Realitätsschock: Zehn Lehren aus der Gegenwart

RealitätsschockGleich in der Einleitung des Buches von Sascha Lobo steht fettgedruckt dieser Satz: „Realitätsschock in einem Satz: Plötzlich müssen wir erkennen, dass die Welt anders ist als gedacht oder erhofft.“

Die Welt scheint aus den Fugen geraten, und ist mit unserem geistigen Vermögen schwer zu erfassen. Wir werden „der Hoffnung beraubt, Politik, Wirtschaft und Eliten hätten eine gewisse Kontrolle über den Lauf der Dinge.“

Die These des Buches lautet: Digitalisierung und Globalisierung bedingen sich gegenseitig, sodass die eine Entwicklung ohne die andere nicht möglich und deswegen nicht zu verstehen wäre. Dieser Gedanke wird auf bald vierhundert Seiten in zehn (wie wir später sehen werden, eigentlich elf!) Kapiteln durch dekliniert.

Gleich eingangs entschuldigt er sich, dass er einen weiteren Entwicklungsstrang auslassen musste: die zunehmenden und für Viele überraschenden Rollen, die Frauen nun einnehmen. Dies müsse er seiner Frau, Meike Lobo, überlassen, die ein Buch darüber vorbereite, und er möchte nicht vorgreifen. Schade! Ein wenig old School, aber nicht unsympathisch für einen Ehegatten …
Er bezieht sich auf das Buch „Die Metamorphose der Welt“ von Ulrich Beck 2016 geschrieben, in dem es heißt, die Welt in der wir leben, verändert sich nicht bloß, sie befindet sich in einer Metamorphose. „… Die ewigen Gewissheiten moderner Gesellschaften brechen weg.“ Später zitiert er Beck: „Die laufende Metamorphose hängt zutiefst mit dem Konzept des Nichtwissens zusammen. Dieses Nichtwissen kann uns nicht mehr schützen, wenn wir alles Wissen, das uns zugänglich ist, aufnehmen und bedenken.“

Ich hatte beim Lesen mit den Bereichen angefangen, über die ich schon viel wusste und nachgedacht hatte. Als dabei Lobos Konzept nachvollziehbar und immer auch erfrischend war, konnte ich vertrauensvoll die mir unbekannten Bereiche lesen und staunen. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle schon anmerken, dass er das Alter meiner Kinder hat.

Beim Lesen genoss ich seine große Sachkenntnis und Erfahrung im Netz: Wer kann schon von sich im Klappentext schreiben, dass er „in Berlin und im Internet lebt“? Als Gesundheitswissenschaftlerin fand ich das Kapitel zur Gesundheit realitätsfern, es sollte überarbeitet werden.

Klima (Kapitel 1)

Klimakollaps, Plastikpanik, vegane Visionen

Das Kapitel beginnt in einem sibirischen Dorf am Barentssee, in dem hungrige Eisbären die Menschen bedrohen. Der Klimawandel, der 2018 beginnt, führt zu Verschiebungen: während die USA Temperaturen bis zu minus 50°C haben, im nahe am Pol gelegenen Russland wird es dagegen zu warm. Dadurch schwimmen für die Eisbären keine Robben mehr auf Eisschollen heran und sie müssen sich ihre Nahrung anderswo suchen, etwa in der Nähe menschlicher Behausungen. Woher wissen wir diese Zusammenhänge? Von Satellitenaufnahmen.
Das Zeitalter des Holozän mit klimatischer Stabilität ist beendet, wir leben im Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen. Der Klimaforscher Schellnhuber sagt 2019: „Wir Forscher haben gewarnt vor den Folgen des Klimawandels … und Keiner hört zu.“ Erst als die Jugendlichen der Klimabewegung das Wissen ernst nehmen, wird der Begriff „Kippelemente der Erdsysteme“ in der Öffentlichkeit wahrgenommen.

Als nächstes wird ausführlich die „Plastikpanik“ behandelt, wie die Plastik produzierende Industrie schon in den siebziger Jahren Stimmung für ihr Produkt machen (kann man immer wiederverwenden!) und die Schuld für den Plastikmüll auf die Verbraucher schiebt. Oder man soll recyceln, was aber faktisch nur in 5,6 % der Fälle geschieht.

Zeitgleich entwickeln sich digitale Medien und die Bilder von Plastik verseuchten Meeren erreichen uns. Sie zeigen, wie Produkte, die in reichen Ländern hergestellt und genutzt wurden, als Müll in die Verantwortung armer Staaten kommen, die die Probleme nicht besser lösen können. Es folgt eine Übersicht, wann einzelne Länder beispielsweise Plastiktüten verboten haben.

Seit Anfang der Zehnerjahre werden mehr Menschen „plötzlich pflanzlich.“ In Deutschland sind 2016 1,3 Millionen Menschen vegan, knapp 9 % vegetarisch. Ein Grund sind die Leiden der Tiere, aber angesichts des durch Viehzucht entstehenden Kohlendioxidüberschusses (70 % der Agrarflächen werden für die Tierproduktion verwendet!) wird zunehmend pflanzliche Ernährung als bester Ausweg gesehen.

Israel gilt als Hochburg des Veganismus, schon 2015 mit rund 5 % der Bevölkerung, die sich vegan ernährt. Beim anstehenden Wechsel der Ernährungsgewohnheiten spielen Kinder und Jugendliche eine große Rolle, auch als Mediennutzer, die ihre Eltern beeinflussen. In ihnen sieht Lobo die entscheidenden Akteure, um den Kapitalismus „ökologischer und bedingungslos nachhaltig“ zu machen.

Migration (Kapitel 2)

Massenwanderungen: Warum Migration heute ein höchst digitales Problem ist

Die UN hat ein „Predictive Analytics“ Projekt aufgebaut, das mit Daten wie Konflikteinschätzungen eine Wiederholung des „Realitätsschock von 2015“ künftig vermeiden soll. Die damalige Migration von mehr als einer Millionen Syrern wird als „Zeitenwende“ bezeichnet. Alle Parteien in der BRD fordern, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu bekämpfen, manche eher human, andere eher inhuman – hilflos sind sie alle.

Große Wanderungsbewegungen gab es immer: 90 % innerhalb von Afrika. Die Migrationsvermeidungsstrategien der Europäer denken eurozentrisch nur an die, die nach Europa wollen, in besonders erwählte Länder, zu denen Deutschland gehört.

„Wasser, Smartphone, Essen, in dieser Reihenfolge“, so beschreibt eine britische Migrationssoziologin die Prioritäten der Migranten. Sie schätzen die Möglichkeit, Kontakt zu Freunden und Familie aufrecht zu erhalten, darüber ihre Flucht zu organisieren, und Kontakte am geplanten Zielort zu finden.

Die afrikanische Migration ist eine Spätfolge des Kolonialismus; viele der europäischen Staaten hatten Kolonien in Afrika. In einem längeren Zitat eines togolesischen Kulturhistorikers schreibt er: „Kolonisierung (war) eine gewalttätige Einführung von Systemen“ … mit dem Ziel, die Länder auszubeuten. „Eine Elite führt diese Systeme weiter. In den meisten afrikanischen Ländern wird eine große Masse der Bevölkerung (von dieser Elite) im Stich gelassen … Migration und Entwicklung gehören zusammen, aber mit einer Sensibilität für die hinterlassenen Systeme der Kolonialzeit.“

Nach der Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Nationen ging es auf neue Weise weiter. Die Ermordungen afrikanischer Führer wurden, wie wir aus inzwischen freigegebenen Geheimdienstunterlagen wissen, durch die europäischen Mächte und die USA inszeniert.

Handelsbeziehungen sollen die alte Einteilung, ihr liefert die Rohstoffe und wir die Produkte, erhalten. 2014 wollte Kenia ein europäisches Freihandelsabkommen mit der Ostafrikanischen Staatengemeinschaft nicht unterzeichnen, weil es befürchtete, die heimischen Produkte hätten gegen Subventioniertes keine Chance. Darauf erhöhte die EU die Zölle für kenianische Waren (Blumen, Kaffee, Obst) um 30 %. Der Export drohte zu versiegen, und Kenia unterschrieb. Ein kenianischer Wirtschaftsexperte schätzt, dass das Land aus den durch das Handelsabkommen resultierenden EU-Importen jährlich rund 100 Millionen Euro verliert.

„Sie kommen so oder so“ und hinterlassen, gerade in Westafrika, in manchen Gegenden praktisch keine Jugendlichen mehr, die für die heimische Landwirtschaft nötig sind.

Integration (Kapitel 3) und Rechtsruck (Kapitel 4)

sind ebenfalls kenntnisreich und lesenswert. Zur Integration habe ich mir gemerkt, dass Helmut Kohl 1982 (in einem inzwischen veröffentlichtem Dokument) Frau Thatcher in London erklärte, dass es notwendig wäre, die Anzahl der in Deutschland lebenden Türken um 50 % zu reduzieren. Wir sehen dann die langsame Entwicklung auch bei der CDU, Integration steuern zu wollen, die Phasen des Multikulti, der Leitkultur, und wie der Versuch scheitert, die muslimischen Kirchenverbände mit der Integration zu betrauen. Statt der Leitkultur gälte es, Leitwerte zu vermitteln, eine Art Multikulti 2.0. „Es handelt sich um die basalen Regeln der liberalen Demokratie, die allerdings in Europa auch von lange heimischen Einwohnern nicht ausreichend ernst genommen werden.“ Diesen widmet sich das vierte Kapitel.

China (Kapitel 5)

Die chinesische Weltmaschine—Wie Chinas Gegenwart auch unsere Zukunft verändert

Das Kapitel beginnt mit der Beschreibung eines Fünfjährigen, dessen „Tigereltern“ das Einzelkind auf das Leben in einer „gesellschaftlichen Effizienzradikalität“ vorbereiten. Die meisten unter Vierzigjährigen in der wachsenden Mittelschicht glauben an das „meritokratische Wohlstandsversprechen“ und „konsumieren sich reich.“

Die Digitalisierung der Gesellschaft ist unglaublich weit fortgeschritten, finanzielle Transaktionen werden meist digital erledigt. Dieses Jahrhundert wird zum chinesischen, weil auch die westlichen Firmen ihre Produkte danach entwickeln, ob sie auf dem chinesischen Markt bestehen. Übrigens richtet auch Hollywood seine Filme danach aus. Und der Vorsprung wird in China weiter ausgebaut durch gezielte Förderung gerade der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI).

Wenn früher galt: Demokratie plus Marktwirtschaft gleich Wohlstand, scheint das chinesische Gegenmodell: Autoritäre Herrschaft plus Digitalkapitalismus gleich Wohlstand für manche überzeugender.

Im Mai 2020 liest sich der folgende Satz des 2019 erschienenen Buches prophetisch: „Ab und zu wird eine kommende chinesische Krise beschworen, und die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering. …wird eine chinesische Krise, so merkwürdig das klingt, den Rest der Welt härter treffen, als China selbst.“

Künstliche Intelligenz (Kapitel 6)

Wir nannten es Arbeit

Wie künstliche Intelligenz und Plattformen verändern, was wir unter Arbeit verstehen.

In einigen Chefetagen ist schon der Begriff der Decision making Strategie angekommen. Problem dabei, je mehr KI angewandt wird, „umso schwieriger wird es, den Sinn dahinter zu erkennen.“ Wer etwa Facebook fragt, warum ein „Inhalt im Nachrichtenstrom angezeigt wird und der andere nicht, dann ist deren einzige ehrliche Antwort: Ich weiß es nicht, das hat die KI so anhand von Nutzungsdaten entschieden.“ Ein bisschen anders als in China ist es bei uns also doch …

Gesundheit (Kapitel 7)

Digitale Körperlichkeit

Dies ist das Kapitel, welches mich zu einem zweiwöchigen Realitätsschock Detox veranlasste. Der Tenor ist: mit der Digitalisierung wird bestimmt auch in Deutschland endlich die Gesundheit besser. Die in den anderen Kapiteln durchschimmernde Systemskepsis vermisse ich hier. Bei „Wir nannten es Arbeit“ wird über die ungerechte Bezahlung verschiedener Tätigkeiten gesprochen, seit Jahrzehnten wissen wir, dass Pflegekräfte unterbezahlt sind, viele nach wenigen Jahren den Beruf aufgeben, und viele Stationen, schon lange vor Corona, unterbesetzt sind. Das in anderen Kapiteln Bearbeitete wird nicht auf das Gesundheitswesen bezogen.

Lobo stellt Erkenntnisse medizinischer Forschung dar, vor allem im Bereich der genetischen Forschung, die eine aufs Individuum angepasste Medizin erlauben. Deutschland hat sich dieser Entwicklung bisher eher verweigert. „Wir wohnen der Entstehung unseres zweiten Körpers bei.“ Und der ist digital. Die Vermessung des Körpers läuft inzwischen bei „hunderte(n) Millionen Menschen“ und Lobo begrüßt, dass einige davon sinnvoll verknüpft werden können. Er hofft: „Eine digitale Kultur der Offenheit (gegenüber etwa psychischen Erkrankungen) ist im Netz entstanden, und sie betrifft auch das Körperliche.“ Wie soll die mögliche Diskriminierung von Menschen, deren Genom sie für Erkrankungen (etwa psychische) prädestiniert, verhindert werden? „Wir brauchen gesellschaftliche, regulatorische, politische und auch technische Antworten auf die Fragen, die sich daraus ergeben.“

Nicht nur Gesundheitswissenschaftler wissen, dass es in Deutschland eine Unterversorgung bei der sprechenden Medizin gibt, eine Überversorgung bei operativen Eingriffen, weil diese besser bezahlt werden. Da geht es um Macht und viel Geld. Wessen Interessen werden „Antworten auf die Fragen“ entsprechen. Stattdessen wünscht er: „Irgendwann werden physischer und digitaler Körper wieder eins.“ Und wo bleibt die Seele?

Noch bedenklicher sein Schluss: Die Kosten-Nutzen-Rechnung des deutschen Gesundheitswesens ist mies. Warum? Wegen der mangelhaften Digitalisierung. Erst wenn die kommt, wäre das deutsche Gesundheitswesen „ausreichend effizient.“

Soziale Medien (Kapitel 8)

Fun und ein Stahlbad

Wir erfahren, wie ein junger Mann, mit Spitznamen „Drachenlord“ von der Medienmeute fertig gemacht wurde. An einem Augusttag kamen in sein kleines fränkisches Dorf 800 Menschen, um ihn zu belagern, traten die Türen ein und legten einen Brand, sodass er mit Hilfe von Polizei und Feuerwehr geschützt werden musste. Was hatte er verbrochen? Im Netz seine eigenwilligen Meinungen vertreten. Dazu wurde er provoziert. Ein Beispiel: Er wurde von einer Frau dazu verführt, dass er ihr seine Liebe gestand, worauf sie dies Hunderten Interessierten mitteilte. Ihr Freund, auch ein Youtuber, hat alles aufgenommen und ins Netz gestellt.

Nachbarn rieten ihm, mit dem Posten aufzuhören, aber er sieht es als sein Recht an, weiterzumachen. An diesem Punkt wurde mir als alter weißer Frau etwas klar: Sascha Lobo hat ein Verständnis für dessen Weitermachen entwickelt, das mir fehlt. Als wenn es ein Recht gäbe, auf Provokationen hereinzufallen! Sein Zitat dazu: „Solche Ratschläge beruhen auf der Selbstverständlichkeit einer Zeit, in der man noch die Wahl hatte, ob man ins Netz geht oder nicht. Diese Zeit ist für die meisten jüngeren Menschen vorbei.“ Der Drachenlord lebt auch von den Werbeeinnahmen, die er, wie viele Youtuber auch, ausgezahlt bekommt.

Wir lernen viel über Cybermobbing: In den USA gab es Selbstmorde von überlebenden Schülern nach Schulschießereien, oder auch von Eltern getöteter Schüler. Es war verbreitet worden, die Massaker hätten gar nicht stattgefunden, sondern seien vom „tiefen Staat“, also den Behörden, selbst inszeniert. Die rechtsgerichteten Provokateure, die auch der Waffenindustrie nahestehen, unterstellten, die Trauernden seien Krisenschauspieler, die vom Staat bezahlt und von der „Lügenpresse“ über nicht stattgefundene Schießereien interviewt worden waren.

Gamegater sind Gruppen, die gerne ihre Spiele austauschen und einen Hass auf Frauen pflegen, und gespielt verfolgen, indem sie Intimes, auch Erfundenes, verbreiten.

In diesem Zusammenhang lernen wir die Besonderheiten von Twitter kennen. “Twitter ist ein großartiger Ort, um der Welt mitzuteilen, was man denkt, noch bevor man darüber nachgedacht hat.“ Wie funktioniert ein Hashtag, wie werde ich als Twitterin Teil eines Shitstorms, ohne es zu wissen?

Die enge Beziehung zwischen Fake News und Verschwörungstheorien (Traumpaar) wird an harmlosen Beispielen (der Mond ist aus Käse, oder die Erde ist eine Scheibe) gezeigt. Mit welchem Algorithmus („lernender Empfehlungsalgorithmus“) wird beim Autoplay bei Google der nächste Film ausgewählt, der mich als Nutzerin mit weiteren Beweisen für die angesprochene Theorie überzeugen soll. „Bei frisch zur Verschwörungstheorie Konvertierten handelt es sich um das absolute Traumpublikum von Youtube.“

Gefährlicher ist die Verwendung zur Rekrutierung von Islamisten, oder die Verbrechen der Militärs in Myanmar gegenüber den Rohingyas. Erst vier Jahre nach Vorwürfen, dass über Facebook die herrschende (buddhistische) Elite Greueltaten der (muslimischen) Rohingyas vorgetäuscht hatten, reagiert Facebook: Für die siebenstellige Zahl der Nutzer in Myanmar wird eine Task Force für die Überprüfung von Hassreden in der Landessprache gebildet: „Die Zahl der Mitarbeiter der Task Force: eins.“ Das Unternehmen Facebook hat im Jahr 2018 übrigens 55 Milliarden Dollar mit Werbung eingenommen.

Zukunft (10.) Kapitel

Die Weisheit der Jugend

Warum die Älteren von den Jungen lernen müssen, um den Realitätsschock zu bewältigen

Ein schönes Kapitel: Es werden die bekannten Aktivitäten dargestellt, mit der Zuversicht, dass sie dem Erhalt der Erde dienen, mit einem Schlusswort von Greta.

Zum elften Kapitel, das auch lesenswert ist, kommen wir über einen QR Code, im Anhang des Buches. Der soll aber nicht im Netz verbreitet werden, darüber wird Buchfluch ausgesprochen. „Ihnen möge für den Rest der Tage stets im unpassenden Moment der Handyakku leer sein.“ Ein Tipp für diejenigen, die länger auf die € 22 sparen müssten: Man kann das Buch auch in der Stadtbücherei ausleihen! Es lohnt sich!

Fazit: Schockierend realistisch, das Gesundheitskapitel noch mal überarbeiten!


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch, Umwelt
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Herrmann

Herrmann. Der Studienabbrecher Herrmann (mit zwei r und zwei n) hat sein halbes Leben als Bereichsleiter in seiner Firma verbracht: 22 Jahre, vierte Managementebene. Sein Gegenentwurf ist sein Freund Orban, der nach Auslandsaufenthalten eine Laufbahn im Bankwesen einschlug. Aber seit der jüngsten Bankenkrise gäbe es auch an Bankern nichts mehr zu bewundern, wie Herrmann lakonisch kommentiert. Dreißig Jahre lang haben sie sich nicht mehr gesehen.

Herrmann oder Überdosis Fürsorge

Das komplizierte Beziehungsgeflecht, das die Autorin im nach ihrem Protagonisten benannten Roman entwirft, ist von der sog. Midlifecrisis geprägt, denn alle seine Kollegen und Freunde – weiblich oder männlich – befinden sich in so einer. Herrmann ist von Rieke getrennt und lebt allein. Aber er geht gerne in die Natur, denn dort fühlt er sich sehr wohl. Oder beim Hirschragout von der Mutter. Als er endlich umzieht – auf die andere Straßenseite – wird Herrmann „von der Vorstellung verfolgt, in seinen eigenen Wänden wobei auch immer ertappt zu werden“. Die behütete Obhut seiner Familie ist im Grunde genauso ein Gefängnis wie sein Job. So beschließt er etwa zu Hause immer Pyjama zu tragen, was beim Abendessen bei der Mutter aber wieder zum Gesprächsthema führt, worin seine Mutter ihm die Schlafanzüge seines Vaters und Großvaters antragen wird: Eine Qualität, die man heute gar nicht mehr erzeuge, so seine Mutter. „Denken durfte er, was er wollte, aber eines Tages würde das zunehmend unberechenbare Getöse in seinem Kopf der Außenwelt zu Ohren kommen“.

Der Baron, der Blade und der Behinderte

Würde er der Familie den Zutritt verwehren, allein sein, seine Ruhe haben wollen, die Familie würde ihn für krank oder gefährdet halten und umso entschlossener vordringen, den Cousin herbeirufen und ab sofort auch Orban.“ „Going postal“ nannte man die zwischen 1986 und 1997 in den Postämtern der USA sich häufenden Amokläufe, erklärt die Autorin in einem weiteren Einschub, den sie auch schon zur Jägersprache – nicht Jägerlatein – machte. Diese Maladie würde durch Stress bei der Arbeit ausgelöst werden, ein Umstand von dem Herrmann wohl nur träumen kann. Herrmann teilt eben das Schicksal vieler Mitvierziger: „Die saure Übelkeit in der Kehle überraschte ihn nicht, wenn er sich nicht leiden konnte, schlug ihm das auf den Magen, ihm wurde sozusagen von sich selber schlecht.“ An einer Stelle bringt die Autorin das soziale Leben ihres Protagonisten auf den Punkt: „Der Baron, der Blade und der Behinderte“ schreibt sie in Anlehnung an Sergio Leones Westernklassiker „The Good, the Bad and the Ugly“.

Bettina Gärtner, die 1962 in Frankfurt am Main geboren, aber seit frühester Kindheit in Wien lebende, hat eine Milieustudie verfasst, die den Protagonisten Herrmann vom Herrmanngefühl zum Fuchsgefühl führt. Die Zwischenkapitel Myokarditis, Blutdruck, Logbuch PRO, Jägersprache, Going Posta, Liedgut I , Blaze und Liedgut II wurden dem Internet entnommen und teilredigiert. An den Textpassagen sei nichts erfunden, ihre Bearbeitung und Zusammenstellung im Hinblick auf Lesbarkeit, Scheinrelevanz und Unterhaltungswert seien Authentizitätsfake (Hervorhebung durch BG) im Sinne der Fiktion. „Die meisten Vorboten erkennt man erst im Nachhinein“.

Bettina Gärtner
Herrmann. Roman
2020, Hardcover, 288 Seiten
ISBN: 9783990590485
Literaturverlag Droschl


Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Middlemarch

Der Weg ist das Ziel

In Deutschland bis heute weitgehend unbekannt geblieben ist «Middelmarch», das 1871/72 in acht Fortsetzungen unter dem Pseudonym George Eliot erschienene Opus magnum von Mary Anne Evans mit dem Untertitel «Eine Studie über das Leben in der Provinz». Zum zweihundertsten Geburtstag der englischen Schriftstellerin sind 2019 gleich zwei Neuübersetzungen dieses nach Meinung von 82 internationalen Literatur-Experten bedeutendsten britischen Romans erschienen, was manchen Leser denn doch animieren dürfte, sich an die Lektüre dieses berühmten, dickleibigen Klassikers der Weltliteratur heranzumachen.

Handlungsort der mehrsträngig erzählten Geschichte ist die titelgebende, fiktive Kleinstadt Middelmarch, Erzählzeit der Beginn der Industrialisierung im ersten Drittel des 19ten Jahrhunderts. In einem familiär eng verflochtenen Figurenensemble werden vor allem die Beziehungen der verschiedenen Charaktere untereinander thematisiert, wobei dem Individuum hier übermächtig die rigide viktorianische Gesellschaft gegenübersteht, an der viele scheitern. Besonders Liebesnöte und unglückliche Ehen nehmen dabei einen breiten Raum ein, aber auch ökonomische, politische und soziale Aspekte werden im historischen Kontext äußerst facettenreich beleuchtet. Es beginnt mit der schönen Dorothea, die zum Entsetzen der Familie und gegen alle Vernunft einen doppelt so alten, verschrobenen Theologen heiratet und erwartungsgemäß in einem albtraumartigen Ehedrama landet, aus dem sie nur der frühe Tod ihres drögen Mannes errettet. Scheitern muss auch der zweite Protagonist, der ehrgeizige, aber mittellose Landarzt Lydgate, der die verwöhnte Tochter des Bürgermeisters ehelicht, sich in Schulden stürzt und schließlich resigniert alle wissenschaftlichen Ambitionen aufgeben muss. Er geht nach London und wird dort widerwillig Modearzt, um seiner Frau das komfortable Leben bieten zu können, auf das sie Anspruch zu haben meint.

Größte Stärke dieses grandiosen Gesellschaftsromans sind seine psychologisch tiefgründigen Charakterstudien. Das üppige Figuren-Ensemble besteht aus diversen ebenso liebevoll wie ironisch beschriebenen Archetypen, von denen viele ebenfalls scheitern. Den frömmelnden, unredlichen Bankier zum Beispiel holt seine fragwürdige Vergangenheit ein, gesellschaftlich geächtet muss er Middelmarch verlassen. Ein fauler Tunichtgut muss erkennen, dass er keine Chance hat, seine Liebste zu ehelichen, wenn er sein unstetes Lotterleben nicht radikal ändert, – was er dann notgedrungen auch tut. Amüsanteste Figur ist Mrs. Cadwallader, die gleich zu Beginn in einer köstlichen Szene versucht, die sich abzeichnende Mesalliance von Dorothea im letzten Moment doch noch zu verhindern. Der Nachbar, Pfarrer Farebrother, verkörpert den grundgütigen, selbstlosen Menschen, der sich immer wieder helfend und schlichtend einbringt in den intrigenreichen Mikrokosmos dieses Romans, der von naiver Religiosität, Standesdünkel und doppelter Moral geprägt ist, die ständig neue menschliche Schwächen offenbaren.

Unübersehbar ist bei alledem die kritische, feministische Sichtweise der Autorin, die ja schon damit beginnt, dass sie unter einem männlichen Pseudonym veröffentlichen musste, um literarisch ernst genommen zu werden. Die Frauen in diesem viktorianischen Epos sind allesamt ungebildete Weibchen, dem Manne untertan. Häufig schweift George Eliot zu kontemplativen Exkursionen über politische, künstlerische, philosophische und auch wissenschaftliche Themen ab. In ihrem komplexen Handlungsgeflecht nimmt dabei auch die Medizin breiten Raum ein und zeugt von ihren erstaunlichen Kenntnissen auf diesem Gebiet. Zum Lesegenuss des intellektuell äußerst anspruchsvollen und raffiniert konstruierten Romans trägt nicht wenig auch die kongeniale Übersetzung von Melanie Walz bei, in der subtil der köstliche englische Humor zum Tragen kommt. Die mehr als zwölfhundert Buchseiten vergehen somit wie im Fluge, denn auch hier gilt mal wieder: «Der Weg ist das Ziel».

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Micky Maus 11/20

In der 2. Zeitreisegeschichte “Newtons Apfel” besucht Donald Duck Sir Isaac Newton im Jahr 1665. Donald ärgert sich über die schlechte Platzierung seines Technik-Blogs und hofft, durch ein Interview mit Newton die Beliebtheit seines Blogs zu steigern. Da er Dussel mitnimmt, gerät die Sache etwas außer Kontrolle. Aber Dussels Anwesenheit ist auch entscheidend für Newtons berühmte Entdeckung der Schwerkraft.

“Alles in einem Bild” zeigt, dass moderne Kunst v.a. im Auge des Betrachters liegt. Klarabella schenkt ihrem Rudi ein Bild, in dem jede(r) etwas anderes sieht. Um der Bedeutung des Bildes auf die Spur zu kommen, beschließen Minnie und Klarabella, den Künstler höchstselbst zu fragen.

In Donalds “Heldentraum” mimt der notorische Pechvogel einen wackeren Recken, der seine geliebte Daisinde aus den Klauen des berüchtigten Graf Gustav des Glücklichen befreien will. Leider heißt dessen Domizil nicht umsonst “Burg Drachensteyn”.

“Raffiniert programmiert” ist mit Stellas Hilfe Daniel Düsentriebs neues Ninja-Spiel mit VR-Brille. Stella selbst mimt aber in der Schule die Tolpatschige, da sie in ihrer alten Schule wegen ihres Intellekts gemobbt wurde.Tick, Trick und Track überzeugen sie, dass sie sich nicht länger verstellen muss.

“Ein Unglückstag” für Dagobert Duck: Eigentlich will er nur seinen Geldsack unbehelligt von den Panzerknackern zur Bank tragen. Daniel Düsentrieb soll ihm dabei helfen. Aber dessen Unsichtbarkeitsspray hat so seine Tücken.

Wie in den anderen Heften auch unterhalten sowohl die kurzen als auch die längeren Comicgeschichten kleine als auch größere Leser/innen gut – und sie vermitteln nebenbei ein wenig Hintergrundwissen z.B. über Isaac Newton.

Sehr humorvoll wird außerdem Sinn und Unsinn von moderner Kunst hinterfragt und dabei prima gezeigt, dass Realität subjektiv ist: Sie ist das, was Sinne und Hirn eines jeden einzelnen daraus machen.

Angeschnitten wird auch ein Thema, dass jede(r) aus seiner eigenen Schulzeit und auch im sonstigen Leben kennen dürfte: Außenseitertum und damit einher gehend Mobbing. Das Gegenmittel wird gleich mitgeliefert: Toleranz, Akzeptanz und die Anerkennung der Stärken eines Menschen. Jede(r) darf so sein, wie sie/er ist.

Schön auch wieder die kurzen Infos auf jeder Doppelseite z.B. über den internationalen Museumstag oder den “Dark Day”, die verständlich Wissen vermitteln. Rätselcomics, Witze, Experimente und ein Extra runden das Bild ab. Als Extra gibt es diesmal einen Blaster mit Schwertmodus. Zielgenauigkeit lässt sich zwar trefflich mit diesem Spielzeug trainieren, aber ob man dazu unbedingt Kriegsspielzeug braucht, sei einmal dahingestellt. Davon abgesehen ist ein solches Spielzeug nicht unbedingt elternfreundlich – Eltern wissen, was ich meine.

Das Magazin richtet sich vorwiegend an Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, ist aber auch für größere Fans interessant, weil die Comics mit Anspielungen aufwarten. Es erscheint alle 2 Wochen.


Genre: Comics
Illustrated by Egmont Ehapa

Der Fetzen: Roman

Als alle Charlie sein wollten

Das Leben des französischen Journalisten Philippe Lançon, der für die Tageszeitung „Libération“ und das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ schreibt, veränderte sich am 7. Januar 2015 auf fundamentale Art und Weise: Am Morgen jenes Tages verübt die Organisation „Al-Quaida im Jemen“ einen Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris. Sie töten elf Menschen und verletzen mehrere.

Philippe Lançon überlebte den Anschlag nur knapp und wurde an Händen und Armen schwer verletzt – vor allem aber im Gesicht. Sein Mund und sein kompletter Unterkiefer wurden weggeschossen, übrig blieb ein klaffendes Loch. Er muss sich 17 Operationen unterziehen. Fast das gesamte Jahr 2015 verbrachte er in der Chirurgie des Hôpital de la Pitié-Salpêtrière und zur Anschlussheilbehandlung im Hôpital des Invalides.

„Der Fetzen“ beginnt mit drei hinführenden Kapiteln („Was ihr wollt“, „Fliegender Teppich“, „Die Konferenz“) und kommt dann zur Sache selbst: eine detaillierte Beschreibung des 7. Januar 2015, der Tag des Attentats. Es war ein Jazzbuch, das Philippe das Leben gerettet hat. Philippe wollte eigentlich schon aufbrechen, doch er blieb noch zwei Minuten stehen, um dem Comiczeichner Jean Cabut – der beim Anschlag ermordet wurde – ein neues Jazzbuch zu zeigen:

„Wenn ich nicht stehengeblieben wäre, um es ihm zu zeigen, wäre ich zwei Minuten früher gegangen und, ich habe es hundertfach durchgerechnet, im Flur oder im Treppenhaus auf die beiden Mörder gestoßen. Sie hätten mir wahrscheinlich eine Kugel oder mehrere in den Kopf gejagt, und ich wäre den anderen Palinuri, meinen Gefährten, ans Ufer der grausamen Bewohner und in die einzig existierende Hölle gefolgt; die, in der man nicht mehr lebt“ (Seite 74f.).

Der Roman endet in den Novembertagen 2015, als Philippe die erste USA-Reise seit dem Anschlag unternimmt. In New York erreichen in die Berichte von den Anschlägen vom 13. November 2015 des sog. „Islamischen Staates“ (IS) in Paris, bei denen 130 Menschen getötet und mehr als 680 verletzt wurden. Seine Chirurgin Chloé, die weiß, dass Philippe gerade nicht in Frankreich weilt, schreibt ihm eine SMS um ein Uhr morgens:

„Ich bin froh, Sie weit weg zu wissen. Kommen Sie nicht so bald wieder“ (Seite 548).

Mit dieser SMS endet der Roman von Philippe Lançon.

Zum Zeitpunkt des Anschlages im Jahr 2015 war Charlie Hebdo eine Zeitschrift, die eigentlich bereits am Ende war, Philippe spricht offen vom „Niedergang“ – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Dieser Rückblick auf die Zeit vor 2015 ist wichtig, denn der nach dem Anschlag entstehende Hype unter dem Slogan „Ich bin Charlie“ kommt nicht ganz ohne Heuchelei aus. Philippe erläutert, dass „Charlie Hebdo“ bis zur Affäre um die Mohammed-Karikaturen um Jahr 2006 eine maßgebliche Rolle in der Kulturlandschaft gespielt hat. Doch danach distanzierten sich die meisten Zeitungen von der Wochenzeitschrift, weil sie die Mohammed-Karikaturen veröffentlich hatte. Die Zeitung wurde um ihre Stammleserschaft gebracht. Entsprechend deutlich waren die Worte von Philippe:

„Abwechselnd kam man sich vor wie in einer Teestube oder in der Replik einer stalinistischen Zell. Diese fehlende Solidarität war nicht nur eine berufliche und moralische Schande. Indem sie Charlie isolierte und anprangerte, machte sie die Zeitung zu einer Zielscheibe der Islamisten“ (Seite 65).

Man kann durchaus die These vertreten: Hätte es den Anschlag nicht gegeben, es würde „Charlie Hebdo“ heute nicht mehr geben. Der Anschlag veränderte alles – auch die betriebswirtschaftliche, ökonomische Situation der Wochenzeitschrift:

„Am 7. Januar 2015 gegen 10 Uhr 30 waren in Frankreich nicht viele Leute Charlie“ (Seite 66).

Nur wenige Minuten später kam es zu einer radikalen Veränderung. Viele wollten Charlie sein.

Zwei Leben

Die fundamentale Art und Weise, auf die sich das Leben von Philippe durch den Anschlag veränderte besteht darin: der alte Philippe ist tot. Der 7. Januar 2015 war die „Stunde Null“ für Philippe. Seine alte Identität war weggefetzt worden. Sehr detailliert beschreibt er das Attentat und die unmittelbaren Minuten und Stunden danach. Es sind jene Bilder, die sich durch den Rest des Buches hindurchziehen. In seiner eigenen Blutlache liegend setzt sich der Anblick seines Kollegen und Freundes Bernard in seinen Gedanken fest, der tot auf dem Bauch lag und dessen Gehirn aus dem Schäden hervorquoll:

„Bernard ist tot, sagt mir derjenige, der ich war, und ich antwortete, ja, er ist tot, und genau hier wurden wir eins, an jenem Punkt, an dem dieses Gehirn hervorquoll, das ich am liebsten wieder in den Schädel zurückgestopft hätte und von dem ich mich nicht mehr losreißen konnte, denn seinetwegen habe ich in diesem Moment endlich gespürt und begriffen, dass etwas nicht rückgängig zu Machendes geschehen war“ (Seite 87).

Ist der neue Philippe ein Opfer? Ist er ein Held?

Ein Krankenpfleger sagt einmal zu Philippe, dass es nun in seiner Familie einen Helden gebe (Seite 196). Doch Philippe beschreibt, dass er sich nicht als Held fühlt und sich gleichzeitig schämt, die ihm von den Umständen zugewiesene Rolle nicht spielen zu können. Er gibt offen zu, dass er die typischen Schuldgefühle des Patienten habe. Er ist in allem abhängig und kann nicht einmal die Abhängigkeit kontrollieren. Eine besondere Abhängigkeit durchzieht sich im ganzen Roman zu seiner Chirurgin Chloé, die seinen neuen Unterkiefer gemacht hat. Chloé wird von Philippe idealisiert – oft stellt der Leser sich die Frage: Hat sich Philippe in Chloé verliebt? Doch diese Romantik bleibt uns Lesern dankenswerter Weise erspart.

Philippes Buch ist weder eine Heldengeschichte noch die Anklageschrift eines Opfers. Philippe ist Überlebender. Sein neuer Unterkiefer, den er ab sofort „Schnitzel“ nennt, wird mühsam aus einem seiner Wadenbeine rekonstruiert.

Bereits sieben Tage nach dem Attentat veröffentlicht Philippe einen Beitrag in „Libération“. Zum ersten Mal in seiner damals dreißigjährigen Berufstätigkeit berichtete er in einer Zeitung über sich selbst. Nicht zuletzt diese Zeilen sind eine sehr lohnenswerte Lektüre, denn sie erinnern uns an den Wert der Pressefreiheit:

„Dieses Attentat hat mir in Erinnerung gerufen, wenn nicht erst entschlossen, weshalb ich meinen Beruf bei diesen beiden Zeitungen ausübe – weil ich die Freiheit hochhalte und für sie eintreten möchte, in Form von Nachrichten oder Karikaturen, in guter Gesellschaft und in allen möglichen Formen, die, selbst wenn sie missraten sind, kein Urteil verdienen“ (Seite 215).

Philippe hat diese Freiheit mit dem Drittel seines Gesichts bezahlt.

Rekonstruktion durch Literatur: Kann Literatur wirklich Leben retten?

Das Ziel von „Der Fetzen“ ist eine Rekonstruktion in einem doppelten Sinne. Zum einen geht es für Philippe darum, dem Leser und dem „neuen Philippe“ nachzuzeichnen, wie sein Unterkiefer mühsam aus seiner Wade („Sekundärtransplantation“) rekonstruiert. wird. Zum anderen geht es für Philippe aber um eine viel tiefergehende Rekonstruktion, nämlich die bereits angedeutete, seelische und geistige Rekonstruktion als neuer Philippe.

Damit die seelische und geistige Rekonstruktion als neuer Philippe gelingt, schreibt er diesen Roman. Literatur hat ihm das Leben gerettet. Um zu verstehen, wie Literatur wirklich Leben retten kann, bringen wir kurz Denis Scheck ins Spiel: In seinem „Vorwort zu einem frivolen Unternehmen“ zu seinem „Kanon“ über die „100 wichtigsten Werke der Weltliteratur“ berichtet Denis Scheck über ein Gespräch mit Stefan Raab. Raab gilt als sehr belesen, liest keine Belletristik. Raab stellte Scheck die kritische Frage, warum solle er sich denn mit Literatur aufhalten solle und nie begriffen habe, weshalb er sich für erfundene Probleme erfundener Figuren interessieren müsse. Für Scheck gibt es keinen Zweifel daran, dass wir nur lesend die Welt verstehen und uns in ihr zurechtfinden können:

„Im Spiel der Kunst, nicht zuletzt im Gedankenspiel der Literatur entwickeln wir jene Systeme der Wahrnehmung, unserer moralischen Werte und ethischen Orientierung, die es uns erlauben, uns in dieser Welt zurechtzufinden. Nur lesend verstehen wir diese Welt – und fühlen uns sogar gelegentlich von der Welt verstanden“ (Quelle: Denis Scheck 2019: Schecks Kanon. Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur von „Krieg und Frieden“ bis „Tim und Strupi“, München: Piper, Seite 8).

Weit über das Verstehen der Welt hinaus hat die Literatur das Potenzial, Leben zu retten:

„Literatur hat mir das Leben gerettet. Oft. Literatur hat mich beschützt und bewahrt, aber auch ausgesetzt und aus der Passivität ins Leben gestoßen“ (Seite 9).

Literatur und vor allem sein Dialog mit einer riesigen Werkgeschichte hat Philippe nicht das Leben gerettet. Der alte Philippe ist tot. Literatur hat das Leben des neuen Philippe gerettet. Es war eine Rettung durch Verwandlung. Dass dieser Prozess der Verwandlung in den neuen Philippe sehr schwierig war, veranschaulicht er unter anderem mit der Hilfe von Marcel Proust:

„Nichts ist schmerzlicher als dieser Gegensatz zwischen der Verwandlung der Menschen und der Starrheit der Erinnerung, wenn wir begreifen, dass das, was in unserem Gedächtnis so viel Frische bewahrt hat, im Leben keine Frische haben kann“ (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, zitiert Seite 406).

Für Philippe war die Identitätssuche als neuer Philippe auch deshalb so schwer, weil er die Beständigkeit der Menschen nicht ertragen konnte, die ihn im Krankenhaus besuchten – unter anderem der damalige Staatspräsident François Hollande. Seine Besucher steckten  für immer in den Tagen vor dem 7. Januar 2005 fest. Doch diese Zeit gibt es für Philippe nicht mehr. Der neue Philippe lebt weder die verlorene noch die wiedergefundene Zeit; er lebt die unterbrochene Zeit.

Literatur gibt jedem nicht nur das richtige Gefühl, sondern auch die richtige Orientierung: Du bist nicht alleine. Wir sind alle Opfer. Wir sind alle Helden. Jeder führt große Armeen an. Literatur liefert Verständnis. Literatur befriedigt Bedürfnisse. Literatur macht jeden zum Erwachsenen. Jeder ist ein Dichter. Jeder erobert Königreiche. Literatur lässt den Einsamen nicht alleine. Literatur ist Flucht in die Realität. Wir sind alle Verlierer. Wir sind alle Königskinder.

„Karussell der prophetischen oder didaktischen Kommentare“

In jedem Buch gibt es die persönliche Lieblingsstelle. Meine Lieblingsstelle ist jene Passage, auf die ich gewartet habe. Jene, in der Philippe über den „Sinn“ des Anschlags nachdenkt, Genauer: Über die Frage der (moralischen) Legitimität von politisch motivierter Gewalt bzw. „Terrorismus“ – diesen Begriff verwendet Philippe sehr sparsam. Es ist die einzige Stelle im ganzen Buch, in der Philippe diese Thema anschneidet:

„Ich las praktisch keine Zeitungen, hatte immer noch kein Fernsehen abonniert, und das Radio langweilte mich wie das in den Tiefen eines Sees brummende Geräusch eines Außenbordmotors. Als ich in einer Wochenzeitschrift, die mir jemand mitgebracht hatte, das Interview mit einem französischen Intellektuellen las, der nicht nur mit der Gewalt liebäugelte, sondern von deren inspirierenden und revolutionären Potenzial sichtlich fasziniert war, bestätigte das meinen Reflex – denn man kann es weder Willen noch Überlegung nennen -, das Karussell der prophetischen oder didaktischen Kommentare zu fliehen. Das Denken hatte etwas Skrupelloses, wenn es dem Ereignis, dem es unterworfen war, einen unmittelbaren Sinn zuschrieb. Die Fliege schwang sich zum Adler auf, nur war das keine Fabel, sondern die Wirklichkeit, die triste Wirklichkeit des intellektuellen Hochmuts: Diese Leute hielten sich für Kant, der Benjamin Constant antwortet, oder für Marx, der den Staatsstreich Louis Napoleons analysiert. Sie abstrahieren vorschnell“ (S. 374).

Einfacher ausgedrückt oder auf den Punkt gebracht: Philippe ruft den Gewaltliebhabern zu: „Ich habe es an meinem eigenen Körper erlebt, ihr Schwätzer. Ihr könnt mich mal!“

Die Lieblingsstelle ist ein wohltuender Abgesang Philippes auf den intellektuellen „Diskurse“ – Intellektuelle führen ja Diskurse und nicht bloß Debatten -, die auch im Sinnlosen, Zerstörerischen, Barbarischen und schier Unglaublichen eine eigene Rationalität erkennen möchten. Natürlich gibt es keine Denkverbote und jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung. Auch die Rechtfertigung von Gewalt mag eine eigene Meinung sein. Was allerdings zum Himmel stinkt, ist der intellektuelle Hochmut zahlreicher Analysen, die den Horizont der 1970er Jahre, als über die Rote-Armee-Fraktion und das „Recht auf Gegen-Gewalt“ philosophiert wurde, nicht wirklich verlassen haben und immer noch dem revolutionären Traum der „Verdammten dieser Erde“ nachtrauern. Die gleichen Intellektuellen versuchen nun, in die Talkshows zu gelangen, wenn sie versuchen, den „neuen Terrorismus“ zu verstehen.

Liebe Gewaltliebhaber, lasst euch doch mal etwas Neues einfallen!

„Und die Gewalttätigen reißen es an sich“

Die Titelseite von „Charlie Hebdo“ vom 7. Januar 2015 thematisierte den am gleichen Tag erschienenen Roman „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq. In der Redaktionskonferenz am Morgen des 7. Januar 2015 war „Unterwerfung“ dementsprechend das zentrale Streitthema. Philippe erinnert sich, wie er und sein Freund Bernard die Einzigen waren, die das Buch verteidigten: „Fast alle schwiegen oder attackierten es“ (Seite 67).

Es dauert bis zum Ende des Romans, als Philippe auf Houellebecq trifft. Philippe war seinem Gesprächsthema vom 7. Januar 2015 noch nie begegnet. Philippe beschreibt Houellebecq als „zerstörte, mineralische und mitfühlende“ Erscheinung. Als jemand, der aussieht, mit alters- und geschlechtslosem Gesicht, wie jemand, der „die Verzweiflung der Welt auf sich nahm“. Houellebecq wechselte mit Philippe ein paar unverständliche Wörter und zitierte dann die Bibel:

„Und die Gewalttätigen reißen es an sich“ (Seite 540).

Warum verwendet Houellebecq, der Mann mit alters- und geschlechtslosem Gesicht, diesen Vers aus dem Matthäus-Evangelium, wenn er Philippe Lançon, dem Mann mit unterkieferlosen Gesicht, begegnet?

Machen wir einen kleinen „theologischen Ausflug“, der auch für den Nicht-Gläubigen aufschlussreich sein könnte: Ich interpretiere diese Aussage von Houellebecq als ein großes Lob an Philippe – aber zugleich als eine versteckte, unheimliche Warnung. Um diese Interpretation zu belegen, schauen wir uns den kompletten Vers an, denn Houellebecq hat nur die zweite Hälfte des Verses zitiert:

„Von der Zeit an, als Johannes der Täufer auftrat, bis zum heutigen Tag bricht sich das Himmelreich mit Gewalt Bahn, und Menschen versuchen mit aller Gewalt, es an sich zu reißen“ (Neue Genfer Übersetzung).

Kein anderer Prophet wird von Jesus so sehr gelobt wie Johannes der Täufer: „Unter allen Menschen, die je geboren wurden, hat es keinen Größeren gegeben als Johannes der Täufer“ – so lautet es im Vers unmittelbar vor dem „Houellebecq-Vers“. Johannes der Täufer war der Vorläufer des Messias. Seine Predigten an das Volk unterschieden sich fundamental von den Predigten der Pharisäern und Schriftgelehrten. Doch das einfache Volk mochte ihn, wollte Buße tun und sich von ihm taufen lassen. Das gefiel den stolzen und hochmütigen Pharisäern und Schriftgelehrten nicht. Er wurde für seinen aufrichtigen Glauben ins Gefängnis gesteckt und hingerichtet: durch Enthauptung.

Houellebecq vergleicht damit Philippe mit dem Vorläufer des Messias. Offensichtlich ein großes Lob. Er war der Lieblingsprophet von Jesus. Doch er wurde enthauptet. Philippe wurde zwar nicht enthauptet, aber ein Drittel seines Gesichts wurde weggefetzt. Was kann also noch Schlimmeres für Philippe kommen? Hoffentlich wird Philippe nie mehr Gewalt angetan.

Fazit: schwere Kost, aber es lohnt sich

Darf man das Buch eines Mannes kritisieren, dem ein Drittel des Gesichts weggefetzt wurde?

Durch die Lektüre des Buches lernt man Philippe kennen. Und wenn man sich darauf einlässt, ihn wirklich kennenzulernen, dann kann man behaupten, dass der neue Philippe sich über diese Frage ärgern würde. Vielleicht aber auch eher über sich selbst, weil die Lektüre seines Buches den Leser emotional dazu bringt, sich diese Frage überhaupt zu stellen. Philippe ist Literaturkritiker und wahrscheinlich würde er einen Roman wie „Der Fetzen“, wenn er nicht von ihm selbst geschrieben worden wäre, heftig kritisieren. Literaturkritik kann oder sollte zwar ausreichende Sensibilität haben, sollte jedoch nicht ins Sentimentale verfallen.

In diesem Sinne wagen wir uns mutig an eine ketzerische Frage: Ist „Der Fetzen“ wirklich ein Roman?

Julia Encke bezeichnete den „Fetzen“ in einer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.03.2019) als ein Buch „das kein Roman und doch ergreifender, dichter und literarischer ist als so viele der neuen Romane dieses Frühjahrs.“ In der Tat besteht die literarische Qualität des „Fetzens“ besteht nicht zuletzt darin, dass man Jahre brauchen würde, um die ganze Literatur und Werke aufzuarbeiten, die er in seinem Roman zitiert: Franz Kafka, Thomas Mann, Baudelaire, Marcel Proust, Honoré de Balzac usw. Vielleicht bewirkt der reiche Schatz an Literatur, der im „Fetzen“ steckt“ auch Ärger beim Leser: Wie viele der in „Der Fetzen“ zitierten Werke stehen schon lange ungelesen im eigenen Bücherregal?

An der Universität hat mal ein Dozent im Fachbereich Politikwissenschaft einen Satz geprägt, der bei mir hängen geblieben ist: „Lesen Sie Karl Marx, Max Weber und Sigmund Freud. Das reicht aus, um die nächsten 15 Jahre lang nur noch Déjà-vu-Erlebnisse zu haben.“ Und genau dieses Gefühl hatte ich bei der Lektüre von Philippes „Roman“ nicht.

Reicht das als Grund aus, ihn zur Lektüre zu empfehlen?

Die Antwort ist ein klares „Ja“.


Genre: Erzählung, Roman
Illustrated by Tropen

Ikigai – japanische Lebenskunst

Ikigai. Der Hirnforscher Ken Mogi gibt in vorliegender Publikation nicht nur Einblicke in die japanische Lebenskultur, sondern zeigt auch, dass das japanische Ikigai der Schlüssel für ein langes, gesundes und erfülltes Leben ist. Ikigai bedeutet „das, wofür es sich zu leben lohnt“. Der 92-jährige Jiro Ono, der älteste mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Koch etwa, hat sein Ikigai gefunden. Aber man muss dafür nicht so alt werden.

Des Ikigais fünf Säulen

Auch die Obstbauern von Sembikiya oder der Keramiker Sokichi Nagae sind Beispiele, die Ken Mogi anführt, um zu zeigen, dass man zufriedener lebt, wenn man sein „ikigai“ gefunden hat. Denn damit man Sinn und Freude im Leben wiederfindet, reicht es schon, die fünf Säulen des ikigai zu beherzigen: 1. Klein anfangen, 2. Loslassen lernen, 3. Harmonie und Nachhaltigkeit leben, 4. Die Freude an kleinen Dingen entdecken,
5. Im Hier und Jetzt sein. Der japanische Neurowissenschaftler Ken Mogi erklärt anhand obiger und anderer inspirierender Lebensgeschichten und fundiert durch wissenscha liche Erkenntnisse in vorliegendem Buch die japanische Philosophie, die hilft, Erfüllung, Zufriedenheit und Achtsamkeit im Leben zu finden.

Praktikables Ikigai

Als eines seiner Beispiel führt Ken Mogi Jiro Ono an, der in dem Film „Jiro und das beste Sushi der Welt“ (Regie: David Gelb) porträtiert wird. Der 2010 erschienene Film ist bei Koch Media als BluRay und DVD erschienen und zeigt die kleine Sushi-Bar in einer U-Bahn Station in Tokio mit nur zehn Sitzplätzen, die Jiro sein ikigai finden hat lassen. Sein Restaurant Sukiyabashi Jiro wurde 2009 mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet und gilt heute als das beste Sushi-Restaurant der Welt. Jiro Ono wird in Japan geradezu verehrt und sein Restaurant ist jetzt schon eine Legende. Sein Sohn Yoshikazu Ono, der bald in seine Fußstapfen treten wird, hat es nicht leicht, das Sukiyabashi Jiro zu übernehmen und erfolgreich weiterzuführen. Denn wer kann schon eine Legende übertreffen?

 

Ken Mogi
IKIGAI. Die japanische Lebenskunst
Übersetzung: Sofia Blind
176 Seiten, gebunden mit gestaltetem, farbigem Vorsatzpapier und Lesebändchen
2018
ISBN 978-3-8321-9899-2
Dumont Buchverlag


Genre: Kochen, Lebenskunst, Philosophie
Illustrated by DuMont

Requiem für einen Freund

Eine Restaurantquittung, ein penibler Steuerprüfer und ein Berliner Korruptionssumpf

Der erfolglose Rechtsanwalt Vernau bekommt eine Steuerprüfung, ein pedantischer Prüfer zieht an seinem Schreibtisch ein und weckt ihn nachts, weil er Details über eine Restaurantquittung wissen will. Und dann liegt er erschossen auf Vernaus Schreibtisch. »Selbstmord« ordnet die Staatsanwaltschaft an. Wegen einer Restaurantquittung?

Vernau glaubt nicht daran. Und entdeckt bald seltsame Verbindungen. Denn auf der Restaurantquittung stand ein Freund von ihm, ein erfolgreicher Freund aus Studientagen, der Berliner Baulöwen berät, aber auch Politiker aus dem Senat.

Der Freund scheffelt damit Geld. Vernau verachtet und beneidet ihn gleichzeitig.

Elisabeth Herrmann entwickelt langsam ihre Geschichte, lässt uns das Berlin der Spekulanten erleben und einen Steuerprüfer, der sein Berufsethos ernst nimmt. Was ihm nicht gut bekommt. Überhaupt sind die Personen und mit ihren Verflechtungen, Netzwerken, ihren ganz unterschiedlichen Charakteren das, was uns Leser die Seiten umblättern lässt. Immer neue Facetten blitzen da auf und was eben noch sicher schien, dreht sich und erscheint plötzlich in neuem Licht.

Einzig die Auflösung am Schluss klingt etwas arg wie ein Info-Dump. Was nichts daran ändert, dass es ein spannender Roman ist, gut geschrieben, den zu lesen sich lohnt.


Illustrated by Goldmann München

Die rechtschaffenen Mörder

Prinz Vogelfrei

In seinem neuen Roman «Die rechtschaffenen Mörder» stellt Ingo Schulze einen ebenso kauzigen wie charismatischen Antiquar in den Mittelpunkt. Ein Setting also, das bei einer ‹literarischen› Leserschaft durchweg angenehme Assoziationen auslösen dürfte, dreht sich hier doch alles um anspruchsvolle, klassische Literatur. Handlungsort ist Dresden, zeitlich ist der Roman vor und nach der Wende angesiedelt, soziales Milieu ist das Bildungsbürgertum. Neben dem Preisträger der diesjährigen Leipziger Buchmesse, Lutz Seilers «Stern 111», ist dies von den fünf Büchern der Shortlist ein zweiter Roman mit Wende-Thematik, die auch nach dreißig Jahren literarisch noch längst nicht abgearbeitet ist.

Im ersten, knapp zwei Drittel des dreiteiligen Romans umfassenden Teil wird die Geschichte von Norbert Paulini erzählt, stimmig beginnend mit den Worten «Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar …» Von seiner früh verstorbenen Mutter hatte Norbert nicht nur die Leidenschaft für Bücher geerbt, sondern auch den umfangreichen Bestand ihres Antiquariats. Nach einer Buchhändlerlehre eröffnet er 1977 mit dem sorgsam gehüteten Bücherschatz, der ihn schon als Kind ans Lesen gebracht hat, in der elterlichen Wohnung sein eigenes Antiquariat. Schnell wird er in den einschlägigen bibliophilen Kreisen bekannt und erwirbt sich durch seine immense Belesenheit einen geradezu legendären Ruf. Zu welchem nicht wenig auch sein literarischer Salon beiträgt, der regelmäßig Intellektuelle aller Couleur zu Lesungen und zum Fachsimpeln bei ihm versammelt. Nach der Wende bricht der Markt für seine antiquarischen Schätze schlagartig zusammen, die Geschäfte laufen schlecht, er muss Gelegenheitsjobs annehmen und zieht schließlich sogar in die sächsische Provinz. Seinem Metier jedoch bleibt er unbeirrt treu, er stellt sich ganz auf Internethandel um. Der eigensinnige Kauz vereinsamt immer mehr und zieht sich verbittert in die innere Emigration zurück. Am Ende befragen ihn zwei Kriminalbeamte, wobei vage ein rechtsradikaler Hintergrund angedeutet wird, Verhör und erster Teil enden dann aber mitten im Satz, alles bleibt offen. Der bisher kaum erkennbare personale Erzähler tritt im zweiten Teil dann deutlich als Ich-Erzähler namens Schultze (sic) auf, – mit tz allerdings! Er berichtet jetzt aus dieser neuen Perspektive über den Eigenbrödler, erzählt von der Entstehung seiner Paulini-Novelle, von seinen Gesprächen mit dem Antiquar und von seiner Liaison mit dessen Lebensgefährtin. Anschließend erzählt im kurzen dritten Teil Schultzes Lektorin von ihren eigenen Recherchen über den Helden der noch nicht veröffentlichten Novelle, eine zweifache Metafiktion also.

Diese kunstvolle Verschachtelung dreier Erzählebenen und ebenso vieler Genres, vom Bildungsroman zum Künstlerroman bis zum Krimi, hebt «Die rechtschaffenen Mörder» deutlich ab vom konventionellen Erzählgestus. Norbert Paulini erinnert als Figur an den Magister Tinius, Inbegriff der Bibliomanie, auf den auch eine Romanfigur namens Gräbendorf hinweist. Eine der Stärken dieses Buches ist jedenfalls seine üppige Intertextualität, wobei mich, soviel Anekdotisches sei erlaubt, gleich zu Beginn die Erwähnung von Gottfried Kellers «Der grüne Heinrich» erfreut hat, den ich unmittelbar zuvor gelesen und rezensiert habe. Paulini nämlich weist in einem Gespräch darauf hin, Thomas Mann habe damit einige Schwierigkeiten gehabt, weil ihm nicht bewusst war, dass es zwei Fassungen davon gibt, in denen er wohl abwechselnd immer wieder mal gelesen hat.

Ärgerlich ist auch hier mal wieder der Klappentext, der vom Revoluzzer spricht und von fremdenfeindlichen Ausschreitungen. Prinz Vogelfrei, wie Paulini sich nach dem Gedicht Nietzsches selbst nennt, liefert nämlich für den Rechtsruck in Ostdeutschland keinerlei Erklärung. «Die Dichter müssen lügen» ist Paulinis Credo, der intertextuell ambitionierte Roman über ihn aber scheitert, grandios überdeterminiert, an seiner eher verwirrenden Vieldeutigkeit.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Prinz Eisenherz

Prinz Eisenherz. Der zweite Band der restaurierten Heftserie zum 1954 als Kinofilm produzierten Prinz Eisenherz ist im März 2020 bei Bocola in einem großformatigen Hardcover-Band erschienen. Die Zeichnungen stammen von Bob Fujitani und erschienen erstmals in loser Folge ab 1958. Sechs weitere Hefte mit Abenteuergeschichten des Prinzen aus Thule wurden danach noch veröffentlicht. Die restaurierte Heftserie erscheint bei Bocola in zwei Bänden mit Zusatzinformationen und dem lesenswerten Vorwort von Uwe Baumann.

Von Nova Scotia nach Hollywood

Prince Valiant machte 1954 seinen Weg von Nova Scotia nach Hollywood. Der aufwendig produzierte Film mit Robert Wagner und Janet Leigh richtete sich zwar nach der 1937 erstmals erschienenen Comic-Serie von Hal Foster, hielt sich aber nur lose an dessen Vorlage. Henry Hathaways Verfilmung des Prinzen Eisenherz war einer der ersten Filme in CinemaScope. Gedreht wurde nicht nur in den Fox-Studios in Los Angeles, im San Fernando Valley, sondern auch in Großbritannien, wo unter anderem das schottische Dorf Dornie sowie Alnwick Castle, Warwick Castle, Caernarfon Castle, Braemar Castle, Duart Castle und Eilean Donan Castle zu Schauplätzen des Films wurden. „Die Wikingerwelt Thules der Dell-Comics lässt sich als eine Welt im Umbruch zwischen altem Götterglauben und Christianisierung charakterisieren“, schreibt Uwe Baumann über den vorliegenden Comic. Bekanntlich gilt König Harald Blauzahn Gormsson (936-987) als erster christlicher König Nordeuropas und so kann man die vollständige Christianisierung der Wikinger also erst ca. 300 Jahre nach dem Handlungsrahmen der Prinz Eisenherz Saga als abgeschlossen betrachten.

Prinz Eisenherz, der Kosmopolit

In vorliegendem zweitem Band der Dell-Reihe geht es aber auch um die Erfindung des griechischen Feuers und die Tafelrunde König Arthurs. Eine besondere Herausforderung stellt auch Urgen, König der Shetland-Inseln dar. Später taucht auch Gandor, der Held des Ostens auf und schließlich die Suche nach dem Heiligen Gral. Von den Wäldern Thules bis zur nordafrikanischen Wüste und ins Heilige Land führt der Handlungsbogen, bei dem man auch viel über die Wikinger lernt. Neben dem ausgezeichneten Vorwort von Uwe Baumann enthält dieser Band auch eine Galerie mit Fujitani-Porträts der Prince Valiant Hauptfiguren sowie ein Interview mit Sir Robert von Dell.

 

Bob Fujitani

Prinz Eisenherz
Die kompletten Dell-Hefte. Band 2
Text: Paul S. Newmann
Großformatiger (23,5 x 32 cm) Hardcover-Band,
124 Seiten, Farbe
Vorwort: Uwe Baumann
Übersetzung: Wolfgang J. Fuchs
ISBN 978-3-939625-44-5
26,90 EUR [D] / 27,70 EUR [A] / 36,- sFr [CH]
Bocola Verlag


Genre: Comic, Film
Illustrated by Bocola

Wien zum Verweilen

„Zum Verweilen“ ist eine neue Reihe beim Reclam Verlag die es in den Formaten „Notes“ – zum eigenen Aufschreiben, „Magnet“ und als Buch mit Textnachweisen gibt. Dieses neue Format ist bisher zu den Städten Wien, Berlin und Hamburg in allen drei Varianten erschienen.

Original oder ursprünglich: Sachertorte?

Der deutsche Reisejournalist Ralf Nestmeyer widmet sich in der „Wien zum Verweilen“ Variante dem literarischen Wien. Gemeinsam mit Dichterinnen und Denkern strawanzt er durch die Straßen Wiens und sieht alles Dargebotene mit deren und eigenen Augen. So besichtigt er etwa mit Stefan Zweig das Wiener Konzerthaus, mit Ingeborg Bachmann das Ungargassenland (der 3. Bezirk) und Ralf mit Friedrich Torberg geht er gar auf eine Sachertorte ins Sacher. Damals wurde sich noch so zubereitet, wie man sie heute nur noch im Demel bekommt. Denn die Marmeladenschicht war nicht in der Mitte angebracht, sondern nur am Rand. Dennoch ist die Sacher aus dem Sacher die „Original-Sachertorte“, wie unlängst ein Gerichtsurteil (II. Instanz) amtlich feststellte. Dennoch ist die eigentlich originale Sachertorte heute als „Sachertorte“ nur im Demel zu verköstigen, wie Nestmeyer recherchierte.

Orignal und ursprünglich: Wien

Aber ursprünglich und original ist in Wien halt nicht dasselbe, wie auch viele der folgenden von Ralf Nestmeyer zusammengetragenen Geschichten beweisen. Einer kurzen Einführung zum jeweiligen Thema durch Nestmeyer stellt der Herausgeber eine Textstelle eines berühmten Autors hintan. So erfährt der Leser u.a. über Graham Greenes in der Kanalisation Wiens versteckten dritten Mann, Klaus Manns Wendepunkt im Hotel Bristol oder auch Robert Seethalers Freud-Hommage im „Trafikant“. Dem „längsten“ Bauwerk Wiens, dem Karl Marx Hof wird durch eine Textpassage aus Claudio Magris’ Donaubuch gewürdigt. Weitere Themen sind der Stephans- und Michaelerplatz in Wiens Mitte, der Zentralfriedhof am Rande der Stadt und natürlich der Prater, Wiens Lunge. Ein Textverzeichnis und Stadtpläne auf der Coverinnenseite haben die 17 beschriebenen Sehenswürdigkeiten miteingezeichnet. Ursprünglich hatte Wien ja nur einen Bezirk (die Innere Stadt), aber inzwischen gilt auch alles außerhalb der Stadtmauer als „Original“. Nicht nur die Sachertorte!

Ralf Nestmeyer
Wien zum Verweilen
Mit Geschichten die Stadt entdecken
Ill.: Reinke, Katinka
Klappenbroschur. Format 11,4 x 17 cm
112 S.
ISBN: 978-3-15-020566-2
Reclam Verlag


Genre: Literatur, Reiseführer
Illustrated by Reclam Verlag

Der grüne Heinrich

Ein kanonischer Roman

Gottfried Kellers «Der grüne Heinrich» ist einer der berühmtesten Bildungsromane, das vierbändige Werk erschien in der ersten Fassung 1855/56 und war zunächst außerhalb der Schweiz so gut wie unbekannt. Er habe sich vorgenommen, so sein Autor, «einen kleinen traurigen Roman zu schreiben über den Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn». Gemeint war damit die eigene, denn seine Geschichte sei, wie der 23Jährige bekannte, nicht erfunden, es sei «sogar das Anekdotische darin so gut wie wahr». In Stil des damals aufgekommenen bürgerlichen Realismus schildert er die Kindheit seines Alter Ego Heinrich Lee bis hin zum gescheiterten Künstler. Kellers Begegnung mit Ludwig Feuerbach bildet das Schlüsselerlebnis seiner weltanschaulichen Umorientierung, und so ist dessen ‹Wende zur Diesseitigkeit› denn auch das zentrale Thema dieses Romans. Sein ‹Schicksalsbuch›, denn es hatte dem perfektionistischen Schriftsteller jahrzehntelang nicht genügt und ihn zu einer Neubearbeitung veranlasst, die erst 1879/80, fast fünfundzwanzig Jahre später, als zweite Fassung erschienen ist.

Nach dem frühen Tode des Mannes lebt eine sparsame Witwe mit ihrem Sohn Heinrich in einfachen Verhältnissen, jahrelang schneidert sie die Kleidung des Jungen aus der grünen Uniform des Vaters, was ihm prompt den Spitznamen «Der grüne Heinrich» einbringt. Durch eine Intrige von der Schule verwiesen und damit von höherer Bildung ausgeschlossen, schickt ihn seine Mutter zum Onkel aufs Land, damit er sich dort in Ruhe über seine Zukunft klar werde. Er verliebt sich in ein zartes Mädchen, lernt aber auch die sinnenfrohe junge Witwe Judith kennen und ist zwischen beiden hin und her gerissen. Schließlich kehrt er nach Zürich zurück, um Landschaftsmaler zu werden. Über verschiedene Stationen verfolgt er nun seine künstlerische Ausbildung, begegnet dabei Dilettanten und Könnern, absolviert schließlich auch seinen Militärdienst und nutzt die Zeit dort, seine Jugendgeschichte aufzuschreiben. Trotz materieller Nöte schickt ihn die Mutter anschließend auf die Kunstakademie nach München, wo er jedoch schon bald erkennen muss, dass es ihm an Talent mangelt. Als Bohemien vertrödelt er nun nutzlos seine Zeit, bis die Schulden erdrückend werden und er notgedrungen eine Arbeit annehmen muss. Nach sieben Jahren endlich entschließt er sich zur Heimkehr, findet auf der langen Wanderung erschöpft und ausgehungert freundliche Aufnahme im Schloss eines Grafen, womit sich auch sein Schicksal wendet und er unverhofft zu viel Geld kommt. Und auch hier vermag der bindungsunfähige Heinrich der schönen Adoptivtochter des Grafen seine Liebe nicht zu gestehen.

«Der grüne Heinrich» wird von seinem Antihelden chronologisch und einsträngig in Ich-Form erzählt, wobei viele Motive sich aus den Dialogen heraus entwickeln, immer wieder ergänzt um breit angelegte Überlegungen und tiefschürfende Grübeleien als Bewusstseinsstrom. Der Plot ist geradezu vorbildlich aufgebaut mit einer reichhaltigen Leitmotivik, zu der zum Beispiel auch der auf dem heimatlichen Gottesacker gefundene Totenschädel gehört, den Heinrich unbeirrt auf seinen Reisen mit sich herumschleppt. An die Vaterlosigkeit als Ursache all seiner Irrwege gemahnen leitmotivisch der selbstlose Onkel und der wohlwollende Schlossgraf als Vaterersatz. Das Motiv der Gottverlorenheit des Helden und die Negierung einer Vorbestimmung im Leben bilden Anlass für köstliche Dispute mit dem Kaplan, der überaus lebensfroh den sprachgewandten Gegenpart zum atheistischen Heinrich bildet.

Zu den Lesefrüchten dieses kanonischen Romans vom Scheitern in der Kunst und vom Verzicht in der Liebe gehören die vielen weltanschaulichen Reflexionen aus der damaligen Zeit, die hier authentisch vorgetragen werden. Ferner erfreut die vollmundige Sprache, die starke Bilder zu erzeugen vermag, außerdem überzeugt auch die durchweg stimmige Figurenzeichnung, bei der als Extreme eine tatkräftige Judith dem ewig zaudernden Grünen Heinrich gegenübersteht.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Postdemokratie. Das neue Zeitalter

Postdemokratie als Begriff bezieht sich auf die Tatsache, dass heute (Erstauflage 2008) mehr Nationalstaaten als jemals zuvor demokratische Verfahren zur Bestimmung ihrer Regierung praktizierten. Allerdings mag deswegen noch kein Optimismus aufkommen, denn die Art und Weise wie diese durchgeführt wurden steht auf einem anderen Blatt. Dennoch spricht der Begriff, Postdemokratie, für die Phase der Demokratie in der wir uns seither befinden und die u.a. durch Politikverdrossenheit, Sozialabbau und Privatisierung gekennzeichnet ist.

Stichwort: sound bites

Colin Crouch spitzt die Beschreibung unserer politischen Systeme noch derart zu, dass er bemerkt, dass die demokratischen Institutionen zwar weiterhin formal existieren, diese aber von Bürgern und Politikern nicht mehr länger mit Leben gefüllt werden. Denn längst hätten Interventionen kapitalistischer Interessensgruppen die Demokratie ausgehöhlt. Politiker werden gekauft und vertreten im Parlament die Interessen ihrer jeweiligen pressure groups. Die Bevölkerung selbst geht gar nicht mehr zur Wahl oder verschwendet ihre Stimmen an populistisiche Systemzerstörer. Natürlich spielen auch die Medien eine wichtige Rolle in der Postdemokratie: Konkurrierende Teams professioneller PR-Experten würden Politik zu einem Spektakel verkommen lassen, bei dem nur mehr über Probleme diskutiert werde, die zuvor von Experten ausgewählt worden wären. „Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt (die Demokratie, AP) zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.“ Stichwort: sound bites.

Das Ende der Demokratie?

Ist der „demokratische Augenblick“ der Menschheitsgeschichte bald vorbei? Im Mutterland der Demokratie, den USA, ist seit Ronald Reagan das wohlfahrtsstaatliche Projekt abgewickelt, die Gewerkschaften marginalisiert, die Spaltung zwischen Arm und Reich auf einem Niveau, das man eigentlich nur aus Ländern der Dritten Welt kennt. „Dass sich diese Rückentwicklung“, schreibt Crouch, „ausgerechnet in den USA, der am stärksten zukunftsorientierten Gesellschaft der Welt, einem Land, das in der Vergangenheit der Vorreiter des demokratischen Fortschritts war, am radikalsten vollzieht, lässt sich allein mit dem Modell des parabelförmigen Verlaufs der Demokratie erklären.“ Bedeutet Postdemokratie auch das Ende der politischen Kommunikation? Auch in seinem Folgewerk, „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“, stellt Crouch unbequeme Fragen. Es sind die gigantischen transnationalen Konzerne, unter denen die Demokratie und das Marktmodell leiden. Crouch entwirft aber auch ein Modell des Widerstands: indem wir uns auf unsere Werte und unsere Macht als Verbraucher besinnen. Das ist Crouchs optimistische Vision einer sozialen und demokratischen Marktwirtschaft, die er in diesem Essay der Hegemonie der Konzerne entgegenhält.

Colin Crouch
Postdemokratie
Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm
D: 10,00 € / A: 10,30 € / CH: 14,90 sFr
2008, edition suhrkamp 2540, Taschenbuch, 159 Seiten
ISBN: 978-3-518-12540-3

Suhrkamp Verlag


Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

John Heartfield. Fotografie plus Dynamit.

John Heartfield: In Berlin, Zwolle, London sollte dieses Jahr noch die Ausstellung des Werkes von John Heartfield stattfinden. Bis dahin kann man sich mit dieser Publikation zur Ausstellung schon schlau machen. Denn der vorliegende Band umfasst nicht nur 250 Abbildungen der Montagen von Heartfield in Farbe, sondern auch Beiträge von M. Gough, P. Krishnamurthy, Angela Lammert, Rosa v. d. Schulenburg, Anna Schultz, J. Toman, A. Zervigón u.a. sowie Statements von R. Deacon, T. Dean, M. Lammert, M. Odenbach, J. Wall.

Heartfield: politisches Dynamit

Die Zeiten der politischen Karikatur begleiten die Menschheitsgeschichte schon von Anfang an, aber keiner brachte sie zu einer so pointierten Sprengkraft wie John Heartfield (1891-1968). Sein Werk ist untrennbar mit der Weimarer Republik verbunden, denn seine Fotomontagen und collagierten Buchumschläge, die ihre Herkunft in der Berliner Dada-Szene haben und sich gegen den Faschismus richteten, keimte in ihrem Untergrund. Die scheinbar dokumentarischen und „objektiven“ Pressefotos stellte Heartfield auf den Kopf indem er sie mit pointiertem Humor neu arrangierte und ihnen jene Sprengkraft verlieh, für die sein Werk so berühmt ist. Mit scharfer Beobachtungsgabe, Witz und Kompromisslosigkeit setzte er seine Kunst bildgewaltig und aktiv gegen Krieg und Faschismus ein.

Heartfields Waffe gegen den Krieg

Zusätzlich zu seinen bekanntesten Collagen werden in der hier vorliegenden Publikation des Hirmer Verlages aber auch erstmals seine Trickfilme und seine Theaterarbeit im Kontext von Kunstwerken, Archivalien und Arbeitsmaterialien berücksichtigt. Statements zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, die Heartfields Werk im Zeitalter von Fake News beleuchten, ergänzen diesen Prachtband, der zurecht das „Dynamit“ im Untertitel trägt. „Man ist sich bei den Henkern im Lande genau darüber im Klaren,“, schrieb einst Oskar Maria Graf 1938 in der Exilzeitung Deutsche Volkszeitung, „was für eine unschätzbare Waffe Heartfields Montage ist. Sie wissen welchen Feind sie in dem kleinen, unscheinbaren Johnny haben. Sie hassen ihn wie kaum einen anderen, und wehe, wenn sie seiner habhaft werden!

Heartfield-Ausstellungen im Herbst

Folgende Veranstaltungen sind dieses Jahr zum Werk von John Heartfield geplant: Berlin | Akademie der Künste 02.06.2020 – 22.08.2020; Zwolle | Museum de Fundatie 27.09.2020 – 03.01.2021; London | Royal Academy of Arts 27.06.2021 – 26.09.2021.

Anna Schultz, Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg (Hg.)
John Heartfield. Fotografie plus Dynamit.
Hardcover, 312 Seiten, 250 Abbildungen in Farbe
21,5 x 27,5 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3442-1
39,90.-

Hirmer Verlag


Genre: Collage, Karikatur, Montage, politische Karikatur
Illustrated by Hirmer

Lustiges Taschenbuch Royal: Adel verpflichtet und andere königliche Geschichten

Die gekrönten Häupter des schwedischen, norwegischen und dänischen Königshauses wollen majestätisch urlauben, denn “Adel verpflichtet”. Nur: Wohin soll die Reise gehen?

Ganz andere Sorgen haben Elisabeth und Jane Bennet. Sie müssen sich gegen “Stolz und Vorurteil” wehren, um ihre wahre Liebe zu gewinnen.

“Ein Genie auf Durchreise” ist ein unbekannter Fremder, der sein Gedächtnis verloren hat. Er findet Unterschlupf bei Marameo Donaldo und hilft den Dorfbewohnern mit seinen genialen technischen Erfindungen.

“Die Geschichte des großen Kometen” ist die Geschichte einer verzauberten Maid mit immerfort wachsenden güldenen Haaren auf der unbewussten Suche nach einem Liebsten.

Einen “Kampf um die Krone” liefern sich Richard Löwenherz und sein Bruder John – und rechnen nicht damit, dass den Kampf zwei grottenschlechte MinnesängerInnen entscheiden werden.

“Ein(en) Sieg für seine Majestät” sollen  die Mausketiere für ihren König erringen, aber die Konkurrenz im wahrsten Sinn des Wortes gewaltig.

“Der Schatz des Turmes” ist ein ganz anderer als die Ritterin Gitta von Gans, die furchtlose Verfechterin der Reinlichkeit, erwartet hat. Aber Gitta wäre nicht Gitta, wenn sie nicht das Beste aus jeder Situation machen würde!

Die sieben Geschichten dieses Sonderbandes unterhalten wahrhaft königlich und natürlich mit dem gewohnten Humor der LTB.

Das Frauenbild in den Geschichten  variiert: Gitta tritt sehr selbstbestimmt auf und erfüllt damit eine Vorbildfunktion, während u.a. Daisy in 2 Geschichten eher die passive Rolle zukommt, in der sie auch noch gerettet werden muss. Daisy als Elisabeth hingegen wird, dem Original von Jane Austens “Pride and Prejudice” ähnlich, klug und für diese Zeit recht eigenständig dargestellt, während ihre Schwester Jane einen eher naiven Eindruck macht.

Schön und gelungen an der Duckifizierung von Jane Austens Roman finde ich die Verquickung der Entstehungsgeschichte des Romans und der Story selbst, sowie die Zeichnungen, die etwas verspielt und verschnörkelt gut zur Geschichte passen. Man bekommt direkt Lust, das Original lesen zu wollen. Das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil von Comics und Zeichentrickfilmen, wenn sie Originale adaptieren – die neute Kunst kann die LeserInnen an klassische Literatur heranführen. Aber sie kann auch an Mythen und Historie heranführen wie im Fall der M(a)usketiere oder Richard Löwenherz und seinem Bruder John. Und natürlich sind die Anspielungen an die Originale und deren kreative Ausgestaltung für alle LeserInnen, die sich mit den Hintergründen auskennen, ein Lesegenuss.

Die Themen Stolz und Vorurteile, die sowohl in Janes Austens Original als auch in der Duck’schen Form eine große Rolle spielen, sind aktuell wie eh und je. Man muss sich nur die Flüchtlingsthematik an- oder auch nur in den Klassenzimmern der Kinder umschauen, um zu sehen, dass Vorurteile gegen Andersdenkende, Anderseiende und überhaupt alles, was anders ist, blühen und gedeien. Hier seinen Stolz und Vorurteile zu überwinden und Toleranz zuzulassen, wäre ein Segen für die Gesellschaft – und zwar von beiden Parteien aus!

Fazit: Humorvoller, unterhaltsamer Sonderband mit Anspielungen, immer noch aktuellen Themen und damit auch ein wenig Tiefgang, sofern man diesen zulässt.

 


Genre: Comics
Illustrated by Walt Disney

Micky Maus 10/20


Das 38-seitige Heft bietet den jungen LeserInnen neben den Extras mehrere Stories, Witze, und Rätselcomics. Aber auch der Entenhausen-Kurier auf der letzten Seite und Infos (nicht nur) zu den Ereignissen bedeutender Tage im April und Mai unten auf fast jeder Doppelseite, eine Kino- und Serien-Vorschau, die Maus Tipps, Experimente, kurze Comics und Rätsel bereichnern das Heft.

Inhaltsverzeichnis der (längeren) Geschichten: Donald Duck – Galileos Teleskop, Donald Duck – Geld ist Geld, Oma Duck – Frisch ab Hof, Micky Maus – Völlig schwerelos, Donald Duck – Das große Rennen von Entenhausen.

Die Titelgeschichte “Donald Duck – Galileos Teleskop” ist eine Zeitreisegeschichte, in der Donald in das Jahr 1609 reist. Er will Galileo Galilei vor Außerirdischen warnen, die seiner Erfindung an den Kragen wollen. Dank der guten italienischen Küche nimmt die Geschichte aber eine überraschende Wendung.

Die Stories sind für Kinder zwischen 8 und 12 Jahren vergnüglich und spannend zu lesen. Mein achtjähriger Sohn ist großer Donald-Duck-Fan und hat sich auch für dieses Heft begeistern können. Sogar die Micky-Maus-Geschichte ist gut bei ihm angekommen, obwohl er Micky Maus gar nicht mag. Die Witze versteht er noch nicht ganz und die Experimente sind auch noch nicht so sein Ding. Dafür liebt er die Comics.

Angeschnitten werden in den Comics auf unterhaltsame Weise Themen wie Umweltbewusstsein, (Geschichts-)Wissen, Fairness und Fair Play, Geldgier, die sich nicht ausszahlt, nachbarschaftliches Verhalten und Flexibilität. Die Mischung von Lach- und Sachgeschichten ist insgesamt gelungen.

An Extras liegen diesem Heft ein batteriebetriebenes Lichtschwert bei (Batterien nicht enthalten), das wie ein Blitz aussieht, und Fußballsammelkarten für die EM 2020.

Das Heft erscheint zweiwöchentlich. Die nächste Ausgabe enthält eine weitere Zeitreisegeschichte Donalds, in der er Sir Isaak Newton besucht.


Genre: Comics
Illustrated by Walt Disney