Das Geschäftsjahr 1968/69

Die Mär der 68er-Generation

Der Debütroman mit dem ironischen Titel «Das Geschäftsjahr 1968/69» war für den Schriftsteller Bernd Cailloux gleich der große Erfolg, er wurde vom Feuilleton als literarische Entdeckung gefeiert. Mit der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2005 stellte sich für den damals bereits über sechzigjährigen und bis dato weitgehend unbekannten Suhrkamp-Autor auch ein erfreulicher Anstieg der Auflagen ein. Sein Roman wurde als hochwillkommene, nüchterne Schilderung dieser im Buchtitel genannten, historisch völlig überschätzten und ideologisch überhöhten Epoche der deutschen Nachkriegsgeschichte, von der Kritik äußerst positiv kommentiert.

Auf einem Fortbildungs-Lehrgang für Journalisten lernen sich 1965 zwei junge Männer kennen, die beide der Wunsch vereint, Großes zu vollbringen und nicht im profanen bürgerlichen Alltag zu versauern. Nach dem Wehrdienst des namenlosen Ich-Erzählers ziehen sie voller Tatendrang nach Düsseldorf und beginnen, zusammen mit einem begnadeten Tüftler als Entwickler, in einer Gartenlaube ein Stroboskop zu entwickeln. Ihre Idee, die von dem Gerät erzeugten Lichtblitze als die Musik ergänzende Stimulanz für ein tanzwütiges Publikum in Clubs und Diskotheken einzusetzen, erweist sich als Glücksfall. Bereits das erste Gerät der «Muße-Gesellschaft», wie sie sich nennen, installiert in einer neuen Location auf der Hamburger Reeperbahn, ist ein sensationeller Erfolg, der sich schnell herumspricht. Fortan reißen sich die Kunden geradezu um diese Geräte und zahlen umstandslos fast jeden Preis, wenn sie ihr eigenes Stroboskop nur möglichst bald bekommen. Naiv und ökonomisch unbedarft träumen die Gründer davon, in erster Linie mit ihrer Idee die Welt zu beglücken. Sie wollen sich und ihre Mitstreiter ohne Profitstreben, geradezu familiär, solidarisch aus der gemeinsamen Kasse entlohnen, also eine Art ökonomische Hippie-Kommune selbstloser, gleichberechtigter Idealisten bilden. Um in Stimmung zu kommen wird natürlich Rauschgift in verschiedenster Form konsumiert, auch darin sind sich alle gleich in der schnell wachsenden Belegschaft. Irgendwann fordert die Realität ihr Recht, der Mitbegründer meldet die bis dahin nicht im Handelsregister eingetragene Firma auf seinen Namen an, ganz ohne Formalitäten geht es halt doch nicht. Enttäuscht zieht der Romanheld sich zurück, lässt sich dann aber doch überreden, wenigstens die Hamburger Filiale zu übernehmen. Bis ihn dort schließlich eine Hepatitis-Infektion bös erwischt.

Ohne Larmoyanz wird in diesem Roman das Zeitgefühl der berühmten 68er weitgehend klischeefrei geschildert. Dabei entwickeln sich die Gründer, die sich als «Enthemmungs-Assistenten» definieren und auch reichlich Dope dafür einsetzen, als Antipoden ihrer Geschäftsidee. Während der Ich-Erzähler als Alt-Hippie seinen geplatzten Träumen von der Bedürfnislosigkeit nachtrauert, ist sein Kompagnon schon in der ökonomischen Realität angekommen und nutzt die sprudelnde Geldquelle zu seinem eigenen Vorteil. Bernd Cailloux erzählt seine Geschichte lakonisch mit viel Sinn für Details, auch wenn sowohl technisch als auch ökonomisch manches daran dann doch ins Spekulative, Märchenhafte abgleitet. Dazu zählen vor allem die viel zu lang geratenen Passagen über den unbekümmerten Rauschgift-Konsum der psychedelischen Stroboskop-Truppe. Das wird in unzähligen Details immer wieder neu beschrieben, dürfte aber allenfalls die Junkies in der Leserschaft erfreuen, die große Mehrheit jedoch erbarmungslos langweilen.

Erzählt wird diese desillusionierende Geschichte der ungleichen «Hippie-Businessmen», wie die Freundin des Protagonisten sie spöttisch bezeichnet, in einer angenehm lesbaren, dem Alltag entsprechenden Diktion, nüchtern und völlig unprätentiös. Dass ihre «Suche nach besseren Lebenszwecken» scheitern muss, ist von vornherein klar. Aber wie kläglich sie scheitert, das ist durchaus vergnüglich zu lesen, vor allem, weil es gnadenlos einen scheinbar unausrottbaren Mythos entlarvt.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Gutgeschriebene Verluste

Selbstgefälliges Palaver

Mit «Gutgeschriebene Verluste» hat Bernd Cailloux das hauptsächlich für Deutschland spezifische Genre der 68er-Romane um ein Werk bereichert, dessen Klassifizierung als «Roman mémoire» allerdings unzutreffend ist. Denn es handelt sich dabei nicht um einen in Form von Erinnerungen erzählten fiktionalen Lebenslauf, sondern um eine fiktional mehr oder weniger ausgeschmückte, ansonsten aber reale Autobiografie. Ein heute bei vielen Autoren sehr beliebter, narrativer Typus übrigens, der gemeinhin als Autofiktion bezeichnet wird.

Das Alter-Ego des Verfassers wird gleich zu Beginn bei einer Verabredung mit seinem besten Freund durch dessen «so schwerwiegend wie beiläufig» vorgebrachte Bemerkung geschockt: «Dieses Café ist das Café der Übriggebliebenen». Der 60jährige Ewige Hippie ist nach mehr als zehnjähriger, anfangs erfolgreicher Tätigkeit in Hamburg als Hersteller von Discokugeln und ähnlichem Equipment 1979 wieder in Berlin gelandet. Er schlägt sich nun als Autor von Rundfunk-Kommentaren und mit anderen Gelegenheitsaufträgen durchs Leben. Als Rahmenhandlung des Romans dient dem Autor die seit zwei Jahren bestehende Beziehung seines Protagonisten zu einer fünfzehn Jahre jüngeren Frau, die kurz vor dem Scheitern steht. Hella neigt zu starken Gefühlsausbrüchen und erhofft sich mit ihm ein spätes Glück. Der angestrebte gemeinsame Nestbau aber erweist sich als Illusion, er scheitert an der geradezu pathologischen Bindungsunfähigkeit des Helden. Daran kann auch eine gemeinsame Reise zum KZ Buchenwald nichts ändern, in dessen Nähe er als Kind lebte, einige der Leerstellen in seiner Vita können jedoch dank einer alten Nachbarin dort geklärt werden. Diese gemeinsame Unternehmung ändert aber nichts an dem ständigen Zank des Paares, der sich zum Krieg der Geschlechter hochschaukelt. Nicht von ungefähr sehen sich die Beiden 2005 im Deutschen Theater Edward Albees Drama «Wer hat Angst vor Virginia Woolf» an. Ein Erbe aus der Drogen-Vergangenheit ist die nicht überwundene Hepatitis-Infektion des Protagonisten, die er nach dreißig Jahren mit unsicherem Ausgang durch eine mit reichlich Nebenwirkungen belastende Interferon-Therapie bekämpfen muss, – die 68er-Vergangenheit holt ihn wieder ein. Und bei einer Podiumsdiskussion trifft er dann auch noch auf das RAF-Mitglied Peter Jürgen Book, der 25 Jahre im Zuchthaus gesessen hat und ihm inzwischen äußerst unsympathisch ist.

Als melancholische Lebensbilanz erzählt der Autor in Rückblenden von seiner schwierigen Kindheit, die Mutter hatte die Familie 1945 verlassen, als er wenige Monate alt war. Es folgen schlaglichtartige Erinnerungen an seine Jugend, erste Kontakte zum anderen Geschlecht, Erfahrungen mit Drogen, die Firmengründung 1968 und die Rückkehr ins Berlin des New Wave. Als Dauergast porträtiert er mit scharfem Blick für Details die skurrilen Gestalten in seinem Stammcafé, das ihm quasi als ‹ambulantes Wohnzimmer› dient. Seine ironisch-nüchternen Reflexionen aus der Schöneberger Subkultur sind gespickt mit köstlichen Anekdoten, bei denen Sex und Frauen das Hauptthema bilden. Aber auch die diversen Intellektuellen und Künstler aller Couleur und unterschiedlichsten Renommees ergeben reichlich Gesprächsstoff für den unentwegt sinnierenden und schwadronierenden Althippie, der sich im Seinstaumel dieses spinnerten Milieus als Mitglied etabliert hat.

Der Titel des Romans lädt zu allerlei Deutungen ein. Es sind zweifellos Verluste, die der unsympathische Alt-68er in seinem Katzenjammer zu verbuchen hat, gutgeschrieben aber werden sie ihm nicht, er steht am Ende seines Lebens mit leeren Händen da. Stilistisch gut geschrieben aber ist diese Geschichte sehr wohl, Bernd Cailloux schildert das Geschehen in einer saloppen Sprache, die besonders in den Dialogen durchaus überzeugen kann. Weniger überzeugend ist der schleppende Fortgang der Geschichte, die durch ein Übermaß an selbstgefälligem Palaver des grandios gescheiterten Helden sehr schnell sehr langweilig wird.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Surabaya Gold. Haschischgeschichten

Surabaya GoldBernd Cailloux, Jahrgang 1945, zählt zu den Autoren, die um 1967 von der Hippie-Bewegung angetörnt wurden. Wie viele junge Leute ging auch er in jenen kulturell und politisch bewegten Tagen auf die große Sinnsuche und entdeckte – neben Musiklokalen wie Düsseldorfs »Creamcheese«, dem Hamburger »Star Club« und dem »Closed Eye« in Berlin – die verbotene Droge Cannabis. Weiterlesen


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Gutgeschriebene Verluste

Gutgeschriebene VerlusteIn seinem autobiographischen Werk »Gutgeschriebene Verluste« thematisiert Bernd Cailloux Einsamkeit als Gruppenerlebnis. Er beginnt und endet seine als Roman gewandeten Memoiren in einem Schöneberger Szene-Café, das er als »Treffpunkt der Übriggebliebenen« charakterisiert. Dort trifft der Erzähler auf ein werweißwie zusammengewürfeltes kontaktscheu-cooles Publikum, allesamt Virtuosen der Distanz. Wie einer anderen Rezension entnommen werden kann, handelt es sich dabei konkret um »Literatur-Professoren, die in der FAZ schreiben, Herausgeber von intellektuellen Zeitschriften, Maler, Suhrkamp-AutorInnen, taz-Redakteure, sonstige Künstler und eine Frau mit 2/5 Stelle bei einem Rundfunksender«.

Cailloux kommt in den gern als »wild« apostrophierten 68ern aus Hamburg ins damalige Westberlin. Der Hippie-Businessmann hält sich mit Beiträgen fürs Radio über Wasser und schreibt derweil an »freien« Texten; er fürchtet, die bezahlte Schreiberei zerstöre den literarischen Stil. Das in den Nachkriegswirren kompliziert aufgewachsene Scheidungskind, ein vom Zeitgeist geleiteter Twen(tysomething), kann sich »unter Einfluss des rebellischen Achtundsechzigergezerres an der Institution Famlie zur biologisch pünktlichen Gründung einer eigenen Familie nicht durchringen.«

Er bleibt – vielleicht unterstützt von einer kurzen Karriere als Drogenabhängiger – »ein Schwellenwesen, weder hier noch da wirklich drin und obendrein zu schwach, zu ängstlich …« Entsprechend farblos bleibt sein Auftritt bei einer Diskussionsveranstaltung, bei der er gemeinsam mit ehemaligen RAF-Mitgliedern und einstigen SDS-Führer zum Thema »68« sprechen soll und die einen zentralen Platz im Buch einnimmt. Letztlich landet er doch wieder in dem Schöneberger Café, um seine Wunden zu lecken und sein vermeintliches Leidkapital in einen weiteren Roman zu verwandeln.

Es wundert kaum, dass im Ergebnis ein melancholisch trübsinniges Lebensbild gezeichnet wird, das sich weitgehend negativ liest. Handelt das Buch also von jenen Verlusten, die dem Autor in menschlicher, charakterlicher und auch partnerschaftlicher Hinsicht widerfahren (es mäandert eine farblose »Ella« durch das Werk, die ihn wohl aus Gründen wieder verlässt), dann können sie am Ende kaum auf der Habenseite der Lebensbilanz auftauchen. Diese Verluste müssten, anders als der Titel behauptet, nicht »gutgeschrieben«, sie müssten abgeschrieben werden.

Ist dieser »Roman mémoire« gut geschrieben? Immerhin ist das Werk bei Suhrkamp erschienen; die Veröffentlichung wurde vom Deutschen Literaturfonds sowie dem Land Berlin finanziell gefördert, und das weckt hohe Erwartungen. Der Leser kämpft sich deshalb tapfer durch einen Dschungel von Phrasen »… ein durchaus verachtungswürdiges Geschäft, ein Anschlussgeschäft sozusagen, in dem die feinsten Formulierungen des einst rauhesten Geschehens, seine im nachhinein hartethische Verkunstung so wie der medienschnittige Zitatenprunk gehandelt wurden …«

Im Ergebnis kommt fast Mitleid mit dem Autor auf, der mit sich und den Zeitläufen hadert. Dabei hat der Rezensent die besten Voraussetzungen, dieses Buch anzunehmen: Er ist nur wenige Jahre jünger als der Autor, er ist ebenso wie er in den 68ern nach West-Berlin gezogen, er kennt das Milieu, über das Cailloux schreibt, er hat ähnliche Künstlerkandidaten, Lebenshungrige, Zauderer und Zweifler erlebt. Beide haben ähnliche berufliche Hintergründe. Mehr noch: Ein- und dieselbe Krankheit bedrohte beider Leben, sie haben sogar den gleichen Genom-Typ, durchliefen die gleichen grässlichen Therapien und Medikamentationen. Bessere Voraussetzungen kann ein Rezensent nicht haben!

Dennoch …

… hat all das nur gereicht, sich durch die 271 Buchseiten der Veteranen-Lebenssicht von Bernd Cailloux zu schleppen. Für eine Empfehlung aus vollem Herzen reicht es leider nicht.


Genre: Biographien, Romane
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main