Heute kein Abschied

“Und jetzt ist er nirgendwo mehr. Jetzt ist er überall.” Der niederländische Autor, Journalist und Historiker legt mit “Heute kein Abschied” einen persönlichen Roman vor, der alle angeht. Denn jeder muss eines Tages von seinen Eltern Abschied nehmen: “Das gehört zum Älterwerden”.

Booze, Beans, Blow and Bad Decisions

Im Falle der der Geschwister Tessel, Moor und Cat ist es der Vater. Ihre Eltern, Elise und Oskar, haben sich vor langer Zeit getrennt. Die langen (beruflichen) Abwesenheiten Oskars in Hollywood, die Sprachlosigkeit und Stille wurden ihr langsam zu viel und so suchte sie Trost in den Armen eines langzeitigen Freundes, Cas. Aber für Oskar brach wohl eine Welt zusammen, denn er hätte sich nie vorstellen, können, dass eine Familie sich so einfach auflösen kann. Immerhin bekam er die Katze, das einzige, was Elise nicht bekam. “Alles würde er geben für eine Brücke, einen Blick, ein Winken, eine Einladung. Warum macht keiner von ihnen den ersten Schritt? Die Jüngste, Cat, wohnte zwar noch eine Weile bei ihm, aber er unterstützte sie dabei, sich bei der NYU zu bewerben. Dort lebt sie als die traurige Nachricht sie erreicht. Aber etwas ist seltsam: Warum hat ihr Vater gerade ihr, der Jüngsten, die Testamentsvollmacht erteilt? Gibt es etwa ein Familiengeheimnis, von dem alle nichts wissen? Und was meinte der Hollywood-Freund ihres Vaters, Gene Grift, mit den 4Bs eigentlich? “Er wollte wirklich wieder nach Amerika. Er hatte das Recht, hinzufliegen, darum ging es, um das Recht zu fliehen, nicht vor ihnen, sondern vor sich selbst.” Ihr Name war: Lucy.

Der Knick in der Kurve

“Die Sixties, der Zeit in der die Luft sauber und der Sex schmutzig war.” War es dieses Jahrzehnt, das die Ehe von Elise und Oskar zerstörte? Die Umwertung aller Werte? Mit einfühlsamen Worten und detailreichen Schilderungen taucht man ein in die Welt der Familie der Van Bohemens und ihres Oberhauptes, des Fotografen Oskar van Bohemen. “Fotografie war für ihn mehr als Journalismus und möglicherweise sogar mehr als Kunst. Sie war eine Methode, die absolute Wahrheit zu zeigen, womit sie sagen wollten: das, was nicht mehr geleugnet werden konnte”. In Rückblenden erfährt man vom Doppelleben der beiden Elternteile, Elise und Oskar, auch von der strengen Kindheit Oskars, dessen Vater ihn den “Knick in der Kurve” nannte und dafür oft bestrafte. In den Sechzigern wurde es dann besser, Oskar hoffte sogar, dass sein leben so bleiben würde wie es war: “Doch das sollte sich als Illusion erweisen, so wie jede Hoffnung, die auf Stillstand beruht”. Auch von den drei Geschwistern erfährt man viele persönliche Dinge und lernt die drei kennen, als ob sie eigene Bekannte wären.

Ein Leben wie im Film in Fotos

Auch eine literaturwissenschaftliche Ebene ergibt sich: der allmächtige Erzähler wird in Cats Studium zum zentralen Angelpunkt. “Nichts macht so einsam wie eine Begegnung”, “Nie Kinder bekommen, bedeutet niemals zu altern”, sind Stehsätze mit Hilfe derer sie ihr Privatleben ad acta legt. “Es ist nicht das Schneiden, das so schmerzt, sondern das Abgeschnittensein”, zitiert Tessel die Dichterin Vasalis. “Die Eltern sterben und man landet in einer elternlosen Welt. Diese Welt scheint identisch zu sein mit der, die man kennt.(…) Das Theaterstück ist dasselbe, aber die Rollenverteilung anders.(…) Man dürfe froh sein, dass das Stück noch eine Weile weitergeht.” Ein Roman wie ein Familienalbum, voller nützlicher Einsichten und vieler zärtlicher Momente. Wie wenig man über Menschen weiß, die man kennt, begreift man oft erst nach ihrem Ableben. “Nicht alles, was endet, ist ein Misserfolg. Nicht alles, was verloren ist, war ein Paradies.” Die drei Geschwister streifen durch ihr Elternhaus, um den Hausrat aufzuteilen und da entdecken sie auch die Kiste, die zu dem kleinen Schlüssel aus Cats Brief passt. Manche sagen das Leben sei ein Film, aber vielleicht hatte doch Oskar recht: “Das Leben besteht aus Fotos“.

Daan Heerma van Voss
Heute kein Abschied
Roman
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
2025/2023, Hardcover, Leinen, 496 Seiten
ISBN: 978-3-257-07325-6
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80


Genre: Familiengeschichte, Roman
Illustrated by Diogenes

Salz und sein Preis

Glanzstück der Suspense-Literatur

Mit «Salz und sein Preis» hat die US-amerikanische Schriftstellerin Patricia Highsmith unter Pseudonym 1952 einen lesbischen Liebesroman veröffentlicht, der durch eine persönliche Begegnung inspiriert worden ist, die sie als Verkäuferin in der Spielwarenabteilung eines New Yorker Kaufhauses hatte. Erst achtunddreißig Jahre später hat sie persönlich sich zu dem Roman bekannt und ihn in einer überarbeiteten Version und mit einem ausführlichen Nachwort versehen nun unter dem Titel «Carol» herausgebracht. Im prüden Amerika der McCarthy-Ära befürchtete sie mit Recht einen Entrüstungssturm in der Bevölkerung. Nach ihrem erfolgreichen, von Hitchcock verfilmten Romandebüt «Zwei Fremde im Zug» hatte ihre Kariere gerade erst begonnen, da hätte ein heftig umstrittener zweiter Roman ihr erheblich schaden können.

Erzählt wird die Geschichte der neunzehnjährigen Therese, einer angehenden Bühnenbildnerin, die in ihrem vorübergehenden Job als Aushilfs-Verkäuferin in der hektischen Vorweihnachtszeit eine attraktive Kundin im Nerzmantel bedient, deren Blick sie trifft wie ein Schlag. Sie kauft bei Therese einen Puppenkoffer, den sie sich an ihre Adresse schicken lässt. Spontan sendet Therese ihr einen Tag später an diese Adresse eine Firmen-Weihnachtskarte und gibt als Absender nur ihre Personalnummer an. Die Frau ruft sie zwei Tage später in der Abteilung an und schlägt ihr vor, sie in der Pause zum Lunch zu treffen. Sie kommen ins Gespräch und verstehen sich schon auf Anhieb. Da beide Weihnachten allein sein würden, lädt Carol Therese zu sich nach Hause ein. Es stellt sich heraus, dass Carol dreizehn Jahre älter ist als Therese, in Scheidung lebt und eine fünfjährige Tochter hat. Therese wohnt allein in einem kleinen Zimmer, ihr Vater ist tot, die Mutter, eine Konzertpianistin, hat wieder geheiratet, beide haben sich aber schon lange nicht mehr gesehen. Therese ist seit einiger Zeit mit dem gutmütigen Richard befreundet, der Maler werden will. Sie hatte mit ihm auch den ersten Sex, nachdem die zwei vorhergehenden Verehrer sie abrupt verlassen hatten, als sie nicht mit ihnen ins Bett wollte. Auch mit Richard ist sie nicht mehr intim, sie empfindet einfach nichts dabei, obwohl er sie unbedingt heiraten will und ihr versichert, das Problem zwischen ihnen würde sich mit der Zeit schon von allein erledigen. Carol und Therese verstehen sich bestens und werden gute Freundinnen.

Nach den Feiertagen beginnt Therese ihren ersten Job als Assistentin des Bühnenbildners an einem New Yorker Theater. Sie lernt auch Abby kennen, Carols beste Freundin, die mit ihr zusammen mal ein Möbelgeschäft betrieben hat. Die Beiden hatten damals auch ein kurzes Liebesverhältnis, und Abby ist nun scheinbar eifersüchtig, sie will alles von Therese wissen. Schließlich schlägt Carol Therese vor, mit ihr zusammen im Auto eine längere Reise in den Westen zu machen, sie will einfach mal Abstand von den Querelen um ihre Scheidung gewinnen. Nach zwei Wochen, in denen sie sich weiterhin sehr formell Siezen, gestehen sie sich endlich ihre Liebe und werden ein lesbisches Paar. Schließlich bemerken sie, dass sie verfolgt werden, und es stellt sich heraus, dass tatsächlich ein von Carols Mann beauftragter Privatdetektiv sie die ganze Zeit schon observiert. Es geht um das Sorgerecht für die kleine Tochter, das der Mann für sich allein beansprucht, indem er die unmoralische Lebensweise seiner Frau nachweist, die man dem Kind nicht zumute könne. Ohne Zögern fliegt Carol sofort nach New York zurück. Therese aber stellt entsetzt fest, dass Carol sich zwischen ihr und der Tochter wird entscheiden müssen und macht sich keine Illusionen, wie diese Entscheidung ausgehen wird.

Ein ungewöhnlicher Roman, der den Leser mit seiner psychologischen Tiefe in Bann zieht und durch seinen geschickt aufgebauten Spannungsbogen die einsame Klasse der Autorin als Suspense-Spezialistin unter Beweis stellt, immer nach dem Motto: Und erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

 Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Moonlight Mile. Ein Fall für Kenzie & Gennaro

Moonlight Mile. Ein Fall für Kenzie & Gennaro. “Ich liebe es älter zu werden, verdammt.” Ein weiterer Fall für das Ermittler-Duo Patrick Kenzie und Angela Gennaro. Inzwischen sind sie verheiratet und Eltern einer vierjährigen Tochter. Das macht verletz- und erpressbar. Aber es ist nicht das erste Mal, dass Dennis Lehane seinen Lieblingskriminalisten durch einen intelligenten Coup aus der Patsche hilft.

Entführung oder Flucht?

Nun, das ist das Problem, wenn es um Kinder geht, oder? Wir haben keine Ahnung. Keiner von uns.” Die vier Jahre alte Amanda McCready wurde erstmals vor zehn Jahren entführt, aber von Angela und Patrick wiedergefunden. Nun ist Amanda als Teenager erneut verschwunden. Da Kenzie gerade “suppenküchenpleite” ist, nimmt er widerwillig den Auftrag an, die Verschollene wieder aufzustöbern. “Ich habe gehört, dass über Thanksgiving fünf Personen in einen Raum gegangen sind. Können Sie mir bisher folgen?“, bekommt er einen Hinweis oder ist das nur eine weitere Verwirrtaktik seiner Widersacher?

Aus Fünf mach’ vier!

Denn nur vier kamen wieder heraus. War Amanda eine davon? Dass auch noch eine Freundin von Amanda, Sophie, verschwunden ist, führt Kenzie dann auf die richtige Spur, denn ihr Vater, Brian, ist ein Plappermaul. Sophies Betreuer beim Amt für Kinder und Familien ist nämlich ein gewisser Andre Stiles und der hat selbst Dreck am Stecken. Ein Duell – Handy gegen Pistole – enthüllt die wahre Macht der neuen Medien, denn es gewinnt tatsächlich das Handy. Als dann auch noch die Russenmafia in Gestalt von Kyrill Borsakow auftaucht, der mit seinen Kumpels aus Mordwinien (sic!) Boston und Umgebung unsicher macht, wird es eng für Kenzie. Dabei zeigen die Herren aus der ehemaligen Sowjetrepublik durchaus Humor. Sie wollen einfach nur das belorussische Kreuz und ein Baby zurück. Das ist alles.

B.Trüger, R.Presser & Partner

All das, was unsere Väter für gegeben hielten, solange man nur hart arbeitete, das große Sicherheitsnetz und der faire Lohn und die goldene Uhr am Ende? Davon ist hier nichts mehr übrig, mein Freund.” Dennis Lehane, der wie viele seiner irischen Verwandten in Boston lebt gehört auch zu einer starken Stimme gegen den sozialen Untergang im Amerika von heute. Auch wenn der Roman im amerikanischen Original schon vor 15 Jahren – unter demselben Titel – erschienen ist, hat diese Kritik nichts von ihrer Authentizität verloren. Leider, möchte man sagen. Auch die Oxycontin- und Fentanyl-Krise in den USA spricht er am Schicksal einer Ärztin an. Die Schuldenspirale treibt auch sie in die Arme von “B.Trüger, R.Presser & Partner“. “Wir lernen nichts, wir ändern uns nicht, und dann sterben wir. Und schon nimmt die nächste Generation an Blendern unseren Platz ein. Und das? Das ist alles.

Moonlight Mile: Ein Fall für Kenzie & Gennaro

Ein düsteres Resümee, aber es ist kein Pessimismus, der da durchklingt, ganz im Gegenteil: “Ich liebe das, was kaputtgeht und nicht repariert werden kann. Was verloren geht und nicht ersetzt werden kann. Ich liebe meine Bürde.” Am Ende weiß auch Patrick Kenzie, was wirklich zählt und zieht seine Konsequenzen. Aber viele weitere Fälle von Kenzie & Gennaro sind ebenso beim Diogenes Verlag in deutscher Übersetzung zu lesen, ganz abgesehen natürlich von den anderen Werken Dennis Lehanes, die teilweise auch in Starbesetzung verfilmt wurden und ebenso bei Diogenes erhältlich sind. Übrigens spielt in Moonlight Mile auch Bubba wieder eine ehrenvolle Rolle. Und natürlich ein Album der Rolling Stones: Track 6.

Dennis Lehane
Moonlight Mile
Ein Fall für Kenzie & Gennaro
Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg
2025/2010, Paperback, 384 Seiten
ISBN: 978-3-257-30047-5
Diogenes Verlag
€ (D) 20.00 / sFr 27.00* / € (A) 20.60


Genre: Krimi
Illustrated by Diogenes Zürich

Eva schläft

Eva schläft. “Vielleicht ist es eines Tages gar nicht mehr so schlimm, ein Kind zu haben und unverheiratet zu sein”, hofft Gerda. Der Romanerstling “Eva schläft” der in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri beschäftigt sich mit den sog. “Südtiroler Bummsern”, also den Separatisten, die in den Siebzigern Südtirol aus Italien zurück in ihr “Heimatland” Österreich bomben wollten. Aber auch eine Vater-Tochter Geschichte wird erzählt, die einmal mehr die Spannung zwischen dem Norden und dem Süden des Landes verdeutlicht. 1397 km trennen Vito und Eva.

Südtirols Befreiungskampf

Eva ist die Tochter von Gerda Huber und Vito. Nur, dass Eva ihren Vater gar nicht kennt. Sie macht sich auf die Suche nach ihm, reist nach Kalabrien und dazwischen wird in Rückblenden die Geschichte ihrer Mutter und der Provinz Alto Adige erzählt, die vor allem durch das weise Handeln von Silvius Magnago nach etlichen Konflikten zu einer gewissen Autonomie der Region führte. Die “Option” war eine zwischen Mussolini und Hitler ausgearbeitete Lösung, die die Südtiroler “heim ins Reich” holen sollte und Südtirol italianisieren sollte. Aus diesem Grund wurden auch aus dem Süden Italiens Menschen in den Norden umgesiedelt. Aber die, die blieben, ignorierte man, “man tat einfach so, als gäbe es sie überhaupt nicht”, Italienisch wurde zur Pflicht.

Die Suche nach einem (Landes-)Vater

Aus der “Los von Trient” Bewegung der Nachkriegszeit wurde bald eine “Los von Rom!” Bewegung, aber das gelang dann doch nicht ganz. Als Südtiroler war man ein Mensch zweiter Klasse im eigenen Land, die Behörden sprachen kein Deutsch, und als Südtirolerin wurde man zudem noch als “Matratze” diffamiert, besonders wenn man im Hotelgewerbe arbeitete. Die Männer schufteten in den Kalkwerken der Dolomiten und ruinierten sich ihre Gesundheit. Diejenigen die sich dagegen wehrten, wurden gefoltert, das kannte auch Silvius Magnago. “Dieser Mann war nicht nur ein erstklassiger Jurist, sondern ein echter Intellektueller“, schreibt Melandri. “Und vor allem war er jemand, dem, so erschöpft und zerstreut er sein mochte, nie ein Gemeinplatz über die Lippen kam“.

Duft von Stube und Heuboden

Si accusi bella ca si faciss’ nu pireto m’o zucass“, heißt ein sizilianisches Sprichwort, das Francesca Melandri dem Leser:in gerne ein paar Zeilen weiter übersetzt. Allein dafür lohnt es sich schon, diesen Romanerstling der Romanautorin zu lesen, die zuletzt mit einem sehr engagierten Essay, “Kalte Füße“, ebenfalls bei Wagenbach erschienen, auf sich aufmerksam machte. Sie erzählt vom Verbot der Mischehen, das bis 1971 bestand, den Grundfähigkeiten eines leidenschaftlichen Briefmarkensammlers und vom Duft von Stube und Heuboden, der aus einer handgeschnitzten Holzkiste strömt. Jedem Abschied wohnt ein Zauber inne, aber noch mehr dem Wiedersehen.

Eine Umarmung der Vergebung

Über 1397 km hinweg zelebriert sie das Wiedersehen zwischen Tochter und Vater, zwischen Eva und Vito, das durch ihr Mutter 30 Jahre lang hinausgezögert wurde. “Es ist ihre Schuld. Es ist alles ihre Schuld. Alles, aber wirklich alles ist ihre Schuld“. Aber wieviel Gnade und Wonne liegt im Vergeben und verzeihen: “Und jetzt umarme ich meine Mutter, denn nichts und niemand kann uns für das entschädigen, was wir verloren haben. (…) sich wieder umarmen zu können und nicht mehr länger und sei es nur für einen Augenblick, das große Glück zu vergessen, zu leben und zusammen sein zu dürfen.

Eine Roman zwischen Nord und Süd, zwischen Südtirol und Kalabrien. Die Streitbeilegungserklärung vom Juni 1992 zwischen Österreich und Italien und dem Schengener Abkommen von 1998, nach dem alle Schlagbäume am Brenner entfernt wurden, waren Ergebnisse eines langen Kampfes, den Melandri in bunten, duftenden Eindrücken voller poetischer Wendungen und sinnlichen Einwerfungen wie ihr eigenes Schicksal schildert. Wollen wir dieses vereinte Europa wirklich verlieren?

Francesca Melandri
Eva schläft. Roman
Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
2025/2010, 440 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-8031-2805-8
Wagenbach Verlag
16,– €


Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Gilead

Für Atheisten schwer erträglich

Als erster einer von Marilynne Robinson als Buchreihe geplanten Folge von Romanen erschien im Jahre 2004 «Gilead», ein auf das gleichnamige, biblische Land östlich des Jordans hinweisender Titel. Die deutsche Ausgabe in der aktuell vorliegenden, teilweise bemängelten Übersetzung wurde erst 2016 herausgegeben. Dieser in den USA ziemlich erfolgreiche Roman wurde mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und vom damaligen Präsidentschafts-Kandidaten Barak Obama überschwänglich gelobt. Allerdings schreibt die in Deutschland kaum bekannte US-amerikanische Schriftstellerin keine leichtverdaulichen Romane. In «Gilead» widmet sie sich vielmehr schwierigen Menschheits-Themen wie Geburt, Krankheit und Tod in einer von tiefer Religiosität geprägte Erzählung, die in weiten Teilen als Briefroman angelegt ist, aber auch als Tagebuch und Memoir.

Im Jahre 1956 schreibt der in Gilead, einer fiktiven, abgeschiedenen kleinen Stadt in Iowa, auf dem Sterbebett liegende, weiße Pastor John Ames einen langen Brief an seinen siebenjährigen Sohn, dem er darin alles erklären will, was das Leben betrifft. Eine fiktionale Autobiografie mithin, in der Hochwürden episodisch seine zu verschiedenen Anlässen entstandenen Aufzeichnungen aneinander reiht. Er will von seinen Einsichten und Lebenserfahrungen als 76Jähriger möglichst vieles an den Sohn weitergeben, bevor er wegen seiner Herzerkrankung dazu bald schon nicht mehr in der Lage sein wird. Seine Familie lebt bereits seit Generationen in Gilead, sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren schon kongregationalistische Pastoren dieser Gemeinde, eine seit jeher weitverbreitete Tradition im weiten Verbund ihrer Familie. Der  Vater von John Ames war überzeugter Pazifist, der Großvater ein radikaler Gegner der Sklaverei in den USA, der gemeinsam mit Gleichgesinnten im amerikanischen Bürgerkrieg Guerilla-Aktionen durchgeführt hat und als Kaplan bei den Truppen der Union mitwirkte.

Beginnend mit der Suche nach dem Grab des Großvaters, der in den Kriegswirren den Tod gefunden hat, schildert der betagte Briefschreiber in einer weiteren Episode seine Kommunion, die er in einer vom Blitz getroffenen Kirche von seinem Vater empfing. Er schildert aber auch die Geschichte, wie er mit Lila, seiner wesentlich jüngeren, zweiten Frau, die aus einem bildungsfernen Milieu stammt, an einem Pfingstsonntag, in seiner Kirche zum ersten Mal zusammentraf. Die ungleichen Zwei fühlten sich magisch zueinander hingezogen, er tauft sie sogar, bis sie ihm schließlich, ganz unkonventionell, einem Heiratsantrag macht und dem 69Jährigen schon bald einen Sohn schenkt, – den kleinen John, den Ich-Erzähler dieses Romans. Auch der Apartheid ist eine Episode des Romans gewidmet, als sein Patensohn Jack, den er par partout nicht mag, schwer leidet unter der erzwungenen Trennung von seiner afroamerikanischen Frau. Er darf sie aufgrund der Jim-Crow-Gesetze zur Rassentrennung nicht heiraten, und auch seine Familie lehnt sie ab. Dieser erlittene Verlust verbindet Jack ganz besonders mit Lila, der ein solcher Verlust mit dem drohenden Tod ihres Mannes ja bald schon bevorsteht.

Der Roman ist geprägt durch die vielen theologischen Sinnkrisen, die den Ich-Erzähler plagen. Zu denen gehören insbesondere die unbegreiflichen Taten seines Großvaters im Bürgerkrieg, die schwere Zeit nach dem Tod seiner ersten Frau, das Entsetzen über seinen definitiv vom Glauben abgefallenen Bruder und schließlich auch über den eigenen Vater, der scheinbar ebenfalls den Glauben verloren hat und seine Gemeinde verließ. All das wird von Zitaten aus der Bibel begleitet und theologisch kommentiert. Mit reichlich Pathos werden diese Begebenheiten von dem sympathisch anmutenden Protagonisten ziemlich gelassen vorgetragen, mit der offensichtlichen Botschaft zudem, darüber bloß nicht die kleinen Freuden des Lebens zu vergessen. Moralisch aufbauend zweifellos, ist «Gilead» als Lektüre allerdings weder bereichernd noch unterhaltend, – und für Atheisten einfach nur schwer erträglich!

Fazit:   miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Rote Sonne

In den Feuilletons völlig unbeachtet

Der neue Roman der schwedischen Schriftstellerin Johanne Lykke Holm mit dem Titel «Rote Sonne» ist eine Dystopie, die sich auf eine beklemmende Weise mit den Themen Kindsein, Erziehung und Verantwortung beschäftigt. Erzählt wird eine handlungsarme, mystische Geschichte, bei der drei elternlose, unbehauste Jungen im Blickpunk stehen, in deren Schicksal ein kinderloses Paar ungewollt hineingezogen wird. Zeit und Ort der Handlung bleiben im Dunkeln, werden bewusst verschleiert, und auch die Figuren des Romans bleiben rätselhaft, ihr Tun wird äußerlich in allen Details beschrieben, ihr Innerstes aber bleibt unerschlossen.

Kallas und India, ein junges unverheiratetes Paar, leben in einer kleinen Wohnung im siebten Stock eines Hochhauses in einer nicht benannten Stadt am Fluss. Sie sind ein überaus glückliches Paar, ihre Liebe ist grenzenlos. Desma, eine alte Freundin von Kallas, die er seit der Jugendzeit kennt, lädt ihn bei einem ihrer gelegentlichen Telefonate ein, sie und ihren Freund Lafayette für einige Zeit in ihrem großen Haus am Meer besuchen zu kommen. Spontan sagt er zu, er und India machen sich schon am folgenden Tag mit der Eisenbahn auf den Weg. Im Zug fallen ihnen drei kleine Jungens auf, die auf dem Gang herumtoben. Am Meer verbringen die beiden Paare dann einige schöne Tage miteinander und führen allabendlich lange Gespräche in weinseliger Runde. Dabei kommt heraus, dass Desma schon sehr früh schwanger geworden ist und man sie damals überrumpelt hat, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Lafayette gesteht, dass er als Jugendlicher einen anderen, der ihn öfter bedroht hatte, mit dem Messer erstochen hat, wofür er vier Jahre im Jugendgefängnis absitzen musste. Bei einem gemeinsamen Badeausflug fällt ein Mann in Strandnähe von seinem Boot und wäre beinahe ertrunken, wird aber durch den Bademeister gerettet. Vorsorglich fahren Kallas und Lafayette mit ihm ins Krankenhaus. Unter den neugierigen Zuschauern sind auch die drei Jungs vom Zug, die später plötzlich am Gartentor von Desma auftauchen und sich besorgt nach dem Mann erkundigen.

Es stellt sich heraus, dass die Drei im Alter von fünf, sieben und elf Jahren allein unterwegs sind, ohne Eltern. Desma lädt sie ins Haus ein, gibt ihnen zu essen und verfrachtet sie für die Nacht in ein Gästezimmer. Als nachts in der Nähe eine Fabrik in Brand gerät und das Feuer wegen der Trockenheit rasend schnell um sich greift, beschließen Kallas und India, vorsichtshalber die Kinder sofort mit dem Auto von Desma in ihre Wohnung in der Stadt zu bringen. Es vergehen einige Tage, bis das Paar dort endlich die Behörden über die Kinder informiert. Man sagt ihnen schließlich, sie sollten die Kinder vorerst bei sich behalten, bis nach Ende der Feuersbrunst eine Entscheidung über das weitere Vorgehen getroffen wird, – es vergeht fast ein Jahr darüber!

Über dem scheinbar normalen, nicht immer plausiblen Geschehen in diesem Roman liegt permanent ein mystischer Schleier der Ungewissheit. Die Autorin schildert Nebensächliches wie Spaziergänge oder Einkäufe mit auffallender Detail-Versessenheit. Sie erläutert immer wieder die besonderen Lichtverhältnisse, Wind und Wetter, Gerüche, Farben, Geräusche und Oberflächen von allen möglichen Dingen. Dabei überlässt sie das Wesentliche, die innere Verfasstheit ihrer Figuren, weitgehend der Phantasie des Lesers. Die zufälligen Pflegeeltern, erfährt man fast nebenbei erst ganz am Ende, waren sich beide schon immer einig, keine Kinder zu wollen. Sie lassen die unerwartete Situation mit der Verantwortung für die drei Jungs ungerührt über sich ergehen und leben wie in Trance weiter in dieser für sie völlig ungewohnten familiären Konstellation. Kinder zu lieben und zu versorgen ist plötzlich scheinbar das Normalste von der Welt für sie. Das planvolle Unterlaufen von Erwartungen des Lesers ist ein typisches stilistisches Merkmal dieses idealistischen Romans. Er ist in den Feuilletons erstaunlicher Weise völlig unbeachtet geblieben, wo sonst ja nahezu jeder Schundroman beflissentlich rezensiert wird.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by AKI-Verlag Zürich

Der lachende Uhu: Gedichte im Zeichen des Uhus

Der Uhu lacht – und die Poesie fliegt mit
Ein federleichtes Lesebuch über Weisheit, Witz und Waldgeflüster

Mit Der lachende Uhu legt die Prinz Rupi Kulturstiftung einen poetischen Sammelband vor, der auf ebenso charmante wie überraschende Weise unterhält. Die Idee zu diesem außergewöhnlichen Buch entstand im Rahmen eines offenen Literaturwettbewerbs in Zusammenarbeit mit der Schlaraffia Lietzowia, der bemerkenswerte Resonanz fand: 337 Autorinnen und Autoren aus dem gesamten deutschsprachigen Raum beteiligten sich – vom Grundschüler bis zum Großvater, von Hobbypoeten bis zu literarisch versierten Stimmen. Der jüngste Teilnehmer ist neun Jahre alt, der älteste zählt 94 Jahre. Diese ungewöhnliche Spannweite verleiht dem Band eine authentische, generationenübergreifende Vielstimmigkeit. Weiterlesen


Genre: Anthologien, Lyrik
Illustrated by Kindle Edition

Don Quijote

Das Buch für die Insel

«Don Quijote» von Miguel de Cervantes gilt als der erste moderne Roman, das 1605 und 1615 erschienene, zweiteilige Werk ist mit bisher über 500 Millionen Auflage aber auch der mit Abstand meistverkaufte Roman aller Zeiten. Er wurde zudem 2002 bei einer vom Nobelinstitut in Stockholm veranstalteten Umfrage unter hundert berühmten und anerkannten Schriftstellern aus der ganzen Welt als bester jemals geschriebener Roman gekürt. Mit seinem Kampf gegen die Windmühlen ist der Ritter von der traurigen Gestalt auch Urheber geworden für das vielzitierte Sprichwort über die vergeblichen Mühen des Bürgers im Umgang mit bräsigen Bürokraten.

Die «Vorrede» des Autors beginnt mit dem Satz: «Unbeschwerter Leser, auch ohne Eid darfst du mir glauben, wie sehr ich mir wünschte, dies Buch, dies Kind meines Geistes wäre das schönste, stolzeste und klügste, das man sich nur denken kann». Im Dialog mit einem Freund teilt der spanische Autor dort voller Spott dann auch jede Menge Seitenhiebe gegen das damals in höchster Blüte stehende Genre der kitschigen Ritterromane aus. Es wird deutlich, dass der «Don Quijote» als Parodie dieser seinerzeit so beliebten Literatur gedacht ist. Reine Satire also, und nicht nur vom Inhalt her, sondern auch stilistisch auf die Spitze getrieben durch persiflierenden Wortwitz und eine der Zeit geschuldete, gedrechselte, aber eben auch amüsante Diktion. Der Protagonist Don Quijote gesteht denn auch gleich zu Beginn, dass er selbst, dem Publikums-Geschmack folgend, jeden Ritterroman gelesen habe, den er in die Hände bekommen konnte, sein Haus sei voll davon. Er identifiziert sich vollständig mit den hehren Zielen der Ritterorden und beschließt, selbst ein Ritter zu werden. Und das geschieht nur deshalb, weil er in seiner Einfalt den Lug und Trug der Romane nicht von der Realität unterscheiden kann, weil er naiv Wort für Wort an das glaubt, was er gelesen hat. Für Cervantes ist sein Roman auch ein Beleg dafür, dass übermäßige Lektüre von Schundromanen letztendlich nur den Verstand raubt, worauf Denis Scheck übrigens aktuell auch in seiner Bestseller-Bibel hingewiesen hat, wo eine aktuelle Studie benannt ist, die das tatsächlich belegt.

Also zieht der Held auf Rocinante, seinem Klepper, in die Welt hinaus, um Gutes zu tun und Böses zu verhindern, begleitet von seinem Schildknappen Sancho Panza, der auf einem Esel reitet. Und er will natürlich auch Dulcinea finden, seine erträumte Herzensdame. Er erlebt zahlreiche haarsträubende Abenteuer und richtet überall da, wo er auftaucht, ein schlimmes Chaos an. Seinen rohen Gegnern unterliegt er immer und siegt nur dort, wo er gegen völlig Unschuldige und Ahnungslose zu Felde zieht. Im zweiten Teil des Romans ist Don Quijote der anerkannte Schriftsteller des ersten Teils geworden, der nun mit Sancho Pansa weitere Abenteuer besteht, seine Dulcinea aber leider auch nicht findet. Ganz am Ende verliert er einen Zweikampf und kehrt in sein Dorf zurück, wo er seine Lebenslüge erkennt und desillusioniert an Wundfieber stirbt.

Die Handlung des Romans wird ergänzt durch viele in sich abgeschlossene Episoden, deren aberwitziges Geschehen für sich allein steht. Besonders amüsant sind die Passagen, in denen Cervantes gegen die Schriftsteller zu Felde zieht, indem er zum Beispiel Zweifel an seinem Buch bekundet, «… wo ich doch sehe, dass andere Bücher, einerlei wie herbeiphantasiert und profan, nur so von Sprüchen des Aristoteles strotzen, von Platon und dem ganzen Philosophentross, und damit ihre Leser staunen machen, und die halten derlei Schreiber dann für belesene, beredte und gelehrte Männer». Wie wahr! Der «Don Quijote» ist übrigens einer der seltenen Romane, die man ohne Abstriche in kleinsten Portionen über längere Zeiträume hinweg goutieren kann, denn jeder Abschnitt des Buches ist für sich allein eine literarische Preziose. Es wäre in der Gesamtausgabe in einem Band mit fast 1500 Seiten insoweit auch das viel beschworene, nie langweilig werdende, ideale «Buch für die Insel».

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Tannöd

Chapeau!

Das Romandebüt von Andrea Schenkel mit dem Titel «Tannöd» startete 2006 mit einer Auflage von 3000 Exemplaren, verkauft wurden schließlich über eine Million Bücher, – so kann ein Verlag sich irren, oder anders gesagt, so launisch ist die Lesergunst! Dieser mehrfach prämierte Dorfkrimi hat es in kurzer Zeit sogar geschafft, Daniel Kehlmanns «Die Vermessung der Welt» vom Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste zu verdrängen. Inzwischen wurde der Stoff als Hörspiel und Theaterstück verarbeitet und auch erfolgreich verfilmt. Der Roman basiert auf einem wahren Mord in Hinterkaifeck bei Schrobenhausen, wo am 1. April 1922 auf einem Einödhof sechs Menschen erschlagen wurden. Sie sei durch einen Zeitungs-Artikel darauf gestoßen, erklärte die Autorin in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, welches im Anhang des Romans abgedruckt ist. «Ich habe die Handlung auf die Nachkriegszeit verlegt und ein paar Personen dazugeschrieben und die Opfer neu erfunden«, erklärte sie zur Entstehung des Buches. «Und am Schluss finde ich einen Täter – in Wirklichkeit wurde der Fall ja nie geklärt».

Der Roman erzählt von einem tyrannischen Bauern, der mit Frau und Tochter, zwei Enkelkindern und einer Magd auf einem Einödhof lebt. Danner ist ein brutaler Eigenbrötler, der seine Familie schikaniert und dem alle Dorfbewohner aus dem Weg gehen, die Familie lebt völlig isoliert am äußersten Rand des Dorfes. Als die Nachbarn mehrere Tage lang niemanden mehr sehen von der Familie, die Enkelin nicht in der Schule erscheint und auch der Postbote niemanden antrifft, beschließen drei Männer, nachzusehen, was denn da los ist. Das Haus ist verschlossen, im offenen Heustadel finden sie schließlich die mit Heu bedeckten Leichen des Bauern und seiner Frau, ihrer Tochter und der Enkelin. Und im Haus entdecken sie schließlich noch die Leichen des zweijährigen Enkelsohns und die der erst am Vortag eingestellten, neuen Magd. Alle Sechs wurden brutal mit einer Spitzhacke erschlagen.

Andrea Schenkel führt schon früh einen Täter ein in ihre Geschichte, sie erzählt von einem Tagedieb und Vagabunden, der sich jeweils für kurze Zeit als Taglöhner verdingt, dabei den Hof gründlich erkundet und seinen Arbeitgeber ausspioniert. Sein Wissen macht er sich dann nach einiger Zeit zu nutze, um in das jeweilige Haus einzubrechen, oder er gibt alle Informationen an seine Kumpels weiter, die dann den Raubzug ausführen und die Beute mit ihm teilen. In ihrem raffiniert angelegten Plot entwickelt die Autorin ihre multi-perspektivisch erzählte Geschichte in weiten Teilen in Form von kurzen, persönlichen Berichten aus dem familiären und dörflichen Beziehungsgeflecht. Aus diesem vielstimmigen Chor entsteht nach und nach ein mosaikartiges Bild des Geschehens und seiner Vorbedingungen. So wird dann auch deutlich, dass Danner seine Tochter Barbara seit ihrem zwölften Lebensjahr sexuell missbraucht hat. Aus diesem Inzest ist später seine Enkeltochter entstanden, und Danner hat es geschafft, Barbara mit einem Flüchtling zu verheiraten, der auf das Erbe spekuliert hat. Später hat er den Schwiegersohn dann davongejagt und ihm Geld gegeben, damit er auf Nimmerwiedersehen nach Amerika auswandern könne. Als Barbara einige Jahre später wieder schwanger wurde, hat sie ein Verhältnis mit dem verwitweten Nachbarn angefangen und ihn dazu gebracht, sich als Vater ins Geburtsregister eintragen zu lassen.

Dieser Roman ist eher ein Heimatroman als ein Krimi, der Mord selbst steht erzählerisch nicht im Mittelpunkt, er wird nur kurz gestreift. In Fokus ist vielmehr das familiäre und dörfliche Beziehungsgeflecht, das jeweils aus der Innenperspektive heraus, – auch jener der Opfer, psychologisch aufschlussreich und stimmig geschildert wird. Zahlreiche religiöse Einsprengsel stehen für eine Kritik an der bigotten Frömmigkeit der einfältigen Dörfler. Das häppchenweise Erzählen sorgt – ganz ohne die genre-üblichen Muster – für Spannung und führt zielstrebig, anders als in der realen historischen Mordsache, auf ein überraschendes Ende hin. Chapeau!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

In einem Zug

Unterhaltung ohne Tiefgang

Auf dem Buchumschlag von Daniel Glattauers neuem Roman mit dem Titel «In einem Zug» prangt auf der Vorderseite der Aufkleber «Spiegel Bestsellerautor», und tatsächlich hat sich auch dieser Roman wieder als sehr erfolgreich erwiesen. In den Feuilletons wird er fälschlich oft als Liebesroman bezeichnet, im Wirklichkeit handelt es sich aber um ein Buch ‹über› die Liebe. Es geht hier also nicht um Zwei, die sich lieben, geliebt haben oder sich lieben werden, es geht um Zwei, die sich über Liebe unterhalten, und zwar während einer Zugfahrt. Protagonist und Ich-Erzähler ist ein dem österreichischen Autor in Vielem ähnelnder Schriftsteller. Ein interessantes Setting also, das Einblicke in die Interna der Branche verspricht!

Mit den Worten «Ich setze eine Person in einen Zug, und dann passiert etwas» hat Glattauer das Grundkonzept seines Romans beschrieben, er habe sich dabei einfach der Lust und Freude am Schreiben hingeben wollen. Eduard Brünhofer, bekannte Autor erfolgreicher Liebesromane, sitzt im ICE von Wien nach München, wo er am Nachmittag einen äußerst wichtigen Termin hat. Seit mehr als zehn Jahren quält er sich schon damit herum, endlich eine Idee für einen neuen Liebesroman zu finden, aber er ist restlos ausgelaugt und bleibt schon nach wenigen Seiten hoffnungslos stecken, weil er nicht weiter weiß, weil das begonnene Manuskript seine hohen Ansprüche auch nicht annähernd erfüllt. Kurz vor der Abfahrt steigt eine Frau «im frühen mittleren Alter» in das Viererabteil und setzt sich ihm schräg gegenüber. Er wäre gern allein geblieben, um sich in Ruhe auf seinen schwierigen Gesprächstermin vorzubereiten. Aber es kommt anders, die Frau spricht ihn an, sie will sich offensichtlich unterhalten. Als er sich schließlich als Eduard Brünhofer vorstellt, der bekannte Autor von Lieberomanen, gesteht sie, dass sie noch nie etwas von ihm gelesen hat.

Aber der Damm ist gebrochen, sie nutzt die Chance, mit einem vermeintlichen ‹Experten› über das Thema Liebe in allen seinen erfreulichen und unerfreulichen Facetten zu reden, denn sie ist als Psycho-Therapeutin oft auch mit derartigen Problemen beschäftigt. Schon bald sind sie per Du, und es stellt sich heraus, dass Catrin Meyr schon länger eine Fernbeziehung mit einem verheirateten Mann in München hat, den sie gerade besuchen will. Sie ist völlig desillusioniert. Nach diversen Beziehungen, deren längste vier Jahre gedauert hat, hält sie jede Zweisamkeit auf Dauer für problematisch. Da bleibt man doch besser allein, so ihr Credo, und spart sich den ganzen Beziehungs-Stress. «Wir reden noch eine hübsche Weile um den heißen Brei herum«, heißt es im Roman, aber Catrin lässt nicht locker. Geradezu inquisitorisch befragt sie Eduard Brünhofer über seine langjährige und (wirklich?) glückliche Ehe und spart dabei auch den ehelichen Sex nicht aus, der doch nach so langer Zeit kaum noch leidenschaftlich sein könne.

Auf der vierstündigen Fahrt geht es um die naheliegende Frage, was denn ein Autor erfolgreicher Liebesromane über die Liebe zu sagen habe. Ob er denn gerne darüber schreibe oder wie es denn sei, Sexszenen zu schildern, die man so selbst gar nicht erlebt hat, und vor allem, was denn seine Frau dazu sage. Der schrullige Schriftsteller ist mehr, als es gut tut, dem Rotwein zugetan, was zwar einen thematischen Nebenstrang öffnet, der dann aber nicht näher beleuchtet wird. Die berühmte Frage, «was möchte uns der Autor mit seinem Roman denn eigentlich sagen», läuft hier ins Leere, es gibt keine Botschaft! Der federleichte Stil, in dem da erzählt wird, bedeutet eine angenehme Lektüre ohne Tiefgang, die vor allem vom Wortwitz und den amüsanten Dialoge der beiden ungleichen Zugreisenden lebt. Die zunehmend spannender werdende Frage, warum sich Catrin eigentlich so sehr für das Liebesleben dieses vom Scheitern bedrohten Schriftstellers interessiert, wird erst ganz am Ende in einer überraschenden Wendung geklärt. Gut unterhalten hat man sich bis dahin als Leser, mehr aber war nicht!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by DuMont

Tauben im Gras

Epochenroman des literarischen Kanons

«Tauben im Gras» ist der 1951 als erster veröffentlichte Band dreier, von Literaturkritikern als «Trilogie des Scheiterns» bezeichneter, kurz hintereinander erschienener Romane von Wolfgang Koeppen. Alle drei Romane gleichen sich in ihrer Thematik, sie beschäftigen sich mit den Befindlichkeiten und Ereignissen im Nachkriegs-Deutschland kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei knüpfte «Tauben im Gras» im Gegensatz zur damals noch dominanten ‹Trümmerliteratur› bereits deutlich an die literarische Moderne an. Seinerzeit vom Lesepublikum eher verhalten aufgenommen, war dieser Roman bis in jüngste Zeit hinein Abitur-Pflichtlektüre, zog eine beeindruckende Zahl von Sekundär-Literatur nach sich und gehört heute zweifellos zum Kanon deutscher Literatur. Im Anhang der aktuellen Ausgabe des Suhrkamp-Verlags sind umfangreiche Kommentare und ein editorischer Bericht über die vorliegende Ausgabe des Romans enthalten, von dem weder ein Typoskript noch eine erste Satzvorlage existieren. Völlig überflüssiger Weise ist vor Kurzem erst ein Streit über die angeblich rassistische Sprache bei Koeppen entbrannt. So zum Beispiel hier über die Verwendung des ‹N-Worts› für farbige US-Soldaten, für die Koeppen sogar die abwertende amerikanische Form benutzt, mit der GIs damals verächtlich bezeichnet wurden. Ein geradezu absurder, durch eine selbsternannte Sprachpolizei ausgelöster Hype, der, wie auch beim beflissenen Gendern, die deutsche Sprache regelrecht verhunzt!

In mehreren Handlungssträngen wird mit über hundert kurzen, ineinander verwobenen Abschnitten des Plots das Leben der Nachkriegs-Bevölkerung geschildert. Die mehr als dreißig unterschiedlich wichtigen Figuren repräsentieren einen Querschnitt damaliger Normalbürger und vieler als Besatzungsmacht in Deutschland lebender Amerikaner. Dabei gibt es keine einzelnen dominanten Protagonisten, die bestimmend wären für die Handlung. Auffällig ist zudem, dass sie als Charaktere alle wenig markant ausgestaltet sind, man kann sich nach der Lektüre kaum an einen einzelnen von ihnen erinnern. Da gibt es zum Beispiel den frustrierten Schriftsteller, der entfernt an den Autor selbst erinnert, oder dessen alkoholabhängige Frau als reiche Erbin, die mangels anderer Einkünfte im Pfandhaus nach und nach ihre Wertgegenstände zu Geld macht. Es gibt den agilen, farbigen Amerikaner, der eine Kriegerwitwe heiratet und eng mit einem Gepäckträger befreundet ist, einem ehemaligen NS-Mitläufer, und im Verlauf der Handlung wird der GI dann verdächtigt, ihn erschlagen zu haben. Als seine deutsche Frau abtreiben will, weil sie der «Schande» durch ein Mischlingskind nicht gewachsen ist, verhindert er durch ein Gespräch mit dem Arzt diesen Eingriff. Es gibt eine Gruppe von amerikanischen Lehrerinnen, die als Touristinnen die Stadt erkunden. Ein philosophisch veranlagter Dichter, der eine heftig umstrittene Rede hält, stellt sich schließlich als homosexuell aktiv heraus, damals bekanntlich ein Straftatbestand.

Die Figuren sind allesamt den titelgebenden «Tauben im Gras» vergleichbar, wie es in einem Gespräch der Lehrerinnen bei einem Spaziergang angesichts einiger im Gras hockender Vögel heißt. «… die Vögel sind zufällig hier, wir sind zufällig hier, und vielleicht waren auch die Nazis nur zufällig hier …». Und weiter: «… vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes, keiner weiß, warum wir hier sind, die Vögel werden wieder auffliegen und wir werden weitergehen …».

Stilistisch folgen die Szenen des Romans mit harten Schnitten aufeinander, wobei aber stets gewährleistet ist, dass der Zusammenhang mit dem vorher Erzählten durch eine der Figuren oder mit Hilfe von markanten Signalwörtern deutlich wird. Die vorwärts drängende, schnörkellos sachliche Erzählweise ist durch häufig angewandte Parataxe gekennzeichnet. Wegen seiner Gedankenfülle erfordert dieses Werk stets aufmerksame Leser, und als Epochenroman ist es geradezu exemplarisch für ein kurzes, aber wichtiges Kapitel deutscher Geschichte.

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Der Nachtstimmer

Schwachsinn im Buch der Bücher

Der Roman des niederländischen Schriftstellers Marten ’t Hart mit dem seltsam anmutenden Titel «Der Nachtstimmer» ist sein bislang letztes, auf Deutsch erschienenes Buch. Der in Holland sehr beliebte Autor ist für seine originellen Themen und die unkonventionelle Art seines Erzählens bekannt. Er nimmt auch in diesem Roman kein Blatt vor den Mund, wenn er geradezu lustvoll Gesellschaft und Religion kritisiert, was in stoischer Beharrlichkeit zu oft komischen, den Lachmuskel strapazierenden Dialogen und Szenen führt. Der selbst Orgel spielende Schriftsteller dringt in diesem Porträt eines professionellen Stimmers von Kirchenorgeln tief ein in die konstruktiven Details und die akustischen Eigenschaften dieser riesigen, sehr besonderen Musikinstrumente. Zahlreich sind aber auch seine durchaus bereichernden erzählerischen Ausflüge in die klassische Musik, die im Roman als die definitiv einzig wahre Form von Musik bezeichnet wird.

Gabriel Pottjewijd, der etwa fünfzigjährige Ich-Erzähler des Romans, reist im Auftrag seiner Firma in eine kleine Hafenstadt Südhollands, um dort eine der seltenen Garrels-Orgeln zu stimmen. Vor Ort muss er feststellen, dass die Kirche in unmittelbarer Nähe zu einer Schiffswerft liegt, aus der an allen Wochentagen ein Höllenlärm dringt, zu dem auch noch Geräusche aus dem lebhaften Betrieb im Hafen hinzukommen. Unter diesen Umständen ist ein Stimmen der Orgel beim besten Willen nicht möglich, er muss auf die Nacht ausweichen und auf Wochenenden, an denen der Betrieb ruht. Der Küster weist ihn darauf hin, dass meist ein junges Mädchen aus dem Ort als Helferin beim Stimmen fungiert, was die Arbeit erheblich erleichtert, weil sie mit großer Geduld stundenlang die jeweils gewünschten Töne anschlägt. Dadurch kann er sich in dem riesigen Instrument seiner zum Teil artistischen Arbeit widmen und muss nicht immer zur Tastatur zurück, um ein Bleigewicht auf die nächste Taste zu legen, deren Pfeife er jeweils anschließend stimmen will.

Tatsächlich ist Sanna pünktlich zur Stelle, begleitet von ihrer brasilianischen Mutter Gracinha, der attraktiven Witwe eines Schlepper-Kapitäns, deren Schönheit den drögen Gabriel fast umhaut. Sanna wird von den Leuten als geistig zurückgeblieben bezeichnet, sie spricht kaum mal ein Wort, vor allem aber absolut kein Holländisch, obwohl sie es in der örtlichen Schule gelernt hat. Gabriel hält sie für sehr begabt, und als er mit seinem älteren Bruder telefoniert, der Kinderpsychiater ist, vermutet der per Ferndiagnose eine autistische Störung. Das sei typisch für hochbegabte und kontaktarme Menschen, könne sich bei ihr mit dem Älterwerden aber bessern oder auch total verschwinden. Die Mutter erweist sich von Anfang an als Femme fatal, atemberaubend schön, von allen Männern begehrt, andererseits ist sie aber auch eine wahre Xanthippe, oft schlechtgelaunt und aggressiv. Denn Gracinha hadert mit dem Schicksal, ihrem Mann in die triste holländische Hafenstadt mit dem immergleichen, schlechten Wetter gefolgt zu sein. Durch die Arbeit in der Kirche treffen sie sich nun täglich, und schon bald sagt sie Gabriel ganz unverblümt auf den Kopf zu, dass sie ihm ja wohl offensichtlich den Kopf verdreht habe, sie ihn aber keinesfalls sexy finde, er sei einfach nur ein stink-langweiliger Nerd. Und als er einen anonymen Drohbrief bekommt, jemand ihn in das Hafenbecken schubst und zu guter Letzt in der Kirche auf ihn geschossen wird, erweist er sich auch noch als ziemlicher Angsthase.

Vordergründig wird in diesem in den 1980er Jahren spielenden Roman eine Liebesgeschichte voller Hindernisse erzählt, bei der sich Gefühl und Verstand diametral gegenüber stehen. Genau so steht auf der gesellschaftlichen Ebene eine dumpfe Fremden-Feindlichkeit dem frömmelnden Christentum entgegen. Der Autor rechnet in seiner umgangssprachlich üppig angereicherten Geschichte unverblümt mit der Bigotterie der Leute ab, wenn er seinen bibelfesten Protagonisten – erkennbar genüsslich – Schwachsinn und Widersprüche im Buch der Bücher darlegen lässt.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Die Spielerin

Feministischer Schelmenroman

Der dritte Roman von Isabelle Lehn mit dem Titel «Die Spielerin» wurde inspiriert durch ein Buch des Journalisten Sandro Mattioli, in dem die Frage aufgeworfen wurde, ob die Mafia den 2013 in die Insolvenz gegangenen «Deutschen Depeschendienst» kaufen wollte. Darin tauchte auch eine unscheinbare junge Frau aus der niedersächsischen Kleinstadt Einbeck auf, der die Protagonistin dieses  Romans nachempfunden ist. Die Autorin hat den Inhalt ihres Buches mit den Worten charakterisiert: «Es ist eine Welt des schönen Scheins und der Fassaden. Eine Welt, die glänzt und durch Komplexität blendet, um zu verbergen, was sich hinter den Fassaden verbirgt.» Herausgekommen ist dabei eine Art feministischer Schelmenroman mit Anklängen an einen veritablen Wirtschaftskrimi.

Im Prolog wird das Ende der dreiteiligen Geschichte vorweg genommen, wenn nämlich A., die namenlos bleibende Romanheldin, im Frühling 2006 in einem noblen Hotelzimmer ihre wahre Geschichte erzählt, so wie sie keiner kennt und wie sie auch kein anderer jemals von ihr hören wird. Als Zuhörer hat sie einen am Bahnhof von Florenz aufgegabelten, blutjungen Gigolo auserkoren, der nackt auf ihrem Bett sitzt und sich, bevor er seinen Job tun wird, sein Geld auch als geduldiger Zuhörer verdienen muss. «Er soll der Einzige sein, der weiß, wie sie alles erzählen würde», heißt es dazu. In dem ihr drohenden Prozess wird A. nämlich beharrlich schweigen, dem wildfremden Callboy gegenüber aber muss sie sich, einmal wenigstens, alles von der Seele reden. «So können wir uns das Ende vorstellen», heißt es dann weiter mit einer dem ‹Pluralis Majestatis› ähnelnden, allwissenden Erzählstimme, die aber nur eine von mehreren erzählerischen Perspektiven dieses Romans ist, eine Autorin und Leserschaft kumpelhaft vereinende Wir-Form.

Gegen den Willen ihrer Eltern geht die ehrgeizige junge Bankangestellte A. nach Zürich, um dort eine Karriere als Investment-Bankerin hinzulegen. Sie beginnt als Telefonistin, interessiert sich für alles, was um sie herum passiert, macht sich Notizen. Schon bald ist sie so tief mit den Machtstrukturen der Bad Banks vertraut und in die Geheimnisse des Großen Geldes eingeweiht, dass sie zur Assistentin aufsteigt. Ihre Unscheinbarkeit als junge Frau in einer machohaften Männer-Domäne erweist sich schnell als Vorteil im Umgang mit den männlichen Kunden, denen sie riskante Investments vermitteln muss, – je riskanter, desto höher ist ihre Provision. Sie ist vertrauenswürdiger als ihre geldgeilen, männlichen Kollegen und übernimmt als toughe Key Account Managerin schon bald die Verwaltung von immer mehr und immer bedeutenderen Portfolios. Bis sie schließlich selbst den Verlockungen der hohen Profite erliegt und immer mehr zweifelhafte Geschäfte einfädelt in dem «kapitalistischen Schurkensystem», in das sie da hineingeraten ist. Um nun für ihre Mafia-Kundschaft beispielsweise anonyme Konten in fragwürdigen Südsee-Zwergstaaten zu eröffnen, «schwarze Kassen in saubere Bilanzen» zu transferieren und andere kriminelle Transaktionen mehr.

Isabelle Lehn stellt in einem kühlen Erzählton nach offensichtlich akribischer Recherche ein schwer durchschaubares, patriarchal dominiertes Finanzsystem an den Pranger, ohne dabei der Versuchung zu erliegen, dies scheinbar moralisch überlegen aus dezidiert feministischer Sicht zu tun. Dabei gelingt es ihr, die vielen Erzählfäden spannungsreich miteinander zu verweben und die komplexen Vorgänge auch für ökonomisch unbedarfte Leser einigermaßen verständlich zu machen. Auch wenn man Begriffe wie Leerverkäufe, Hedgefonds, Derivate und noch deutlich schwierigere dann aber doch nachschlagen muss als braver Sparbuchbesitzer. Der stilistisch sachliche, leicht lesbare Plot bietet mit seiner eher als graue Maus denn als Powerfrau dargestellten Protagonistin allerdings kaum Identifikations-Potential, denn man erfährt wenig von ihr als Privatmensch. Sie ist eine Einzelgängerin, Männer interessieren sie in ihrem Single-Dasein nur als Partner beim Geldverdienen, Familie und beste Freundinnen spielen keine Rolle.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Sehr geehrte Frau Ministerin

Narrativ unausgewogen

Nach sieben Jahren hat Ursula Krechel mit «Sehr geehrte Frau Ministerin» gerade ihren vierten Roman veröffentlicht, der auch wieder eine dezidiert feministische Thematik aufgreift. Es geht um drei Frauen der Jetztzeit, die mit ihren spezifisch weiblichen Problemen im Roman gespiegelt werden am Schicksal von Agrippina minor, der Mutter des römischen Kaisers Nero. Die in den Feuilletons ziemlich einhellig als eine der sprachmächtigsten deutschen Schriftstellerinnen gefeierte Autorin hat für ihr neues Buch ein hoch kompliziertes narratives Konstrukt gewählt, das in Anbetracht der Komplexität ihrer extrem verschachtelten Geschichte höchste Aufmerksamkeit beim Lesen erfordert.

Der dreiteilige Roman beginnt im ersten, mit «Eva» betitelten Teil mit der Geschichte der Verkäuferin Eva, die in der Essener Filiale einer auf Kräuter spezialisierten Ladenkette arbeitet. Trotz ihrer geradezu symbiotischen Beziehung hat sie als allein erziehende Mutter Probleme mit ihrem Sohn. Philipp hat sein Studium abgebrochen, verbringt antriebslos die meiste Zeit vor seinem Computer, hat nie Zeit für seine Mutter. In permanentem Wechsel zu diesem Erzählstrang springt der Plot in die Antike und erzählt häppchenweise die Geschichte von Nero in der Überlieferung von Tacitus. «Ab ovo», so der Titel des zweiten Teils, ‹von Beginn an› also, wird die Geschichte der Lateinlehrerin Silke erzählt, die als Kundin mit auffällig roter Mütze gelegentlich in Evas Kräuterladen auftaucht. Sie interessiert sich sehr für die «Annalen» von Tacitus und baut sie in ihren Unterricht mit ein, was ihr Schwierigkeiten mit den Eltern einbringt, die den Stoff für unangemessen halten als Schullektüre. Silke kann nach einer Operation keine Kinder mehr bekommen und interessiert sich ziemlich auffallend für Eva und ihren Sohn. Sie spioniere ihnen nach und wolle ein Buch über sie schreiben, mutmaßt Eva. Ein verstecktes Alter Ego der Autorin mithin, die den Schreibprozess und ihre Absichten häufig offen darlegt, den Leser in Wortfindungen und Überlegungen zur Thematik gezielt mit einbindet. Im dritten Teil dieses metafiktionalen Romans, listig mit «als ob» betitelt, steht die Ministerin im Blickpunkt. Schon der Buchtitel weist auf die vielen Briefe hin, die an sie gerichtet sind und Alltagsprobleme aufzeigen, für die es keine politischen Patentrezepte gibt. Auch hier wird die Erzählung, wie schon in den anderen Teilen, häufig durch Zitate von Tacitus unterbrochen. Die Karriere dieser dritten Protagonistin wird ebenso geschildert wie ihr arbeitsreicher Alltag, unter dem ihre Familie häufig zu leiden hat.

Als Kulturgeschichte der Frauen beschäftigt sich dieser Roman mit problematischen Beziehungen zwischen Müttern und Söhnen heutzutage ebenso wie in der Antike. Die realistisch dargestellten Schicksale der drei Protagonistinnen stehen exemplarisch für die Defizite in der heutigen Gesellschaft, denen Frauen trotz aller Fortschritte bei der Emanzipation nach wie vor ausgesetzt sind. Vielleicht als Trost gedacht, werden diese Probleme vor dem antiken Hintergrund aus der Kaiserzeit vor zweitausend Jahren geschildert, wo Mord und Totschlag unter den Regenten und ihren Neidern alltäglich waren, business as usefull! Aber auch eine so hochgestellte Person wie eine veritable Bundesministerin der Justiz ist heutzutage ihres Lebens nicht sicher, lehrt uns der Roman.

Geradezu gewalttätig wirkt aber auch dieser Roman selbst, wenn nämlich mitten im Satz plötzlich aus einer anderen Perspektive weitererzählt wird, und schwer zugänglich wird er neben den verwirrenden Perspektiv-Wechseln zudem durch die vielen wilden Zeitsprünge. Ein weiteres Manko sind die allzu ausufernden Schilderungen der geschlechts-spezifischen Rolle von Frauen, die sich gegen tradierte Ungerechtigkeiten wehren. Stilistisch topp, aber erzählerisch hochgradig konfus und als Lektüre quälend langweilig, ein narrativ unausgewogener Roman wie selten!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Wut und Liebe

Martin Suter ist ein Vielschreiber mit Hang zur stilistischen Experimentierfreude. Er bewegt sich souverän zwischen Romanform, Drehbuch und publizistischem Diskurs. Während ich seinen letzten Roman Melody als eine gelungene Mischung aus Eleganz und Melancholie empfand, blieb mir das darauf folgende, seitenstarke Gesprächsbuch mit Benjamin von Stuckrad-Barre fremd. Nun legt Suter mit Wut und Liebe ein neues Werk vor – sprachlich geschliffen, dramaturgisch ambitioniert, inhaltlich jedoch von ambivalenter Tiefe. Weiterlesen


Genre: Kriminalromane, Roman
Illustrated by Diogenes