Hypnos und Thanatos
Der Debütroman «Schlafes Bruder» des österreichischen Schriftstellers Robert Schneider blieb sein bis heute mit Abstand größter Erfolg. Das 1992 erschienene Buch wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt, diente als Vorlage für den gleichnamigen Spielfilm und erfuhr diverse weitere Adaptionen. Der von einem Bergbauern-Ehepaar aus Vorarlberg adoptierte Autor hat darin offensichtlich nicht nur Erfahrungen der eigenen Jugendzeit verarbeitet, er hat vor allem seine fundierten musikalischen Kenntnisse als Organist für das Hauptmotiv seiner Erzählung verwendet. Trotz ähnlichem Schauplatz ist der zeitlich am Anfang des 19ten Jahrhunderts angesiedelte Roman alles andere als einer der typischen, kitschigen Alpenromane. In diesem Entwicklungsroman wird vielmehr eine düstere, mystische Geschichte aus einem so gar nicht idyllischem Bergbauerndorf in Vorarlberg erzählt.
Elias Alder wird 1803 als leiblicher Sohn eines katholischen Seelsorgers geboren und wächst auf dem Bauernhof des Ehemannes seiner Mutter auf, die ihn ausgesprochen lieblos behandelt. Im Alter von fünf Jahren erlebt er eine wundersame Erweckung, sein Gehör verschärft sich auf unerklärliche Weise und seine Pupillen werden gelb, fortan wird er deswegen gehänselt. Sein nunmehr überirdisches Gehör ist sogar in der Lage, den Herzschlag eines ungeborenen Mädchens zu vernehmen, in der er, fanatisch verklärt, die große Liebe seines Lebens erkennt, – die dann tatsächlich, als seine Cousine Elsbeth, im Nachbarhaus geboren wird. Sein phänomenales Hörvermögen weckt denn auch seine an Wunder grenzende Musikalität, er wird ohne jede Förderung, voll autodidaktisch, zu einem geradezu jenseitigem Organisten und gewinnt, obwohl er nicht mal Noten lesen kann, sensationell einen bischöflichen Wettbewerb. Als Elsbeths Bruder wegen einer brutalen Misshandlung durch seinen Vater im Zorn dessen Hof in Brand steckt und damit eine Feuersbrunst auslöst, der das halbe Dorf zum Opfer fällt, rettet Elias todesmutig die kleine Elsbeth aus den Flammen. Aber trotz seiner lebenslangen, geradezu besessenen Liebe zu dem Mädchen erklärt er sich ihr gegenüber nie, – sie heiratet schließlich einen anderen. Elias erkennt nach einem zweiten mystischen Erweckungserlebnis, bei dem sich seine Augenfarbe wieder in grün zurück verwandelt, dass er nunmehr von dieser schicksalhaften Liebe erlöst ist.
«Erlösung aber», heißt es im Roman, «ist die Erkenntnis der Sinnlosigkeit allen Lebens». Der Titel des Romans spielt auf die griechische Mythologie an, das rigorose Liebesverständnis von Elias gipfelt nämlich in seiner Überzeugung, dass der Schlaf die ideale, grenzenlose Liebe letztendlich verhindere. Thanatos jedoch, der Gott des Todes, ist der Bruder von Hypnos, dem Gott des Schlafes, «Schlafes Bruder» also.
Robert Schneider hat seinen Roman in einer stimmig der Erzählzeit angepassten, altertümlichen, zugleich manieriert anmutenden Sprache geschrieben, die mit mundartlichen und religiösen Begriffen sowie mit eigenen Wortschöpfungen gespickt ist. Er hat damit ein durch Inzest und naivste Religiosität geprägtes, ländliches Milieu abgebildet, dessen Brutalität geradezu verstörend auf den Leser wirken muss. Seine damit ausgedrückte Kritik an den Verhältnissen wird durch die beiden Leitmotive Musik und Liebe konterkariert, beides aber kann letztendlich das menschliche Scheitern nicht verhindern. Das Genie seines Protagonisten stempelt ihn in seinem inzestuösen Heimatdorf, in dem es nur zwei Familiennamen gibt, zum misstrauisch beäugten Sonderling, dessen Genie in einer drögen Umwelt letztendlich verkrüppelt. Das Debüt des umstrittenen Autors wurde seinerzeit im Feuilleton kontrovers diskutiert, es wurde ihm romantisierendes Pathos vorgeworfen, was aber nicht zutrifft. Ich habe diese Geschichte vielmehr als köstliche Satire gelesen, die ironisch ein wohlfeiles literarisches Idyll demontiert, außerdem als beißende Kritik an der eifernden Kirche mit ihrer das Volk verdummenden Dogmatik.
Fazit: lesenswert
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