Bring mich noch zur Ecke

Bring mich noch zur Ecke – Anneli Furmark

Bring mich noch zur Ecke. “Menschen trauern auf unterschiedliche Art“, meint der Psychotherapeut der 56-jährigen Elise und will damit ihr Verständnis für Henrik, ihren Mann, verbessern. 25 Jahre waren sie verheiratet, aber dann hat sich Elise in Dagmar verliebt. Und Dagmar in sie. Auch sie hat eine andere Partnerin und Familie.

Familiar Feeling

Ein plötzlicher Anflug von Sehnsucht durchfuhr sie, die Erinnerung an das Gefühl von etwas im Fernsehen völlig gefesselt zu sein.” Das Leben kann ganz schön kompliziert sein. Henrik und Elise haben sich etwas aufgebaut und sie lieben sich noch immer, nach einem Vierteljahrhundert Ehe. Doch Elise zieht es zu Dagmar. Als auch Henrik eine andere Partnerin findet, wird aus der Vermutung Gewissheit: Scheidung. Die Kinder sind schon alt genug es zu verdauen. Aber wird Elise es schaffen? Sie macht sich Vorwürfe. Erst recht, als Dagmar einen Rückzieher macht. Liebgewonnene Gewohnheiten abzulegen, die Vertrautheit eines Ehepaares, der Duft seines Pullovers. In seiner Abwesenheit schnuppert sie daran, sehnt sich nach dem alten Gefühl und vielleicht auch etwas nach ihrer eigenen Vergangenheit und Jugend. Elise hört gerne Musik und lebt in den Texten etwa von Joni Mitchell “A case of you” oder “Both Sides Now“, Leonhard Cohen u.a. Dagmar mag das. Aber wird sie es lieben?

Ein neue Erzählung

Elise ist zum ersten Mal in ihrem Leben wieder auf sich allein gestellt. Zumindest das erste Mal seit langem. Sie will nicht Teil der Erzählung von Dagmars Ehekrise werden. Sie will wieder zurück und doch wieder voran. Beim Packen eines Kartons liegt sie am Boden und nur ihre Katze kommt, sie zu trösten. Eine Entwicklung geht oft in kleinen Schritten und nicht in großen Sprüngen. Anneli Furmark, die sowohl Text als auch Zeichnungen verfasst hat, weiß um die Traurigkeit und Melancholie des Endes einer Beziehung und zeichnet einfühlsam den Weg Elises zu ihrer neuen Selbständigkeit nach. Gelungen ist auch die Anspielung auf “Die Absinthtrinkerin” (Edgar Degas), als Elise vor ihrem Weinglas sitzt und zunehmend verfällt. Ihre Freundinnen freuen sich aber für sie, für die “vielen Gefühle”, das muss doch schön sein, meinen sie. Aber es ist nicht nur schön. Es erfordert auch ganz schön viel Mut, alle bisherigen Sicherheiten aufzugeben und ein neues Leben zu beginnen. Mit oder ohne neuen Partner. Und bald fasst Elise wieder neue Pläne.

Anneli Furmark
Bring mich noch zur Ecke
Text und Zeichnung: Anneli Furmark
Übersetzung aus dem Schwedischen von Katharina Erben
2022, 232 Seiten, Klappenbroschur, Format 16 x 21,5 cm, vierfarbig
ISBN: 978-3-96445-066-1
avant-verlag
25,00 €


Genre: Comics, Erzählung, Frauenliteratur, Graphic Novel, Liebesroman
Illustrated by Avant Verlag

Mädchen, Frau etc.

Dieses Buch fesselt von der ersten Seite an, es lebt von der aufmerksamen Beobachtung und Beschreibung der Protagonisten. Wir lernen mit Anteilnahme und Humor ein Dutzend britischer Frauen während der letzten hundert Jahre kennen, alle Generationen sind vertreten, viele kennen sich untereinander.

Manche kommen aus gutem Hause, andere hatten ledige Mütter, manche entdecken für sich den Feminismus der sechziger Jahre (Betty Friedan!), andere sind oder werden lesbisch, nie verschämt, mal kämpferisch. Amma etwa nimmt sich vor, nur einmal mit derselben zu schlafen, und als sie sich ein Kind wünscht, lässt sie sich von ihrem schwulen Freund Roland (künstlich!) befruchten. Die Tochter Yazz ist inzwischen eine Studentin, strotzt vor Selbstbewusstsein und wickelt ihre Eltern um den Finger; getrennt, versteht sich.

Wir lesen die Geschichte von Hattie, einer Gutsbesitzerin im Norden Englands, andere sind Lehrerinnen an Schulen, die sich in jungen Jahren an der Aussicht erfreuten, etwas zur Bildung gerade sozial Schwacher beizutragen, dies zeigt sich nach Thatcherschen Schul- und anderen Reformen als Illusion und führt zumindest bei Shirley zu Verbitterung. Dass ihre eigene Mutter sie auch noch mit ihrem Mann betrügt, erfährt sie zum Glück nicht. Es werden Vertreterinnen der weiblichen Linie bis zur Urgroßmutter vorgestellt, und die Spannungen zwischen den Generationen gespiegelt.

Das Buch ist geschrieben, wie man spricht, mit spärlicher Interpunktion, und unter Vermeidung direkter Rede. Es ist das Besondere des Stils, dass es weniger Dialoge gibt, aber dafür werden die Gedanken der Protagonistinnen aufgeschrieben, also auch das, was nicht gesagt wird. Ich habe es erst im englischen Original gelesen, die Übersetzerin ist tapfer, nicht immer gelingt es ihr, den frechen Stil der Autorin wiederzugeben, auch weil diese gerne Abkürzungen verwendet, wie bei der SMS Sprache.

Durchgängig ist im Buch Sex wichtig, jede entdeckt für sich, wie sie es am liebsten hat, ohne Details über erotische Techniken. Alter spielt dabei keine Rolle. Als Penelope sich mit über 70 einen neuen Lover sucht, erwägt sie, sich die Schamhaare färben zu lassen, ist dann aber nicht nötig…

Bei den ganz Jungen, wie Yazz, geht es um Gender-, auch Transgenderfragen, es geht auch darum, welchen Pronomina das selbst gewählte Geschlecht verlangt, hier ist die deutsche Sprache deutlich spröder als das Englische.

Der Aufbau des Buches ist folgender: Amma ist trotz ihrer aus Afrika stammenden Eltern eine erfolgreiche Dramaturgin am National Theater geworden. Heute Abend ist Premiere ihres Stückes und die meisten Menschen, die sie in ihren über fünfzig Jahren begleitet haben, werden kommen, auch danach zur Premierenfeier.

Das Theaterstück wurde vor zehn Jahren von Amma geschrieben, (und so lange dauerte es, bis sie es auf inszenieren durfte) über das vorkoloniale Benin, in dem der König, aus Angst vor männlichen Rivalen seine Sicherheitsgarde aus Frauen gebildet hatte. Mehrere Hundert waren es, formal mit ihm verheiratet, und sie durften von keinem Mann gesehen, geschweige denn, berührt werden. Irgendwann wenden sie sich gegen ihn, dann zueinander und genießen ihr lesbisch Sein.

Im Buch folgen nach Ammas Gedanken auf dem Weg zum Premierenabend die Biographien der (sie selbst eingeschlossen) zwölf Frauen, die alle afrikanische Vorfahren haben. Es geht um Kindheiten in Nigeria, auf Barbados und die schwierigen Eingewöhnungszeiten in England, die Diskriminierungen als Schwarze, die manche schon als Kinder, alle als Erwachsenen erfahren haben, werden präzise und ohne Larmoyanz beschrieben.

Die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen werden aufgeführt, in London werden Stadtviertel gentrifiziert, auf dem Lande erlebt Hattie die Industrialisierung der Landwirtschaft.

Und was ist mit den Männern? Sie gibt es als Väter, Brüder, Ehegatten und (Schwieger)Söhne, wie die Frauen sie wahrnehmen. Auch sie wurden als Kinder des britischen Empire irgendwann Briten. Anders verlief nur die Jugend von Hatties Mann Slim: er war ein US-Soldat aus Georgia, Nachfahre von Sklaven, der wegen Hattie in England blieb und die Engländer als viel respektvoller empfand: Niemand hier hat ihn je Boy gerufen. Ironie des Schicksals: in einem Geheimfach von Hatties Vorfahren findet er Dokumente, die belegen, dass Grundstock des Vermögens Sklavenhandel war. Und Hattie muss beobachten, wie die gemeinsamen Kinder Besuchern erzählen, ihr Vater wäre ein angestellter Landarbeiter.

Nur Rolands Gedanken werden uns, wie die der Frauen, im O-Ton beschrieben. Er ist von sich sehr angetan, immerhin gehört er zum Establishment als TV Promi, Prof. für Soziologie, und das als Einwandererkind, das mit zwei Jahren aus Gambia gekommen war! Leider will keiner der langjährigen Bekannten, die er auf der Premierenparty trifft, seine langen Predigten über das Theaterstück, oder Ergüsse zu anderen Aspekten des Lebens anhören. Es sind Szenen wie diese, die sich mit

Vergnügen lesen, weil Menschenkenntnis und Humor zusammentreffen.

Überhaupt ist die Premierenfeier, auf der reichlich Prosecco fließt, und wo so unterschiedliche Menschen zusammengewürfelt werden, ein Genuss, schon die Beschreibungen der Outfits, viele haben einen afrikanischen Touch. Erfrischend ist, welche Schlüsse gezogen werden, etwa, dass Frauen mit festem Schuhwerk wahrscheinlich lesbisch sind.

Und wir sehen, wie sich Menschen entwickeln können, wie alte Überzeugungen gepflegt, oder eben geändert werden. Nochmal zum Sex: Amma bevorzugt jetzt Dreier, gerne in langjährigen Beziehungen.

Das Buch ist spannend, flott geschrieben und überzeugt durch die klug gewählten und gut getroffenen Persönlichkeiten. Das ist einfach guter Stoff. Zum Schluss gibt es dann noch einen Epilog, mit dem sich ein Kreis schließt …


Genre: Frauenliteratur, Politik und Gesellschaft
Illustrated by Tropen Verlag

Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten

Wer die schwedische Sci-Fi-Serie »Real Humans«gesehen hat, findet schnell Zugang zu Emma Braslavskys Roman »Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten«. Er weiß, dass »Hubots«für »Human Robots« steht und hat eine Vision davon, wie stark Künstliche Intelligenz in naher Zukunft das Zusammenleben der Menschen verändern wird. Weiterlesen


Genre: Frauenliteratur, Science-fiction
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Kopfkissenbuch

Wer erfand eigentlich das Bloggen? Wer war der erste Autor, der Alltagsbegegnungen notierte, kommentierte und für andere zugänglich machte? 

Sei Shõnagon hat ausgezeichnete Chancen auf die Pole Position. Die Hofdame im Dienst der japanischen Kaiserin Sadako notierte nämlich in einem Kopfkissenbuch alles, was sie erlebte und interessierte, von der Hofintrige bis hin zu Geheimnissen aus den Privatgemächern des Kaiserpalastes. Und das geschah bereits vor rund eintausend Jahren!

Jetzt ist erstmals der vollständige Text des Kopfkissenbuchs auf Deutsch zugänglich. Weiterlesen


Genre: Frauenliteratur, Hofdamenliteratur, Tagebücher
Illustrated by Manesse Zürich

Nie weit genug

Aus einem kleinen Kaff im Sauerland bricht die 21-jährige Marleen Richtung Kanada auf, um ihre Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer zu stillen. Ihre Reisetasche birgt ein paar Klamotten, ein Ticket nach Vancouver, eine bescheidene Barschaft und ihren Talisman, einen roten Granat. Dieser Granat soll sie auf ihrer Reise in die unbekannte Ferne beschützen und ihr Glück bringen. Weiterlesen


Genre: Biographien, Erfahrungen, Frauenliteratur, Romane
Illustrated by Selbstverlag

Romy Schneider – Film für Film

romyRomy Schneider Film für Film: 63 Filme hat die im Alter von nur 44 Jahren verstorbene Romy Schneider in ihrem kurzen Leben gedreht. Die Liste der berühmten Regisseure (Luchino Visconti, Orson Welles, Andrzej Zulawski und immer wieder Claude Sautet, u.v.a.m.) mit denen sie zusammengearbeitet hat ist lang, auch die ihrer Filmpartner und berühmten Kollegen, obwohl sie wohl am liebsten mit Alain Delon gedreht hat. Der vorliegende prächtige Bildband zeichnet die Karriere der Femme fatale Film für Film noch und kann so wie ein Lexikon benutzt werden für Filmfreaks und Romy-Fans ebenso wie für einfache Cineasten. Isabelle Giordano zeichnet in ihren Film-Rezensionen, die reich illustriert sind, ein intimes Porträt der Schauspielerin und des Menschen Romy Schneider. Vor allem soll aber eine selbstbewusste Frau gezeigt werden, die zum Symbol ihrer Zeit wurde, denn sie prägte nicht nur das Bild von Generationen, sondern wurde auch zum Vorbild für die heranwachsende neue Generation von Frauen.

Chronologie Romy Schneider Film für Film

Chronologisch nach den Jahrzehnten ihres Wirkens geordnet beginnt die Zusammenstellung mit einem Film aus den Fünfzigern „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ und endet mit „Der Spaziergängerin von Sans-Souci“, ihrem letzten Film. Dazwischen liegen weitere 61 Filme, die sich mit unterschiedlichen Thematiken beschäftigen. Von den „Mädchenjahren einer Königin“ einmal abgesehen, stammt auch der verstörende Thriller „Nur die Sonne war Zeuge“ noch aus diesem ersten Jahrzehnt von Romys Schaffen. Spätestens ab den Sechzigern habe Romy Schneider die moderne Frau verkörpert, schreibt Giordano, die „sich befreien und ihr Schicksal selbst bestimmen wollten“. Ihre Persönlichkeit stehe für „eine Epoche, eine Generation und, noch tiefer reichend, für eine leidenschaftliche Suche nach Freiheit, einen Durst nach Anspruch und Perfektion“, so die Herausgeberin. Giordano sieht in ihr eine moderne Antigone, die wie einst die griechische Heldin laut und deutlich betone „Ich will alles!“

Romy und Alain am Pool

Der erste Film von Romy, der in den Sechzigern gedreht wurde, war „Die Sendung der Lysistrata“, allerdings fürs Fernsehen und nicht fürs große Kino. Aber „Lysistrata“ ist ein sehr politischer Film mit einem politischen Inhalt, geht es doch darum, dass sich die Frauen ihren Männern verweigern, um den Krieg zu verhindern. Der „Sexstreik“ steht somit am Beginn der Filmkarriere Romys in den wilden Sechzigern, in denen sie am Ende mit Alain Delon an einem Swimmingpool liegt und der Liebe frönt. „La piscine“ – so der Originaltitel von „Der Swimmingpool“ kam 1968 heraus und zeigt Romy in „voller sonnengebräunter und strahlender Schönheit“ zusammen mit Alain Delon in „katzenhafter Anschmigesamkteit (…) auf dem Höhepunkt ihrer Kunst und ihrer Verführungskraft“. Neugierige erfahren übrigens auch wo genau in Frankreich sich der Swimmingpool mit der dazugehörigen Villa befinden. Die einzigartige Atmosphäre des Films verdankt er wohl auch dem wirklichen Leben: Romy und Alain hatten ihre Beziehung schon hinter sich und wurden nun – durch die Drehareiten – zu echten Freunden. Aber das erotische Knistern zwischen den beiden ist vielleich gerade darauf zurückzuführen und – dass Romy schon Mutter geworden war.

Ein schöner Bildband mit einmaligen Szenen- und Standfotos, interessanten Geschichten zu den Dreharbeiten und viel Details über Romy. Die Journalistin und Kinoexpertin Isabelle Giordano zeichnet eine reich bebilderte Filmographie und ein intimes Portrait der großen Darstellerin, Bild für Bild von den Anfängen als Tochter des deutschen Vorzeige-Schauspielerpaars Magda Schneider und Wolf Albach-Retty über ihre ersten filmischen Ausflüge nach Frankreich (mit Alain Delon) und die Jahre der Hollywood-Produktionen bis zum Image der Grande Dame des französischen Films der 1970er Jahre und ihrem tragischen Ende in Paris.

Isabelle Giordano (Hg.)
Romy Schneider Film für Film
2017, Schirmer/Mosel, 256 Seiten,
206 Abbildungen in Farbe und Schwarzweiß.
Format: 24,5 x 28,5 cm, gebunden.
Deutsche Ausgabe.


Genre: Biographien, Biographien, Briefe, Dokumentation, Erinnerungen, Fotografie, Frauenliteratur, Kulturgeschichte, Memoiren, Reportagen
Illustrated by schirmer/mosel

Bonjour Tristesse

9783550081385_coverMit 18 Jahren veröffentlichte die Autorin die Erzählung “Bonjour, tristesse”, die auch heute, 50 Jahre später, für das Selbstbestimmungsrecht der Frau steht. Das Klima in den 50ern war gezeichnet von einer Gesellschaft, die die Frauen hasste, schreibt Sibylle Berg in ihrem lesenswerten Nachwort zu vorliegender Neuübersetzung. Obwohl Frauen zwei Drittel der Gesellschaft ausmachten, mussten Frauen die Erlaubnis des Ehemannes einholen, um arbeiten gehen zu dürfen, und dann auch nur als „Dazuverdienerin“. Emotional, passiv und sozial sollten sie sein, die Männer dafür leistungsorientiert, durchsetzungsfähig und aktiv, so Berg. Sagans Protagonistin, Cécile, war in diesem gesellschaftlichen Klima „ein progressiv-feministischer Beitrag zu einem Wandel des Frauenbildes“. „Bonjour tristesse ist eine Reminiszenz an eine Zeit des Aufbruchs“, schreibt Berg, „als man von einer besseren Zukunft träumte“.

Vom Pochen des eigenen Blutes

Ausgehend von einem Gedicht Paul Éluards mit demselben Titel, beschreibt die junge, 18-jährige Protagonistin Cécile das Leben mit ihrem Vater Raymond. Sie beschreibt die „Tristesse“ als über die Wehmut und das Bedauern, die Reue hinausgehendes Gefühl, das sie umschließe wie Seide, „zermürbend und weich, und mich trennt von den anderen“. Ähnlich wie ihr Vater erlebt auch Cécile unterschiedliche Liebesabenteuer, als sie ihre Lust erstmals entdeckt: „Bis heute weiß ich nicht, ob sich hinter dieser Lust an der Eroberung ein Übermaß an Vitalität verbirgt, oder ob es das Verlangen ist, Einfluss auszuüben, oder aber das verstohlene, uneingestandene Bedürfnis nach Selbstbestätigung, nach Bestärkung“, denkt sich Cécile über ihre Abenteuer und Sagan beschreibt ihr Leben mit wunderbaren sprachlichen Bildern. Da sind einmal „die Sandkörner zwischen meiner haut und meiner Bluse“, die sie vor dem „zärtlichen Ansturm des Schlafes“ schützten oder das Herz ihres Liebhabers Cyril, „das im Takt der Wellen schlug, die sich auf dem Sand brachen (…) ich hörte das Meeresrauschen nicht mehr, aber in meinen Ohren das schnelle, fortgesetzte Pochen meine eigenen Blutes“.

Bonjour, tristesse: Intrige und Lust

Im zweiten Teil des Romans verändert sich die Konstellation, denn ihr Vater will heiraten und Cécile fühlt sich von der neuen verdrängt und so spinnt sie ihre Intrige mit einer alten Liebhaberin ihres Vaters, um wieder zu ihrem Recht, die einzige für Raymond zu sein, zu können. Denn alle Liebhaberinnen ihres Vaters waren bisher vorübergehend, nur sie, Cécile, blieb immer bei ihm. Plötzlich ahnt Cécile „diesen ganzen herrlichen Mechanismus der menschlichen Reflexe, diese Macht des Wortes“, sie ahnt sie im Moment der Intrige und sieht darin – auch wenn sie diese Erfahrung auf dem Weg der Lüge machen musste – ihre eigene Zukunft: „Eines Tages würde ich jemanden leidenschaftlich lieben, und ich würde auf diese (Hervorhebung JW) Weise einen Weg zu ihm suchen, behutsam, mit Zartheit und zitternder Hand…“. Ein Manifest der Intrige als letzte Waffe der Frau zu ihrem Recht zu kommen? Heutige Feministinnen wären mit Francoise Sagans Romandebüt wohl weniger zufrieden, denn alle Frauen kreisen immer um Raymond. Auch Cécile. Aber damals begann mit diesem Roman die Befreiung. So die Legende.

Francoise Sagan
Bonjour Tristesse
Aus dem Französischen übersetzt von Rainer Moritz
Mit einem Nachwort von Sibylle Berg
Ullstein Verlag, Internationale Literatur Literarische Wiederentdeckung
Hardcover mit Schutzumschlag, 176 Seiten
ISBN-13 9783550081385


Genre: Erfahrungen, Erinnerungen, Frauenliteratur, Liebesroman, Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Das Frausein in den Sechzigern

ferrante3Sich zu entscheiden, heißt jemandem wehtun“. Lena befindet sich in einem außergewöhnlichen Transformationsprozess, ganz so wie die bewegten Siebziger Jahre um sie herum. Es wird viel demonstriert und diskutiert und die Frauen werden sich ihrer unterdrückten Rolle im Patriarchat bewusst. Aber nicht nur die Arbeiter befinden sich im Ausstand, auch Studenten kommen zu ihren Prüfungen mit einer geladenen Pistole, um ein besseres Prüfungsergebnis zu erzielen. So ergeht es zumindest Pietro, dem Ehemann Lenas, der an der Hochschule in Florenz als Professor arbeitet. Der dritte Teil der Neapolitanischen Saga hat es in sich: privat und politisch.

Frausein unter Freundinnen

Mit dem Vorwurf konfrontiert „Liebesgeschichtchen“ zu schreiben räumt Lena in „Die Geschichte der getrennten Wege“ endgültig auf, denn sie zeigt sich zunehmend politisiert und wird sich ihrer Rolle als Frau in der Gesellschaft bewusst. Ihr zweiter Roman, den Lena während ihrer Ehe und zwei Schwangerschaften zu schreiben versucht, entpuppt sich zwar als Flopp, dafür thematisiert sie im dritten Buch ihr Frausein und die Rolle der Frauen in der (italienischen) Nachkriegsgesellschaft und davor: „Die Reduzierung meiner Person auf eine gedeckte Tafel für den sexuellen Appetit des Mannes, auf ein gut gekochtes Gericht, damit ihm das Wasser im Mund zusammenläuft.“ Und dennoch unterwirft sie sich der klassischen Stutenbissigkeit als sie ihrer Konkurrentin, Eleonara, der Frau ihrer Jugendliebe Nino, begegnet und misst sich mit ihr, um nicht gerade schöne Worte über sie finden. Aber das beruht bekanntlich auf Gegenseitigkeit.

Sprache der Klasse

Schöne sprachliche Bilder wie „Ich legte den Hörer auf, als hätte ich mich an ihm verbrannt“ oder „Mein Kopf war ein Tränenquell wie der des rasenden Rolands“ wechseln sich mit Überlegungen zur eigenen Sprachfindung ab. Denn der „Rione“ – das Viertel Neapels in dem Lena geboren wurde – nötigte ihr immer wieder dann seine Sprache auf, wenn sie nervös und unzufrieden war und das beeinflusste auch ihr Denken, obwohl sie längt in die höheren Sphären der Gesellschaft aufgestiegen ist und in Florenz lebt, mit einem hochangesehenen Ehemann, zwei Kindern und den Ariostas, einer einflussreichen Familie, im Hintergrund. Reife bestehe darin, denkt sich Lena, sich nicht zu sehr aufzuregen und die Wende zu akzeptieren, die das Leben nehme, „einen Weg zwischen der Praxis des Alltags und theoretischem Erkenntnissen einzuschlagen, zu lernen, sich anzusehen, sich zu erkennen, während man auf große Veränderungen wartete“. Mit einem gekonnt arrangierten Cliffhanger leitet Elena Ferrante zum vierten Teil der Neapolitanischen Erfolgssaga über, der aber auf Deutsch bei Suhrkamp erst am 5. Februar 2018 – mit dem Titel „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ – erscheinen wird. Man(n) kann es gar nicht mehr erwarten.

Elena Ferrante
Die Geschichte der getrennten Wege – Band 3 der Neapolitanischen Saga (Erwachsenenjahre)
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
D: 24,00 € /A: 24,70 € /CH: 34,50 sFr
2017, gebunden, 540 Seiten
ISBN: 978-3-518-42575-6


Genre: Belletristik, Biographien, Briefe, Emanzipation, Erfahrungen, Erinnerungen, Feminismus, Frauenliteratur, Gesellschaftsroman, Memoiren
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Meine geniale Freundin

Meine geniale Freundin von Elena Ferrante

Elena Ferrante: Neapolitanisches Epos Band 1

 

“Meine geniale Freundin” ist die Geschichte der Kindheit zweier Freundinnen, die in Neapel aufwachsen und sie wird von Elena Ferrante im Original teilweise in dem Dialekt erzählt, aus dem sie geboren wurde. „L’ammore nun te fa mangia’/te fa suffri’ te fa’ pensa“, heißt es zum Beispiel in einem neapolitanischen Volkslied namens „Lazzarella“, das auch in dem vorliegenden Roman eine große Rolle spielt: die Liebe füttert dich nicht, sie macht dich nur leiden und nachdenken.  Als „Lazzaroni“ wiederum werden die armen Bewohner Neapels bezeichnet und auch die Maestra Oliviero (Lehrerin) der Ich-Erzählerin des Romans verwendet eine ähnliche Bezeichnung für die Bewohner des Viertels in dem sie aufwächst: Plebs. „Was der Plebs war,“ – sinniert Lenuccia am Ende des aufsehenerregenden ersten Teils der neapolitanischen Familiensaga – „der Pöbel, erkannte ich in jenem Augenblick und viel klarer als damals, vor Jahren, als die Oliviero mich danach gefragt hatte. Der Pöbel, das wir waren wir.“ Aber die Lazzaroni Neapels waren es auch, die den Aufstand gegen die Obrigkeit während der Parthenopäischen Republik anzettelten. Später entwickelte sich aus ihren Reihen allerdings auch die Camorra, von der in vorliegender Erzählung immer nur indirekt gesprochen wird.

Elena Ferrante: „piano, pianissimo, intimo, dolce“

Der erste Teil der Familiensaga über die Cerullos und Grecos schildert die Kindheit der beiden „besten Freundinnen“ Raffaella genannt Lina und Elena genannt Lenuccia oder Lenú. Das Aufwachsen in einem eher popularen Viertel Neapels ist voller Hingabe zu Details geschildert und zeigt auch die Brüche auf, die die italienische Gesellschaft auch heute noch durchziehen: ein Mangel an Vergangenheitsbewältigung. Eigentlich spielt der Roman nach dem Krieg, aber er ist wohl ebenso zeitlos wie allgemeingültig, wenn man an die schweren Hürden denkt, die junge Frauen in Italien auch heute noch zu nehmen haben: Bildung ist in diesem volkstümlichen Rione (ital.: für Viertel) der Stadt am Vesuv verpönt, besonders für Mädchen, die ohnehin nur zum Heiraten geboren werden, so die allgemeine Ansicht und auch die der Eltern der beiden Freundinnen. So muss Lina Cerullo alsbald ihrem Bruder und Vater in der Schusterwerkstatt helfen, obwohl sie für die Schule eigentlich viel talentierter als Lenuccia (ein vezzeggiativo für Elena) wäre. Aber mit viel Fleiß schafft letztere es beinahe bis zum Abitur, bis der erste Teil der Neapolitanischen Familiensaga mit der Hochzeit von Lina jäh abbricht. Denn auch Heirat ist eine Möglichkeit der Armut zu entkommen und wie es aussieht, die viel einträglichere Methode, um zu Reichtum und einem besseren Leben für sich und die ganze Familie zu kommen. Aber für Lenuccia sieht es weniger rosig aus: „Bei ihnen (die Bewohner des Viertels, JW) konnte ich nichts von dem anwenden, was ich Tag für Tag lernte, ich musste mich zurücknehmen, mich gewissermaßen herabsetzen.“

An Ferragosto wird alles anders

Lenuccia muss nicht nur gegen ihre Mutter ankämpfen, die sie lieber arbeiten sehen würde, sondern auch gegen die Verlogenheit der Nachkriegsgesellschaft und die Bewohner ihres Viertels, die nichts von Bildung halten. Auch nach dem Krieg geht es vor allem jenen besser, die sich während des Krieges auf Seiten der Schwarzhemden hielten. Ein solcher ist Don Achille Carracci, der von dem Tischler Alfredo Peluso wohl aufgrund einer alten Fehde getötet wird und Lenuccia verliebt sich ausgerechnet in seinen Sohn Pasquale. Aber noch schlimmer ist, dass Lina den Sohn von Don Achille, Stefano, heiraten wird. Und auch wenn er sehr reich ist, klebt ein stinkender Geruch an seinem Geld. Doch auch Nino Sarratore, der Sohn des dichtenden Eisenbahners, wirkt sehr anziehend auf Lenuccia. Von beiden Jungs – Pasquale und Nino – lernt sie ein politisches Bewusstsein, das alsbald den ganzen Rione durcheinanderwirbelt. Ein groß angelegtes Epos über zwei Freundinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und das gut inszeniert und pointiert zu einer spannenden Kulmination auf einer Hochzeit führt. Gekonnt geschrieben und spannend erzählt von der Schauspielerin Eva Mattes. Wer von den beiden – Lina oder Lenuccia – nun die geniale Freundin des Titels ist, wird aber hier aber nicht verraten.

Meine geniale Freundin
Band 1 der Neapolitanischen Saga: Kindheit und frühe Jugend
Die Neapolitanische Saga (1)
Ungekürzte Lesung mit Eva Mattes
Hörverlag Buch erschienen bei Suhrkamp
€ 22,99 [D]* inkl. MwSt.
Hörbuch MP3-CD
ISBN: 978-3-8445-2352-2
Der Hörverlag/Random House


Genre: Belletristik, Biographien, Dokumentation, Erinnerungen, Frauenliteratur, Kulturgeschichte, Liebesroman, Memoiren, Roman
Illustrated by Hoerverlag, Random House UK

Solange es Schmetterlinge gibt

3D_muenzerWer Hanni Münzers Erfolgsroman »Honigtot« kennt, der freut sich in diesem Roman über ein kurzes Wiedersehen mit der Widerstandskämpferin Marlene Kalten. Dennoch ist »Solange es Schmetterlinge gibt« ein eigenständiges Werk, das auch ohne Vorkenntnisse gelesen werden kann, obwohl die Autorin damit einen Brückenschlag zwischen ihren Büchern unternehmen möchte. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Frauenliteratur
Illustrated by Eisele Verlag

Himmelreich mit kleinen Fehlern

Emma_Wagner_HimmelreichDurchaus unterhaltsam liest sich Emma Wagners spritziger Roman um die Großstadttussi Valentina Leumund, ein verwöhntes Kind stinkreicher Eltern.

Mit einem feuerroten Mercedes SL, Gucci-Sonnenbrille, Hermès-Vintagebag, sauteuren Louboutins (laut Google sind das luxuriöse französische Schuhe) und einer Auswahl sexy Sommerkleider fährt sie in das Dorf ihrer Kindheit, um eine überraschend verstorbene Jugendfreundin auf dem letzten Weg zu begleiten und gleichzeitig einen Job zu erledigen.

Gleich zu Beginn des Romans legt sich die junge Dame mit einem Bäuerlein an, der ihr mit seinem schwerfälligen Traktor den Weg versperrt. Als sich dieser jedoch als jung und muskulös darstellt und ihr am nächsten Morgen im Bad nackt mit ansehnlicher Morgenlatte begegnet, beginnt ihr bislang unterfordertes Becken zu kreisen. Dabei ist der Typ in der Region, in der Kühe definitiv die intelligenteste Lebensform sind, natürlich völlig daneben.

Selbst der in diesem Genre weitgehend unerfahrene Leser ahnt nun, wie die Story weitergeht, und darf lediglich spekulieren, ob sie konventionell auf weißem Linnen, im duftenden Heu oder auf einem Acker im Mondlicht endet. Für den männlichen Leser interessant ist die weibliche Betrachtungsweise, wonach offenbar doch die körperliche Ausstattung sowie die ausgefahrene Männlichkeit Schwerpunkte des Interesses der Damenwelt sind. Wobei sich die Weiblichkeit offenbar nie die Frage stellt, ob denn ein Mann Interesse an ihnen hat. Im Gegenteil: Die Typen nehmen eo ispe alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist und dürfen sich freuen, an derart tollen Tussen zu knabbern.

Die Autorin versteht es allerdings, ihre Story geschickt zu verpacken und allerlei andere Herren, die ebenfalls gut gebaut und zudem nett sind, auftreten zu lassen. Der Einbau einer kleinen Kriminalhandlung um den Bruder des störrischen Bauern, der in den Unfalltod der Freundin verwickelt ist, macht die Sache durchaus spannend. Und schließlich geht es auch um das Gutshaus ihrer Eltern, das Valentina gewinnbringend vermarkten will. Das wiederum wird von Mister Morgenlatte und seinem Clan bewirtschaftet und nun sei nicht zu viel verraten, was aus dieser Konstellation erwächst …

Rasant geschrieben schafft Emma Wagner es mit ihrem Werk, den Leser durchaus gefangen zu nehmen. Sie umschifft durchaus gekonnt die allerschlimmsten Fettnäpfchen des Genres und tupft die Klischees sanft. In erster Linie leichte Kost von Frauen für Frauen, aber (sic!) auch Männer können der Lektüre durchaus Erkenntnisse abgewinnen.

Nachtrag

Ob der sächsische Genitiv in einem deutschen Buchtitel (»Amor´s Five«) akzeptabel ist, bestreite ich mit Nachdruck. Es handelt sich um ein deutschsprachiges Buch, wir reden nicht über die englische Übersetzung. »Amor« ist  auch kein englischer Begriff, man würde »Amors Five« mit »Cupid´s Five« übersetzen. Lektorin Susanne Pavlovic, die ich auf der BuchBerlin auf den Schnitzer persönlich ansprach, reagierte aggressiv und erklärte mir, sie diskutiere nicht »mit jedem« über ihre Arbeit. – Na denn …


Genre: ChicLit, Frauenliteratur, Liebesroman
Illustrated by Kindle Edition

Der private Abendtisch

Mari, eine Frau um die Vierzig, als Einzelkind aus einer ordentlichen, bürgerlichen Familie – Vater Lehrer, Mutter Hausfrau, stammend, eigensinnig, eigenwillig, eigenbestimmt, extravagant, außergewöhnlich, geht ihren eigenen Weg, ihren Lebensweg. Der wird an einem dramatischen Wendepunkt ausschnitthaft in einzelnen Sequenzen, schlaglichtartig beleuchtet, in achtunddreißig kurzen Kapiteln erzählt.

Mit siebzehn Jahren Schulabbruch. Sie reist ihrem ersten, älteren Geliebten, für den sie nur ein Stück Jugend ist, nach Rom nach. Dort lernt sie kochen, wie eine römische Mamma, das heißt: Einfaches köstlich und raffiniert. Das ist das Einzige, was sie wirklich gelernt hat und kann, das wird zu ihrer Lebensgrundlage. Sie betreibt mit ihrer Freundin Vera den „Privaten Abendtisch“, dreimal die Woche. Mari kocht, Vera kümmert sich um die Getränke. So hat sie es sich eingerichtet im Leben; nach jahrelangem Herumziehen mit ihrem Mann Björn, einem egomanischen Musiker. Man lebt getrennt. Sie mit ihren halberwachsenen Kindern, den beiden Zwillingen Max und Mimi im Haus von Björn. Der zieht weiter herum, mit seiner Band und seinen Weibergeschichten. Auch Mari hat (gerne) ihre wechselnden Liebhaber als Abwechslung im stets gleichen und doch so aufreibenden Alltag. Das Leben verläuft so dahin.

Bis plötzlich eines Tages die Würgeanfälle kommen, unerklärbar woher und warum; und mit ihnen die unerträgliche Angst davor. Und die Angst vor dem Ersticken dabei. Nein, sie gehen nicht einfach so vorbei, im Gegenteil, sie werden häufiger, intensiver, bringen das gewohnte Leben aus dem (scheinbaren) Gleichgewicht. Eine Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin geht der Sache nach und ihr auf den Grund. Ergebnis: Kindesmißbrauch im frühesten Alter, im Babyalter, durch den eigenen Vater, für den Mari eine Totalversagerin ist. Unglaublich: ein solcher Inzest. Babyfick-Oralbefriedigung am eigenen Kind. Eine Ungeheuerlichkeit. Davon gibt es auch kein Kindheitserinnerungsbild; nein, noch zu früh geschah „das/es“. Aber der Körper hat sich eben aus irgend einem Grund plötzlich oder sich an den Abgrund annähernd, erinnert; und darauf reagiert: mit den unerträglichen Würgeanfällen. Nun ist alles aufgedeckt. Wie lebt man weiter? Die Kinder sind beim Großvater auf Urlaub. Kommen heim. Wie sagt man ihnen, was los ist; muß/soll man es ihnen sagen? Der eigene Vater! Ihr Großvater! Den man trotz seiner unerträglichen Überheblichkeit und Schulmeisterhaftigkeit doch irgendwie geliebt hat. Liebe schlägt in Haß um. Nein: Gleichgültigkeit. Dieser Vater ist jetzt für sie gestorben; die Mutter sowieso schon wirklich. Ich spucke auf ihr Grab, denkt Mari, tut es aber doch nicht. Frage am Grab: Hast du was davon bemerkt, etwa gar weggeschaut? Wer fickt noch alles seine Babys? Alles Babyficker, die da herumstehen, am Busbahnhof, in Kaufhäusern, sonstwo. Eine verfickte Babyfickerwelt Und da soll man denen noch ihr Essen kochen und servieren, damit man irgendwie Geld verdient und über die Runden kommt. Wie konfrontiert man den Vater damit, daß man es nun weiß, sein Geheimnis, das was einen fürs ganze Leben stigmatisiert hat, von dessen Stigmatisierung der Körper wußte und das man nun als erwachsene Frau mit Gewißheit weiß? Nein, Reden kommt nicht mehr infrage. Mari schreibt einen Brief, kurz, knapp: Ich weiß nun, was Du getan und mir angetan hast. Vom Vater keine Antwort. Weder Abstreiten noch Entschuldigung. Auf eine solche wartet Mari. Oder doch nicht wirklich. Denn sie kennt ihren Vater, den Herrn Lehrer. Nein, keine Konfrontation, keine Aussprache, Versöhnung ist sowieso nicht möglich. Nur: Überleben!

Aber auch das wäre nicht möglich, wenn es nicht Anton gäbe in ihrem Leben , jetzt, gerade zur richtigen Zeit. Anton, der kein Liebhaber ist, sondern ein liebevoller Freund, der zum Lebensgefährten wird, schon geworden ist. Anton, der sich wirklich um sie kümmert, sie nicht sexuell ausbeutet als Gelegenheitsfick. Nein, Anton ist endlich der Mann, der sie liebt. Und dann gibt es natürlich noch die beiden Kinder, die jetzt aber schon – sie haben sogar beide gerade maturiert – ihr eigenes Leben leben. Aber kaum daß man überlebt hat, geschieht eine weitere Katastrophe: Vera, die einzige wirkliche Freundin, mit der Mari jahrelang gearbeitet und die an ihrem Leben teilgenommen hat, bringt sich um, einfach so, unbegreiflicherweise. Immer war sie für Mari da, aufgeschlossen, in sich selber verschlossen; daß sie einen Sohn hatte, blieb ihr Geheimnis; von wem bleibt ungewiß. Und da stehen sie nun zur Verabschiedung vor dem Sarg, bevor der abfährt in den Verbrennungsofen. Alle stumm. Acht Menschen, die nichts zu sagen haben, nicht sagen können in einer solchen Abschiedssituation. Was sollte man einem toten Menschen, einem Leichnam denn auch sagen können, ohne daß es abgeschmackt klingt, Bruchstück einer nicht zelebrierter Zeremonie. Dann geht man zum Leichenschmaus. Niemand ißt was. Alle trinken nur, zu viel. Auf Vera! So endet dieser Lebensabschnitt in Maris Leben, in Trauer und Tod. Aber doch auch mit einem hoffnungsvollen Lichtblick: Anton und Mari brechen auf in ein neues Leben, in ihr Leben, lassen alles Bisherige hinter sich, beginnen ein neues Leben, irgendwie, aber jedenfalls zusammen, in einem kleinen Haus. „Für mich klingt das eher nach Bruchbude“, meint Mimi. „Keine Bruchbude“ erwidert Mari; und fügt hinzu: „ganz und gar nicht, die innere Architektur ist intakt“. „Und darin willst du leben?“ – fragt Mimi. Und Marie sagt lächelnd: „Ja“.

So endet der Text in diesem Buch, das Tabuisiertes aufzeigt, nichts verschweigt, das ergreift, berührt, provoziert, das unsentimental und unromantisch ist, die Dinge beim Namen nennt, das schonungslos ist, stellenweise erschüttert, gerade durch die lapidare aber präzise Darstellung des Abgründigen. Ein Buch, das von der Wirklichkeit spricht, in der die Wahrheit, die Wirklichkeit stets hinterfragend und sie sezierend, gesucht und in ihr gefunden wird. Ein Buch, das als ein wichtiges und hervorragend geschriebenes in die österreichische Literaturlandschaft gehört; so wie die eigenwillige jenische Autorin Simone Schönett.


Genre: Frauenliteratur
Illustrated by Verlag Johannes Heyn Klagenfurt / Österreich

Der Seitensprung

Die Ehe von Eva und Hendrik scheint zerrüttet. Er betrügt sie mit der Kindergärtnerin ihres Sohnes. Sie fühlt sich tief verletzt und will sich von ihm trennen. Doch zuvor will sie Genugtuung. Sie rächt sich mit einem One-Night-Stand, bei dem sie allerdings einen Psychopathen aufgabelt. Damit gerät die Geschichte vom Seitensprung aus allen Fugen und führt ins Chaos. Was wie ein Drama sprachlicher Missverständnisse zwischen Mann und Frau beginnt und durch eine klärende Aussprache vielleicht gerettet werden könnte, entwickelt sich zu einem spannenden Thriller voller Hintersinn und doppelter Böden.

Die subtil scheinende Geschichte der schwedischen Krimiautorin Karin Alvtegen entpuppt sich als phantastisch ausgefeilte Fallstudie über die Kommunikationslosigkeit zwischen Mann und Frau vor dem Hintergrund von Zwangsneurosen. Vor allem aus weiblicher Perspektive zeichnet sie das Fühlen und Empfinden der Protagonistin auf, die entdeckt, dass sie von ihrem Ehemann hintergangen wird und vergeblich versucht, die Beziehung zu retten. Als sie erkennt, dass ihre Versuche harsch zurück gewiesen werden, entwickelt sie sich zum verletzten Racheengel.

Eva versucht, die Rivalin fertig zu machen. Sie fälscht deren E-Mails und kramt im Hintergrund der Widersacherin herum, um sie unmöglich zu machen. All das würde auch aufgehen, wäre sie nicht eines Nachts Jonas in die Arme gelaufen. Jonas ist ein von Zwängen getriebener Psychopath, der Frauen, die ihm begegnen, nicht mehr loslässt. Der Wahnsinnige verfolgt die Ehefrau und Mutter und bricht in ihr Leben ein. Damit entsteht in kürzester Zeit ein Tohuwabohu, das Eva nicht mehr beherrschen kann …


Genre: Frauenliteratur
Illustrated by Rowohlt