Lesen, kann ich nur sagen!
Als «Metaroman» wird im Klappentext das Buch «Aus dem Gedächtnis» der streitbaren russischen Intellektuellen und Schriftstellerin Maria Stepanova bezeichnet, «eine essayistischer Erzählung», die sich den üblichen Genres nicht so eindeutig zuordnen lässt. Obwohl dieses Debüt einer in Deutschland unbekannten Autorin wie ein Komet am literarischen Himmel erschienen ist, schweigt sich das Feuilleton bisher weitgehend aus. Auf Wikipedia findet man unter diesem Namen eine blonde, 2,02 Meter große russische Basketballspielerin, die gleichnamige Schriftstellerin ist dort nur namentlich gelistet, es gibt keinen Beitrag über sie. Das alles wird nicht so bleiben, ist zu vermuten!
Die Autorin beschreibt ihre geradezu manisch betriebene Spurensuche nach ihren jüdisch-russischen Vorfahren, ein gewagtes Vorhaben angesichts einer ziemlich dürftigen Quellenlage. Denn nur einzelne Zweige des weitverzweigten Stammbaums ihrer großen Familie sind durch Texte verschiedenster Art, diverse Fotos und aufbewahrte Gegenstände einigermaßen gut erschließbar, andere existieren allenfalls als körper- und geschichtslose Namen, oft sogar nur in mündlicher Überlieferung. Die in fünf Generationen das gesamte zwanzigste Jahrhundert umfassende und teilweise auch noch bis ins neunzehnte Säkulum zurückreichende Geschichte bezieht die Ahnen mit ein, gibt ihnen quasi eine Stimme. Eine gewisse Schlüsselrolle kommt dabei der ebenso dominanten wie exzentrischen Urgroßmutter Sarra zu, einer bolschewistische Revolutionärin, die 1907 nach Paris gegangen ist, dort Medizin studiert und promoviert hat und, in die Heimat zurückgekehrt, sich vorausahnend als Ärztin in die relative Sicherheit einer Gesundheitsbehörde zurückgezogen hat. Diese intuitive Weitsicht scheint in den Genen der Großfamilie zu liegen, bis auf einen als Soldat gefallenen jungen Mann hat die gesamte Sippe die Wirren von Revolution, Weltkrieg, Antisemitismus und stalinistischen Säuberungen, zumindest körperlich, recht gut überstanden.
Es ist das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen, das den Leser auf seinem in jeder Hinsicht bereichenden Streifzug durch die wechselvolle Geschichte Russlands begleitet, immer auf den Spuren dieser Familie, wobei er der Autorin bei ihren vergeblichen Bemühungen um Gewissheit quasi ständig über die Schulter blickt. Als Ich-Erzählerin nimmt Maria Stepanova sich selbst völlig aus, sie berichtet mit einer gewissen Schwermut über die Altvorderen, nicht über sich, – an einer Stelle erwähnt sie ihren Mann, ebenso prophetisch wie amüsant, als «mein zukünftiger Ex-Mann», das war’s auch schon. Man erfährt auch relativ wenig über ihre Eltern. Nur einmal, als der Vater ihre Frage, ob sie seine erhalten gebliebenen Briefe im Buch abdrucken dürfe, ziemlich überraschend brüsk zurückweist, ist sie gekränkt und irritiert zugleich. Diese mühevolle Erinnerungsarbeit mit den vielen darin eingeschlossenen, klugen Reflexionen ist von einer geradezu ausufernden Intertextualität begleitet, der sich vertiefend noch viele essayartige Randgeschichten hinzugesellen. So ist zum Beispiel ein längerer Abschnitt des Romans sehr einfühlsam dem Schicksal der jüdischen, in Auschwitz ermordeten Künstlerin Charlotte Salomon gewidmet, über die David Foenkinos einen miserablen Roman geschrieben hat. Und die eigenwilligen Glaskästen des schrägen US-amerikanischen Künstlers Joseph Cornell dienen ihr an anderer Stelle als willkommenes Vehikel zur Veranschaulichung des Erinnerns, die hinterlassenen Gegenstände haben ihren Sinn nur als ehemaliger Besitz Verstorbener, – solange sich überhaupt noch irgend jemand an sie erinnert.
Als Leser wird man geradezu suggestiv mitgenommen und zu eigenem Nachdenken angeregt, geht es in diesem stilistisch unpathetischen, fraktionell erzählten Suchprozess letztendlich doch um nichts Geringeres als die eigene Bedeutungslosigkeit, die unerträgliche Gewissheit also, nur ein Sandkorn der Geschichte zu sein. Lesen, kann ich nur sagen!
Fazit: erstklassig
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