Der am 20. Juni 1887 geborene Kurt Schwitters zählt zu den prägenden deutschen Künstlern des 20. Jahrhunderts. In Deutschland nahezu vergessen, gilt er heute vor allem in Großbritannien, wo er auf der Flucht vor den Nazis seine letzten Lebensjahre verbrachte, als anerkannter Collagist und Installationskünstler. In einem biographischen Roman schildert Autorin Ulrike Draesner feinsinnig und unterhaltsam Schwitters Jahre als Migrant im Exil.
Schwitters erfand einen braunen Hasen, der um Ecken sprang, die es nicht gab. Er erzählte vom stärksten Mann der Welt, der Frauen über das Radio schwängerte, so dass jede Dame in »deutscher Präzisionsarbeit« nach neun Monaten einen Zwerg gebar. Zu Beginn seines Auftrittes nahm er das obligatorische Hitler-Bild von der Wand, stellte es an den Rand der Bühne und forderte sein Publikum auf, den »Führer« anzuspucken. Das akzeptierte er als Applaus. Das erfährt der Leser im neuesten Buch von Ulrike Draesner.
In seinem von den Eltern geerbten Haus in Hannover, Waldhausenstraße 5, schuf er sein wohl größtes Kunstwerk, den begehbaren »MERZ-Bau«. 17 Jahre lang arbeitete er sich in dem Gebäude vom Wohnzimmer im Erdgeschoss bis zum Dach des Hauses. Schwitters verwandelte das Wohnhaus in eine begehbare Höhle, in der Menschen und auch Tiere hausten. Unter einer Drehorgel beispielsweise lebte Schweinchen Schwarz, kurz »SS« genannt, das den Klang der Musikmaschine liebte. Der Einzug einer Kuh hingegen wurde nach einem erbitterten Ehestreit aufgegeben.
Was ist MERZ?
Auf dem Theaterplatz in Hannover fischt der Künstler einen Zeitungsfetzen aus einer Regenlache. Darauf entdeckt er eine Annonce der »Kommerz- und Privatbank«. Schwitters schneidet daraus die Silbe »MERZ« aus und nutzt es für eine Collage. Auf diesen Namen tauft er dann auch seine Technik, in die er zufällig gefundene Alltagsabfälle wie Scherben, Nägel und Schnürsenkel einarbeitet. Konsequent behält er den Begriff bis zuletzt für seine Kunst bei und nennt auch sein Wohnhaus »MERZ-Bau«.
Schwitters zählt zur künstlerischen Avantgarde. Er bewegt sich als bildender Künstler auf eigenen Pfaden zwischen Expressionismus, Kubismus, Konstruktivismus und Dada. Gleichzeitig verfasst er Lyrik und Prosa, die häufig auf skurrile oder grotesk-phantastische Pointen hinauslaufen. Er spricht von »MERZ-Dichtung«. Seine Arbeit versteht er als Revolte gegen eine von Politik, Presse und Unterhaltungsindustrie missbrauchte Sprache. Er gibt eine eigene Zeitschrift namens »MERZ« heraus, verfasst Theaterstücke und das Libretto einer grotesken Oper.
Sein Gedicht »An Anna Blume« wird an Litfaßsäulen in Hannover plakatiert. Die meisten Passanten können mit seiner MERZ-Lyrik, die traditionelle lyrische Sinngebung boykottiert, wenig anfangen. Heute wird der Text als Wegbereiter der konkreten Poesie gesehen.
Schwitters in zehnjähriger Arbeit entstandene »Ursonate« wird mit ähnlichem Unverständnis aufgenommen. Dieses MERZ-Lautgedicht fußt auf seinem zuvor entstandenen Plakatgedicht »fmsbwtözäu pggiv?mü«. Es schenkt ungewöhnlichen Genuss, dem von ihm selbst gesprochenen Text zu lauschen.
Kurt Schwitters Ursonate visualisiert von Ruprecht Frieling aka Prinz Rupi
Schwitters auf der Flucht vor den Nazis
Kein Wunder, dass die Nazis sofort nach der Machtergreifung Schwitters Arbeiten als »entartete Kunst« denunzieren und die Gestapo den Künstler verfolgt. Doch Schwitters ist bis zum letzten Tag in Hannover mit seinem MERZ-Bau verbunden, so dass es mehrerer Gestapo-Heimsuchungen bedarf, um ihm die Dramatik der Situation klar zu machen.
Schwitters hat einen Raum der Erinnerung, Liebe, Verrücktheit geschaffen, eine begehbare Skulptur, die sich inzwischen über mehrere Stockwerke erstreckte. Und nun muss er gehen, denn die Gestapo lädt ihn immer wieder vor, und der 49-jährige wartet eigentlich täglich darauf, abgeholt zu werden. Dabei ist ihm klar, was ihn erwartet: brutale Quälereien, medizinische Experimente und der Tod, denn Kurt ist Epileptiker und für die Nazis damit doppelt »unwert«.
Schweren Herzens flieht der Künstler im Januar 1937 aus seiner MERZ-Burg, die ihm keinen Schutz mehr bietet. Er geht nach Norwegen, dort glaubt er sich sicher. Doch die Deutschen rücken in ihrem Blitzkrieg vor und verschlingen das Land. Im letzten Augenblick fliehen Vater und Sohn weiter nach Schottland. Dort wird Schwitters zunächst als Deutscher interniert wird, bevor er entlassen wird und schließlich nach London geht.
Draesner begleitet Schwitters ins Exil
In dieser Lebensphase setzt Ulrike Draesner mit ihrem biographischen Roman »Schwitters« ein. Die Autorin begleitet den Künstler auf seinem Weg ins Exil. Sie beschreibt diese Fahrt ins Ungewisse so dicht und einfühlsam, als habe sie Schwitters mit einer Kamera begleitet und derweil seine Gedanken gescannt. Die unvermeidbare literarische Fantasie bildet die eine Seite des Romans, auf der anderen Seite steht die Akribie der Recherche und des persönlichen Augenscheins der Autorin.
Das Besondere an Draesners Werk ist der wiederholte Perspektivwechsel. Mal erzählt sie aus der Sicht Kurt Schwitters, dann mit den Augen seiner Frau Helma. Sohn Ernst kommt ebenso zu Wort wie Kurts spätere Londoner Freundin und Geliebte Edith »Wantee« Thomas. Immer sind es blitzlichtartig ausgewählte Szenen, die von der Autorin szenisch derart genau geschildert werden, als erzähle die jeweilige Person selbst.
Ulrike Draesners Buch ist ideal für Leser, die gern tief eintauchen in die Geschichte des Genies Schwitters, die sich beim Lesen Zeit nehmen und dem Fluss der Erzählung folgen. Für staubsaugerartig Fakten aufsaugende Sachbuch-Leser ist der Roman weniger geeignet. »Schwitters« ist ein biographischer Roman, der Spielfreudigkeit und Erfindungsraum in Bezug auf die Beschreibung eines fremden Lebens demonstriert.
Die Autorin sagt dazu: »Unser Leben besteht nicht primär aus Daten und Fakten, sondern aus den Geschichten, die wir uns und anderen darüber erzählen. Schwitters´ äußeres Leben ist für mich das Gerüst für eine innere Geschichte.«
Ulrike Draesner erzählt Schwitters´ innere Geschichte mit Empathie und Bravour. Ihr Buch ist ein Highlight am spätsommerlichen Bücherhimmel.
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