Athena

Lug und Trug

Nach der Kopfgeburt des Zeus, nach der Göttin der Kunst also, hat John Banville seinen Roman «Athena» betitelt, dritter Teil der durch ihren Protagonisten lose miteinander verbundenen «Mördertrilogie». Der schon länger als Nobelpreiskandidat gehandelte irische Schriftsteller zeichnet sich insbesondere durch seinen sehr speziellen Schreibstil aus, der metaphernreich und voller philosophischer und mystischer Reflexionen immer wieder alles in Frage stellt, was gerade erzählt wurde. Als postmoderner Autor verwischt bei ihm endgültig der Unterschied zwischen Fiktion und Realität, vermag der Leser partout nicht mehr zu unterscheiden, was denn wahr ist und was unwahr, nichts mehr ist sicher. Er zählt mithin zu den schwierigen, – und zudem ganz unirischen -, Autoren, auf die man sich als geduldiger Leser ernsthaft einlassen muss, «Athena» sei nichts für Analphabeten, hat der begeisterte Marcel Reich-Ranicki süffisant dazu angemerkt.

Ein aus gutem Hause stammender Tunichtgut hat im ersten Band der Trilogie ein Dienstmädchen erschlagen, das ihn beim Diebstahl eines Gemäldes überraschte, und entwickelte sich im zweiten Band, während seiner zwölfjährigen Haft, scheinbar resozialisiert zu einem anerkannten Kunstsachverständigen. Im vorliegenden Band nun, der durchaus selbständig gelesen werden kann, soll er für einen Kunstsammler, – Transvestit und König der Dubliner Unterwelt -, Expertisen für acht gestohlene Gemälde niederländischer Meister zu mythologischen Themen aus Ovids Metamorphosen erstellen. Als Ich-Erzähler, der sich jetzt Morrow nennt, wie wir irgendwann beiläufig erfahren, schreibt er anfangs an seine Geliebte, die ihn verlassen hat, später wechselt zunehmend diese spezielle Erzählperspektive in die dritte Person.

In der leer stehenden alten Villa in Dublin, wo sich die Gemälde befinden, trifft er A., eine rätselhafte, ungehemmte junge Frau, die schon bald seine Geliebte wird und ihn zu exzessiven Liebesspielen verführt. Neben dieser dominanten Liebesthematik wird in einem zweiten, gleichermaßen bedeutenden Handlungsstrang von Tante Corky erzählt, deren Verwandtschaftsgrad ebenso fraglich ist wie ihre gesamte Lebensgeschichte. Morrow holt die greise, kauzige Dame aus dem Alternsheim zu sich nach Hause und betreut sie bis zu ihrem Tod, ein spontaner Akt der Menschlichkeit, den sie ihm völlig unerwartet mit einer hohen Erbschaft vergilt. Liebe und Tod mithin sind hier die beherrschenden Erzählstränge, zu denen sich, personifiziert durch Kommissar Hackett, eine kriminalistische Thematik ebenso gesellt wie die der Malerei, zwischen Kunstdiebstahl, Original und Fälschung.

In Banvilles surrealer Erzählwelt voller Chaos und rätselhafter Unbestimmtheit verwischen die Grenzen zwischen Liebe und Verrat, zwischen Lust und Ekel. Es herrscht darin eine beunruhigend morbide Dekadenz, die er mitunter durchaus ironisch in ausufernden Erzählbögen vor seinen Lesern ausbreitet, damit subversiv unentwegt Zweifel säend am bereits Erzählten. Dabei steht der freie Wille zurück vor dem unentrinnbaren Schicksal, nichts scheint determiniert, alles bleibt vage. Die wirren Obsessionen des Ich-Erzählers, von dessen Person der Leser letztendlich wenig erfährt, folgen unentwegt den Spuren antiker Mythen. All das ist in einer klaren, metaphern- und anspielungsreichen Sprache geschrieben, äußerst detailverliebt, in den Schilderungen der Figuren ebenso wie in denen der Orte, wobei die Geschichte auffallend wenig Dialoge enthält. Fast alles in dieser Erzählung ist ebenso eine Kopfgeburt wie Athena (oder A.?) selbst, es artikuliert sich recht pathetisch als nicht abreißender, oft ziemlich wirrer Gedankenfluss des sinnierenden Ich-Erzählers. Ein typischer Versager übrigens, von dessen Tätigkeit als Gutachter man (leider) gar nichts erfährt, immerhin aber werden den sieben Kapiteln des Romans jeweils kenntnisreiche Beschreibungen der gefälschten Bilder vorangestellt, – allesamt vermutlich ebenfalls Zitate, also auch Lug und Trug.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S. Fischer

Rodin und Rilke

Die Geschichte der beiden berühmten Persönlichkeiten ist von der amerikanischen Autorin Rachel Corbett abwechslungsreich und gut fundiert erzählt. Einige Passagen sind etwas leblos verfasst, die größte Länge des Buchs aber ist mitreißend geschrieben. Wer Interesse an Künstlerbiographien hat, wird mit diesem Buch seine Freude haben. Rodin – Vorbild für den jungen Rainer Maria Rilke, welcher phasenweise gar dessen Sekretär war – arbeitet abseits der bedeutendsten Kunstakademien in Paris an seiner realistischeren, lebendigeren, von Bewegung und Aktion inspirierten Sicht der modernen Welt. Ergriffen von Antoine Luis Bayres Bronzeplastik zweier Windhunde formuliert er: „Das ist Kunst, das ist die Offenbarung eines großen Mysteriums, wie man Bewegung ausdrückt aus etwas, das sich im Zustand der Ruhe befindet“. Bayres Kurs über Tierstudien allerdings hatte er zuvor gelangweilt verlassen. Bemerkenswert ist, dass der Kritiker Edmond de Goncoourt über Bayres im Pariser Salon 1851 schrieb, dessen Jaguar einen Hasen verschlingend, markiere das Ende der historisierenden Skulptur und den Triumph der modernen Kunst.
Davon handelt das Buch umfassend auch. Von der Durchsetzung Moderner Kunst in der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts. Rilke fühlte sich von Baudelaires Blumen des Bösen fasziniert und versuchte eben wie dieser (und ebenso Gottfried Benn) aus dem Verwesen, aus dem Dinglichen neue Kenntnis des Seins zu schöpfen. Viele stellten das als Fortschritt dar – ist`s ja wohl auch – den Dinggedichten Rilkes werden in der gegenwärtigen Rezeption durch Literaturgeschichtler größere Aufmerksamkeit geschenkt als den Duineser Elegien… Dinggedichte Georg Trakls allerdings markieren für mich das Ende des Mensch-Seins und das Verschwinden in der Sache, in den Dingen – linke Literaturkritiker würden sagen: der Verdinglichung der Menschen. Diese Verdinglichung wird allerdings nicht wirklich beschrieben, begriffen und überwunden, sondern weitergeschrieben – bis ins Heute. Interessant für den Modernekritiker also zu lesen, wie das alles begann.
Cezanne dient ebenfalls als gutes Beispiel: wie seine flächige in den herrlichsten Farben schattierten Landschaften gering geschätzt wurden bis die Fauvisten speziell der Farbigkeit seiner Bilder hohen Wert beimaßen und selber dann die Tiefe der Gemälde aufgebend allein durch Farbigkeit Ausdruck suchten. Matisse scherenschnittartige Gouache „blauer Akt“ allerdings zeigt wohl eindeutig, wie sehr diese Haltung zur Verflachung führte, welche die Moderne Kunst bald beherrschte – bis sie eben wieder Weltflach wie eine Scheibe zirkelte.
Rodin schien von Arbeit besessen. Sein gesamtes Leben stand im Dienst künstlerischen Schaffens. Endlich galt er als der bestbezahlte Künstler seiner Ära und Größen wie Georg Bernhard Shaw und gar der Papst ließen durch ihn Büsten anfertigen.
Sein – oftmals von jungen Frauen selbst provozierter – zügelloser Umgang mit dem weiblichen Geschlecht ist sicher als Schwachpunkt des Künstlers zu deuten. Namentlich der Bildhauerin Camille Claudel tat er einiges an. Sie verfiel ihm menschlich und als Schülerin und litt bis zu ihrem Lebensende am Abbruch der Beziehung, jedenfalls insofern, dass sie schließlich im Irrenhaus verstarb – letztlich als Racheaktion der Familie zu begreifen, die ihr ihre künstlerischen Ambitionen und das ausschweifende moderne Leben nicht verzieh, sondern die aus allen traditionellen Lebensbezügen Herausgetretene nur als wahnsinnig begreifen konnte. Jedenfalls faszinierte Rodin junge Frauen, die ihre Befreiung aus dem Korsett der Bürgerlichkeit auch gern durch die Hände des Meisters persönlich suchten; wie etwa Isodora Duncen, die nach einer Aufführung ihres zeitgenössischen Tanzes erfuhr: „Mit halbgeschlossenen Augen starrte er mich an, sein Blick glühte, und mit dem gleichen Ausdruck, den er von seinen Werken zeigte, kam er auf mich zu. Seine kundigen Meisterhände strichen über meinen Nacken und meine Brust … Mein ganzes Wesen verlangte danach, mich ihm völlig hinzugeben, hätte mich nicht meine alberne Erziehung in Angst versetzt, so dass ich mich zurückzog, rasch mein Kleid überwarf und ihn in zitternder Verwirrung fortschickte. Wie sehr ich dies heute bedaure! Oft habe ich diesen kindischen Unverstand bereut, der mich um das göttliche Erlebnis gebracht hat, dem erhabenen Rodin – dem großen Pan selbst – meine Jungfräulichkeit zu opfern.“ Mir scheint, Duncen hat sehr natürlich und normal reagiert. Schade, dass sie das selbst später – unter dem Primat moderner Lebensweise – relativierte.
Die Freundschaft zwischen Rilke und Rodin endete abrupt aufgrund Rodins Pedanterie, ein Wiederaufkeimen war nur von kurzer Dauer.
Rilke verachtete Rodin in späteren Jahren aufgrund dessen hemmungsloser Gier nach Frauen, die sein hehres Credo: Disziplin und Arbeitseifer sowie Gottgleichsetzung der Kunst peinlich infrage stellte.
Der große Mann, der nur für sein Schaffen lebte, scheint wenig seelische Entwicklung erfahren zu haben. Vielleicht legte er seine Schönheit wie Oscar Wilde in Dorian Gray in seine Skulpturen…. Rilke immerhin hatte als einstiger Schüler Rodins begriffen, dass Sprache nicht ein Werkzeug sei „um zu beschreiben wo es … wehtut“, sondern um aus dem Schmerz etwas zu schaffen. Die Autorin des Buchs ist sicherlich keine Modernekritikerin, arbeitet sie doch als Redakteurin des Modern Painters Magazine in New York. In ihrer Recherche aber ist sie so genau, dass ihre aus schier endlosen Quellen zusammengetragenen Fundstücke sich wie ein Puzzle zu einem fragwürdigen Bild des damaligen Aufbruchs fassen lassen. Schließlich schreibt Rilke, unter Rodins Fittichen von Kunst besessen, in den „Briefen an den jungen Dichter“: „Auch die Kunst ist nur eine Art zu leben.“ Auf die Briefe geht die Autorin weiters zu wenig ein – sind diese meiner Meinung nach doch ein beeindruckendes Dokument gegen die modernistische Haltung in Kunst und Lebensstil. Überhaupt wird die spirituelle Dimension des Werkes Rilkes gar nicht gewürdigt, was ich auf die Ideologie der Autorin zurückführen würde.
Rodin, an der Spitze seines Erfolgs, wird von den nachdrängenden Avantgardisten als reaktionärer Kleingeist verhöhnt. Und setzt sich gegen den geschwind etablierten Zeitgeist recht hilflos zur Wehr. „Wer kann an Fortschritt glauben?“, fragt er. „Schon lange wären wir göttlich, wenn die Theorie des unbegrenzten Fortschrittes wahr wäre“. So aktuell und richtig seine Sätze im Ohr des Modernekritikers klingen, er selbst hatte mit dem „Denker“, einer Figur, die kauernd unter dem Gewicht der individualisierten Welt sich in den Handrücken beißt, und nichts mehr von der Harmonie und den Gewissheiten des in ein Weltganzes eingebetteten Seins spüren lässt, Moderne harsch vorangetrieben. Die Gnadenlosigkeit moderner Zeit und Fortschrittsglaubens verschlang ihn, wie Chronos die eigenen Kinder fraß – als eines ihrer ersten und bahnbrechendsten Sprösslinge.


Genre: Biographien
Illustrated by Aufbau Berlin

Über die Lehren des Todes – die 5 Einladungen

Auch auf die Gefahr hin, pathetisch zu klingen, möchte ich bei den „Fünf Einladungen“ Frank Ostaseskis von einem heiligen Buch sprechen. Wie weit er selbst als jahrelang praktizierender Buddhist in seiner spirituellen Entwicklung gelangt ist, mag ich nicht beurteilen wollen. Dieses monumentale Werk, das nun als Dokument der Hospiz Arbeit in den USA vorliegt jedenfalls ist ein außergewöhnlich schönes und wertvolles. Ostaseski war 1987 Mitbegründer des ersten Zen-Hospizes in den USA; 2oo4 gründete er das Metta Institute, das sich zur Aufgabe machte, die (buddhistischen) Prinzipen Achtsamkeit und Mitgefühl in der Pflege zu verankern.
Bei der Begleitung der Sterbenden spielt der Buddhismus als System, als Ideologie keine Schlüsselrolle – das zeichnet die hochprofessionelle Arbeitsweise im Hospiz aus. Achtsamkeit, die Stille und einfühlende Art heißen die (buddhistischen) menschlichen Qualitäten, mit denen Sterbende begleitet werden.
„Kein Lebender versteht den Tod wirklich“, meint Ostaseski gleich anfangs. Und lässt uns wissen: „Ich bin kein Romantiker, was das Sterben angeht. Es ist harte Arbeit, vielleicht die härteste, die wir in unserem Leben je tun werden. Es gerät nicht immer gut. Es kann traurig, unbarmherzig, chaotisch, schön und mysteriös sein. Doch vor allem ist es normal. Wir alle gehen da durch. Keiner von uns kommt lebendig von hier fort.“ So klare Worte zum noch immer tabuisierten Thema lassen aufhorchen. In den USA konstatiert der Autor eine Normalisierung des Verhältnisses zum Tod, was speziell zunehmenden Bewusstseins- und Achtsamkeitsbewegungen geschuldet sei. Für Europa ist das Buch beispiellos, finde ich, die Klarheit und Ehrlichkeit mit welcher der Prozess des Strebens geschildert wird ist einmalig. Wir treffen auf bekannte spirituelle Begriffe wie Loslassen, Vergebung, Nicht-Wissen, Präsenz, Achtsamkeit, Liebe. Zu allen erzählt Ostaseski eine Geschichte von Klienten, die Im Hospiz verstarben. Diese Geschichten sind zutiefst berührend bis erschütternd.
Welch zentralen Beitrag zum Leben Hospizarbeit voll liebevoller Begleitung leistet, ist einem nach der Lektüre dieses Kompendiums des Sterbens klar. Geballt erfahren wir von Bewusstwerdungsarbeit, die das Sterben erleichtert, wobei bedauernd aber nicht vorwurfsvoll angemerkt wird, wie traurig es sei, dass diese nicht vorher das Leben bereichert hatte. Der Tod stellt eben eine Zäsur dar, die an die essentiellen Dinge gemahnt, und selbst wenn befreiende Einsichten spät gelingen, das Sterben jedenfalls gelingt dann leichter. „Vergebung“ ist ein wesentlicher Faktor dabei; unmissverständlich macht Ostaseski klar, dass Vergebung dem Vergebenden am allermeisten hilft, da er bereit ist, Bitterkeit und Wut und Härte loszulassen. Vergeben heißt nicht vergessen. Doch führt zum Wiedererlangen inneren Friedens.
Das Buch ist nicht immer leicht zu lesen. Wie keines, dass den Tod, das Sterben zum Thema hat. Der gewiefte Autor lässt uns durchatmen, indem er diversen (Sterbe- bzw. Einsichts-)Erfahrungen buddhistische und generell spirituelle Weisheiten hinbeifügt. Er verweist auf sumerische, jüdische, christliche Bezüge – sicher eine Stärke seines universellen Geistes. Deutlich wird, dass religiöse Modelle nicht das wichtigste sind. Achtsamkeit, Einfühlung, oftmals das stille Begleiten des Sterbenden sind wertvoller als zu viele Worte. Die richtet Ostaseski an uns Lebende, damit wir gnadenvollerweise rechtzeitig aus den Erfahrungen der Sterbenden lernen. Hoffentlich haben wir ein ausrechend offenes Ohr und ein weites Herz genau hinzuhören. Die Heiligkeit, an die das Streben grenzt, scheint von Seite zu Seite entrückender durch das Buch. Der Sterbende begibt sich in diesen Raum – eine Gnade, wenn das in Ruhe und Frieden geschieht. Oftmals ist die Heiligkeit des Todes stark genug, den Frieden herzustellen. Dann spüren wir, sehen wir vielleicht die Brücke hinüber in ein anderes Land. Ostaseskis „fünf Einladungen“ sind jedenfalls selbst eine solche heilige Brücke. Deshalb ist es für mich ein heiliges Buch.


Genre: Ratgeber
Illustrated by Knaur München

Die Fischtreppe

Endlich. Endlich, dachte ich mir, ein gut geschriebener profunder Roman, den man getrost ganzheitlich nennen mag, ohne sich zu schämen. Denn er ist wirklich schön geschrieben, eindrückliche Szenerien walisischer und schottischer Landschaften, Meeresbilder, Küsten- und Moorszenerien, sehr lebendig voll satter Impressionen. Zudem inhaltlich interessant: Die Autorin=Protagonistin sucht ihre Abstammung; will dabei, einem Lieblingsautor, dem Schotten Neil M. Gunn, folgend, den „Quell am Ende der Welt“ finden. Quasi einen Flusslauf vom Meer zum Ursprung rückverfolgen: Sinnbild ja auch ihrer leiblichen Suche. Und sie führt ihr Vorhaben durch; folgt dem Dunbeath in Schottland bis zum Quell. (Dunbeath übrigens ist auch als Geburtsort des von der Autorin verehrten Neil M. Gunn bekannt.)
Tief taucht sie dabei in keltische Mythen. Sie erzählt beiläufig die Geschichte Taliesins, des ersten britannischen Barden, der in walisisch dichtete. Auch dessen Leben begann an der Mündung eines Flusses. Am Meer, wo er seinen abenteuerlichen Weg als Findelkind begann.
Auch in andere mythische Erzählungen führt Norbury ein. Etwa in Life of St. Kentigern, in der die Geschichte einer Highland-Königin erzählt wird.
Der Pilgerweg durch Moore und die Highlands mäandert verwoben mit keltischen Sagen und Mythen durch eine überaus gefühlvolle, ruhige, feine Seelenlandschaft. Ihre Worte leuchten als bunte Farbtupfen vor den Nebeln, die sie zu durchqueren gedenkt, auch angesichts einer Brustkrebserkrankung mit schlechter Prognose.
Auf der Reise begleitet sie der Roman „Highland River“ Neil M. Gunns, der im ersten Weltkrieg traumatisiert, seinen inneren Frieden durch den Weg in der Natur wiederfinden wollte. Die Autorin sucht innere Eintracht, aus psychologischen Quellen informiert, dass adoptierte Kinder immer ein Trennungstrauma mit sich tragen, dessen sie sich oft nicht einmal bewusst seien.
Schließlich forscht sie sogar über zahlreiche Umwege ihre leibliche Mutter aus, knüpft über einen Halbbruder an ein mögliches reicheres Leben an, in ihrer leiblichen Identität gestärkt durch die Ähnlichkeiten zum Verwandten.
Das Buch kann ruhigen Gewissens allen ganzheitlich denkenden und fühlenden Lesern (und andern erst recht) empfohlen werden, denn es liegt ein leiser, feinfühlig verfasster Roman vor, optimistisch und holistisch, der niemals in platte esoterische Gewässer abdriftet, dennoch ganzheitlich genannt werden darf, – und, wie respektvoll festgehalten, zugleich ein gut geschriebenes Stück Literatur darstellt. Endlich.


Illustrated by Matthes & Seitz

Tyll – die große Schelmerei

Es scheint viel Geschichte in diesem Buch zu stecken. 30-jähriger Krieg. Der große Gaukler Tyll. Der zweite Prager Fenstersturz. Westfälischer Friede 1648. Genau genommen war‘s das aber auch schon. Denn ein geschichtlicher Roman ist Tyll nicht.

Tyll Eulenspiegel lebte im 16ten Jahrhundert (es existieren Drucke mit Darstellungen aus dem Jahr 1515), also hundert Jahre vor dem 30-jährigen Krieg. Warum Kehlmann die bekannte Figur ins nächste Jahrhundert versetzte, ist nicht nachvollziehbar. Irgendein Rezensent fabulierte von der „Vermessung des Krieges“. Das stimmt schon gar nicht. Denn außer einer Kurzbeschreibung der Schlacht von Zusmarshausen von außen quasi, von zufällig in die Schusslinie geratenen Reitern, die Eulenspiegel eskortierten, beschreibt Kehlmann nicht den Krieg. Er schwadroniert zwar darüber, wer aller Schlachten erlebt hatte, diese aber dann nicht in Worte zu fassen vermochte, schildert allerdings selber schon gar keine Schlacht. Und so wie er darüber hinwegseiltanzt, die Schlacht zu beschreiben, jongliert er mit Versatzstücken des Krieges, erfasst ihn aber nicht. Nun, den 30-jährigen Krieg zu beschreiben – noch dazu in einem Roman – ist wohl ohnehin unmöglich. Krieg generell in seiner Brutalität und Unmenschlichkeit zu zeigen, mag vielleicht das Ansinnen eines Pazifisten sein und scheint damit berechtigt. Kehlmann beschreibt aber keine Schlacht, auch nicht den Krieg, einzelne Episoden draus zwar, wie er sie für seine Story braucht – so etwa erzählt er die Geschichte vom Winterkönig, der quasi als Auslöser des Krieges gehandelt wurde, doch die Hässlichkeit des Krieges ermisst er nicht.

Tyll wird in fast allen Episoden implementiert, hat aber wieder keine erklärbare Funktion außer vielleicht geschmeidiger Kitt zu sein… Grauen versucht Kehlmann sehr wohl zu bezeugen – allerdings eher der Zeit, des Äons, in der dieser Krieg tobt.
Und das gelingt ihm drastisch: der Vater von Tyll Eulenspiegel, Claus, wird von päpstlichen Beauftragten auf deren Durchreise der Hexerei überführt, und hingerichtet. Die Grauen der Inquisition, der Hexenverfolgung, der Folter und der frömmlerischen Teufelsangst werden akribisch dargestellt. Speziell der irrwitzige Aberglaube thematisiert, den sich, Kehlmann nach, sowohl der Hexer – der eigentlich nur einige magische Sprüche vor sich hinmurmelt, auch Flüche ausstößt, jedoch ebenfalls Kranke heilt – als auch dessen Richter teilen. Das pikante an der Sache: Einer der Ankläger ist Anastasius Kircher, ein hoher päpstlicher Würdenträger, der von Kehlmann als lächerlicher, synkretistischer Scharlatan hingestellt wird, schrieb der doch über Drachen, die Pest, den Magnetismus und Hieroglyphen und sonst noch tausend Dinge. Kehlmann überführt ihn des Glaubens an die Analogien, an den Zusammenhang der Dinge und der Welt, die ihn auf haarsträubende Abwege führte, etwa dass Drachenblut die Pest besiegen würde. In einigen Belangen stimmt Kehlmanns Urteil offenkundig, anderseits war Kircher der Erste, der Blut unter einem Mikroskop untersuchte, der gegen Pest Isolation und Hygiene empfahl, und der eine Grundlage für die spätere Entschlüsselung der Hieroglyphen schuf. Kehlmann erwähnt den Heroen der anschließenden Epoche nicht – obwohl er Tyll leicht auf einem Bein in diese hinüberhüpfen hätte lassen können – aber es soll uns reichen, wiederholt zu bekommen, wie finster und dumm das Mittelalter war, wie bigott und abergläubisch, jeglicher Vernunft abhold. Nein: das ist ja nicht Mittelalter, sondern Frühbarock, die Neuzeit bereits im Jugendalter, in der Hexen verbrannt werden, sie der Häresie angeklagt, gefoltert und ausgelöscht werden. Mit ihnen die mittelalterliche Medizin, die Kräuterkunde und das Wissen von den Geistwesen – wie es Schamanen und Schamaninnen weltweit noch heute tradieren. Und nun beginnt das Zeitalter Descartes: Ich denke also bin ich. Mit der kartesischen Wende trennt Wissenschaft Geist vom Körper, die Seele von der Welt, den Verstand vom Leib. Und wir sind in der analytischen Welt: der Epoche des Intellekts, in der alles und jedes unter dem Mikroskop zerstückelt wird, aber es findet sich keine Seele und schon gar kein Gott; vielleicht die eine reine Wahrheit: Es gibt keinen Gott neben dem allmächtigen Verstand.
Kehlmann scheppert mit der Klingelbüchse voll bekannter Vorurteile über die unaufgeklärte, naive Zeit vor der Moderne, macht Späßchen und Salto Mortali rückwärts – uns zum Gaudium und zum Vergnügen, denn wir, wir wissen, wir sind gescheit, haben Smartphones und Apps und elektrisches Licht. Das Wetter damals um 1648 war furchtbar schlecht – kleine Eiszeit – es regnete dauernd oder schneite, und im Schnee erfror der pestkranke Winterkönig mit Tyll als letztem Gefährten. Aber erstens starb Friedrich von Böhmen nicht wie von Kehlmann eigentlich sehr ergreifend beschrieben, und zweitens war kein Tyll an dessen Seite, weil seit gut hundert Jahren selbst schon verschieden. Und zweitens war das Klima keineswegs so schiach wie von Kehlmann erdichtet (nachzulesen im Werk: 1648 von Heinz Duchhardt). Was will also unser Possenreißer Daniel Kehlmann? Warum greift er zu derart eklatanten Mitteln und stibitzt sich wie Max und Moritz die Buchteln Ereignisse aus zumindest einem Jahrhundert zusammen, um diese quasi-synkretistisch zusammenzugießen – wie die Stahlkugeln für die Kanonen im 17ten Jahrhundert?

Die Antwort gab ich Schelm bereits zuvor. Kehlmann ergötzt sich für uns über die Epoche des Synkretismus, des Glaubens, alles hinge irgendwie zusammen, alles habe Bedeutung und sei letztlich zu verantworten einer letzten Instanz, nämlich Gott gegenüber. Das ist tatsächlich derart amüsant; wir alle wissen doch längst: Gott ist tot, aber Atomstrom, Elektronenmikroskop, Kabel-TV und Coffee To Go hievten unsere heutige Welt aus dem eisigen Morast von Pest, Cholera und Vorurteilen mitten hinein ins Paradies der Glückseligkeit der modernen Menschen und der modernen Ideen, tagtäglich zu überprüfen in den – uns gratis gegebenen – Blättern in den vom Klimawandel erhitzten Bussen und vollgestopften U-Bahnen auf der Fahrt in unsere prekären Jobs.


Genre: Historischer Roman, Romane
Illustrated by Rowohlt

Speicher 13

Trau, schau, wem?

Der Klappentext von Jon McGregors Roman «Speicher 13» lockt den Leser in ein narratives Labyrinth, aus dem es lange keinen Ausweg zu geben scheint, in dem man sich anfangs fühlt wie «im falschen Kino». Unwillkürlich denkt man dabei «Trau, schau, wem?», denn den üblichen genretypischen Signalen zum Trotz ist dieses neue Buch des britischen Autors eben kein Krimi, sondern ein veritabler Gesellschaftsroman, der den sozialen Mikrokosmos einer kleinen, ländlich geprägten Gemeinde zum Gegenstand hat. Der in Deutschland bisher weitgehend unbekannte, kreative Schriftsteller benutzt dafür eine ausgeklügelte Erzähltechnik, die ganz ohne bedeutungsschwere Symbole und gängige Klischees auskommt und so gekonnt Atmosphäre erzeugt, dass man sich erstaunlicherweise bald schon als Mitbewohner des namenlosen englischen Dorfes fühlt.

Was vordergründig als Plot dient, ist schnell erzählt. Ein dreizehnjähriges Mädchen wird während des Urlaubs nach einer Wanderung mit ihren Eltern als vermisst gemeldet. Sie bleibt trotz intensiver Suche unauffindbar, und es kursieren bald allerlei Gerüchte unter den Dorfbewohnern. Fast schon sadistisch den Krimifans gegenüber streut der auktoriale Erzähler immer wieder mal einige knappe Sätze über die Suche nach der Vermissten mit ein in seine Geschichte, die aus dem Leben der Dorfbewohner berichtet. Denn genau das, nicht die Tragödie selbst, ist sein eigentliches Thema, der Alltag einfacher Menschen also im Ablauf der immer größer werdenden zeitlichen Distanz von dem albtraumhaften Ereignis.

Den dreizehn Kapiteln des Romans entsprechen dreizehn Jahre Erzählzeit. Gleich im ersten Kapitel findet sich schon der Satz «Um Mitternacht wurde das Neue Jahr in der Stadt hinter den Bergen mit einem Feuerwerk begrüßt», der dann jeweils variiert auch in sämtlichen folgenden Kapiteln als erster Satz fungiert, und zyklisch wiederholt sich hier auch vieles andere, Jahr um Jahr. Bevölkert wird diese Erzählung von mehreren dutzend Figuren, die wie beiläufig in den Erzählfluss eingeführt werden und vom Leser erst nach und nach, mit den sich allmählich ansammelnden Details zur Person, stimmig in das soziale Geflecht eingeordnet werden können. Ein Spickzettel ist unabdingbar, will man den Durchblick behalten über die verschachtelten Beziehungen der vielen Figuren. Wobei anzumerken ist, dass dieses üppige Figurenensemble keine signifikanten Unterschiede Einzelner in der Bedeutung für das Erzählte aufweist, es gibt nur dutzende Nebenfiguren, – oder Hauptfiguren, ganz nach Gusto! Das Kollektiv als solches also steht im Fokus des Autors, und es wird kein Aspekt des Lebens ausgespart dabei. Alle Generationen sind vertreten, Geburt, Liebe, Alter, Krankheit, Tod sind die ständigen Begleiter. Breiten Raum nimmt die Natur ein, immer wiederkehrend wird von Flora und Fauna berichtet, letztere wird von Füchsen, Dachsen, Rehen, Bussarden, Reihern und anderem Getier bevölkert. Ergänzt durch die allgegenwärtigen Schafe natürlich, man lebt von Schafzucht in diesem mittelenglischen Landstrich. Manche Details, manche Bräuche des dörflichen Lebens sind schwer zu verstehen ohne vertiefte regionale Kenntnisse.

Diese Chronik von der Monotonie des heutigen Dorflebens jenseits der ländlichen Idylle wird in einem auffallend distanzierten Ton erzählt. In strenger Form zudem, geradezu simpel im Satzbau, damit dem Leben ähnelnd, über das da mit zumeist kurzen Hauptsätzen trocken und wortkarg berichtet wird. Typische Merkmale dieser sehr zurückgenommenen Erzählweise sind darüber hinaus die ständigen, teilweise wörtlichen Wiederholungen von bereits Erzähltem, außerdem die schnellen erzählerischen Wechsel, die im gleichen Absatz oft mehrere Szenen ohne jedweden Kontext abrupt aneinanderreihen. Er wolle zeigen, hat der Autor erklärt, «wie sich Menschen ändern». Dafür aber sind äußerst aufmerksame Leser erforderlich, die sich von der sprachlichen Monotonie und den vielen bloßen Andeutungen McGregors nicht entmutigen lassen.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Liebeskind

Toscana

Toscana 2018: ein Reiseziel

784 Seiten und dennoch kompakt und handlich mit herausnehmbarer Karte und Detailkarten ist dieser Reiseführer durch die wohl schönste Kulturregion Europas.Umfangreiche Beschreibungen der Kulturmetropolen Florenz, Siena und Pisa gehören ebenos zu diesem Reiseführer wie die Abtei der Camoldolenser Mönche im oberen Tibertal und die Etruskergräber bei Sovana. Natürlich kann man aber nach Besichtigungen der reichen Kulturschätze auch Badeferien an den Küsten der Toscana anhängen. Unzählige Tipps und Anregungen, in einem Sonderteil sogar zur Mittelmeerinsel Elba.

Kulturschätze und Badeferien

Seit 24 Jahren ist „Toscana“ vom Michael Müller Verlag ein Standardwerk für Selbstreisende. 2018 wurde es erneut wieder aktualisiert und erweitert. Restaurant- und Hoteltipps finden sich ebenso in diesem Reiseführer wie Hintergrundinformationen und Infos rund um das Lieblingsziel der deutschsprachigen Urlauber. Wen dürstet es nicht, wenn er etwa von der Apuanischen Riviera und Versilia liest, wo nicht nur der berühmte Carraramarmor abgebaut wird, sondern sich auch der Lido di Camaiore oder Viareggio befindet. Der mondäne Badeortglänzt durch Sommerhäuser der lucchesischen Kaufmannsfamilien und einen Hafen, alles in Jugendstil und klassizistische Fassaden geklediet. Das Gebiet zwischen Lucca und dem heutigen Viareggio, war ursprünglich ein Sumpfgebiet, das von Menschen zur Wildschweinjagd genutzt wurde. Erst durch den Bau von Entwässerungsanlagen wurde aus dem Sumpf ein begehrtes Badeziel. 1828 wurde dort die erste Badeanstalt eröffnet, gerade als es in Mode kam, sich an die Sonne zu liegen und nichts zu tun. 1902 wurde dann die Strandpromenade Viale Regina Margherita eröffnet: Cafés, Geschäfte und dekorative Eingänge zu Badeanstalten.

Italien zum Mitnehmen

Weitere Titel von Michael Müller im gleichnamigen Verlag finden Sie auch zu den Themen Reiseführer Algarve, Kochbuch Do schmeckts! – Kulinarische Reisen rund um Freiburg, den Kaiserstuhl und im Markgräflerland, Reiseführer Florenz & Chianti – Siena, San Gimignano, Reiseführer Fränkische Schweiz, Kochbuch Gscheitgut – Das Beste aus Band 1 + 2 – Franken isst besser,     Kochbuch Gscheitgut – Band 2 – Franken isst besser, Kochbuch Gscheitgut – Vegetarische Küche – Franken isst besser, Reiseführer Portugal, Reiseführer Südtoscana – Siena, Monte Amiata, Maremma, Monte Argentario.

Michael Müller
Reiseführer
 Toscana
Michael Müller Verlag, 784 Seiten + herausnehmbare Karte (1:250.000), farbig
ISBN 978-3-95654-507-8
26,90 EUR (D)/27,70 EUR (A)/39,90 CHF
Buch: 18. Auflage 2018
E-Book: 17. Auflage 2016
784 Seiten mit 341 Farbfotos und herausnehmbarer Karte
26,90 EUR


Genre: Reiseführer
Illustrated by Michael Müller Verlag

Alkohol und Tabak

Die Sünden des alten Jahrhunderts?

 

Alkohol & Tabak: In Zeiten wie diesen ist wohl nichts so unpopulär wie das Rauchen und Trinken. Vor 100 Jahren war das noch völlig anders. Der Tag ging, Johnnie Walker kam. Oder ein Cowboy ritt durch eine Wüste und glühte seinen Glimmstengel vor sich her. Ein Jahrhundert lang sorgte die Werbeindustrie dafür, dass man sich nur dann richtig entspannen konnte oder richtig cool war, wenn man trank oder rauchte. Sollten diese Konsumgewohnheiten tatsächlich schon Geschichte sein? Dann ist die vorliegende Publikation ein wunderbares Familienalbum, das einen in der Vergangenheit einer untergehenden Epoche blättern lässt.

Alc & Zig: Werbung als Propaganda?

Mit vorliegendem voluminösen Sammelband mit Abbildungen legendärer und mitunter skurriler Werbekampagnen der US-Tabak- und Spirituosenbranche kann man sich noch einmal die passionierte, aber heute stigmatisierte Freude des blauen Dunstes und des gepflegten Hangovers in sein Wohnzimmer zurückholen, keimfrei und völlig gesund für Atemwege und Leber. Der Untertitel der vorliegenden Publikation „100 Years of Stimulating Ads“ soll nämlich keineswegs zum Konsum, sondern zu einer ganz anderen Form des Genusses animieren: den der Kontemplation. Wer „Alcohol & Tabacco Ads“ durchblättert wird Zeuge eines kulturellen Vermächtnisses, das hauptsächlich von den USA geprägt wurde. Die Verantwortung von Rauch und Rausch wird von den Herausgebern bezüglich Propagandamittel sogar in die Nähe des Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gerückt, ein ernstzunehmender Vorwurf, dem hier nicht widersprochen werden soll. Auch was die Vermarktung der Produkte dieser Industrien für Frauen betrifft ist wohl kaum der Vorwurf der Propaganda abzuwehren.

Deutscher Alkohol vs. amerikanischer Tabak

Aber es gab auch den Volstead-Act, der den Verkauf des Alkohols verbot und vor allem die Deutschen treffen sollte: nicht zu trinken wurde während und nach dem Ersten Weltkrieg zu einem patriotischen Gefühl hochstilisiert, denn es war plötzlich un-amerikanisch. Dafür wurde das Rauchen munter beworben und beinahe ein patriotischer Akt. Für Fraune und Männer. Der Kulturanthropologe und Grafikdesign-Experte Jim Heimann ist Executive Editor bei TASCHEN in Los Angeles und Autor zahlreicher Bücher über Architektur, Popkultur und die Geschichte der amerikanischen Westküste, insbesondere Los Angeles und Hollywood. Auch Steven Heller ist prädestiniert für eine Publikation dieses Ausmaßes: er ist Co-Vorsitzender des Studiengangs „School of Visual Arts MFA Designer as Author“ und war 33 Jahre lang Art Director der New York Times sowie Autor von 120 Büchern über Grafikdesign, Illustration und politische Karikatur. Allison Silver wiederum lebt als Schriftstellerin und Redakteurin in New York City und arbeitet bei der New York Times und war Gründungsredakteurin des Washington Independent.

Jim Heimann/Steven Heller/Allison Silver
20th Century Alcohol & Tobacco Ads
Hardcover, 23,8 x 30,2 cm, 392 Seiten
ISBN 978-3-8365-6652-0
Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch
TASCHEN Verlag


Genre: Design
Illustrated by Taschen Köln

Paul Cézanne Ausstellung Paris 1907

Cezanne Ausstellung 1907 von Rilke besucht

Als der berühmte Schriftsteller und Poet Rainer Maria Rilke im Oktober 1907 in Paris weilte, fand ebendort eine Gedächtnisausstellung zu Ehren des ein Jahr zuvor verstorbenen Malers Paul Cézanne statt. Diese Ausstellung umfasste 49 Gemälde und sieben Aquarelle und begründete Cézannes Ruf als Vater der modernen Malerei und trug seinen Ruhm in die Welt, post mortem oder wie man halt so sagt. Rilke besuchte die Ausstellung mehrmals und schrieb über seine Eindrücke eine Serie von Briefen an seine Frau, die Bildhauerin Clara Rilke Westhoff. Diese Briefe gehören zu den wohl bedeutendsten Zeugnissen einer frühen Rezeption des Werks von Cézanne durch einen Dichter, der es vermag, seine Gedanken auch vom Werk des Malers inspirieren zu lassen. Rilkes Briefe enthalten zum einen erstaunliche künstlerische Einsichten und gehen inhaltlich weit über die klassische Kunstkritik hinaus, da sie auch viele persönliche Seiten des Dichters zeigen.

Briefe Rilkes über Cezanne

Rilke macht sich in einem Brief – viele davon werden übrigens auch mit der Originalhandschrift Rilkes als Faksimile abgedruckt – auch Gedanken über die künstlerische Arbeitsweise und das Arbeiten an sich. So schreibt er über Rodin und Van Gogh, dass der eine oder andere vielleicht die Fassung verlieren konnte, aber die Arbeit wäre noch hinter der Fassung gewesen, aus ihr hätte man nicht herausfallen können. „Es ist lauter Freude; es ist das natürliche Wohlsein in diesem Einen, an das nichts anderes heranreicht.“ Rilke sieht auch die Verkäufer am Seine-Ufer, die scheinbar nie ein Geschäft machen, „aber man sieht hinein und sie sitzen und lesen, unbesorgt, sorgen nicht um morgen, ängstigen sich nicht um ein Gelingen, haben einen Hunde, ver vor Ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eine Katze, die die Stille um sie noch größer macht, indem sie die Bücherreihen entlang streicht, als wischte sie die Namen von den Rücken“. Welch’ wunderbare Gedanken dieser Rilke doch formulieren kann, über scheinbare Nebensächlichkeiten, die doch den Reiz des Ganzen ausmachen!

Weiße Schwäne und schwarze Damen

„Leda“ heißt eines der hier abgedruckten Gemälde Cézannes und zeigt, wie der Schwan ihr in die ausgestreckte Hand beißt. Ihr Blick ist dabei so teilnahmslos, wie willig, denn sie nimmt es hin, was ihr beschert ist, ihre Brüste ebenso entblößt, wie ihre Gedanken. „La Dame en noir“ heißt ein anderes Gemälde aus den Jahren 1891/92 und ihr Blick ist melancholisch, ihr Kleid schwarz, aber die Blumen an der Wand und der Kirschbaum im Hintergrund zaubern einen Schatten auf ihre roten Bäckchen und gefalteten Hände. Auch Alte (Vieillards) porträtiert Cézanne und Rilke findet in seinen Briefen treffende Worte zum Werk Cézannes wie zum Leben zwischen Paris, Prag und Venedig. Der vorliegende, reich bebilderte Band führt erstmals und in höchster Druckqualität alle Werke Cézannes zusammen, die 1907 im Salon d’Automne zu sehen waren. Ihnen gegenübergestellt werden Rilkes Briefe, wodurch sich ein Zusammenhang zwischen bildender Kunst und ihrem Einfluss auf den Dichter herauskristallisiert. Zusätzlich wurden auch Einschätzungen und Zeugnisse bedeutender Zeitgenossen hinzugefügt, sodass die Publikation zu einem reich bebilderten, einzigartigen Gipfeltreffen zwischen einem der bedeutendsten Maler und einem der wichtigsten Dichter an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gerät.

Lothar Schirmer
Paul Cézanne Ausstellung Paris 1907. Rainer Maria Rilke
Rekonstruktion der Cézanne-Ausstellung im Grand Palais, …besucht, betrachtet und beschrieben von Rainer Maria Rilke, zusammengestellt und eingeleitet von Bettina Kaufmann, hrsg. von Lothar Schirmer.
200 Seiten, 69 farbige Abb. Format: 20 x 26 cm, gebunden.
Deutsche Ausgabe.
Schirmer/Mosel Verlag
ISBN: 9783829608213
39.80€


Genre: Briefe, Kunst, Poesie
Illustrated by schirmer/mosel

Prawda

The fear starts here

Was der Buchtitel «Prawda» verheißt, «Wahrheit» nämlich, das findet sich in den eigenwilligen Romanen der Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe eher selten, ihr literarisches Markenzeichen ist vielmehr ihre mit Komik angereicherte, überbordende Phantasie, – «Eine amerikanische Reise» ist also alles andere als ein touristischer Bericht. Auf den Spuren zweier russischer Schriftsteller, Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, folgt Hoppe achtzig Jahre später deren von der Zeitung «Prawda» initiierten Reise durch die USA. Die beiden waren damals als Autorenduo mit ihren satirischen Romanen überaus populär, und nach ihrer viermonatigen Amerikatour verfassten sie das amüsante Buch «Einstöckiges Amerika» sowie einen Fotoband. Ihnen zu Ehren wurde 1982 ein neu entdeckter Kleinplanet «3668IlfPetrow» benannt.

«Red Ruby» tauft die reiselustige Felicitas Hoppe im September 2015 den rubinroten Ford Explorer (nomen est omen), mit dem sie in weniger als sechzig Tagen die USA durchqueren will, den beiden Russen folgend, etwa zehntausend Meilen liegen vor ihr. Mit an Bord sind drei in einem skurrilen Auswahlverfahren selektierte Reisegefährten, deren Schrulligkeit allein dem Roman schon eine amüsante Färbung gibt. Da ist zunächst mal Foma, der einzige Mann der Gruppe, ein Landschaftsgärtner mit russischen Wurzeln «auf der Suche nach dem größten Kaktus der Welt». Er wechselt sich mit MsAnnAdams am Steuer ab, einer sich geradezu zwanghaft an ihre Handtasche klammernden und den «Distanzplan» in Händen haltenden Kettenraucherin aus Wien, die mit wahrhaft enzyklopädischem Wissen gesegnet ist. Jerry Miller aus Halle schließlich arbeitet an einem fotografischen Projekt mit dem beziehungsreichen Arbeitstitel «Bräute am Wegrand». Die zwar nicht führerscheinlose, aber fahrunwillige Autorin, die sich «Frau Eckermann» nennt, sitzt hinter dem Fahrer auf der Rückbank des geräumigen SUVs, in ihrem «Torcqueville-Erker», und zitiert immer wieder mal den französischen Historiker Alexis de Torcqueville, dessen berühmtes Hauptwerk «De la démocratie en Amérique» sich ebenfalls auf eine Amerikareise gründet.

Zu den Sehenswürdigkeiten, die das muntere Quartett ansteuert, gehören unter anderen die Niagarafälle, die Werkstatt von Thomas Edison, die Ford-Werke in Detroit, ein elektrischer Stuhl, der Zaun von Tom Sawyer, das kuriose Museum für den Wirbelsturm Katrina, zwischendurch hält Hoppe Vorträge bei «Radio Goethe». Sie besucht auch Frankensteins Haus, über dessen Eingang es aus dem Maul einer schaurigen Maske tönt: «The fear starts here», – ein Slogan, der sich noch öfter findet im Roman. Unfreiwillig verbringt die Ich-Erzählerin eine Nacht in einem Bergwerksstollen, trifft den Maler Brueghel den Allerjüngsten, den «Pharao» Barak Obama im Weißen Haus, schließlich die Regie-Legende Quentin Tarantino. «Schriftsteller halten sich niemals an Fakten», heißt es beziehungsreich im Roman, und so ist denn diese mit Skurrilem üppig angereicherte Reise in jeder Hinsicht weit eher ein Ausflug in poetische Sphären denn ein faktenbasierter Bericht.

Diese hoppesche Sicht der Dinge, ausschließlich literarisch bestimmt also, ist eine Art Gegenwelt zur schnöden, so gar nicht froh machenden Realität, ihre poetisch gefärbte Perspektive ist nur von eigenen Phantasien befeuert und artikuliert sich in einer kreativen, mit Sinnsprüchen, Neologismen und Zitaten durchsetzten Sprache. «Notieren Sie das bitte, Gentlemen!» fordert Hoppe schnippisch immer wieder ihre Leser auf. Erfreulich ist auch die komödiantische Intertextualität des Romans, deren amüsanteste für mich das immer wieder neu abgewandelte Zitat des berühmten ersten Satzes aus Tolstois «Anna Karenina» ist. Nicht alle Besonderheiten ihres spezifischen Schreibstils aber haben mich überzeugt, ihr «wirklich (tatsächlich)» beispielsweise hat mich sogar ziemlich genervt, manchen Leser dürfte zudem auch der furiose Wirbel mit wilden Phantasmagorien und Assoziationen schwindelig machen. The fear starts here?

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by S. Fischer

Ragtime

Und das war gut so

Hoch geehrt, mit Preisen überhäuft geradezu, gehört Edgar Lawrence Doctorow zu den Maßstab setzenden Autoren Amerikas, ihm gelang 1975 der Durchbruch mit «Ragtime», dem besten seiner zwölf Romane, der Charly Chaplin zum Weinen brachte und vom ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama als sein Lieblingsbuch genannt wurde. Doctorow wurde von seinen Eltern dezidiert nach einem anderen literarischen Giganten benannt, Edgar Allen Poe nämlich, – nomen est omen! Zu seinen deutschen Fans zählt insbesondere Daniel Kehlmann, – auch kein literarisches Leichtgewicht übrigens -, der E. L. Doctorow in einem FAZ-Artikel so überschwänglich gelobt hatte, dass ich mich, neugierig geworden, spontan an die Lektüre von «Ragtime» machte. Und das war gut so!

Den Gattungsbegriff «Historischer Roman» hat der Autor abgelehnt für sein Buch, gleichwohl ist es mit seinen vielen realen Figuren eine ebenso informative wie amüsante Zeitreise durch das Amerika der Epoche zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. Zu den prominenten Protagonisten zählen der Autopionier Henry Ford und der Banker J. P. Morgan ebenso wie die Anarchistin Emma Goldman und der Entfesselungskünstler Harry Houdini, aber auch der Polarforscher Robert Edwin Peary und der Pionier der Psychoanalyse Siegmund Freud. Ein nicht in die Handlung einbezogener, namenloser Ich-Erzähler berichtet in der Rahmenhandlung vom stereotypen Leben seiner Familie in der Kleinstadt New Rochelle unweit von New York, sein Vater ist Fabrikant von Fahnen und Feuerwerkskörpern. Held des Romans ist ein farbiger Jazzpianist, den der Autor, – offensichtlich nach erfolgter Kleist-Lektüre -, Coalhouse Walker jr. nennt, ein amerikanischer Michael Kohlhaas. Dessen Furor wird ausgelöst durch eine demütigende Begegnung mit einem rassistischen weißen Pöbel, den Männern der Feuerwehr, die seinen funkelnagelneuen Ford Model T in purer Bosheit übel zurichten. Und auch hier findet der gnadenlos Gedemütigte, wie sein deutsches Vorbild, keine Unterstützung, wird sein Verlangen nach Gerechtigkeit, nach Bestrafung der Täter und Wiedergutmachung des Schadens, höhnisch abgewiesen. «Ein Mann sieht rot» lautet der Titel eines Spielfilms mit ähnlicher Thematik, und auch Coalhouse rächt sich auf unglaublich raffinierte und ebenso fürchterliche Weise.

Die leider heute noch bestehende Rassenproblematik und die skandalösen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», – welche ja auch im Negativen unbegrenzt sind -, stehen thematisch im Mittelpunkt des Romans. Sprachlich dem Titel folgend wird die Geschichte in einfachen Sätzen rhythmisch vorangetrieben, den Synkopen eines Scott Joplin vergleichbar, stakkatoartig eng aufeinander folgend. Die Charaktere sind stimmig beschrieben, sie stehen plastisch vor dem Auge des Lesers in parallelen Erzählsträngen, die klug ineinander verwoben den Plot voranbringen, wobei sich die Spannung, dramaturgisch geradezu mustergültig, ständig steigert bis hin zum letzten Kapitel. Dem bis dorthin geradezu zwingend vorgezeichneten und Amerika-typischen Showdown folgt ein kurzer, versöhnlicher Ausblick auf das weitere Schicksal der Figuren.

Die raffinierte Verknüpfung von historischen Fakten, die als Versatzstücke in den Roman eingebaut sind, mit den fiktionalen Erzählmotiven des Romans ist wahrhaft meisterlich, die deutlich durchscheinende Ironie gibt häufig Anlass zum Schmunzeln. Mit seiner in Episoden erzählte Geschichte ist der Roman eine kluge Abrechnung mit dem «American Dream», jenem laut Sigmund Freud «gigantischen Irrtum», dem die vielen Figuren gleichwohl unbeirrt nachjagen. Dieses breit angelegte Panorama mit New York als zentraler Bühne ist nicht nur beste Unterhaltung, ein Stimmungsbild dieser Epoche, es bietet auch einiges Wissenswerte. «Das Leben eines Schriftstellers ist so riskant, dass alles, was er tut, schlecht für ihn ist», soll Doctorow gesagt haben. Wie auch immer, «Ragtime» zu schreiben war jedenfalls gut für den Leser.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Nur ein Spielmann

Ein verkannter Poet

Wer Andersen sagt, meint Märchen, – und versäumt durch diese ebenso weit verbreitete wie voreilige literarische Zuordnung womöglich, auch den Romancier Hans Christian Andersen kennen zu lernen. Der dritte seiner insgesamt sechs Romane, 1837 erschienen, brachte ihm vor allem in Deutschland literarisch den Durchbruch, «Nur ein Spielmann» wurde ein Riesenerfolg. Es waren seine Romane, die den Dänen in Europa und im englischsprachigen Raum überhaupt erst bekannt machten, nicht seine 156 Märchen. Erfreut berichtet er 1852 in einer Tagebuchnotiz von einer Begegnung mit Amerikanern, die ihm erzählt hätten, «dass ich so weit verbreitet in Amerika gelesen werde, dass alle meine Romane an den Bahnhöfen verkauft werden». Vermutlich verdankt Andersen diese Popularität dem damals neuartigen Typus des Gegenwartsromans, der den ausländischen Lesern einen Einblick in das Alltagsleben eines fremden Landes ermöglichte, das zu jenen Zeiten die meisten niemals selbst würden bereisen können. Der Roman hat in seiner Modernität, in seiner Abkehr von der bis dahin üblichen, retrospektiv erzählten, biedermeierlicher Romantik, einen berühmten Landsmann auf den Plan gerufen, den Philosophen Søren Kierkegaard, der dem Werk einen wütenden, achtzigseitigen Verriss hat angedeihen lassen. Aber das war vor 180 Jahren!

Wir haben es mit einem melancholischen Entwicklungsroman zu tun, dessen beide Protagonisten ganz unterschiedliche Schicksale haben. Mit biografischen Bezügen zur eigenen Vita erzählt Andersen von Christian (sic!), dem Sohn eines armen Schneiders, der davon träumt, mal Musiker zu werden. Im herrschaftlichen Nachbarhaus wohnt ein reicher Jude, der seine Enkelin Naomi bei sich aufzieht. Der schüchterne Christian verliebt sich heftig in das schöne Mädchen. Auf dem Dach ihres Hauses nistet ein Storchenpärchen, und als das Haus eines Tages bis auf die Grundmauern abbrennt und auch die Störchin hoch oben im Nest verbrennt, weil sie ihre Jungen nicht verlässt, wird nur Naomi gerettet, – der Schneider nimmt die Waise vorerst bei sich auf. Leitmotivisch begegnet uns der Storch bis zum Ende immer wieder mal in dieser Geschichte, und zwar als Symbol für Reisen, für die Sehnsucht nach fernen Ländern, aber auch für Treue. Aus Christian und Naomi jedoch wird nie ein Paar, zu verschieden sind ihre äußeren Prägungen. Da ist die bittere Armut, in der Christian aufwächst und aus der er sich als mäßig begabter Geiger letztendlich nicht befreien kann. Auch zum Seemann taugt er nicht, wie er schnell erkennen muss, ihm fehlt ganz einfach der Mut zur kühnen Tat. Naomi hingegen, der das behütete Leben in Wohlstand zu langweilig wird, brennt mit einem Kunstreiter vom Zirkus durch und reist durch halb Europa, trennt sich schließlich aber von ihm. Der reiseerprobte Autor baut neben Kopenhagen auch die Metropolen Wien und Paris – kontrapunktisch zum einfachen Landleben – als Handlungsorte mit ein in seinen elegischen Roman. Weniger spektakulär und komfortabel hingegen ist Christians Weg, er schlägt sich recht und schlecht durchs Leben und ist am Ende des Romans «nur ein Spielmann».

Andersen erzählt seine berührende Geschichte mit ihrer Vielfalt an Motiven in einer betulichen Sprache und mit reichlich zeitbedingtem Pathos, durch die Neuübersetzung von 2005 ist sie aber flüssig lesbar. Immer wieder sind darin ziemlich naive religiöse Bezüge und nicht immer überzeugende, philosophische Reflexionen eingewoben, es finden sich aber auch wunderbar plastische Natur- und Landschaftsbeschreibungen, seine Figuren sind zudem sehr lebensecht beschrieben. Der linear und erfreulich stringent erzählte Plot lässt keine Langeweile aufkommen, die große Stärke jedoch ist das uns Heutigen zumeist unbekannte Lokal- und Zeitkolorit dieses Romans. Als hilfreich erweisen sich die fast zweihundert vom Autor selbst eingefügten Fußnoten und ein äußerst informatives Nachwort mit nützlichen Infos zu diesem sozialkritischen Roman und seinem als Romancier völlig verkannten Autor.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by S. Fischer

God‘s Kitchen

Die 19-jährige Studienanfängerin Celine ist hypersensibel und verfügt über eine Gabe, die sie zunehmend als Last empfindet: Ab und an erscheinen ihr Visionen, die sich als tatsächliche Ereignisse in naher Zukunft herausstellen. Ihre Eltern, die in einem Zugunglück umkamen, das das Mädchen voraussah, schenkten den verzweifelten Warnungen ihrer Tochter keinen Glauben und zahlten mit ihrem Leben. Ein Studienfreund, den sie vor einem Unfall mit dem Fahrrad warnt, kommt zwar mit dem Schrecken davon, aber er meidet daraufhin Celine, weil sie ihm nicht ganz geheuer ist.
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Genre: Jugendbuch
Illustrated by Loewe Bindlach