Zivilist unerkannt, den ukrainischen Nationalisten an und wird als Militärarzt eingesetzt. Einer seiner Patienten ist schließlich ein für seine Brutalität besonders berüchtigter Oberst, aus Rache erschießt er ihn und muss erneut flüchten. Zu Hause stellt er fest, dass sein Bruder und auch Schwester Jelena mit ihrem Mann die gemeinsame Wohnung verlassen haben. Die wenigen Überlebenden unter seinen Freunden haben sich der «Weißen Garde» im Donbass angeschlossen. Als Alexej schließlich seine Retterin wiederfindet, marschiert schon die Rote Armee in Kiew ein.

Bei der Lektüre wird deutlich, welch unterschiedliche Vorstellungen in der Bevölkerung herrschten während dieser turbulenten Umbruchzeit. Die Konservativen trauerten dem Zarenreich nach und hätten am liebsten alles so gelassen wie es war, die Bolschewiken wollten stattdessen den Sozialismus verwirklichen. Unversöhnlich standen sich auch die Separatisten mit ihrem Traum vom eigenen Staat und die sich einem russischen Staat zugehörig fühlenden Ukrainer gegenüber. Der Roman wird aus der Perspektive der strikten Gegner all dieser revolutionären Umwälzungen geschildert, er verdeutlicht zudem die Unwägbarkeiten, die den Menschen derart schicksalhafte Entscheidungen schwer machen. Bulgakow lässt die kontroversen Meinungen in Dialogform aufeinander treffen, wobei vieles im Konjunktiv gesagt wird, denn die Nachrichtenlage ist äußerst unzuverlässig, was einen bisher festen Standpunkt schnell erschüttern kann.

Wie der Übersetzer Alexander Nitzberg erklärt hat, erzählt dieser Roman keine Geschichte, «vielmehr entwirft er Räume und Bildsphären». Obwohl er in seinem üppigen Anhang auf 94 Seiten mit hilfreichen Anmerkungen das Verständnis für den Leser erleichtert, bleibt letztendlich doch so manche subtile Anspielung oder sprachliche Besonderheit unentdeckt. Mit einer Syntax voller narrativer Extravaganzen, zu denen die absurde Erzählperspektive gehört, hat Bulgakow sich mit seinem Debüt als Meister des phantastischen Realismus etabliert. Es setzt jedoch geduldige Leser voraus.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Galiani

Meister und Margarita

«Leser mir nach!»

Unter dem Titel «Meister und Margarita» ist der Jahrhundertroman des russischen Schriftstellers Michail Bulgakow 1966 posthum in einer radikal zensierten Fassung erstmals erschienen, unlektoriert und nicht von eigener Hand fertig gestellt. Nach einem atemberaubenden Blitzstart ist er dort gleichwohl zum meistgelesenen Roman des Zwanzigsten Jahrhunderts avanciert, ein literarischer Geniestreich ohne gleichen. Die Zahl der Arbeiten, die sich bis heute mit ihm wissenschaftlich befassen und um eine plausible Deutung ringen, ist inzwischen Legion. Dieser russische Jahrhundertroman nun ist 2012 in einer kongenialen Neuübersetzung erneut auf Deutsch erschienen, Felicitas Hoppe hat ihm aus diesem Anlass ein ebenso lesenswertes wie geistreiches Nachwort unter der Überschrift «Leser mir nach – du bist frei!» gewidmet. Worin liegt denn nun die große Faszination dieses Werks?

Natürlich vor allem im mystischen Faust-Thema, das schon im Titel anklingt und dem Roman mit einem Goethe-Zitat als Motto deutlich vorangestellt ist. Dem Faust nämlich entspricht hier der «Meister», und dem Gretchen «Margarita». Der Magische Realismus Bulgakows hat den Stoff allerdings in einer radikal neuen Sichtweise aufgegriffen und dessen Thematik in eine unbekümmert groteske, satirische Form gebracht, die im Verbund mit einer überbordenden Phantasie einen ebenso großen Anteil an der begeisterten Rezeption dieses Werkes haben dürfte. «Es war Frühling, eine heiße Dämmerstunde am Patriachenteich» lautet der inzwischen berühmt gewordene erste Satz des Romans. Die zwei Herren, die dort sitzen, sind der Vorsitzende der Moskauer Autorenvereinigung und der Schriftsteller Iwan Nikolajewitsch Ponyrjow. Sie diskutieren über Iwans antireligiöses Poem, es geht um Metaphysisches, um Jesus und um Gottesbeweise, als sich plötzlich ein Ausländer in ihr Gespräch einmischt, ihnen die Leviten liest und nebenbei erwähnt, er habe schon mit Kant gefrühstückt und kenne Pontius Pilatus persönlich. So beginnt unter dem Titel «Reden Sie nie mit Unbekannten» das erste Kapitel. Dieser Fremde ist Woland, Professor der schwarzen Magie, in Wahrheit der unter verschiedenen Masken auftretende leibhaftige Satan, der in Folge mit seiner abenteuerlichen Entourage binnen kürzester Zeit in Moskau ein heilloses Chaos mit zwei Toten anrichtet, viele Menschen in Panik versetzt und alle Behörden kläglich scheitern lässt.

Der «Meister» ist Insasse einer Psychiatrischen Klinik und kennt seinen Namen nicht. Er hatte an einem Roman über Pontius Pilatus geschrieben, als er «Margarita» kennenlernte, eine verheiratete Frau, die seine große Liebe wird. Als sein Roman von der Kritik verrissen wird, verbrennt er ihn, verfällt in Wahnsinn, Margarita und er werden getrennt. Einer von Wolands Helfern macht ihr ein unmoralisches Angebot, erhebt sie zur Königin an der Seite des Teufels bei einem riesigen, der Walpurgisnacht ähnelnden Ball, fortan gehört sie als Hexe zur Begleitung Satans. In mehreren Kapiteln wird parallel aus dem Roman des «Meisters» über Pontius Pilatus erzählt, wobei die Hinrichtung hier völlig entmystifiziert geschildert wird und Jesus als naiver Gutmensch erscheint. Am Ende treffen sich beide Handlungsstränge, als der «Meister» und Margarita nach ihrem Tode von Woland nach Jerusalem geführt werden, wo der depressive Pontius Pilatus einsam und verlassen mit seinem Hund in der Wildnis vor der Stadt sitzt, – und alle werden genau dort erlöst!

Liebe, Vergebung, Erlösung sind die großen Fragen in Michail Bulgakows Philosophie. Mit Kunst und Künstler wird ein weiteres Thema abgehandelt, die unheilvolle Bürokratie im aberwitzigen Überwachungsstaat der 1930er Jahre unter Stalin wird nur indirekt auf amüsante Weise angeprangert. Ein umfangreicher Anhang hilft beim Verstehen vieler spezifisch russischer Details, der immense Lesespaß aber beruht zu einem nicht unwesentlichen Teil auch auf der wohldurchdachten, frischen Übersetzung. «Leser mir nach!» rufe auch ich.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München