Wer erfand eigentlich das Bloggen? Wer war der erste Autor, der Alltagsbegegnungen notierte, kommentierte und für andere zugänglich machte?
Sei Shõnagon hat ausgezeichnete Chancen auf die Pole Position. Die Hofdame im Dienst der japanischen Kaiserin Sadako notierte nämlich in einem Kopfkissenbuch alles, was sie erlebte und interessierte, von der Hofintrige bis hin zu Geheimnissen aus den Privatgemächern des Kaiserpalastes. Und das geschah bereits vor rund eintausend Jahren!
Jetzt ist erstmals der vollständige Text des Kopfkissenbuchs auf Deutsch zugänglich.
Kopfkissenbuch begründet Hofdamenliteratur
Die Beiträge Sei Shõnagons in ihrem Kopfkissenbuch gewähren tiefe Einblicke in das Japan der Heian-Zeit, die durch den Umzug der Herrscherfamilie nach Kyoto (damals Heian) gekennzeichnet ist und die klassische Periode der japanischen Literatur begründete. Am Hof von Heian wurden die japanische Kultur, Kunst und Sitten zu außerordentlicher Verfeinerung geführt. Die Hofdamenliteratur kam in Mode und wurde gepflegt.
Da das Benutzen von chinesischen Schriftzeichen für Frauen als unschicklich galt, entwickelte sich eine eigene silbenartige Schrift, die sich im heutigen japanischen Schriftsystem wiederfindet und Hiragana genannt wird. Dabei handelte es sich um eine geschwungene Kursivschrift, die sogenannte Gras- oder auch Frauenschrift.
Sei Shõnagon trat mit sechsundzwanzig in den Dienst der Kaiserin Sadako. Sie verbrachte ein Jahrzehnt bis zum Tod der Hoheit in ihrer Nähe. Aus einer literarisch und wissenschaftlich hochbegabten Familie stammend, tupfte die junge Frau ihre Notizen und Berichte mit dem Tuschepinsel auf handgeschöpftes Papier, statt sich dem Müßiggang am Hofe zu widmen. Ihre spitzzüngigen Bemerkungen zu Mode und Umgangsformen ihrer Zeit lesen sich ungekünstelt und selbstbewusst.
Der Kaiserin gefielen die Sittengemälde ihrer Hofdame derart gut, dass sie ihr wertvolles Schreibpapier und ein prächtig besticktes Sitzkissen zukommen ließ, damit die »Bloggerin« es beim Schreiben bequemer hatte.
Kopfkissenbuch liefert intime Einblicke
Es gab so einiges, was der Verfasserin missfiel: Langweiler, die unter widerwärtigem Lachen viel leeres Geplapper von sich geben. Den Anblick von Männern, die beim Trinken laut und misstönig grölen. Zecher, die sich mit der Hand ihre Mundwinkel und, sofern vorhanden, ihren Bart abwischen und dann den Reisweinbecher weiterreichen. Hunde, die lautstark bellen, wenn der Geliebte nachts heimlich zu Besuch kommt. Abende, an denen man den Geliebten unter der allergrößten Vorsicht still und leise eingelassen und versteckt hat, und da fängt er auch schon an zu schnarchen.
Besonders dumm ist, so Sei Shõnagon, wenn der geheime Liebhaber in voller Hofmontur ankommt. Frau lässt ihn hastig ein in der Hoffnung, dass niemand etwas bemerkt hat, worauf er mit seinem hohen Ranghut hier und da anstößt, was natürlich vernehmlich knistert. Auch Flöhe sind ganz und gar unausstehlich. Sie hüpfen so heftig unter den Gewändern umher, dass es beinahe den Stoff hochlupft. Besonders unausstehlich aber sind Leute, die beim Hereinkommen die Tür öffnen, sie aber nicht wieder schließen.
Sei Shõnagon empfiehlt, wie sich Liebhaber angemessen verhalten sollten. Sie rät Herren, die beeindrucken wollen, stets mit Gefolge aufzutreten. Sie weiß genau, wann ein Mann von Rang Mädchen direkt ansprechen darf oder besser einen Pagen schickt. Sie empfindet es als unpassend, wenn Leute niederen Standes rote Beinkleider tragen. Es gibt nahezu keinen Bereich, den sie nicht kommentiert oder unerwähnt lässt.
Das erstmals ungekürzt erscheinende »Kopfkissenbuch« von Sei Shõnagon in der Übersetzung von Michael Stein spendet Lesevergnügen der besonders feinen und anmutigen Art. Neben dem bibliophilen Hardcover lässt die preiswerte Brevierausgabe uns an all dem teilhaben, was die erste Bloggerin der Weltliteratur bezauberte.
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