Der kalte Blick der Rache

Wenn der Krieg in den Krimi eingreift

Roberto Mistretta schreibt sich mit seinem nunmehr dritten Kriminalroman ein kleines Stück näher an den älteren Meister, an Andrea Camilleri heran.
Mistretta erschuf mit seiner Hauptfigur und Serienhelden, dem Maresciallo der Carabinieri, Saverio Bonanno, einen eher „volkstümlichen“ Charakter. Aufbrausend, klug und mit Herzensbildung versehen, ohne literarische oder Fremdsprachenkenntnisse agiert Bonanno auf den ersten Blick wie ein Elefant im Porzellanladen. Während aber Diejenigen, die gerade Opfer einer seiner emotionalen Attacken wurden noch staunen, bereut der etwas schwergewichtige Maresciallo schon seinen Ausbruch. Diese Reue lässt sich in seinem Fall am besten mit einem Tässchen starken Espresso und einem Schokohörnchen zelebrieren.
Um als archetypischer Sizilianer durchzugehen, fehlt es Bonanno eigentlich an nichts. Auch die Familia spielt eine wichtige Rolle: Er lebt, von seiner Frau verlassen, mit seiner Tochter bei seiner Mutter.
In dem im April 2008 erschienenen Roman „Der kalte Blick der Rache“ verliebt sich Bonanno, etwas, womit er nicht mehr gerechnet hatte, und just beim ersten romantischen Rendezvous fallen in unmittelbarer Nachbarschaft Schüsse.
Die Geschichte, die dann auf 347 Seiten ihren Lauf nimmt entwickelt sich aus zwei Handlungssträngen. Darin tauchen auf: Die ältesten Mordmotive, von Betrug, über Ehebruch bis zu Rachsucht. Zugleich beginnt im Kosovo, während der ethnischen Säuberungen, eine Geschichte inmitten von Kriegsgräueln, Verschleppungen, Vergewaltigungen und Morden. Beide Handlungen begegnen sich und langsam wird lesend deutlich, wie klein unsere Welt geworden ist und wie sehr auch diese beiden Handlungsstränge einander bedingen. Die „lokale“ Realität wird durch eine gleichsam „größere“ bestimmt – der Krieg greift in den Krimi ein.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Felis Vigor

\"nurel\"

Lediglich seinen Namen erinnert der junge Nurel, als er dem Tode nahe von drei Kämpfern in einem Waldstück aufgelesen und gepflegt wird. Alles andere liegt verschüttet im Brunnen seiner Erinnerung, und er erfährt nur stückweise seine Biographie. Danach wurde er in einem dunklen Verließ gefangen gehalten und mit schwarzmagischen Ritualen gequält. Alles deutet darauf hin, dass der Knabe in einen Katzenmenschen verwandelt werden soll.

Angela Planert beschreibt in ihrem Roman das Sich-Entdecken des jungen Helden Nurel, der hin und her gerissen ist zwischen den Kräften heller und dunkler Mächte. Die schwarze Macht wird mit Hilfe geheimnisvoller roter Mondsteine ausgeübt von einem bösen Zauberer und seiner Helferin Kujana, die den Jungen abhängig machen und in verbrecherische Dienste stellen wollen. Die helle Macht hingegen, über die einige seiner neuen Freunde verfügen, bedient sich heilkräftiger weißer Mondsteine. Überhaupt spielt der Mond und sein Einfluss eine wesentliche Rolle in diesem Fantasy-Roman, den die Schriftstellerin, gemeinsam mit ihren inzwischen drei weiteren Romanen als »Selenorische Bücher« bezeichnet. Den Begriff leitet sie von der mythologischen Mondgöttin und Titanin Selene ab.

Die Autorin, die sich in ihrem Weblog selbst »Nurel« nennt und damit ihre Identifikation mit dem Protagonisten des vorliegenden Romans verdeutlicht, legt mit »Felis Vigor« eine atemberaubend spannende Erzählung vor. In lebendigen Dialogen wird das Wechselbad der Gefühle deutlich, die der Hauptheld durchlebt. Dabei versteht es die Autorin geschickt, den Spannungsbogen zu halten und ihn durch immer neue Ereignisse und Figuren stark zu steigern. Am Ende des 332 Seiten starken Werks weiß Nurel zwar einiges über sich und seine vermutliche Herkunft, doch der inzwischen ebenfalls veröffentlichte Roman »Vigor« beschreibt sein weiteres Schicksal, und das dürfte kaum weniger spannend sein.

Beachtlich ist, dass Angela Planert spontan und ohne jedes Exposé oder lektorale Hilfe ihre Romane schreibt. Angeregt von einer Freundin und motiviert durch die amerikanische Autorin Julia Cameron setzt sie sich in ihrer freien Zeit an den Schreibtisch und schreibt spontan los, wobei sie nach eigenen Angaben der Fortgang der Handlung überrascht. Das vorliegende Ergebnis ist beachtlich und wurde zu Recht beim 1. Fantasy-Award ausgezeichnet.

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Genre: Fantasy
Illustrated by Amicus Föritz

Das Tagebuch der Signora

Hinter der Mauer des Schweigens blüht der Horror.

Wer kann sich noch an die italienischen Neofaschisten erinnern? Können Sie ad hoc den Namen der Partei nennen, die das Erbe Mussolinis angetreten hat? Können Sie sich vorstellen, dass italienische Faschisten in der Gegenwart an einer Regierung beteiligt waren – und nun auch schon wieder sind, ja gar den Parlamentspräsidenten stellen?
Das vermutlich eine Mehrheit der Leserinnen und Leser dieses Textes nicht sofort und mit Gewissheit diese Fragen beantworten kann, kommt nicht von ungefähr. Die Tatsache, dass aus der offen neofaschistischen Partei „Movimento Sociale Italiano“ (MSI) eine Partei entstehen konnte, die es nach wenigen Jahren schaffte, sich das Image einer konservativen aber dennoch seriösen und demokratischen politischen Kraft zu geben, ist an und für sich schon schockierend. Dass diese, trotz aller erfolgreicher Camouflage, immer noch vom faschistischen Geist angefeuerte Partei mit dem heutigen Namen „Alleanza Nazionale“ tatsächlich zweimal Koalitionspartner in einer italienischen Regierung (unter dem nicht minder dubiosen Ministerpräsidenten Berlusconi) sein konnte, war den meisten politischen Kommentatoren in Europa nur noch wenige Monate lang überhaupt erwähnenswert und kritikwürdig. Dass sie nunmehr Teil der Partei Berlusconis geworden und damit erneut Regierungspartei ist, löst ausserhalb Israels keine ernstzunehmenden Befürchtungen mehr aus.
Dass aber hinter der demokratischen Fassade nicht trotz, sondern gerade wegen des Vergessens, schlimmste Verbrechen immer noch auf ihre Aufklärung warten und deren Urheber auf ihre Verurteilung, davon handelt der 2007 erschienene Roman der italienischen Autorin Liaty Pisani, die durch ihre Spionage-Krimis mit der für seinen Berufsstand zu nachdenklichen Hauptfigur, dem Geheimagenten Ogden, bekannt wurde.

Der vorliegende Roman ist kein Spionagethriller. Wohl tauchen am Ende wieder Angehörige eines „Dienstes“ auf – und gehören diesmal zu den „Guten“. Das Kriminale der Geschichte liegt aber in der der Historie des italienischen und deutschen Faschismus.
An den Ufern des Lago Maggiore ereignet sich im September 1943 das erste Massaker an italienischen Juden. Die deutsche Wehrmacht hatte nach der Kapitulation der italienischen Truppen gerade Oberitalien besetzt. Eine junge Frau, Signorina Brandini, war nicht nur Zeugin, sondern auch indirekt in dieses Verbrechen verstrickt. Das Massaker wurde nie gesühnt, die deutschen Mörder und ihre italienischen Kollaborateure laufen frei herum, bzw. wurden nie belangt.
60 Jahre später erhält ein amerikanischer Maler mit italienischen Wurzeln von der mittlerweile betagten, aber reichen Signora Brandini ein Tagebuch, in dem diese die damaligen Ereignisse beschreibt und sowohl Täter als auch Kollaborateure nennt. Ein alter italienischer jüdischer Schriftsteller, großväterlicher Freund des Malers, erhält durch dadurch ebenfalls Kenntnis vom Inhalt des Tagebuches. Er selbst hat einen Teil seiner Familie bei jenem Massaker verloren. Beide beschließen die Tatsachen endlich zu veröffentlichen.
Wie wenig aber das Vergangene wirklich vergangen ist, müssen sie im Folgenden leidvoll erfahren, da sich herausstellt, dass der Sohn des Hauptkollaborateurs, ein angeseher, reicher und skrupelloser Geschäftsmann mit politischen Ambitionen, diese Veröffentlichung um jeden Preis verhindern will.

Die Geschichte, die Liaty Pisani so meisterhaft und spannend erzählt, basiert auf Tatsachen. Am Ende des Romans schreibt sie: „Das hier Erzählte beruht zum Teil auf Tatsachen. Einige der Personen, die in diesem Roman vorkommen, haben existiert: zum Beispiel die Opfer, die bei ihrem richtigen Namen genannt werden (…) Auch nach sechzig Jahren nach der Tragödie von Meina hat keiner der Verantwortlichen für jene Verbrechen büßen müssen. (…)“

Die Pisani hat ein großartiges Buch vorgelegt!


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Großaktionär

Athen ist nicht Hollywood

Auch in diesem Krimi brennt es, um einmal das Thema aufzugreifen, mit dem Griechenland traurigerweise im Jahr 2007 in der Öffentlichkeit von sich Reden machte. Allerdings brennen in diesem außerordentlich spannenden Kriminalroman weniger die Wälder, als über kurz oder lang die Nerven des Hauptdarstellers, Kommissar Kostas Charitos, durch. Dessen Tochter wurde nämlich, zusammen mit ihrem Zukünftigen und einigen hundert Touristen auf einem Kreuzfahrtschiff in der Ägäis enführt. Die Gauner geben sich als Nationalisten, versuchen Gesinnungsgenossen freizupressen und lösen verständlicherweise in der Familie des Kommissars ein emotionales und auch real ein ganz handfestes Chaos aus.
Petros Markaris letzter, 2007 bei Diogenes erschienener Kriminalroman, ist der mittlerweile sechste in einer nicht nur beachtlichen, sondern auch europaweit beachteten Reihe von Krimis. Sein Kommissar lebt und arbeitet in Athen, quält sich durch die lebensfeindliche Hauptstadt Griechenlands und versucht – obwohl anscheinend von Geburt an Misanthrop – sich das Leben nicht komplett vermiesen zu lassen. Der Mann isst gerne und trinkt gern, aber ein Gourmet ist er nicht. Hausfrauenkost, und nur die seiner ansonsten höchst nervigen Frau, ist ihm das allerliebste.
Wer sich durch die Krimis von Markaris liest, der bekommt einen Eindruck von einem Griechenland jenseits des Akropolis-Ausfluges, der Strand/Sonne/Taverne-Bilder. Korruption hat man zwar chauvinistischerweise sowieso den Griechen zugetraut, aber Markaris kommt mit politischen Zusammenhängen und Einblicken daher, die das Interesse an der Wiege der westlichen Demokratie ganz neu und auf ganz andere Weise entzündet wird.
Wie der Fall im neuesten Krimi ausgeht? Griechische Krimis sind keine Hollywood-Filme. Seine Tochter überlebt, aber glücklich wird der Kommissar am Ende doch nicht.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Diogenes Zürich

Ehrensachen

Eine ganze Lebensspanne…

Drei Freunde, deren Schul- und Studienzeit samt ein fast komplettes Leben danach. Von nichts weniger und doch von viel mehr handelt dieser Roman, den der Autor, Louis Begley einen Ich-Erzähler vortragen lässt. Die USA der 50er bis späten 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, das ist der Zeitrahmen und Harvard, New York, Paris, Rom und die Ostküste der Vereinigten Staaten sind die Orte der Handlungen.
Der Ich-Erzähler, Sam Standish lernt in Harvard seine Mitbewohner im Studentenwohnheim kennen: Archie und Henry. Henry ist, wie Louis Begley selbst, als Jude nach dem Zweiten Weltkrieg aus Polen in die USA geflohen. Archie, mit vollem Namen Archibald T. Palmer III., ist Sprössling eines Army-Generals, aufgewachsen in verschiedenen Kasernen, in denen sein Vater stationiert war und ein ebenso liebenswerter wie von Selbstzweifeln unangetasteter Hallodri.
Diese drei jungen Männer entwickeln über die ganze Länge des Romans, also eine lebenslange Freundschaft. Archie stirbt als erster. Sam und Henry bleiben nicht nur übrig, sondern sind die eigentlichen Zentralgestalten dieses Romans. Wir erleben lesend die Entwicklung dieser Freundschaft, die Beziehung dieser Jungen und Männer zu ihrer Umwelt, geprägt von den Aufstiegsszenarien des „amerikanischem Traumes“. Wir sehen zu, wie für die Heranwachsenden der Versuch, Mädchen aus der Upperclass zu Erobern ebenso wichtig wird, wie die Abgrenzung zur eigenen Familie, der jeweils eigenen Herkunft. Sam stammt aus einem „Upperclass Haushalt“, seine Eltern sind vermögend, aber lieblos ihm gegenüber. Henry, der den Faschismus und den Holocaust in Polen als Kind und Jugendlicher versteckt überlebte, der mit seiner Mutter und dem Vater in die USA übersiedelte, kommt aus einem Haushalt, in dem es zwar materiell keine wirkliche Not herrschte, wohl aber eine für ihn auf andere Weise beklemmende Situation: „Solange es Leute gibt, die es kümmert, ob ich ein Jude bin, der vorgibt, keiner zu sein, so lange muss ich Jude bleiben, auch wenn ich mir innerlich nicht jüdischer vorkomme als ein geräucherter Schweineschinken. Wenn jemand mich fragt, muss ich sagen, daß ich Jude bin – es sei denn, diese Wahrheit bringt mich in ein Konzentrationslager oder kostet mich das Leben. Das bin ich mir schuldig, sonderbar für einen wie mich, der nicht glaubt, daß er irgendwem irgendwas schuldet. Aber es ist eine Ehrensache für mich“ lässt Begley den jungen Henry in einer Schlüsselstelle des Textes sagen.
Dass diese Erzählung so fesselnd bleibt, ja mehr noch, dass man sich sogar in fast melancholischen Stimmung wiederfindet, wenn die letzte Seite gelesen ist – das ist eine schriftstellerische Großleistung.


Genre: Romane
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Wie durch ein dunkles Glas

Verseuchte Schönheit

Es funktioniert mittlerweile wie ein Familientreffen: Man möchte erfahren, wie sich die beiden Kinder des sympathischen Kommissars entwickelt haben und was seine belesene Gattin Paola treibt. Geht es Vianello, dem mittlerweile zum Inspektor beförderten Kollegen von Brunetti gut? Sogar der spießig-schleimige Vize-Questore Patta ist einem über die Jahre ans Herz gewachsen. Ganz zu schweigen von der ebenso klugen wie durchtriebenen Signorina Elletra. Man möchte fast glauben, Donna Leon habe extra für ihr deutsches Lesepublikum das Personal für eine venezianische “Lindenstraße” entwickelt. Gäbe es da nicht den Einbruch der Realität in diese Puppenstube, wäre diese Krimireihe mittlerweile allerdings eher zum Gähnen.
So sehr Venedig als Bühne für Leon´s Geschichten sowohl Klischee als auch Realität ist, so sehr sind die Krimis mit dem Kommissar Brunetti zugleich harmlose „Sittengemälde“ und -glücklicherweise – bissige, zum Teil sarkastische Kommentare der hinter den Fassaden waltenden Wirklichkeit. Bitterböse fallen diese Kommentare in der Regel allerdings nicht aus – Leon ist eben nicht Highsmith.
Lesegenuss entsteht unzweifelhaft bei fortgesetzter Lektüre der Abenteuer des braven Commissario. Dies ist sowohl dem Gefühl von Zugehörigkeit zu einer „Gemeinde“ von treuen Leserinnen und Lesern geschuldet, als auch durch das Lokalkolorit, das Geschichten aus Venedig zweifellos zu vermitteln in der Lage sind. Spannung entsteht durch die mit politischer Aktualität und Brisanz angereicherte Stimmung eines Kriminalfalls nebst allen denkbaren “italienischen” Verwicklungen, Verstrickungen und bürokratischen “Besonderheiten”.
Dieses Mal erfahren wir von Verunreinigungen, ja Verseuchungen der Lagune von Venedig. Diese werden durch den petrochemischen Großbetrieb in Mestre, dem Industriestadtteil Venedigs, der auf dem Festland liegt, verursacht. Aus der Produktion dieser Mammutfabrik fließen seit Jahrzehnten unterschiedlichste, zum Teil hochgiftige Stoffe in die Lagune und verpesten sie nach und nach.
Aber auch die venezianischste aller Industrien gerät im neuesten Buch von Donna Leon unter einen bösen Verdacht: Die Glasproduktion in Murano. Dort spielen die Inhaber zweier Glasmanufakturen eine unrühmliche Rolle. Einer ihrer Angestellten forscht nach Ursachen für die Behinderung, mit der eines seiner Kinder geboren wurde – und glaubt sie in toxischer Verunreinigung durch die Glasproduktion gefunden zu haben. Eines Nachts wird dieser als Nachtwächter arbeitende Angestellte tot vor den höllisch heißen Glasöfen vorgefunden…


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Diogenes Zürich

Wie durch ein dunkles Glas.

Verseuchte Schönheit

Es funktioniert mittlerweile wie ein Familientreffen: Man möchte erfahren, wie sich die beiden Kinder des sympathischen Kommissars entwickelt haben und was seine belesene Gattin Paola treibt. Geht es Vianello, dem mittlerweile zum Inspektor beförderten Kollegen von Brunetti gut? Sogar der spießig-schleimige Vize-Questore Patta ist einem über die Jahre ans Herz gewachsen. Ganz zu schweigen von der ebenso klugen wie durchtriebenen Signorina Elletra. Man möchte fast glauben, Donna Leon habe extra für ihr deutsches Lesepublikum das Personal für eine venezianische “Lindenstraße” entwickelt. Gäbe es da nicht den Einbruch der Realität in diese Puppenstube, wäre diese Krimireihe mittlerweile allerdings eher zum Gähnen.
So sehr Venedig als Bühne für Leon´s Geschichten sowohl Klischee als auch Realität ist, so sehr sind die Krimis mit dem Kommissar Brunetti zugleich harmlose „Sittengemälde“ und -glücklicherweise – bissige, zum Teil sarkastische Kommentare der hinter den Fassaden waltenden Wirklichkeit. Bitterböse fallen diese Kommentare in der Regel allerdings nicht aus – Leon ist eben nicht Highsmith.
Lesegenuss entsteht unzweifelhaft bei fortgesetzter Lektüre der Abenteuer des braven Commissario. Dies ist sowohl dem Gefühl von Zugehörigkeit zu einer „Gemeinde“ von treuen Leserinnen und Lesern geschuldet, als auch durch das Lokalkolorit, das Geschichten aus Venedig zweifellos zu vermitteln in der Lage sind. Spannung entsteht durch die mit politischer Aktualität und Brisanz angereicherte Stimmung eines Kriminalfalls nebst allen denkbaren “italienischen” Verwicklungen, Verstrickungen und bürokratischen “Besonderheiten”.
Dieses Mal erfahren wir von Verunreinigungen, ja Verseuchungen der Lagune von Venedig. Diese werden durch den petrochemischen Großbetrieb in Mestre, dem Industriestadtteil Venedigs, der auf dem Festland liegt, verursacht. Aus der Produktion dieser Mammutfabrik fließen seit Jahrzehnten unterschiedlichste, zum Teil hochgiftige Stoffe in die Lagune und verpesten sie nach und nach.
Aber auch die venezianischste aller Industrien gerät im neuesten Buch von Donna Leon unter einen bösen Verdacht: Die Glasproduktion in Murano. Dort spielen die Inhaber zweier Glasmanufakturen eine unrühmliche Rolle. Einer ihrer Angestellten forscht nach Ursachen für die Behinderung, mit der eines seiner Kinder geboren wurde – und glaubt sie in toxischer Verunreinigung durch die Glasproduktion gefunden zu haben. Eines Nachts wird dieser als Nachtwächter arbeitende Angestellte tot vor den höllisch heißen Glasöfen vorgefunden…


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Diogenes Zürich

Italienische Verhältnisse

Von wegen “bella figura”

„(…)Mit Hilfe seiner Zeitungen, seiner Fernsehstationen, seiner Abgeordneten (er hatte nämlich eine Partei gegründet) entfesselte der Cavaliere eine wilde Kampagne gegen die Staatsanwälte, die gegen ihn ermittelten, und bezichtigte sie, ein parteiisches Recht auszuüben. Er selbst bezeichnete sich als politisch Verfolgten.
Er tat so viel und sprach so viel, daß viele Italiener ihm Glauben schenkten.
Dann, eines Tages, geschah, was allen widerfährt: er starb. Im Jenseits wurde er in ein schmuckloses Zimmer geführt. Dort stand ein wackliger Tisch, hinter dem auf einem Strohstuhl ein heruntergekommenes Männlein saß.
„Du bist der Cavaliere?“ fragte das Männlein. „Mit Verlaub“, sagte der Cavaliere verwirrt durch diesen vertrauten Ton. „Sagen Sie mir zuerst einmal, wer Sie sind.“ „Ich bin der Höchste Richter“, sagte das Männlein leise. „Und ich lehne Sie ab!“ schrie der Cavaliere umgehend, der zwar sein gesamtes Haar, sein Fleisch, seine Knochen verloren hatte, nicht aber sein Laster.“

Wer da als „Cavaliere“ daherkommt, ist niemand anderer als der zweifache Ministerpräsident Italiens, Medienmoguls und notorische Gerichtsbeschimpfer und nun bald wieder-Ministerpräsident Italiens, Silvio Berlusconi. Der Autor dieser oben zitierten Zeilen wiederum niemand geringeres als der derzeit wohl berühmteste, lebende Autor Italiens, Andrea Camilleri.
Dem deutschen Lesepublikum ist Camilleri vor allem als Schöpfer des überaus beliebten „Commissario Montalbano“ bekannt, jener Kriminalromane, die Sizilien auf unnachahmliche Weise in ein Licht stellen, dass zumindest partiell nicht von Mafia und anderen Furchtbarkeiten dominiert wird.
Andrea Camilleri gehört aber auch zu den engagiertesten und wortmächtigsten Kritikern Berlusconis. In vielen Ausätzen, Artikeln, Parabeln und Kurzgeschichten, die zumeist in Zeitschriften erscheinen, geißelt er nicht nur die geradezu „schulbübische Dreistigkeit“ des Medienmoguls Berlusconi. Camilleri zeichnet mit seinen Texten auch ein Bild seines Vaterlandes und seiner Landsleute, das zumindest schlaglichtartig in der Lage ist, die mehr als berechtigte Frage zu beantworten, wie es denn sein kann, dass die Bewohner eines der schönsten Länder Europas, in dem Wert gelegt wird auf gute Küche, geschmackvolles Design und eine „bella figura“ so ein Parvenü nun dreimal zum Regierungschef gewählt werden konnte.
Wer die Geschichten in dem hier ohne Vorbehalte empfohlenen, schon 2006 erschienen Band „Italienische Verhältnisse“ von Andrea Camilleri liest, wird ein Panoptikum italienischer Skurrilitäten, Lebensentwürfe, Verhaltensweisen und Realitäten vor Augen geführt bekommen. In dieser bunten Vielfalt, zum Teil liebenswerten Skurrilität aber auch in der Widersprüchlichkeit liegt der Schlüssel zum Verständnis. Italien ist das Land, in dem die Zitronen blühen. Italien ist aber auch das Land, in dem Senatoren im Parlament Schampusflaschen köpfen, weil der politische Gegner eine Abstimmungsniederlage erlitten hat oder auch schon mal nicht sprichwörtlich, sondern im Wortsinne handgreiflich werden.

In dem Taschenbuch, das im Wagenbach-Verlag erschienen ist, werden insgesamt 22 Texte Camilleris, sortiert in vier Kapitel, dem deutschen Publikum erstmals in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht. Ein Text mit den Lebensdaten Camilleris, Anmerkungen zu Namen und Fakten, die in den Texten eine Schlüsselrolle spielen, sowie ein ausführliches Quellenverzeichnis helfen, dem Text-Verständnis auch noch eine politisch-historische Einordnung hinzuzufügen.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Vita Nuova

Tiefe Abgründe auf den Hügeln von Florenz

Salva Guarnaccia, Maresciallo der Carabinieri in Florenz, ermittelt in einem Mordfall, der in einer der herrschaftlichen Villen verübt wurde, die auf den Hügeln rund um Florenz liegen. Auf den Hügeln oberhalb Florenz leben jene vermögenden Fiorentiner, die sich den für gute Luft und soziale Distinktion notwendigen Abstand zur Toscana-Metropole leisten können. Müssen die normalen Einwohner von Florenz im Sommer in ihrer im Talkessel gelegenen Stadt mit Smog, Touristenüberfall und Bruthitze leben, so können die Anderen Sommerfrische, Swimmingpool und Aussicht auf die Renaissance-Stadt genießen. Dass aber diese vormaligen Adelssitze auch eine Art Strafkolonie darstellten, weil die selbstbewussten Bürger von Florenz in der Renaissance ihren Adel aus der Stadt und aufs Land jagten, ist heute, ausserhalb historischer Seminare, kaum bekannt. Mit Guarnaccias Mordfall hat das auch streng genommen wenig zu tun. Allerdings taugt diese Anmerkung als grimmiger Kommentar – als ob auf dem Haus, in dem der Mord stattfand, kein Segen liegen würde.
Dass dem tatsächlich so ist, wird auf den insgesamt 322 Seiten in fast bedrückender Weise deutlich. Guarnaccia bekommt es mit tiefsten Abgründen zu tun, in die er gezwungen wird hinabzuschauen. Die Tote ist die älteste Tochter des wohlhabenden Besitzers. Ermordert wird Sie wird am helllichten Tag im eigenen Haus. Die Familienverhältnisse in diesem Haus sind so, dass man sie im wahrsten Sinne des Wortes Grauen erregend nennen kann. Der Reichtum, mit dem das Haus gekauft wurde, stammt nicht aus ererbtem Wohlstand sondern resultiert aus einem gänzlich anderen Milieu. Der Maresciallo bekommt es mit Zwangsprostitution, Geldwäsche und Korruption zu tun.
Das aus solch furchtbaren Umständen keine im Klischeehaften untergehende Geschichte wird, ist der schriftstellerischen Größe der Autorin Magdalen Nabb zu verdanken. Sie hat es auch schon in den dreizehn vorhergegangenen Folgen dieser Kriminalroman-Reihe vermocht, mit Maresciallo Guarnaccia eine Figur zu erschaffen, die als „Typ“ funktioniert, und ein (literarisches) Leben entwickelt, das man unbedingt verfolgen möchte. Zugleich sind die Inhalte ihrer Geschichten so gewählt und gestaltet, dass sie sich zwar sehr nah an die Realität heranpirschen, diese aber nicht zu spiegeln vorgeben. Magdalen Nabbs Kriminalromane leben, auch wenn man sich als Rezensent wiederholt, nicht vom Plott. Frau Nabb hat einfach gute Literatur geschrieben. Wie wenig einfach das ist, lässt sich gerade im Kriminalfach tausendfach nachlesen…

Als ob Magdalen Nabb eine Vorahnung gehabt hätte, lässt Sie ihren Helden im Verlaufe seines vierzehnten Falles ein Kündigungsschreiben formulieren.
Magdalen Nabb starb unerwartet 2007 in Florenz an einem Hirnschlag. Wer ihre Romane noch nicht kennt, sollte nach der Lektüre dieses neuen Romans mit der nachholenden Lektüren der anderen dreizehn Bücher beginnen.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Ruinenwächter von Havanna

\"Ponte

Ponte liest. Foto: © Wilhelm Ruprecht Frieling

In seinem satirischen Roman »Unser Mann in Havanna« schreibt Graham Greene seinem Protagonisten James Wormold, einem als Staubsaugervertreter getarnten britischen Geheimagenten, ins Tagebuch: »Es war an der Zeit … seine Sachen zu packen und die Ruinen von Havanna zu verlassen«. Anders als Wormold verlässt Pontes Protagonist Havanna zum vollkommenen Unverständnis seiner Freunde nicht. Vielmehr hält er es mit Maupassant, der Frankreich wegen des Baus des von ihm und anderen Künstlern als »Schandfleck« bezeichneten Eiffelturms verließ, dann jedoch zurück kehrte und häufig im Restaurant der Stahlgiraffe anzutreffen war. Dies war nach seinem Bekunden der einzige Platz in Paris, wo er den Turm nicht sehen musste.

Antonio José Ponte versteht sich selbst als »Ruinologe«. Der in Kuba mit Preisen und einer Literaturprofessur geehrte Autor ist dort inzwischen in Ungnade gefallen und lebt seit 2006 im Madrider Exil. Er wurde vom kubanischen Schriftstellerverband »deaktiviert«, damit bleibt er zwar formal Mitglied, darf jedoch weder publizieren noch Ehrenämter bekleiden. »Der Ruinenwächter von Havanna« ist seine erste in deutscher Sprache vorliegende Publikation.

Ponte unternimmt literarische Streifzüge durch Havannas Altstadt auf den Spuren von Graham Greene, Jean Paul Satre und Ry Cooder. Er beschreibt die Altstadt der kubanischen Hauptstadt als einen Unfall in Zeitlupe, als ein unaufhaltsames Zerbröseln von Bausubstanz, von Gebäuden und Quartieren. Über Jahre häufte sich ein Berg von Problemen an, der auch durch die Einrichtung neuer Museen und von Bars, die sich bei näherem Hinsehen selbst als Museen entpuppen, nicht abgetragen wurde. Ponte meint, die größte städtebauliche Leistung durch die Revolutionsregierung bestehe darin, Havanna seinen Bewohnern entfremdet zu haben: »Derart fremd geworden, dass niemand sich für die Stadt verantwortlich fühlt, wird sie aus der Ferne vermisst«.

Der Autor beobachtet das Entstehen von etwas, das er »horizontale Ruine« nennt: nicht einzelne zusammen stürzende Gebäude, sondern eine ganze Stadt, die sich flächendeckend in eine gigantische Ruinenkonstruktion verwandelt, in der immer wieder der Strom ausfällt. Jahrelang leuchtete ganz oben an der Fassade des Bauministeriums die Losung »Revolution ist Bauen«. Allerdings wird die Ära Castro nach Ansicht des Autors wohl ohne bemerkenswerte bauliche Hinterlassenschaften zu Ende gehen; es fehlt sowohl an Verantwortungsbewusstsein für die Rettung der Altstadt als eine Architektur der Moderne.

Letztlich besteht der Irrtum der sozialistischen Wohnungspolitik darin, den Bewohnern die Verantwortung über den Wohnraum zu überlassen, die den vorherigen Eigentümern genommen wurde. Doch die neuen Besitzer, die in Havanna teilweise sogar ihre eigene Miethöhe festsetzen durften, verhalten sich wie Tauben: sie verlassen die Gebäude, sobald sie vollends unbewohnbar geworden sind und flattern durch die Löcher in den Dächern, um den nächsten freien Winkel zu besetzen.

Wann wird ein Gebäude zur Ruine, fragt Ponte und antwortet: »Man steht von dem Moment an vor einer Ruine, wenn die Schäden an einem Gebäude unwiderruflich sind. Wenn es nicht mehr das Verlangen nach Wiederaufbau weckt, hat das Gebäude angefangen, zur Ruine zu werden. Das Zeichen ist ein Sims, der unter allgemeiner Teilnahmslosigkeit am Boden landet, oder das nicht zur Kenntnis genommene Abfallen eines Balkons.«

Abseits aller Revolutionsromantik um Fidel Castro, Camilo Cienfuegos und Ernesto Che Guevara und dem von der Buena-Vista-Rhythmik beschworenen Mythos wird mit diesem ungewöhnlichen Werk das Ende eines Systems an einem seiner schwächsten Punkte karikiert: an seinem Umgang mit dem Altern der Hauptstadt. Der »Ruinenwächter von Havanna« ist ein romanhafter Essay mit verstörendem Effekt auf den Leser und sicherlich eines der ungewöhnlichsten Zeugnisse der aktuellen kubanischen Literatur.

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Genre: Romane
Illustrated by Kunstmann München

Alternative Medizin

Standen sich noch vor wenigen Jahren Schul- und Alternativmediziner wie feindliche Lager unversöhnlich gegenüber, so sind die Grenzen mittlerweile in Fluss gekommen. Es ist nicht mehr ungewöhnlich, wenn niedergelassene Ärzte Akupunktur anbieten und statt »harter Hämmer« ebenso wirksame sanfte Präparate aus der Natur verordnen. Dieser Entwicklung folgend, mit der im Alltag für eine wachsende Zahl von Menschen alternative Medizin einen immer größer werdenden Stellenwert einnimmt, hat sich Brockhaus entschieden, ein Lexikon über Heilsysteme, Diagnose- und Therapieformen sowie Arzneimittel zum Stichwort »Alternative Medizin« aufzulegen.

Im deutschsprachigen Raum verwenden viele Menschen die Begriffe Naturheilkunde bzw. –verfahren, wenn sie generell die »andere Medizin« meinen. Dabei sind bereits viele dieser Methoden in die konventionelle therapeutische, präventive und rehabilitative Medizin integriert. Hydro-, Thermo-, Phyto-, Bewegungs- Ernährungs- und Ordnungstherapie haben längst einen festen Platz in der Schulmedizin. Die Sammelbezeichnung »Alternativmedizin« umfasst diagnostische und therapeutische Verfahren, deren grundlegende Konzepte naturwissenschaftlich nicht oder nur in Ansätzen erklärt werden können.

Mit 3.500 Stichwörtern von ABC-Pflaster bis zytosplasmatische Therapie fasst Brockhaus das spezifische Vokabular kompetent und allgemeinverständlich zusammen. Damit liegt eine gebündelte Information zu einem expandierenden Gesundheitsbereich vor, die dem Patienten helfen kann, sich vor Scharlatanen zu schützen und Maßnahmen zu finden, deren Risiken, Nebenwirkungen und Chancen überschaubar sind und den gewünschten Erfolg bewirken.

Was sind Globuli, und wozu dienen sie? Um was handelt es sich bei Therapieformen wie Ayurveda oder Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)? Was leisten Heilmittel wie Bachblüten, und was verspricht die Edelsteintherapie? Brockhaus liefert Antworten.

Dabei geht es den Verfassern nicht nur um die Erläuterung relevanter Stichworte. Es werden auch Anleitungen zur Eigenbehandlung bei leichten Störungen gegeben, Wirkungen von Heilkräutern erläutert sowie die verschiedenen Diagnose- und Therapieformen dargestellt.

Wer sich ganzheitlich und wirksam behandeln lassen will und dazu objektive Informationen braucht, der findet in dem umfangreichen Lexikon einen verlässlichen Begleiter.


Genre: Gesundheit
Illustrated by Brockhaus Leipzig und Mannheim

Mein Leben als Suchmaschine

Freitag früh. Sitze in der Küche und schaue aus dem Fenster. Schalte das Radio an. Spricht ein Mann drin. Redet über Lemgo. Klingt ziemlich monoton. Laut Ansager ist er »der lustigste Mann der Welt«. Na ja.

Fahre meinen Rechner hoch. Aktualisiere meine Podcasts. Da spricht der Typ schon wieder. Nennt sich »Horst Evers«.

Jetzt klingelt es zum Überfluss auch noch an der Tür. Der Postbote bringt ein Buch. Is ne Neuerscheinung. Mit Sperrvermerk. Stammt auch von diesem Evers. Muss ich lesen. Mist. Jetzt soll ich also auch noch arbeiten!

Schalte das Radio wieder aus.

Horst Evers, Träger des Deutschen Kleinkunstpreises 2008 und anderer Würden, hat es nach jahrelangem Tingeln durch Dorfschenken und Lesebühnen geschafft, sich an die Spitze der deutschsprachigen Geschichtenerzähler zu lesen. Seinen Stil beschreibt er in einer seiner Kurztexte selbst: »Kaum mehr Lust auf ganze Sätze. Für Verben zu müde. Objekt? Selten.«

Evers erzählt Geschichten. Sie sind kurz, vielleicht drei Minuten lang, und sie entfalten ihren Charme besonders, wenn der Verfasser sie selbst vorträgt. Dann betritt ein blasser, nahezu kahlköpfiger, tendenziell übergewichtiger Mann im roten Hemd die Bühne. Sein bloßes Erscheinen löst bereits Gelächter bei Stammhörern aus. Er spricht in bedächtiger Art und wirkt dabei so, als schaue er dem eigenen Gedanken bei dessen träger Entwicklung zu. Ihn kennzeichnet Lethargie und Schluffigkeit, und wüsste man es nicht besser, man würde ihn eventuell sogar für einen Trottel halten.

Horst Evers beschreibt sich in seinen Geschichten gern als naive Figur mit Sinn für alltägliche Schicksalsschläge. Häufig kommt sein Fahrrad abhanden, weil er vergisst, wo er es zuvor angekettet hat. Geschieht ihm derartiges bei einem seiner geliebten Kneipenbesuche, kehrt er zur Theke zurück und säuft weiter, da sich bekanntlich die meisten Probleme von selbst lösen. Gern verlegt er auch Kleidungsstücke, die er dann verzweifelt sucht. Im Ergebnis empfindet er sein gesamtes Leben als Suchmaschine und findet so auch den Titel seiner inzwischen dritten Geschichtensammlung in Buchform.

Wer allerdings hinter dem Buchtitel eine Sammlung von Storys rund um die EDV vermutet, der irrt. Evers ist vielmehr Spezialist für das Alltägliche. Er schildert die kleinen Irrungen und Wirrungen des Lebens und dehnt diese gern bis in die letzte Gehirnwindung aus. Im Schneckentempo seiner gedanklichen Entwicklung liegen der Reiz und auch der Witz des Everschen Humors. Er versteht es, kleine absurde Begebenheiten und Beobachtungen aus dem Alltag geschickt zu pointieren und zu humorvollen Anekdoten oder Liedtexten zu verarbeiten. Dabei gelingt es ihm, im Alltäglichen das Phantastische zu entdecken und dem Leser ein Schmunzeln zu entlocken, weil er sich wieder erkennt. Das ist die unnachahmliche Stärke des Autors und Kabarettisten aus Berlin.

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Genre: Humor und Satire
Illustrated by Eichborn Verlag

Schmutz

Eugen Egner ist ein Multitalent. Er hat sich als Zeichner einen Namen gemacht, er tritt als Gitarrist auf und schreibt Romane und Geschichten. Bislang war es der Lesergemeinde des Medienkaufhauses Zweitausendeins vorbehalten, seine Werke zu goutieren. Jetzt meldet sich Egner in der Edition Phantasia mit Erzählungen unter dem Titel »Schmutz« zu Wort. Wie beim letzten Band sind es neun Geschichten, die der Autor versammelt. Es sind Erzählungen, die im Alltag meist männlicher Protagonisten spielen und sich plötzlich und unerwartet ins Absurde und Grausige bewegen.

Da fühlt sich Martin, der mit seiner neuen Flamme Nora die erste Nacht verbringt, von rätselhaften Gegenständen verfolgt, die »Gemütsbrand« verursachen. In »Schnee« glaubt sich ein älterer Herr von seinem Nachbarn bedroht, den er für einen Yeti, einen abscheulichen Schneemenschen, hält. Sein Sohn will helfen und hört in der Nacht, als leise Schnee fällt, seltsame Geräusche vor dem Haus. Er tritt ins Freie, und sein Leben verändert sich schlagartig. In »Sichtbarmachung« versucht ein Zeichner, Bilder zu Papier zu bringen, die sein Auftraggeber in einer Art Privatvorführung in einem alten Fernsehgerät gesehen haben will. Dieser seltsame Auftraggeber landet im Zuge der Arbeit, seines Verstandes restlos beraubt, auf einer Müllkippe.

Es sind Elemente von Verfall, Untergang und Dreck, die Egner zu eigenem Leben erwachen lässt. In seiner Titelstory »Schmutz« versinkt ein junger Mann in Abwesenheit seiner Frau im Unrat. Plötzlich pocht eine Gestalt aus seiner Vergangenheit an seine Tür, und er trifft seinen längst verstorbenen Vater, der in einer seltsamen Halbwelt haust. Traum und Wirklichkeit beginnen, sich zu mischen.

Der umfangreichste und mit Abstand literarisch stärkste Text der Sammlung heißt »Schulfest«. Ein Buchillustrator, dessen Leben sich nach einer Trennung aufzulösen beginnt, besucht einen Bahnhof, der ebenfalls im Verfall begriffen ist. Ein Junge lockt ihn zu einem auf einem Abstellgleis stehenden Geisterzug, der sich darauf in Bewegung setzt. Dort lernt er den einzigen Fahrgast kennen, der ihn erwartet zu haben scheint und ihn auf der Stelle als Zeichenlehrer für seine Schule einstellt. Diese Bildungseinrichtung entpuppt sich als Geisterhaus. Lediglich eine Handvoll Schüler wird unterrichtet, und es gibt außer dem Schulleiter, seiner schrecklichen Sekretärin und dem neu eingestellten Lehrer nur einen einzigen Pädagogen, der aber völlig verwirrt ist. Immer tiefer gerät der Zeichenlehrer in den Sog der geheimnisvollen Schule, die sich angeblich auf ein großes Schulfest vorbereitet. Bald ahnt der frisch gebackene Lehrer, dass auch hier sich alles um ihn herum aufzulösen beginnt … »Schulfest« ist der heimliche Höhepunkt der Sammlung und hat kafkaeske Dimensionen.

Bereits mit seinem letzten Buch »Nach Hause« vollzog Egner eine Wendung ins Makaber-Phantastische, die er jetzt mit »Schmutz« konsequent fortsetzt. Seine Geschichten sind zwar durchaus ähnlich gebaut, doch es gelingt ihm stets, seinem Helden, und damit dem Leser, den Boden unter den Füßen zu entziehen und ihn zu verwirren.

Egners Texte verstören den Leser. Er stürzt ihn in eine gewisse Ratlosigkeit über die Hintergründigkeit einer Welt, in der vieles nicht so ist wie es scheint. Wie in einem Albtraum bewegen sich seine Protagonisten durch ein Labyrinth undurchsichtiger Verhältnisse und sind anonymen Mächten ausgeliefert. Verflucht doppelbödige Texte!


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Edition Phantasia Bellheim

Vergebung

„Vergebung“ ist ein Buch, dass man nicht so schnell aus der Hand legen kann oder es klingelt an der Tür und der Geldbriefträger will den Hauptgewinn abgeben und man öffnet nicht, da das Buch bis zur letzten Seite derart spannend ist, dass man das Klingeln einfach überhören muß. Ehrlich!

Worum geht’s?

Die Ermittlerin Lisbeth Salander steht unter Mordverdacht. Ihr Partner Mikael Blomkvist schwört, ihre Unschuld zu beweisen. Er weiß, dass es um Salanders Leben geht. Als seine Ermittlungen die schwedische Regierung in ihren Grundfesten zu erschüttern drohen, setzt er alles auf eine Karte. Nach “Verblendung” und “Verdammnis” der grandiose Höhepunkt der Trilogie um das Ermittlerduo Blomkvist und Salander.

Mit einer Kugel im Kopf wird Lisbeth Salander in die Notaufnahme eingeliefert. Sie hat den Kampf gegen Alexander Zalatschenko, berüchtigter Drahtzieher mafiöser Machenschaften, ein weiteres Mal knapp überlebt. Aber wird sie gegen den schwedischen Geheimdienst bestehen können, der alle Kräfte mobilisiert, um sie ein für alle Mal mundtot zu machen? Zu groß ist die Gefahr, dass sie die Verbindung zwischen Zalatschenko und der schwedischen Regierung aufdeckt. Unterdessen arbeitet Mikael Blomkvist unter Hochdruck daran, Salanders Unschuld zu beweisen. Es fehlen nur noch wenige Details, und er wird das Komplott gegen Salander aufdecken. Auch als seine Ermittlungen von höchster Stelle massiv behindert werden, führt Blomkvist seine Arbeit unbeirrt fort. Er weiß genau, dass er nur noch diese eine Chance hat, um Lisbeth Salander zu retten.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Heyne München