Lanny

Träumen mit Schuppenwurz

Mit einiger Spannung ist von manchen Lesern «Lanny», der zweite Roman des britischen Schriftstellers Max Porter erwartet worden, dessen Debütroman vor vier Jahren international Beachtung gefunden hatte. Und prompt findet sich auch in dieser neuen Prosa wieder die Leidenschaft des Autors für Übersinnliches, seine Lust am Fabulieren, seine radikale Abwendung von tradierten Erzählformen. Mich hat der Roman unwillkürlich an den Meister der Postmoderne, an Jonathan Safran Foer erinnert, der in «Extrem laut und unheimlich nah» auch einen etwa gleich alten, hochintelligenten Jungen in den Fokus stellt und seinem Text ebenfalls mit ungewöhnlichen typografischen Verzierungen eine besondere, seine Thematik unterstreichende Note gibt. Kann Porter da mithalten?

Der dreiteilige Roman beginnt mit dem Erwachen eines Fabelwesens, Altvater Schuppenwurz, eine Zwittergestalt zwischen Waldschrat und unbelebtem Wurzelwerk, nach einer Schmarotzerpflanze benannt. Als «Einen Mann ganz aus Efeu» stellt Lanny sich diesen bösen Dorfgeist vor, der in seinem Schreckenspotential auch an den Erlkönig von Goethe erinnert. Lannys Eltern sind von London in dieses heimelige kleine Dorf gezogen, sein Vater, der «ein Reh nicht von einem Wildschwein unterscheiden kann», ist Banker und pendelt täglich in die City. Als ehemalige Schauspielerin widmet sich seine Mutter hier liebevoll ihrem Sohn, nebenbei schreibt sie an einem wüsten Thriller. Es gelingt ihr, den «Irren Pete», einen berühmten Künstler aus der Nachbarschaft, als Lehrer für Lanny zu gewinnen. Zwischen dem hoch betagten Eigenbrödler und dem wissbegierigen Jungen entwickelt sich eine herzliche Freundschaft, die für beide sehr bereichernd ist.

In einer die ganze erste Hälfte des Romans ausfüllenden Exposition wird in kurzen Kapiteln von Lanny erzählt, er ist nur Titelfigur, nicht Protagonist, wir erfahren nichts aus seiner Sicht. Mutter, Vater und Pete berichten in Ich-Form über seine Entwicklung, seinen erstaunlichen Wissendrang, sein nicht minder erstaunliches Geschick bei allem, ein Neunmalkluger, – seine Mutter nennt ihn zärtlich Enigma. Zwischendurch ist, in Fettdruck gesetzt und in der dritten Person erzählt, immer wieder auch Schuppenwurz zu vernehmen, der alles hört, alles sieht, alles weiß in diesem überschaubaren ländlichen Kosmos. Die verschiedenen Stimmen seiner Bewohner erzeugen ein kakophonisches Raunen, ein permanentes Gemurmel. Es ist typografisch in bizarren, die gewohnte Waagerechte missachtenden, bogenförmig tänzelnden oder schräg gesetzten, inhaltlich nicht relevanten Kurzsätzen, Textfetzen, Ausrufen, Redensarten und Worthülsen realisiert. Sie enthalten gleichermaßen Kluges und völlig Belangloses, – wie im richtigen Leben, könnte man sagen. Die Typografie ändert sich schlagartig, als im zweiten Teil Lanny plötzlich verschwunden ist und fieberhaft nach ihm gesucht wird. Eine Fülle von meist nicht identifizierbaren Ich-Erzählern berichtet separat in kurzen, durch das Zeichen + getrennten Absätzen von den Suchaktionen, von den Ermittlungen der Polizei, von Mutmaßungen und Verdächtigungen, ein vielstimmiger Chor, ehe sich dann im dritten Teil in einer Traumwelt wieder Altvater Schuppenwurz ins Geschehen einmischt.

Mit seinem Magischen Realismus verlässt Max Porter häufig die Gefilde der Prosa und wandelt auf den Pfaden der Lyrik, nicht nur rhythmisch, sondern auch melodisch. «Warum sollte ein Buch keine musikalische Seele haben?» hat er eine diesbezügliche Frage im Interview beantwortet. Stadt-Land-Problematik, Naturferne, Vereinsamung, Helikoptereltern, Massenhysterie als seine Themata verarbeitet er im Social-Media-Zeitalter surreal, erhebt das Metaphysische über das Faktische. Entstanden ist so ein Roman für Träumer, ganz anders als bei Foer allerdings. In seiner poetischen Märchenhaftigkeit vermag «Lanny» mehr auszusagen als manche realitätsverpflichtete Prosa. Die Bereitschaft zum Träumen ist allerdings zwingend vorausgesetzt!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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