Ur und andere Zeiten

Zauber als Narrativ

Mit ihrem dritten, im Original 1996 erschienenen Roman «Ur und andere Zeiten» hat die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk auch international den Durchbruch erreicht, er wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Die in ihrer Heimat aus national-katholischen, xenophoben Kreisen heftig befehdete Autorin wurde vor kurzem mit dem nachträglich für 2018 verliehenen Nobelpreis geehrt «für eine erzählerische Vorstellungskraft, die mit enzyklopädischer Leidenschaft Überschreitungen von Grenzen als Lebensform darstellt», wie die Jury erklärte. Insoweit kann der Preis auch als demonstrative politische Mahnung für ein weltoffenes, liberales Polen gedeutet werden. Als studierte Psychologin ist die Autorin erklärtermaßen eine Anhängerin von C. G. Jung, dessen Vorstellung von den «Archetypen» sie als universell gültig begreift und in ihre Erzählungen einbezieht. Dieses Bewusstsein für die Kontingenz von Identitäten ist prägend auch für diesen Roman.

Das fiktive Städtchen Ur im östlichen Polen steht unter dem Schutz der vier Erzengel. In einem breit angelegten Epos wird über einen Zeitraum von etwa achtzig Jahren, vom Beginn des Ersten Weltkriegs an bis in die Mitte der neunziger Jahre hinein, vom Leben einiger archetypischer Bewohner erzählt. Deren wechselvolles Schicksal in einer historisch derart ereignisreichen Periode mit ihren politischen Umbrüchen und den zwei Weltkriegen wird, vom Weltengetümmel auffallend abgehoben, ja geradezu entrückt, aus einer zutiefst humanen Perspektive beschrieben. Das üppige Figuren-Ensemble von durchweg urigen, exzentrischen Gestalten wird erzählerisch, über Generationen hinweg, patchworkartig in hunderten von kleinen Vignetten beschrieben. Momentaufnahmen quasi, deren Überschriften regelmäßig mit «Die Zeit von …» beginnen. Ein permanenter Hinweis also auf die Zeit als wissenschaftliches Phänomen, auf das an einigen Stellen des Romans dann auch in vertiefenden Reflexionen näher eingegangen wird.

«Ur ist ein Ort mitten im Weltall» lautet der erste Satz. Er deutet damit schon gleich auf die Symbolhaftigkeit dieser exemplarischen Erzählung hin, deren Thematik die ständige Wiederkehr ist, in der Natur ebenso wie im menschlichen Leben mit seinen Freuden und Leiden. Der rätselhafte Ort ist gleichzeitig auch ein Bekenntnis zur Randständigkeit. Diesem Verwurzeltsein mit der Heimat wird aber auch ein nicht nur geistiges Nomadentum entgegengesetzt. Ein berührendes Beispiel dafür ist die grandiose Schlussszene. Einer der Protagonisten, der Säufer Pawel, ist nach einem entbehrungsreichen Leben allein zurückgeblieben, Gevatter Tod hat in der Familie wie in der Nachbarschaft ganze Arbeit geleistet. Nach zwei Jahrzehnten ohne jedweden Kontakt bekommt er nun überraschend Besuch von seiner ins Ausland emigrierten Tochter. Sie haben sich aber rein gar nichts mehr zu sagen und gehen wie zwei Fremde verständnislos wieder auseinander. Zum Personal dieser gelungenen Parabel vom Ewigmenschlichen gehören auch märchenhafte Figuren wie der Böse Mann, der völlig der Kabbala verfallene Freiherr, die im Wald lebende, ehemalige Dorfhure, der Wassermann schließlich. Und natürlich Gott, der müde geworden ernsthaft überlegt, ob er noch länger Gott bleiben will.

Als ein «metaphysisches Märchen» hat Olga Tokarczuk ihr Buch von Geburt und Tod, Liebe und Hass, Glück und Leid bezeichnet, ihr Glaube sei «der Blick auf die zerfließenden Dinge», mit dem sie die Einheit von Ort und Zeit provokant negiert. Der mit christlicher Symbolik üppig angereicherte Roman voller Mythen und Wahngebilden ist trotz mancher Grausamkeiten in einer Sprache voller Zauber und Poesie erzählt, in der selbst drastische Begebenheiten im Krieg wie selbstverständlich eingebunden sind als unabänderliche Begleiterscheinungen menschlicher Existenz. Diese Reihung von Momentaufnahmen mit ihrem ständigen Wechsel zwischen Realität und Mythos ist eine mitreißend erzählte Geschichte voller Zauber, man kann sich ihr als Leser kaum entziehen.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Kampa Verlag Zürich

Bel Ami

Souverän erzeugter Lesesog

Zum Olymp der französischen Literatur gehört auch Guy de Maupassant, dessen Roman «Bel Ami», 1885 als Erstdruck in einer Zeitung erschienen, zu seinem erfolgreichstem Werk wurde, das bis heute in immer neuen Auflagen gelesen wird. Der dem Naturalismus zugerechnete Schriftsteller ist ja vor allem als Novellist berühmt geworden, hatte aber später als Romancier deutlich höhere Auflagen als mit den Novellenbänden. Der vorliegende, zu den Klassikern der Weltliteratur zählende Roman eines geglückten gesellschaftlichen Aufstiegs markiert auch eine Abkehr vom sonst vorherrschenden Pessimismus im Œuvre des Autors, er trägt zudem erkennbar autobiografische Züge.

In Paris trifft der ehemalige Unteroffizier Georges Duroy zufällig seinen Kameraden Forestier wieder, der im politischen Ressort einer Zeitung arbeitet. Der verhilft dem in ärmlichsten Verhältnissen lebenden jungen Mann zu einer Anstellung bei seinem Verlag und führt ihn in die Gesellschaft ein. Dank der Protektion seines Freundes macht der gut aussehende Duroy schnell Karriere, verfasst mit Hilfe von dessen Ehefrau Madeleine erste Artikel für sein Blatt und fängt schon bald ein Verhältnis mit ihrer verheirateten besten Freundin an, deren kleine Tochter ihn immer nur «Bel Ami» nennt. Durch einen Tipp seiner Geliebten, die ihn auch finanziell unterstützt, verdient er bei einer Börsenspekulation plötzlich viel Geld und kommt endlich aus seiner bedrückenden finanziellen Notlage heraus. Als Forestier plötzlich stirbt, heiratet er dessen junge Witwe, die inzwischen den größten politischen Salon von Paris führt und ihren neuen Ehemann nun nach Kräften unterstützt. Der steigt weiter die Karriereleiter hinauf und gewinnt schließlich sogar, nicht ohne Hintergedanken, die Frau seines Dienstherrn, Mutter zweier Töchter im heiratsfähigen Alter, zu seiner neuen Geliebten. Bei einem Dinner in deren neuerworbener, schlossartiger Villa keimt erneut quälender Neid in ihm auf, so möchte er auch gerne mal leben! Das Geld für das pompöse Domizil stammt zudem aus einem riesigen Spekulationsgewinn, den Tipp dazu bekam der Zeitungsboss durch eine streng geheime Information aus Kreisen der Regierung. Es reift schließlich ein perfider Plan in Duroy heran, in dem die älteste Tochter seiner neuen Geliebten die Hauptrolle spielt.

Der in der Belle Époque angesiedelte, satirisch gefärbte Roman über einen opportunistischen, charismatischen jungen Mann, dessen Attraktivität letztendlich jede Frau unwiderstehlich anzieht, schildert seine Entwicklung vom zielstrebigen, dankbaren Freund zum neidischen, geldgierigen und skrupellosen Emporkömmling. Maupassants Geschichte entlarvt auch die Doppelmoral einer Gesellschaft der Belle Époque, deren prüde Konventionen in den Beziehungen der Geschlechter penibel einzuhalten sind, die andererseits aber bedenkenlos im Geheimen missachtet werden. Genau so entlarvend wird auch die weitverbreitete, korrupte Ellenbogen-Mentalität in politischen Geschehen der Gründerzeit angeprangert. Neben der Charakterstudie des Parvenüs bekommt der Leser ebenso interessante Einblicke in das Zeitungswesen jener Zeit mit seinem kämpferischen Meinungs-Journalismus wie in das oberflächliche Pariser Gesellschaftsleben.

Deutlich kontemplativer ist hingegen meine Lieblings-Szene, ein mehrere Seiten umfassender Dialog eines desillusionierten, älteren Dichters, der dem jugendlichen Helden zu bedenken gibt: «Was erhoffen Sie sich von der Liebe? Noch ein paar Küsse, und Sie sind impotent … Und was weiter? Geld? Wozu? Um Weiber zu bezahlen? Ein hübsches Glück! Um viel zu essen, dick zu werden und nächtlich unter den Stichen der Gicht zu schreien? Und was weiter? Ruhm? Wozu, wenn man ihn nicht mehr in Gestalt der Liebe schlürfen kann? Und was weiter? Immer der Tod zum Schlusse!» Maupassants berühmte Geschichte vermag, ohne psychologische Tiefenbohrungen und moralisch zurückhaltend erzählt, äußerst souverän einen unwiderstehlichen Lesesog zu erzeugen. Chapeau!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Als Gast

Langmut als Lesertugend

Nicht weniger als das Konservieren der Zeit war das ambitionierte Ziel von Peter Kurzeck, der Roman «Als Gast» erschien als zweiter Band eines «Das alte Jahrhundert» betitelten und auf zwölf Bände projektierten Zyklus, von dem insgesamt aber nur sieben Romane erschienen sind, der letzte posthum in diesem Jahr. Der proustsche Dimensionen erreichende Romanzyklus stellt einen absoluten Schwerpunkt dar im umfangreichen Œuvre des mit vielen Preisen ausgezeichneten Schriftstellers. In dem ehrgeizigen, autobiografisch angelegten Romanprojekt berichtet der Autor in einer ganz eigenständigen, stilistisch ungewöhnlichen Erzählweise vom eigenen Leben und den Ereignissen in seiner hessischen Umgebung.

Der vorliegende Band behandelt dem Titel entsprechend die Zeit des Ich-Erzählers als Gast bei wohlmeinenden Bekannten, die dem finanziell abgebrannten Schriftsteller, der, von seiner Freundin verlassen, unter erbärmlichsten Bedingungen lebt, vorübergehend eine neue Bleibe angeboten haben. Die örtlich in Frankfurt am Main und zeitlich 1984 angesiedelte Geschichte, in Rückblicken dann auch auf die Jugend in einem hessischen Dorf im Jahre 1948 ausgedehnt, ist eine breit angelegte, detailversessene Erinnerung an die gelebte Zeit. Wobei es sich ganz offensichtlich überwiegend um eigenes Erleben von Peter Kurzeck selbst handelt, ergänzt um fiktionale Erlebnisse seiner Romanfigur, dem an seinem dritten Buch schreibenden Schriftsteller. Sehr oft, wenn er von ihm in der dritten Person schreibt, folgt relativierend hinter dem Komma ein ergänzendes, den Leser irritierendes «also ich». Als Chronist seiner Zeit hat Peter Kurzeck einen beinahe mikroskopisch präzisen Blick auf die Nachkriegszeit, von der er, häufig örtlich und zeitlich abschweifend, minutiös berichtet. Seine geradezu fanatisch penible, detailgenaue Erzählweise ist eine direkte Folge seines Kampfes gegen das Vergessen, auch gegen das Verschwinden von Gewohntem, Liebgewonnenem. Diese ständige Selbst-Vergewisserung ist ein geradezu manisches Inventarisieren der Gegenwart. Bei allem chronistischem Eifer wird im Roman aber auch deutlich Gesellschaftskritik geübt, ein Anschreiben gegen immanent scheinende Verhaltensmuster zudem. Hinter den deprimierenden Beobachtungen und Erkenntnissen aber bleibt in dem assoziationsreichen Text immer auch die Hoffung erkennbar, manchmal keimt sogar Humor auf.

«Müsste nicht der Mann von Sybilles Mutter jetzt draußen vorbei? Er heißt Peter wie ich. Kommt jeden Samstag aus Oberrad in die Stadt. Einkaufen. Lottozettel. Auf der Zeil die Schaufenster. Die Sonderangebote alle Samstage und Preise vergleichen. Neue Schuhe. Jeden zweiten Samstag zum Friseur. Eine neue Jacke. Vollwaschbar. Kochfest. Trockner geeignet. Indanthren. Soll man als nächstes einen Trockner zur Jacke dazu? Aber besser bringt man sie doch in die Reinigung. Werbewoche. Dann ist es billiger. Chemische Reinigung. Kleiderpflege. Sicher ist sicher. Haarspray. Mundwasser. Niveacreme. Sonderpreis. Zwölf Paar Socken. Ein paar Jahre lang jeden Samstag ein Hemd». In diesem Duktus ist der gesamte Roman verfasst, von der ersten bis zur letzten Seite.

Der praktisch handlungslose Roman wird in einem ununterbrochenen Bewusstseinsstrom erzählt, der immer wieder in sinnfreie Assoziationen mündet. Als akribisches Protokoll seiner Zeitgenossenschaft verzichtet der Autor völlig auf Spannung zugunsten seiner zuweilen auch pathetisch geäußerten Beobachtungen. Im Stil heutiger Minimal-Kommunikation via Internet findet der Autor seinen ureigenen, unverwechselbaren Ton. Im Stakkato eilt der Text in Einzelwörtern, Satzfetzen und prädikatlosen Wortreihungen voran, dem Prinzip der permanenten Wiederholung folgend. Auch wenn ich Siegfried Unseld ausdrücklich widerspreche, der ablehnend von «Kneipenliteratur» sprach, ist diese Prosa kaum goutierbar für das Lesepublikum, wie die Rezeption überdeutlich zeigt. Es ist schlicht ein Übermaß an Langmut, das dem Leser hier abverlangt wird.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Der große Schlaf

„Der große Schlaf“ habe ich mir ausgesucht, weil ich bislang noch nichts von Raymond Chandler gelesen hatte und es ein Klassiker der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ist. Das Buch wurde 1939 vom Autor mit dem Originaltitel „The big Sleep“ veröffentlicht. 1950 wurde der Roman in Deutschland, Österreich und der Schweiz unter dem Namen „Der tiefe Schlaf“ herausgegeben.

Der Krimi spielt Ende der 30er Jahre in Los Angeles. General Sternwood bestellt den Privatdetektiv Philipp Marlowe zu sich nach Hause. Schon in diesem ersten Kapitel erfahren wir zusammen mit Marlowe, dass der General alt, sehr krank und äußerst wohlhabend ist. Die zwei Töchter Carmen und Vivienne machen durch ihren unseriösen Lebenswandel die Familie immer wieder angreifbar.

Marlowe bekommt den Auftrag, herauszufinden, wer hinter der Erpressung der jüngeren Tochter Carmen, steckt. Und damit beginnt ein komplexes Durcheinander von Motiven, Verdächtigen und Geheimnissen. Das ist nicht die erste Erpressung im Hause Sternwood. Marlowe erkennt schnell, dass keiner der Beteiligten, auch sein Auftraggeber nicht , mit offenen Karten spielt.

Die ältere Tochter Vivienne will von Marlowe Informationen über seinen Auftrag. Sie hofft, dass er nach ihrem verschollenen Mann Rusty suchen soll.

Als Marlowe dem Erpresser Geiger auf den Zahn fühlen möchte, ist dieser nicht in seiner Buchhandlung anzutreffen.

Marlowe findet eine Leiche, die aber kurz darauf wieder verschwindet. Und plötzlich entwickelt sich aus einer Erpressung, eine weitere Erpressung und es wird ein komplexer Kriminalfall mit Toten.

Mehr von der Handlung möchte ich nicht preisgeben, weil genau das beim Lesen Spaß macht: die Verwicklungen zu entwirren, oder von den Verwicklungen verwirrt, nach weiteren Hinweisen zu suchen.

Worum geht es?

Es geht um die amerikanische Gesellschaft dieser Zeit. Es geht um Prüderie. Es geht um eine Welt, die mehr Schein als Sein ist. Glücksspiel!! Es ist die Welt nach der Prohibition, die als „Noble Experiment“ von 1920 – 1933, letztlich nichts änderte. Es geht um ein Frauenbild, das den Leser in der heutigen Zeit mit einem Auge weinen und mit dem anderen Auge herzhaft lachen lässt.

Raymond Chandler hat diesen Roman, wie eine Schnitzeljagd mit einigen Sackgassen und Umleitungen, inszeniert. Nichts ist so, wie es zuerst scheint. Auch Carmen scheint auf irgendeine Art und Weise in den Fall verwickelt zu sein. Und wie sieht es mit Vivienne aus?

Die Kapitel sind nicht zu lang und die Spannung bleibt, auch durch das ständige Entschlüsseln eines Hinweises und zeitgleichen Findens einer neuen Spur, hoch!

Die Sprache ist einfach und gut zu lesen. Diese Kriminalgeschichte lebt nicht von der Handlung, sondern von der Atmosphäre des Crime Noirs.

Was macht diesen Roman zu einem Klassiker?

Dieser Kriminalroman wurde aus zuvor veröffentlichten Kurzgeschichten, „Killer in the Rain“ (erschienen 1935) und „The Curtain“ (veröffentlicht 1936), kombiniert und neu zusammengebaut.

Auch der Privatdetektiv Philipp Marlowe wurde übernommen. Dieser Ermittler ist fernab von den bis dahin erfolgreichen Detektiven, wie Sherlock Holmes. Miss Marple oder Hercule Poirot. Philipp Marlowe ermittelt in einem Los Angeles, das korrupt ist, in dem das Gesetz der Straße gilt und die Grenzen zwischen Gut und Böse nicht mehr eindeutig sind. Es ist auch die Welt des Glückspiels und des Scheins.

Der Detektiv ist desillusioniert. Er betracht das Geschehen zynisch aus einer unbeteiligten Position. Er lebt nach eigenen Gesetzen, die er konsequent einhält. Sein Verhalten gegenüber Frauen ist rücksichtslos, Er schlägt auch mal zu.

„Das blechern Glucksen kam immer noch aus ihr heraus. Ich ohrfeigte sie. Sie blinzelte und hörte auf zu glucksen. Ich ohrfeigte sie nochmal.“ S.49

Marlowe benutzt seine Schusswaffe. Er raucht und trinkt. Er ist weiblichen Reizen gegenüber immun, außer er will es zulassen.

Seine Wortwahl und Ausdrucksweise würde man heute mit dem Zusatz NO GO! Kennzeichen.

„Wer war das?“ „Miss Carmen Sternwood, Sir.“ „Sie sollten sie abstillen. Kommt mir alt genug vor.“

Das Hörbuch

Mein Hörbuch „Der große Schlaf“, in der Fassung vom 11.09.2009 wird von Christian Brückner gesprochen und wurde von Gunar Ortlepp aus dem Amerikanischen übersetzt. Diese Übersetzung wirkt auf mich schärfer, bissiger und politisch weniger korrekt.

Christian Brückner ist ein phantastischer Sprecher. Er lässt Philipp Marlowe genauso so arrogant, zynisch und abgebrüht auftreten, wie man es sich vorstellt.

Von der neuen Übersetzung gibt es bislang kein Hörbuch.

Zur Übersetzung von Frank Heibert

Wenn es möglich ist, lese ich das Buch und lasse es mir gleichzeitig vorlesen. Ich habe immer das Gefühl, dass mir das Innere des Buches dadurch mehr preisgibt. Diesmal fand ich es besonders interessant, weil ich zwei unterschiedliche Übersetzungen hatte und ich manche Passagen dadurch mehrfach las oder hörte.

Die neue Übersetzung von Frank Heibert empfand ich, wie man so schön sagt, politisch korrekter. Mein Englisch ist nicht gut genug, um zu beurteilen, ob sie näher beim Original oder entfernter vom Original ist.

Filmische Adaptionen

Der Roman, der in Los Angeles spielt, wurde zwei Mal verfilmt; 1946 hatte Humphrey Bogart die Rolle Philipp Marlowes und 1978 mit Robert Mitchum.

Meine Antwort: Dieses Buch ist ein Klassiker, weil

Dieses Buch ist ein Klassiker, weil Philipp Marlowe der Prototyp eines „Hard-boiled“ Ermittlers ist. Lediglich Sam Spade aus dem „Malteser Falken“ von Dashiell Hammitt ist ihm ebenbürtig. Bemerkenswert ist noch, dass in den filmischen Adaptionen beider Filme die Rolle des Ermittlers von Humphrey Bogart gespielt wurde.

Mit dieser Interpretation des Kriminalgenres setzte er neue Maßstäbe. Das waren keine Fälle, die durch Nachdenken und geistreiche Puzzeleien gelöst wurden. Diese Fälle wurden mit Waffen, Fäusten geradezu martialisch gelöst.

Es ist Crime Noir, in dem Frauen mehr als Zierde dienen. Die Morde geschehen nicht in britischen Herrenhäuser oder Gütern, sondern in der Großstadt, zwischen Glücksspiel und Buchläden. Erst im Laufe der Geschichte enthüllt sich Gut und Böse mit allen Variationen – 50 Shades of Grey.

Ich stellte mir beim Lesen und vor allem beim Hören die Frage, ist das Buch heute noch aktuell?

Ja! ich glaube schon. Wenn wir von der Grundstruktur ausgehen, ist es immer noch aktuell. Die individuellen Inhalte, z. B. wofür man erpressbar ist, müssten ausgetauscht werden.

Spannung und Humor dieses Romanes sind zeitlos.

Die Entrüstung über dieses chauvinistische und machohafte Verhalten Philipp Marlowes ist bis heute sicherlich gewachsen. Dennoch sollte man den Krimi mit den Augen der Zeit, in welcher er spielt, sehen.

Ich habe mir „Der große Schlaf“ ausgesucht, weil ich bislang noch nichts von Raymond Chandler gelesen hatte und es auf meiner Unbedingt-Lesen-Liste steht. Allerdings sind Chandler und ich keine Freunde geworden, auch wenn er handwerklich sehr gut ist. Ich mag sein Frauenbild überhaupt nicht und das ging mir alles ein wenig zu durcheinander. Ich mag es doch strukturierter.

Aber, wie ich immer sage, das ist eine ganz persönliche Angelegenheit! Lest selbst und schreibt eure Meinung!

Wer mehr Informationen über Raymond Chandler möchte, dem empfehle ich folgenden Link von Zauberspiegel


Genre: Crime noir, Hard-boiled Krimi, Krimi
Illustrated by Diogenes

Trotz alledem

Trotz alledem von Hannes Wader

Liedermacher Hannes Wader beginnt seine umfangreiche Lebensgeschichte mit einer charmanten Flunkerei: Er schreibe nicht gern! Wer das wirklich glaubt, kennt Wader schlecht. Denn tatsächlich verdichtet der Meister seit mehr als einem halben Jahrhundert sein Leben und seine Erfahrungen in Songtexten, die Generationen berühren. Und anhand eben dieser Liedtexte bannt Wader sein ungewöhnliches Leben auf 591 mitreißende Seiten. Weiterlesen


Genre: Autobiografie, Memoiren
Illustrated by Penguin

Kintsugi

Nicht bewältigtes, narratives Chaos

Unter den drei Debüt-Romanen auf der Shortlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises ist auch «Kintsugi» von Miku Sophie Kühmel, eine kammerspielartige Geschichte vom Zerbrechen langjähriger Beziehungen. Auf Brüche spielt schon der Buchtitel an, ‹kintsugi›, klärt das Nachwort auf, ist «das kunsthandwerk, zerbrochenes porzellan mit gold zu reparieren», wie dort in Kleinschrift? erläutert wird. Ein ästhetisches Zen-Prinzip, bei dem die Einfachheit und die Wertschätzung der Fehlerhaftigkeit im Mittelpunkt stehen, was, auf den Roman übertragen, auf die Brüche in langjährigen menschlichen Beziehungen verweist, eine ganz ähnlich schon von Goethe in seinen «Wahlverwandtschaften» thematisierte Problematik.

Das schwule Pärchen mit Max, einem charismatischen Archäologen, und Reik, einem nicht minder charismatischen und erfolgreichen Maler, beide im mittleren Alter, feiert das zwanzigjährige Bestehen seiner Beziehung in der Einsamkeit ihres kleinen Landhauses an einem See in der Uckermark. Als Gäste für das Wochenende haben sie nur den Klavierspieler Tonio eingeladen, ihren ältesten Freund, und dessen achtzehnjährige Tochter, für die sie seit ihrer Geburt liebevoll eine vaterähnliche Rolle übernommen haben. Pega, zweifache Ziehtochter also, hatte quasi drei Väter, aber keine Mutter. Sie ist das Ergebnis eines One Night Stands des damals noch völlig unerfahrenen Tonio mit einer älteren Frau, die er dann überredet hat, nicht abzutreiben und ihm das Kind zu überlassen, er wolle es allein aufziehen. Seither hat er sie nie wieder getroffen, und auch Pega kennt ihre Mutter nicht. Mit seinem Jugendfreund Reik hatte der bisexuelle Tonio früher ebenfalls eine Beziehung, bis der dann in Max seinen Partner fürs Leben gefunden hat.

Dem Figurenensemble entsprechend ist der Roman in vier Abschnitte aufgeteilt, mit jeweils einem anderen, sprachlich stimmig angelegten Ich-Erzähler, aus dessen Perspektive über das Geschehen während dieses Wochenendes und, in Rückblenden, über die gemeinsame Lebenszeit berichtet wird. Zwischen diese Kapitel eingeschoben sind jeweils kurze, drehbuchartige Szenen im Landhaus, welche die Gespräche des Quartetts beim gemeinsamen Essen zum Inhalt haben. Die Erzählung legt den Schwerpunkt auf das psychologische Geflecht des patchworkartigen Figurenensembles, welches mit seinen Makeln und Rissen in den Beziehungen Fragen und Zweifel heutiger Liebesbeziehungen und Lebenskonzepte aufwirft. Es geht dabei neben der dominanten, psychologischen Nabelschau um Sexualität, Eifersucht, Bindungsfähigkeit, Elternschaft und Karriere. Leitmotivisch für die Brüche in den Beziehungen der vier Protagonisten steht dabei das von Max in einem Wutanfall zertrümmerte, wertvolle Teeservice, über das es im letzten Satz, nach der kunstvollen Reparatur à la ‹kintsugi› heißt: «Und an den Stellen, wo die Risse waren, die Splitter, die Brüche, glänzt in verästelten Linien das Gold wie Adern aus Licht».

Die psychologische Dominanz in Miku Sophie Kühmels außerdem auch noch ziemlich redundanten Roman schmälert das Leseerlebnis erheblich, was insbesondere deshalb bedauerlich ist, weil sie ihre Figuren und deren seelische Deformationen durchaus stimmig zu beschreiben versteht. Die komplexe Konstellation der Beziehungen, – schwules Paar, kumpelhafte Vater/Tochter-Beziehung, Pegas Verführungsversuch an Max -, lassen diese spirituell aufgeladene Geschichte deutlich überkonstruiert erscheinen, weniger wäre hier mehr gewesen. Fraglich ist auch, ob man einer mutmaßlich überwiegend heterosexuellen Leserschaft die schwulen Geschlechtspraktiken derart drastisch vor Augen führen muss, wie es die junge Autorin hier tut, – aus welchen Gründen auch immer! Mit seiner ausufernden Komplexität landet dieser überambitionierte Roman, in dem alles auserzählt ist ohne jede Leerstelle, zudem adjektiv- und metaphernlastig mit einer blumigen Sprache und überladenen Symbolik, in einem nicht bewältigten, narrativen Chaos. Schade!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Mein Jahr in der Niemandsbucht

Nichts für «Lesefutterknechte»

Im riesigen Œuvre von Peter Handke stellt «Mein Jahr in der Niemandsbucht» mit dem Untertitel «Ein Märchen aus den neuen Zeiten» das Opus magnum dar. Das 1994 erschienene Buch ist autobiografisch geprägt, es beschäftigt sich mit dem mühsamen Selbstfindungsprozess eines Schriftstellers. Handke ist mit dem diesjährigen Nobelpreis geehrt worden «für ein einflussreiches Werk, das mit sprachlichem Einfallsreichtum Randbereiche und die Spezifität menschlicher Erfahrungen ausgelotet hat». Als Enfant terrible der österreichischen Literatur ist er wegen seiner politischen – um ein auf Tolstoi gemünztes Wort von Thomas Mann zu benutzen – «Riesentölpelei», die Balkankriege betreffend, erneut heftig umstritten. Was die Spannung vor der Bekanntgabe der diesmal ja zwei Preisträger anbelangt, hat Dennis Scheck erklärt, er nehme an, «dass sich Reinhard Mey in der Nähe seines Telefons aufgehalten habe», damit süffisant auf die umstrittene Preisvergabe an Bob Dylan anspielend. Rein literarisch ist Peter Handke allerdings unumstritten, er ist geradezu eine Lichtgestalt der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur, von niemandem übertroffen. Der vorliegende, als Märchen deklarierte Band aus der Mitte seiner Schaffenszeit ist ein eindrucksvoller Beleg dafür.

Gregor Keuschnig, der fiktive Ich-Erzähler, ist auf der Suche nach seinem Platz in der Welt. «Einmal in meinem Leben habe ich bis jetzt die Verwandlung erfahren», lautet der erste Satz, der verzweifelnde Held befindet sich in einer Lebens- und Schaffenskrise. In der nahen Zukunft 1997 angesiedelt, handelt es sich dabei in erster Hinsicht um ein zu schreibendes Buch, das der nahe Paris in einem Vorort allein wohnende, von seiner Frau verlassene Chronist zu schreiben gedenkt, er hat sich ein Jahr Zeit für diese Klausur über sein verfehltes Leben genommen. Als seine «Niemandsbucht» bezeichnet er das in einem Wald jenseits der Seine-Höhenzüge gelegene Tal, in dem der Österreicher sich vor Jahren ein Haus gekauft hat. In einem breit angelegten Erinnerungsprozess beschreibt der meist im Freien, an verschiedenen Plätzen im Wald sitzende Schriftsteller minutiös seine Suche nach dem Wesen der Dinge und Begebenheiten, dabei einer Ästhetik folgend, die den Prozess der Wahrnehmung als solchen im Fokus hat. Die erhabensten Momente sind für ihn die Augenblicke, in denen er sich mit dem, was er unermüdlich erschaut hat, in stillem Einklang befindet.

Im mittleren Teil dieses Buches vom Scheitern werden märchenartig die Geschichten seiner sieben auf der ganzen Welt herumstreunenden Freunde dargestellt, zu denen er auch seinen Sohn zählt. Auf die Kritik seiner Frau an seinem sehr speziellen, anspruchsvollen Schreibstil reagierte er gereizt: «Und wenn ich dann weiterwetterte gegen die Bücher, die keinen Erzähler mehr hätten, sondern einen Conférencier, gegen alle die Lesefutterknechte mit einem so aufbereiteten Stoff, dass daran mehr zu lesen bliebe, meinte sie, neidisch sei ich auch». Die Problematik dieser in sich selbst kreisenden, narrativen Form wird überreich kompensiert durch eine fast unglaubliche sprachliche Präzision, eine üppige, oft verblüffende Wortgewalt. Diese im Kern spröde Beschreibungskunst widmet sich gleichermaßen detailliert und gekonnt der Natur und den Dingen wie auch den Menschen und der Gesellschaft in ihrem Wesen, – Politik, Ökonomie oder Psyche werden dabei rigoros ausgeblendet. Letzteres aber gilt nicht für ihn selbst, als Solipsist beschäftigt er sich unablässig mit sich selbst, mit jeder noch so kleinsten Regung seines depressiv veranlagten Gemüts.

Diese Utopie des Erzählens ohne Handlung ist für den Leser ein strenges Exerzitium, in dem der langatmige Umweg das Ziel ist. Also nichts für «Lesefutterknechte», bei denen allein der Plot zählt und nicht eine Sprachkunst, welche die stimmigen Bilder im Kopf sinnlich durch Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken zu ergänzen vermag, – fürwahr eine selten anzutreffende narrative Fähigkeit!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Asterix: Die Tochter des Vercingetorix

„Hinkelsteine und Zaubertrank sind die Stützen des Wildschweinesystems“,ruft der Sohn des Dorfschmieds, Automatix, Asterix und Obelix entgegen: auch im berühmten Gallischen Dorf will eben eine neue Generation ans Ruder, die sich gegen die Ansichten der Alten zur Wehr setzt. Und wer ist für diese „Verwirrung der Gefühle“ verantwortlich? Natürlich ein Mädchen!

Prominenter Gast in Asterix’ Dorf

Adrenaline, die Tochter des Vercingetorix, wird dem kleinen gallischen Dorf an der Grenze zu den Römerlagern Babaorum, Aquarium, Laudanum und Kleinbonum anvertraut. Und wer wäre besser dazu geneigt, diese wertvolle Person zu beaufsichtigen, als das Dorf von Majestix? Adrenaline soll nämlich Julius Cäsar ausgeliefert werden und von ihm „zwangsromanisiert“ werden, eine gängige Praxis der Römer, um neue Verbündete zu gewinnen: divide et impera! Aber ein Verräter namens „Mieschtriksch“ (Vorsicht! Nomen est omen!) will sie entführen und sie den Römern ausliefern. Und noch so ein herrlicher Dialog darf hier verraten werden, denn auch die Römer haben allesamt lustige Namen: „Kurzer Zwischenstand, Rundheraus?“,frägt der Centurio seinen Offizier, dieser antwortet: „In der Schwebe, O Flocircus.“

Asterix: Adrenaline und Dopamine

Dazwischen tummeln sich wieder eine Menge Raufereien zwischen dem Schmied Automatix und dem Fischhändler Verleihnix und da es auch im gallischen Dorf bald einen Generationenwechsel geben muss natürlich auch zwischen den Söhnen der beiden.  Adrenaline ist zwar etwas älter als die Dorfjugend, aber bald schon hat sie sich einen eigenen Fluchtplan mit den Jungs des Dorfes organisiert. Sie büxt nämlich gerne aus (O-Ton). Adrenaline steht auf gotische Klamotten und spricht kein Arvernisch, da sie in Lutetia (Paris) versteckt worden war. Aber sie versteht sich dafür wunderbar mit den Piraten, deren Schiff natürlich auch in dieser Episode dem Untergang geweiht ist. Doch dann ergibt sich auch noch eine andere Mitfahrgelegenheit: Letitbix. Und schon bald gibt es eine Tochter mit Namen Dopamine und für die Gallier ein weiteres Festmahl mit einem geknebelten Troubadix und vielen gebratenen Wildschweinen.

Alles in allem ein rundes Abenteuer, das zeigt, dass das Altern zwar ein bedrohlicherer Feind ist als die Römer, aber auch eine andere Generation den Widerstand gegen diese zu übernehmen bereit ist. Sofern sie sich einige werden, die Jungen und die Alten.

Die neuen Abenteuer von Asterix sind im deutschsprachigen Raum bei Egmont Ehapa Media erscheinen. Copyright: ASTERIX®- OBELIX®- IDEFIX® / © 2019 LES EDITIONS ALBERT RENE

Jean-Yves Ferri/Didier Conrad
Die Tochter des Vercingetorix
Asterix Band 38 Goscinny/Uderzo
ISBN: 978-3-7704-3638-5
Egmont Ehapa Media Verlag

 


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Egmont Ehapa

Und der Zukunft zugewandt

Auf den Lügen aufgebaut

Antonia lebt seit zehn Jahren im Arbeitslager in Workuta. Als Kommunistin ist sie vor Hitler in die Sowjetunion geflohen, nicht in die Länder des Klassenfeindes. Und wurde wegen »Spionage« verurteilt. Ihr Mann wurde erschossen, weil er aus dem Lager ausbrach, um seine Tochter zu sehen.
1952 kommt sie frei. Als einzige Überlebende der kommunistischen Gruppe, mit der sie geflohen ist. In der DDR empfängt man sie freundlich, ihr wird eine Wohnung gestellt, sie erhält eine leitende Stellung. Die Kommunisten der SED haben ein schlechtes Gewissen.
Und sie wollen Stalins Säuberungen und Verbrechen geheimhalten. Sie muss eine Erklärung unterschreiben, dass sie niemandem erzählt, dass sie im Lager war und die Schergen der Kommunisten ihren Mann erschossen haben. Ohne Grund, in einem Verfahren, in dem es keine Verteidigung gab und das Urteil vorab feststand.
Wenn das bekannt wird, nützt es dem Klassenfeind, so die Begründung. Erzählt sie die Wahrheit, macht sie sich strafbar. Der Aufbau des Sozialismus ist auf Lügen aufgebaut. Heute würde man sagen: Fake News sind das Fundament.
Antonia glaubt weiter an den Kommunismus. Sie unterschreibt, dass sie nichts sagen wird. Und setzt sich für die neue Gesellschaft ein.
Beim Tod Stalins feiert sie mit Mithäftlingen. Und trinkt und ihr Liebhaber erfährt die Wahrheit. Die SED schlägt zu, sie landet im Knast.
Der Film greift die Lebenslügen der DDR auf. Was man sagen durfte und was nicht, was man wahrnehmen durfte und was nicht.
Die Lügen vergifteten den Staat. Sie sollten dem Sozialismus nützen und trugen doch und gerade deswegen zu seinem Untergang bei. Wer Probleme unter den Teppich kehrt, nicht über sie spricht, kann sie nicht lösen. Deshalb ist Meinungsfreiheit so eine Erfolgsstory. Und so nötig.

Großartige Schauspieler, ein hervorragendes Drehbuch und ein ebensolcher Film setzen all denen ein Denkmal, die so oft vergessen wurden. Den Kommunisten, die eine bessere Gesellschaft schaffen wollten und von dieser verraten wurden. Nicht vom Klassenfeind. Sondern von den eigenen Genossen und der eigenen Partei.
Ich gestehe, ich habe geweint, als ich aus dem Kino kam. Immerhin stamme ich auch aus der Generation 68, die den Sozialismus so verehrte. Und habe die vielen erlebt, die die Geschichte einfach nicht wahrhaben wollten, in DKP, den K-Gruppen, anderen linken Organisationen. Die in der Kneipe die Verbrechen zugaben und sie in der Öffentlichkeit und ihren Zeitungen leugneten. Und die sich heute immer noch im Verschweigen üben.

Mein Dank an die Filmemacher, die Schauspieler und alle die anderen, die zum Gelingen dieses Films beigetragen haben.

Und danke an die Tilsiter Lichtspiele, in dessen Minikino ich den Film sehen durfte!


Lavinia

Überstrapazierte Emotionslosigkeit

Den Romantitel «Lavinia» hat Dagmar Leupold, wie sie im Interview erklärte, dem Eneas-Roman des mittelalterlichen Schriftstellers Heinrich von Veldeke entlehnt. In dessen Geschichte wird die Figur der Lavinia, deren Minne in Form eines Monologs erzählt ist, einerseits als bezaubernd und rein, andererseits aber als selbstsicher und trotzig dargestellt. «Mein Roman ist sozusagen Echo auf diesen Minnemonolog», hat die Autorin erklärt.

«Wer ergründen will, muss herab» lautet beziehungsreich der erste Satz. Als Sturz durch die Zeit angelegt, enthält der Roman den «Fall» nicht nur im Wortstamm sämtlicher, rückwärts gezählter Kapitelüberschriften, beginnend mit «Überfallen» im 25. Stockwerk eines New Yorker Hochhauses und countdownartig endend bei «1. Wutanfall», sondern auch im Titelbild mit seinen senkrecht herab fallenden Buchstaben. Die solcherart Sprachspiele liebende Autorin benennt denn auch die Lebensstationen ihrer Heldin nicht mit Ortsnamen, sondern mit den Flüssen, an denen sie liegen. «Von der Lahn zum Neckar, vom Neckar zum Arno, vom Arno zum Hudson» heißt es da bei einem Resümee der Ich-Erzählerin. Das beherrschende Thema dieses Romans sind die Abgründe und Verluste im Leben von Lavinia, denen es sich zu widersetzen gilt, dargestellt als lawinenartiger – wenn mir dieses Wortspiel erlaubt ist – Rutsch durch die Zeit mit all den Spuren, die davon historisch zurückbleiben.

Gleich zu Beginn wird die Protagonistin zunächst aber erst mal von Besuchern um ihre preiswerte Sozialwohnung beneidet, mit traumhaftem «Blick über den Hudson im Westen und die Miss Liberty im Süden», sie sei ein Glückspilz, sagen alle. Dort im 25. Stock beginnt dann auch ihr Rückblick auf ein Leben, dessen berufliche Aspekte der Literatur-Wissenschaftlerin kaum Probleme bereitet haben, umso mehr aber die privaten. Dieser weit ausholende Prozess des Erinnerns schließt politische Ereignisse mit ein, die sich umso tiefer ins kollektive Gedächtnis einprägen, je stärker ihre Tragweite das Persönliche tangiert. Tiefwurzelnde Zeitgeschichte und allmählich formierte Lebensgeschichte verschmelzen hier quasi in einer Art körperlichem Prozess miteinander und bilden die Basis für den aufkeimenden und stetig anwachsenden Widerstandsgeist der Protagonistin. Als ein der Weiblichkeit gewidmeter Roman beschäftigt sich «Lavinia» mit den gefühlsmäßigen Zumutungen der ersten Liebe ebenso wie mit den folgenden, emotional bedeutungslos bleibenden, flüchtigen Liebschaften, aber natürlich auch mit der einen, der einzigen, großen Liebe. Die Pubertät der Heldin spielt sich in einem zeitbedingt prüden Umfeld ab, inmitten einer tendenziell frauenfeindlichen Gesellschaft, in der sie scheinbar unabwendbar Übergriffen der Männer ausgesetzt ist. Das setzt sich fort bis zum Schlusskapitel mit der Überschrift «Wutanfall», in dem es heißt: «Ihr Betatscher, ihr Zurauner, ihr Übergreifer. Ich suche euch heim». Die da bereits ältere Frau listet buchhalterartig in einem «Logbuch der Gewalt» all ihre Peiniger auf: den Pokneifer im Bus, den bösen ‹Onkel›, den übergriffigen Arzt, den ebenso übergriffigen Physiotherapeuten, die anzüglichen Kollegen, Chefs, Journalisten, den Busengrabscher und den geisteskranken Beinahe-Vergewaltiger in Syrakus. Als Belästigte ist sie in manche Fallen (sic!) immer wieder blindlings hinein getappt.

Erzählt wird dieser auch als Beitrag zur «Me Too»-Debatte anzusehende Roman äußerst distanziert in knappen Sätzen, in denen nicht alles ausbuchstabiert wird. Mit einem Übermaß an Andeutungen und einem permanenten Rückgriff auf das Assoziationsvermögen des Lesers, das auf gar manche schiefen Bilder trifft, wird die Lektüre ebenso erschwert wie durch die häufig eingeschobenen Minnesang-Verse aus dem 12ten Jahrhundert. Als Figur bleibt Lavinia zudem seelisch indifferent, sie verschwindet geradezu unter ihrem intellektuellen Habitus. An dieser überstrapazierten Emotionslosigkeit aber scheitert letztendlich der ganze Roman.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Jung und Jung

Gespräche mit Freunden

Geschichte ohne Fazit

Mit ihrem Debütroman «Gespräche mit Freunden» ist die Schriftstellerin Sally Rooney auf Anhieb zum Shootingstar der irischen Literatur avanciert. Sie könne nicht nachvollziehen, warum dieser ganze Hype um sie gemacht wird, hat sie erklärt. Die kürzlich erschienene deutsche Erstausgabe wurde hingegen von Feuilleton und Leserschaft deutlich weniger euphorisch aufgenommen als im englischen Sprachraum. Wie der Titel schon andeutet, handelt es sich um eine weitgehend dialogisch angelegte Erzählung, es wird also viel geredet in diesem Erstling der 28jährigen Autorin, die eine typische Vertreterin der im neuen Jahrtausend sozialisierten Millenium-Generation ist.

Der Roman wird chronologisch aus der Perspektive der 21jährigen Frances erzählt, einer Dubliner Literaturstudentin, die mit ihrer Freundin Bobbi als Schülerin mal eine lesbische Beziehung hatte. Die beiden nach wie vor geradezu symbiotisch verbundenen Studentinnen treten gemeinsam bei Spoken-Word-Events auf, wobei Frances alle Texte schreibt, während Bobbi die bessere Interpretin ist. Bei einer solchen Veranstaltung lernen sie die 37jährige Journalistin Melissa kennen, welche die Beiden anschließend spontan zu einem Drink zu sich nach Hause einlädt. Dort lernen sie ihren Mann Nick kennen, einen fünf Jahre jüngeren, charismatischen Schauspieler, der mit seiner auffallenden Präsenz auf Frances unwiderstehlich wirkt, – während Bobbi sofort mit Melissa zu flirten beginnt. Die sich andeutende Menage à Quatre ist denn auch das narrative Gerüst des Romans, der zeitweilig unter Depressionen leidende Nick und die noch jungfräuliche Frances landen im Bett und haben tollen Sex. Ob mit Melissa und Bobbi Ähnliches passiert bleibt offen. Der zweite Teil des Romans beginnt mit einer Zäsur, als Bobbi schließlich von der heimlichen Affäre mit Nick erfährt, es kommt irgendwann sogar zum offenen Bruch zwischen den beiden besten Freundinnen, die sich immer mehr entfremdet haben.

Die Adoleszenz der von Selbstzweifeln geplagten, introvertierten Ich-Erzählerin Frances steht im Mittelpunkt dieses modernen Entwicklungsromans, sie ist sich ihrer Gefühle nicht sicher. Ihre Beziehung zu Nick ist für sie ein intellektuelles Machtspiel. Er führt eine offene Ehe, hat Melissa irgendwann über seine Liaison informiert, kann von Frances aber ebenso wenig lassen wie sie von ihm. Emotional kommt sie nicht klar mit einer Situation, die nirgends hinführt, für die sich nicht mal andeutungsweise eine Lösung abzeichnet. Als Intellektuelle führen die vier Protagonisten endlose Gespräche über Literatur, Politik, Klassenunterschiede, Beziehungen, Freundschaften, Gleichberechtigung, – und über Liebe und Sex natürlich. Die sich selbst als Marxistin stilisierende Sally Rooney ist eine begnadete Rhetorikerin, die als 22Jährige den Debattier-Wettbewerb der europäischen Universitäten gewonnen hat. Entsprechend strotzt ihr für eine erklärtermaßen intellektuelle Leserschaft geschriebener, zeitgenössischer Roman geradezu von kämpferisch geführten, scharfsinnigen Diskursen.

Es sind diese endlosen Diskurse, die narrativ im Vordergrund stehen, die Figuren selbst bleiben charakterlich vage, sie irritieren oft durch ihr Verhalten in diesem komplizierten Beziehungsgeflecht. Die Autorin beschreibt detailliert dieses Verhalten, überlässt es aber dem Leser, sich in das psychische Profil der Figuren hineinzudenken, was bei Frances mit ihrem fatalen Hang zu quälendem Reflektieren schwierig ist. Die als literarische Stimme des Millennials apostrophierte Sally Rooney hat einen leicht lesbaren Roman voller Klischees vom Typ Pageturner vorgelegt, bei dem man den Eindruck hat, dass sie beim Schreiben nicht genau wusste, wohin sie den Leser denn nun eigentlich führen will. Ihre Protagonistin Frances bezeichnet an einer Stelle einen ihrer Tage als zu peinlich, um erzählt zu werden, als eine «Geschichte ohne Fazit», – der ganze Roman ist genau das, er ringt seiner uralten Thematik keine neuen Aspekte ab!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Brüder

Ein Symptom der Zeit

Mit ihrem zweiten Roman «Brüder» hat Jackie Thomae ein Epos geschrieben, das keines sein will, obwohl viele der Merkmale dafür vorhanden sind. Es ist die breit angelegte Geschichte zweier gleichaltriger, unehelich in der DDR geborener Halbbrüder mit einem gemeinsamen afrikanischen Vater, den sie nie gesehen haben. Sie wachsen getrennt auf, wissen nichts voneinander und könnten ungleicher gar nicht sein. Es ist auch die Geschichte zweier Epochen, der Zeit vor und nach der Wende in Deutschland, vor allem aber, wie die Autorin im Interview erklärt hat, eine Hommage an West-Berlin, an Leute, die keine Rassisten sind, und an Alleinerziehende. Die autobiografischen Bezüge sind also unverkennbar. «Wer das Buch liest, wird feststellen, dass meine ‹Brüder› viele Begegnungen haben, bei denen sie eben nicht diskriminiert werden. Das war mir wichtig» hat sie leicht genervt über die immergleichen Interview-Fragen hinzugefügt, und so lautet ihre Widmung denn auch «Für euch, schwarze Schafe», – und damit ist hier wirklich nicht die Hautfarbe gemeint!

Ein solches schwarzes Schaf nämlich ist in diesem zweiteilig aufgebauten Roman Mick, ein sympathischer Taugenichts, gutaussehender Womanizer und arbeitsscheuer Hedonist, für den Partyfeiern der Lebensinhalt ist, der mangels Berufsausbildung allerlei fragwürdige Geschäfte betreibt und schließlich mit zwei Freunden einen Club aufmacht. Auch als er Delia kennenlernt, eine angehende Juristin, die ihn selbstlos mit durchfüttert, ändert das nichts an seinem unsteten Leben mit seinen schrägen Kumpels. Eine leichtfertig eingefädelte Drogengeschichte nimmt beinahe ein schlimmes Ende, und Delia verlässt ihn schließlich, als sie herausbekommt, dass er sich heimlich hat sterilisieren lassen, obwohl sie sich doch so sehnlich ein Kind von ihm wünscht. Er landet ziemlich abgebrannt auf einer thailändischen Insel, beschließt dort eine radikale Wende in seinem Leben und begegnet uns am Ende als Yogalehrer wieder. Ganz anders im zweiten Romanteil Gabriel, sein von wohlhabenden Adoptiveltern großgezogener Halbbruder, ein humorloser Kontrollfreak, dessen Leben immer nach Plan verläuft. Er geht nach London, wird ein weltweit erfolgreicher Stararchitekt und führt mit Frau und lustlosem, schwierigem Sohn ein luxuriöses, straff durchorganisiertes Leben. Bis ein zu Unrecht rassistisch gedeuteter, Burnout bedingter Ausraster den Workaholic aus seinem rastlosen Leben herausreißt und er unfreiwillig eine längere Auszeit in Brasilien nehmen muss.

Beide umfänglich etwa gleichen Romanteile sind chronologisch erzählt. Der erste Teil von Mick umfasst die Jahre von 1985 bis 2000, gefolgt von einem «Intermezzo» genannten Zwischenteil über den Vater der beiden Protagonisten. Im zweiten Teil dann wechselt die Perspektive, in kurzen, getrennt erzählten Kapiteln von der Jahrtausendwende an, jeweils zwischen Gabriel und seiner Frau Fleur als Ich-Erzähler. Es folgt ein im Jahr 2017 angesiedelter Epilog, der, ohne in ein kitschiges Happy-End abzugleiten, eine Art friedlichen Showdown beschreibt.

Die Charaktere der beiden Frauen sind ebenso verschieden wie die der Männer, die auf der Suche nach ihrer Identität, nach ihrem Platz im Leben sind. Jackie Thomae enthält sich dabei aller moralischen Wertungen, vergleicht nicht die sich diametral gegenüberstehenden Wege der Halbbrüder. Sie zeigt uns, geradezu beiläufig erzählt und durchaus ironisch, ein auf bürgerlichem Niveau angesiedeltes soziales Gefüge, das spätestens nach der Wende unaufhaltsam in einen Konsumfetischismus einzumünden scheint. Ein glaubhaft beschriebenes Figurenensemble begegnet dem Leser in diesem vielschichtig angelegten Roman, der in einer lockeren, flockigen Sprache das Zeitkolorit stimmig einfängt und dabei gut unterhält. Mehr aber auch nicht, gedankliche Tiefe sucht man vergebens, Anlässe zu eigenem Weiterdenken finden sich ebenfalls keine, alles bleibt sehr oberflächlich und wirkt dadurch auch nicht nach. Ein Symptom der Zeit?

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin

Der Tätowierer von Auschwitz

Am 23. April 1942 trifft der 25-jährige Ludwig Eisenberg aus Krompachy, Slowakei, in einem verschlossenen Viehtransporter im Konzentrationslager Auschwitz ein. Sein Verbrechen: Er ist Jude. Der junge Mann hat keine Ahnung, welcher Horror ihn in den nächsten zweieinhalb Jahren in der Tötungsfabrik erwarten wird, in der rund 1,5 Millionen Leidensgenossen aus aller Herren Länder ihr Leben lassen. Doch der Junge überlebt den Holocaust, den Auschwitz symbolisiert. Ein halbes Jahrhundert später vertraut er sich der australischen Autorin Heather Morris in Melbourne an, die seine Erlebnisse unter dem Titel „Der Tätowierer von Auschwitz“ literarisch verdichtet und damit einen Weltbestseller schafft. Weiterlesen


Genre: Biographien, Liebesroman
Illustrated by Piper Verlag München

Dubliner

Debüt eines literarischen Olympiers

Zu den drei bedeutendsten Werken des irischen Jahrhundert-Schriftstellers James Joyce, der als ein Wegbereiter der literarischen Moderne gilt, zählt «Dubliner». Die im Gegensatz zu den späteren Prosawerken noch konventionell erzählte Sammlung von fünfzehn Erzählungen fand erst 1914, nach Dutzenden von Ablehnungen und sieben Jahre nach ihrer Fertigstellung, schließlich doch einen Verleger. «Meine Absicht war es, ein Kapitel der Sittengeschichte meines Landes zu schreiben, und ich habe Dublin als Schauplatz gewählt, weil mir diese Stadt das Zentrum der Paralyse zu sein schien», hat er über seine Motive geschrieben. Die autobiografisch geprägte Hassliebe zu seiner Geburtsstadt, deren Mutlosigkeit er darin beklagt und deren Beengtheit er anprangert, spiegelt sich auch in dem später geschriebenen «Ulysses» wider, einige von dessen Romanfiguren tauchen hier schon auf.

Diese Schilderungen des Lebens in Irlands Hauptstadt seien in die Themenkomplexe «Kindheit, Jugend, Reife und öffentliches Leben» gegliedert, hat der Autor erklärt, soziologisch sind sie im Milieu des unteren und mittleren Bürgertums angesiedelt. Kaum eines der Probleme und Sorgen des Großstadt-Menschen fehlt in diesem psychologischen Panoptikum: Allzu strenge Erziehung, freche Lausbubenstreiche, unerfüllte Liebe, maßlose Prahlerei, verlorene Jungfräulichkeit, unstillbares Fernweh, ausbleibender Berufserfolg, späte Eheprobleme, zerstörerische Alkoholsucht, brutale Kindsmisshandlung, selbstlose Aufopferung, beengende Konventionen, politische Intrigen, überfürsorgliche Mütter, verlogener Klerus, die unehrliche Konversation auf dem Ball dreier Jungfern schließlich, und am Ende der Tod als Resümee des Lebens in der letzten und mit Abstand längsten Erzählung. Sie ist eine Art Epilog, der Motive der vorangehenden Geschichten erneut aufnimmt. Der Tod ist es auch, der kontrapunktisch als Klammer dient in der ersten und letzten Geschichte, beim Sterben eines alten Mannes und eines Jünglings.

Als «Karikaturen» hat James Joyce die «Dubliner» bezeichnet, sein Prosadebüt sei «von einer mit Bosheit gelenkten Feder geschrieben». Auffallend ist, dass die dominante letzte dieser Erzählungen ebenso wie im «Ulysses» und in «Finnegans Wake» mit einem Ausklang endet, bei dem ein Ehepartner über den neben ihm schlafenden anderen nachdenkt, was im vorliegenden Erzählband als durchaus versöhnlich interpretierbar ist. Man könnte die chronologische Anordnung der Geschichten inhaltlich auch als theologisch determiniert deuten: Als Verfall der Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, als Exempel der sieben Todsünden Hochmut, Geiz, Wollust, Neid, Zorn, Völlerei und Trägheit, oder als Verstöße gegen Kardinaltugenden wie Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Weisheit.

Heute mag man sich wundern über die Skepsis des Autors seiner Heimatstadt und ihren Bewohnern gegenüber, die brutale Unterdrückung durch die Engländer und der erbitterte Kampf um die irische Unabhängigkeit als historischer Hintergrund machen diese Haltung jedoch verständlich. Die äußerlich handlungsarmen Geschichten mit ihren eher banalen Plots werden mit feiner Ironie aus einer skeptischen Distanz und aus wechselnden Perspektiven erzählt, oft in Form der erlebten Rede. Alle Erzählungen enden abrupt, vieles wird dabei offen gelassen, manches bleibt auch völlig unverständlich, – was dann natürlich reichlich Freiraum für die verschiedensten Interpretationen lässt. Narrativ prägend ist die detaillierte Zeichnung der vielen Figuren, deren physische Eigenschaften ebenso schonungslos – geradezu sezierend – beschrieben werden wie die jeweiligen psychischen Befindlichkeiten. Wobei sich James Joyce jedweder Moralisierung enthält, er ist der Chronist, mehr nicht. Neben der Paralyse als zentralem Thema erlebt jeder Protagonist seine ureigene Epiphanie in diesen Geschichten, – die dann seine Jämmerlichkeit offenbart. «Dubliner» ist ein idealer Einstieg in das Werk eines literarischen Olympiers!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Erzählungen
Illustrated by dtv München

Juister Mohn

Es scheint in jüngerer Zeit aus Marketinggründen spannend zu sein, wenn sich zwei im selben Gewässer fischende Autoren zusammentun, um in Gemeinschaftsarbeit einen Krimi zu schreiben. Waren es bei dem legendären Autorenpaar Maj Sjöwall und Peer Wahlöö, das den sozialkritischen Schwedenkrimi begründete, Eheleute, so finden inzwischen einander ursprünglich unbekannte Autoren über Thema und Verkaufscharts zueinander. Möglich werden derartige Experimente durch das verlagsunabhängige Publizieren und durch flexible Verlage, die beide Autoren unter Vertrag nehmen. Weiterlesen


Genre: Krimi
Illustrated by Edition M