Ein Buch namens Zimbo

Deutschlands Satiremagazine haben einen schweren Stand. Die Hochzeiten von »Pardon« sind lange vorüber, 1982 wurde die damals größte Satirezeitschrift Europas eingestellt, ein Neubeginn missglückte. Seitdem liegt die einstmals in einer Auflage von wöchentlich 500.000 Exemplaren verkaufte DDR-Wochenzeitschrift »Eulenspiegel« als gesamtdeutsches Monatsmagazin auf Platz Eins der Publikumsgunst.

Die als Antwort auf »Pardon« 1979 gegründete »Titanic« ist indes lange nicht mehr das, was sie dem Lesepublikum lange Jahre war. Mein Abonnement hatte ich zuletzt nur noch aufrechterhalten, um die regelmäßigen Beiträge von Max Goldt zu lesen, alles andere fand ich, von der »Humorkritik« abgesehen, fad. Da seine Texte jedoch recht schnell auch zwischen Buchdeckeln erscheinen, habe ich das Blatt inzwischen abbestellt. Denn es schenkt einfach mehr Genuss, Goldt gesammelt zu lesen, zumal er sich auch dagegen wehrt, »Satiriker« genannt zu werden und schon aus diesem Grunde eigentlich nicht in der »Titanic« publizieren dürfte. Nun liegt jedenfalls mit »Ein Buch namens Zimbo« eine weitere Kompilation seiner stets humorvollen »Titanic«-Beiträge vor.

Goldt erweist sich darin wieder als genauer Beobachter des Alltags. Ohne sich die Nase an jeder Schaufensterscheibe platt zu drücken, erfährt er, was das Leben feilbietet. »Wer seine Sinne pflegt und sie nicht mit zuviel Drogen, zuviel Lärm oder zuviel Lektüre malträtiert,« so sein Credo, »dem zeigt sich das Leben von ganz allein«. Spricht´s, steigt in die U-Bahn und schreibt auf, was er dort zwischen kommunistischen Pärchen und bettelnden Zeitungsverkäufern alles erlebt.

Stärker als bisher dominiert die Sprachkritik in Goldts Kolumnen. Er setzt sich mit »sprachlichem Ungeziefer« auseinander und unterhält dabei glänzend. In Anlehnung an Thomas Mann kämpft er gegen die überschäumende Verwendung des Paradoxons in der deutschen Sprache. Er sucht nach den passenden Adjektiven, die zum Begriff des Snobismus passen und helfen, ihn aufzuwerten. Für Bezeichnungen wie »junge Männer mit Migrationshintergrund«, die von Sittenwächtern im sozialharmonischen Eifer als «Denunziation« einer Bevölkerungsgruppe angesehen wird, sucht er Ersatzformulierungen und kommt letztlich auf »Geschöpfe«.

Warum das Buch den Titel »Zimbo« trägt, erfährt der geneigte Leser indes nicht. Wer bei dem Begriff den größten deutschen Wurstwarenkonzern assoziiert, hofft vielleicht, in Goldts Text »Gastronomisches 2« des Rätsels Lösung zu finden. Dort erfährt er jedoch eher etwas über die unbequeme Möblierung von Restaurants und wird in das Lieblingsrestaurant des Dichters entführt: einen Chinesen, der sich seit Jahren nicht verändert hat und »das Klischee von der stehen gebliebenen Zeit gnadenlos beherzt« auslebt. Jeden Montag wird dort ein mit vier Chili-Schoten gekennzeichnetes Mapo-Tofu-Gericht serviert, das einige Übung erfordert. Über eine dampfende Schüssel dieser brennend scharfen Speise gebeugt, fragte ihn Daniel Kehlmann, ob er etwas dagegen hätte, den Kleist-Preis für seine literarische Leistung in Empfang zu nehmen. »Passt schon«, sagte Goldt darauf und veröffentlicht seine Kleistpreis-Rede als Zugabe.

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Genre: Humor und Satire
Illustrated by Rowohlt

Houwelandt

Jorge Houvelandt braucht das Meer. Hier fühlt er sich seinem Gott nahe, hier flieht er den Schmerz, der ihn innerlich zerfrisst. Täglich schwimmt der Daueremigrant an der spanischen Costa Blanca zu einer unwegsamen Insel, um allein zu sein, und hier fasst er seinen Entschluss, sich einer Feier zu seinem 80. Geburtstag zu entziehen.

Der alte Mann und das Meer sind das bestimmende Thema in John von Düffels Novelle »Houwelandt«, die das Scheitern, Zerbrechen und erneute Zusammenwachsen einer Familie skizziert. Das Meer dient ihm dabei als romantische Metapher – Sinnbild für Sehnsucht und Aufbruch, für Abschied und Heimweh eines zerbrochenen Familienclans.

Jorges Sohn Thomas, 57, verwaltet dessen Besitz in Deutschland. Er hat in seinem Leben viel angefangen und wenig zu Ende gebracht. Entsprechend herunter gekommen ist das Anwesen derer von Houwelandts. Seine Mutter Esther, Jorges Frau, hat heimlich Geld gespart, um notwendige Renovierungsarbeiten zu bezahlen. Dafür will sie den Sohn zwingen, eine Rede zum 80. Geburtstag des Patriarchen zu schreiben.

Esther möchte nämlich ein dem Anlass gebührendes Fest veranstalten: kulinarisch anspruchsvoll, aber nicht extravagant, großzügig, aber ohne übertriebene Opulenz. Als ihre Sachwalterin vor Ort betrachtet sie Thomas Ex-Frau Beate, bei der sie sich einige Tage vor der Veranstaltung einquartiert.

Thomas nutzt die Ausarbeitung der Rede zu einer Generalabrechnung mit seinem Vater, einem unnahbaren Hagestolz, der seinen Sohn schikanierte. Mit der Aufarbeitung erlittener Grausamkeiten will er seinem eigenen Spross Christian, „Erstgeborener des Erstgeborenen“, die Augen öffnen. In seiner Aufarbeitung zerrt er tief sitzende Kränkungen und Verletzungen ans Licht. Dabei kämpft er um die eigene Wahrheit wie um Recht und Unrecht in der Vergangenheit.

Über die Vorbereitungen der Geburtstagsfeier wächst die aus lauter Fremden bestehende Familie wieder ein wenig zusammen. Derweil zieht Patriarch Jorge im weit entfernten Mittelmeer unverdrossen seine Bahnen und begegnet dabei einem Jungen, in dem er sich in seiner Härte, seinem Misstrauen und seiner Unfähigkeit, zu lieben, wieder findet. Die einzige Frage, die sich der Leser stellt, lautet nur noch: wird die Geburtstagsfeier tatsächlich stattfinden?

„Houwelandt“ liest sich spannend und schnell. Das Tempo der Erzählung wird durch den Wechsel der Erzählperspektive bestimmt, die jeweils das entsprechende Familienmitglied einnimmt. Was jedoch wie eine Familiensaga beginnt, ertrinkt bald im Klischee. Der bittere Alte, der missratene Sohn, die ungeliebte Frau, das alles sind Ansätze, aus denen sich wesentlich mehr entwickeln ließe.

John von Düffel beobachtet zwar ausgezeichnet und versteht es auch, die drei Generationen in ihrer jeweiligen Denkungsart deutlich zu machen. Er verzichtet jedoch auf den großen Bogen, mit dem er sein Thema zu einer wirklichen Familiensaga hätte machen können.

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Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Deutsches Jahrbuch für Autoren 2010/2011

Laut Impressum erscheint das „Jahrbuch für Autoren/Autorinnen“ zwar erst im November 2010, tatsächlich liegt es aber bereits ein Jahr früher vor, und das ist gut so.

Auf 800 Seiten haben die Herausgeber Gerhild Tieger und Manfred Plinke rund 3000 Adressen und Informationen für angehende Autoren gesammelt, die Hilfestellungen bei der Kontaktaufnahme mit Verlagen und der Verwirklichung des von vielen gehegten Wunsches, gedruckt zu werden, geben wollen.

Herausragend an dem Jahrbuch ist, dass nicht ausschließlich Adressen gesammelt wurden. Vielmehr sind die insgesamt zehn Kapitel des Kompendiums angereichert durch kurze Artikel und Betrachtungen. So beschreibt beispielsweise Thomas Hürlimann, wie er in einer Klosterschule im wahrsten Wortsinn zum Schriftsteller „geschlagen“ wurde. Louise Doughty, die Kurse für kreatives Schreiben gibt, erinnert sich daran, wie es war, eine Schriftstellerin zu sein, die noch nichts veröffentlicht hat: Man beißt sich mehr schlecht als recht durch und kommt mit Leuten in Kontakt, die ausgesprochen abweisend sein können. Dies gilt wohl auch für etablierte Autoren, die gern vergessen, dass es einmal eine Zeit gab, in der noch nichts von ihnen erschienen war, und nun pauschal alle die „Möchtegernschriftsteller“ verachten, die nach ihnen versuchen, sich gleichfalls zu etablieren.

Vor diesem Hintergrund macht das „Jahrbuch“ Mut zur Kontaktaufnahme mit potentiellen Abnehmern und zum Manuskriptversand. Dazu bietet es eine enorme Fundgrube, indem es in den Bereichen Theater, Hörmedien, Film und TV, Autorenförderung und Buchmarkt wichtige Adressen sammelt. Eine Besonderheit dabei ist, diese Adressen mit Auskünften zu ergänzen, aus denen hervorgeht, ob und in welcher Form Manuskriptangebote erwünscht sind.

Diese Zusatzinformation ist von besonderer Bedeutung bei der Verlagsuche, entsprechend nehmen die Adressen der Buchverlage in Deutschland, Österreich und der Schweiz auch den größten Teil des 800 Seiten starken Branchenhandbuches in Beschlag. Ergänzend gibt es Tipps zur Manuskriptgestaltung, Empfehlungen für effektive Begleitbriefe, Muster-Exposés für Romane, Verhaltensregeln für den Umgang mit Literaturagenten und Hinweise auf die häufigsten Irrtümer beim Verlagsvertrag.

Vollkommen ausgespart hingegen werden in dem Kompendium die faszinierenden Möglichkeiten des Internets. Gerade das Web 2.0 bietet Autoren vielfältigste Chancen, ohne Einsatz von Geldmitteln zu einer eigenen Veröffentlichung zu kommen und damit sowohl das Betteln bei „renommierten“ Verlagen wie das Bezahlen von Dienstleistungsunternehmen aller Couleur einzusparen. Darin liegt das qualitativ Neue an der Situation der letzten Jahre, die das Verhältnis von Autor und Verleger nicht nur kräftig aufmischt sondern in einem nie zuvor da gewesenen Maße verändert und streckenweise umkrempelt.

Gibt es also einen Kritikpunkt an der vorliegenden Ausgabe des Autoren-Jahrbuches, dann ist es dessen konservative Beschränkung auf die Welt des bedruckten Papiers und das Ignorieren der technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Wer indes im „klassischen“ Buchmarkt sein Heil sucht, der wird mit dem Handbuch optimal bedient.

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Genre: Lexika und Nachschlagewerke
Illustrated by Autorenhaus Berlin

Die Arena

Ort: Chester’s Mill, ein kleines Kaff in Maine, nahe der weltberühmten Stadt Castle Rock.
Zeit: Ein wunderbarer Oktobervormittag in der nicht so fernen Zukunft.

Der gewohnte Gang des Lebens wird jäh unterbrochen, als sich eine unsichtbare riesige Kuppel über den Ort senkt und ihn somit komplett von der Außenwelt abschneidet. An der unüberwindbaren Barriere zerschellen Flugzeuge sowie Autos und Menschen, die sich ihr nähern, kommen durch explodierende I-Pods oder Herzschrittmacher zu Schaden. Nachdem der erste Schock überwunden ist, zeigen sich sehr schnell die Machtverhältnisse in der Kleinstadt: Das Sagen und alles im Griff hat der Stadtverordnete Big Jim Rennie, ein bibelfester Gebrauchtwagenhändler, der zusammen mit korrupten Kollegen eine profitable Drogenfabrik betreibt und die Krise sofort auch als Chance begreift.

Der „Dome“ über Chester’s Mill erweckt natürlich umgehend das Interesse der Sicherheitsbehörden und Militärs, die jedoch samt und sonders mit ihren teuren Spielzeugen bei den Versuchen scheitern, das Ding zu knacken. So setzen sie ihre Hoffnungen auf einen Mann, der zufällig unter den Eingeschlossenen weilt: Dale Barbara (Barbie), ein Irak-Veteran, der sich jetzt als Aushilfskoch verdingt wird flugs reaktiviert und vom Präsidenten (eindeutig Obama, auch wenn er nicht namentlich genannt ist) persönlich mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet, denn die Mächtigen vermuten, dass die Quelle für das Kraftfeld sich in der Stadt selbst befindet.

Während unter den Isolierten munter spekuliert wird, ob man es mit einem Werk Gottes, einem Angriff von Außerirdischen, Terroristen oder der eigenen Regierung zu tun hat, schart Big Jim – der nicht im Traum daran denkt, die Weisungen des Präsidenten zu befolgen – seine Truppen um sich. Jugendliche Straftäter werden als Hilfspolizisten angeheuert und unter dem Schutz der Uniform mutieren sie dann als moderne Hitler-Jugend folgerichtig zu sadistischen Mördern und Vergewaltigern. Mit der unnötigen Schließung von Supermärkten provoziert man gekonnt Aufruhr und Plünderung, um sodann den Notstand auszurufen und die kleine Diktatur perfekt zu machen. Aber auch Barbie hat Verbündete, und die braucht er dringend, denn es drängt die Zeit und nicht nur Nahrung und Energie gehen zur Neige, sondern es verändern sich auch die Lebensbedingungen innerhalb der Kuppel, wo Luftverschmutzung die Sterne rosa färbt und Sonnenuntergänge zu bizarren Spektakeln macht…

Stephen King ist ein Phänomen, nicht nur weil er der erfolgreichste Schriftsteller der Welt ist, nein, er versteht es auch immer wieder, seine zahllosen Anhänger mit neuen Plots zu begeistern, ohne dabei auf bewährte Standardthemen zu verzichten. Mit „Under the Dome“ (ich bevorzuge den Originaltitel statt der erneut selten dämlichen deutschen Variante; von einer Arena gibt es weit und breit keine Spur) ist ihm jetzt ein 1.100 Seiten starkes Epos gelungen, das den Vergleich mit seinen allergrößten Hits nicht zu scheuen braucht. Das Szenario Amok laufender Kleinstadtbürger erinnert an „Needful Things“ und die quasi-apokalyptische Eskalation des Kampfes Gut gegen Böse natürlich an „The Stand“ (man beachte zum Beispiel die Parallelen zwischen Phil Bushey und dem Mülleimermann).

Der Autor macht in eindringlicher und beklemmender Weise deutlich, wie schnell sich in einer abgeschotteten Gesellschaft in Extremsituationen autoritäre und faschistische Machtstrukturen entwickeln können, hier noch befeuert durch die abstruse Ideologie christlicher Fundamentalisten, die King in vielen seiner Werke an den Pranger stellt und genüsslich geißelt. Dennoch hält er auch Trost für den Leser parat; die Provinzdiktatur produziert konsequent ihre eigene Revolution.

King versteht wie kein Zweiter die Kunst, den Leser durch eine packende und stringente Handlung zu fesseln; auch bei mehr als tausend Seiten kommt nie Langeweile auf, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Länge der einzelnen Kapitel doch recht übersichtlich darstellt (hier sei das gestattet, da man es mit einer Vielzahl von Protagonisten zu tun hat). Er ist ein Meister der Sprache, die er perfekt beherrscht und mit der er souverän spielt; immer wieder findet der Leser faszinierende Perlen in ganzen Sätzen oder einzelnen Wendungen. Durchaus innovativ ist die Grundidee des Buches mit der unsichtbaren Kuppel und auch die Umsetzung und Auflösung am Ende sind rundum gelungen. Fazit: Kein page-turner, sondern ein page-burner!


Genre: Thriller
Illustrated by Heyne München

Hellraiser


Geboren wird Peter »Ginger« Baker am 18.08.1939 in London. Er wächst in ärmlichen Verhältnissen auf und muss früh lernen, seine Fäuste zu nutzen. Der Vater fällt im Krieg, doch er hat Glück mit einem Stiefvater. Bereits im Unterricht fällt der Junge, der gelegentlich schon mal eine Jazz-Schallplatte stibitzt, durch rhythmisches Trommeln auf der Tischplatte auf. Seine Mitschüler glauben, er könne Schlagzeug spielen, und auf einer Fete wird er plötzlich gebeten, eine Probe seines Könnens zu geben. Baker nimmt erstmals hinter einer richtigen Schießbude Platz, legt augenblicklich los und hat augenblicklich seine Bestimmung entdeckt: er will Schlagzeuger werden.

Doch wie wird man Schlagzeuger? Baker bastelt sich aus einem Spielzeugschlagzeug und Blechdosen ein Drum-Kit, übt darauf und meldet sich auf eine Suchanzeige im »Melody Maker« zum Vorspielen. Den Musikern erklärt er, sein »richtiges« Schlagzeug sei defekt, darum spiele er mit Behelfsgerät. Frechheit siegt! Der gerade 18jährige Baker wird Drummer von »The Storyville Jazzmen« und begründet damit seine Karriere als Profimusiker.

Kurz darauf lernt er Phil Seamen kennen, der bereits eine Legende des britischen Jazz ist. Seamen bringt ihm aber nicht nur das Schlagzeugspielen näher, er zeigt ihm auch Heroin. Es dauert nicht lange, und Baker zieht alles durch Mund und Nase, was er erwischen kann. Kurz darauf setzt er seinen ersten Schuss. So startet er nicht nur eine Karriere als Drummer sondern auch als Junkie. In Kürze lernt er alle Musiker kennen, die in jener Zeit den Ton angeben. Er spielt mit dem Saxophonisten Dick Heckstall-Smith und Bassmann Jack Bruce als Mitglied der von Alexis Corner geführten »Blues Incorporated«. Mick Jagger, den Baker als unfähig verachtet, darf gelegentlich singen, Graham Bond stößt zu ihnen und vollführt musikalische Kunststücke auf seiner Hammond-Orgel. Bald entsteht aus dieser Formation die legendäre »Graham Bond Organisation«.

Viele Musiker lehnen Baker trotz seiner allseits anerkannten Fähigkeiten ab, weil er ein bekannter Junkie ist. Sister Morphine sitzt mit ihm am Schlagzeug, und das Übermaß an Drogen, das Ginger konsumiert, lassen ihn ausfällig und unberechenbar gegenüber Freunden und Bandkollegen werden.

Ginger Bakers rasant rauschende Drogenbiographie

»Hellraiser« liest sich streckenweise wie eine grandios rauschende Drogenbiographie. Baker versucht zwar immer wieder, von den harten Drogen loszukommen, akribisch erzählt er in seiner Autobiographie von insgesamt 29 Entziehungsversuchen mit Methadon im Laufe von 21 Jahren, doch die Sucht ist stärker. Zu Alkohol, Amphetaminen, Heroin und Morphium kommt bald LSD hinzu, jeder nur denkbare Drogencocktail wird gemixt, und die Konsequenzen bleiben nicht aus: im Vollrausch verliebt Baker sich immer wieder, er kommt fast in einem Schneesturm um, bei Rangeleien mit anderen Musikern wird er wiederholt verletzt und verliert sämtliche Zähne, teure Autos werden zu Bruch gefahren, Freunde kommen durch Überdosen um.

Baker beschreibt auch die Wesensänderungen, die Bandkollegen durchmachen. Jack Bruce muss wegen unberechenbarer Wutausbrüche aus der Band ausgeschlossen werden, und Graham Bond entwickelt sich von einem eitlen Paradiesvogel, der mit Händen und Füßen mehrere Instrumente gleichzeitig spielen kann, zu einem im Räucherstäbchennebel meditierenden Spiritisten, bevor er schließlich unter den Rädern einer Londoner U-Bahn endet.

Baker lernt Eric Clapton kennen und plant mit ihm die Gründung einer eigenen Band. Trotz Gingers Bedenken einigen sich die beiden auf Jack Bruce als Bassisten, und damit sind »The Cream« geboren. Die Band geht in kurzer Zeit ab »like a fucking rocket«. Das Flower-Power-Publikum gerät aus dem Häuschen, wenn die drei Musiker nur die Bühne betreten. Gagen steigen, Säle werden immer größer, und Clapton und Bruce bauen gigantische Boxentürme auf, um mit immer mehr Power zu spielen. Baker leidet bald an Hörproblemen, er hockt zwischen den Lautsprecherwänden und haut immer kräftiger auf Trommeln und Becken, um sich wenigstens noch selbst zu hören. Seine Proteste gegen den infernalischen Lärm werden von den beiden anderen ignoriert. Gestritten wird auch um die Urheberschaft an den einzelnen Titeln, denn sehr demokratisch geht es im »Cream«-Team nicht zu, und es geht um viel Geld.

1969 trennen sich die Weg der drei Cream-Heroen, und Baker formiert gemeinsam mit Stevie Winwood die nächste Supergroup. Das ist »Blind Faith«, bei der wiederum Clapton mitspielt. Es folgt »Ginger Bakers Airforce« mit der Sängerin Jeanette Jacobs, Gitarrist Denny Laine, Organist Stevie Winwood, den Bläsern Harold McNair und Graham Bond, Rick Grech am Bass und Phil Seamen als zweiten Schlagzeuger. Auch diese Formation hält nicht lange, worauf Baker sein Glück in Afrika versucht, um Abstand zu gewinnen, den Tod seines Freundes Jimi Hendrix, der am Erbrochenen erstickt ist, zu überwinden und von den Drogen loszukommen. Afrika ruft den Drummer, denn Bakers Qualität gründet auf seinem Afrika-Feeling, das seine Spieltechnik unvergleichlich macht. Er hat Afrika im Blut und ist bis heute der einzige weißhäutige Drummer, der auf dem schwarzen Kontinent anerkannt und gefeiert wird.

Ginger Baker in Afrika

In Nigeria baut Baker das erste Tonstudio Westafrikas auf und spielt mit dem Afrobeat-Star Fela Kuti. Der Nigerianer kommt mit zwei Dutzend knackfrischer Ehefrauen zu den Jazztagen nach Berlin, die er stolz auf einer Pressekonferenz präsentiert, ihnen dann jedoch den Mund verbietet. Beim abendlichen Konzert versackt Baker, den ich an dem Tag fotografiere und interviewe, in einer Spielpause an der Theke im Musikerrestaurant der Philharmonie. Der Meister ist bereits schwer angeschlagen, als der Veranstalter bemerkt, dass alle Musiker auf ihren Plätzen sind und weiter spielen wollen, Baker jedoch fehlt. Der hat plötzlich keine Lust mehr und lässt sich nur widerwillig an seine Schießbude zerren.

Bakers Karriere in Nigeria dauert nur kurz, er erlebt ein finanzielles Fiasko und fällt wieder in die Drogenhölle. Getrennt von Frau und Kindern flieht er in die Toskana, um Missernten und eine weitere gescheiterte Ehe ernten zu dürfen. Immer neue Bands entstehen: »Bakers Gurvitz Army, »Masters of Reality«, »BBM«. Er zieht weiter nach Los Angeles, dann nach Colorado, wo er mit der Zucht von Poloponys beginnt. Schließlich siedelt er in KwaZulu-Natal in Südafrika, wo er auf einer eigenen Farm Pferde züchtet, Polo und Schlagzeug spielt und sich mit den Nachbarn anlegt.

In Mai 2005 kommt es noch einmal zu einem legendären »Cream Reunion« Konzert von Baker, Bruce und Clapton. Drei Tage ist die »Royal Albert Hall« total ausverkauft, Tickets werden zu 1000 Euro gehandelt, und das Trio erlebt Begeisterungsstürme wie in alten Zeiten. Die Band spielt auch noch in den USA, dort brüllt Bruce jedoch Baker plötzlich unvermittelt auf der Bühne an, und die beiden gehen vor dem Publikum offen aufeinander los. »Cream« zerbricht ein zweites, allerletztes Mal.

Wer »Hellraiser« liest, bekommt einen tiefen Einblick in die innere Welt vieler Superstars von Clapton bis Hendrix. Es ist teilweise erschütternd, wie das wilde Leben zwischen Sex and drugs and rock n roll wirklich war und was sich hinter den teilweise glamourösen Kulissen abspielte. Diese Autobiographie ist ein Zeitdokument, das seinesgleichen sucht und auch demjenigen, der kein Baker-Fan ist, einen Schlüssellochblick in die Welt von Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll gestattet.


Genre: Biographien, Kunst, Memoiren, Musik
Illustrated by John Blake Publishing London

Das Lieblingsspiel

Ein großer Dichter ist Leonard Cohen, auch wenn ihn viele „nur“ als Sänger kennen oder wahrnehmen. Dabei unterlegte er seine Verse anfangs nur deshalb mit Musik, weil er damit besser Geld (auch fürs sorgenfreie Dichten) verdienen konnte, und weil die Gedichte selbst eher verhalten Absatz und Verbreitung fanden. Sogar zwei Romane schrieb der 1934 in Montreal Geborene, und so wäre eigentlich er, und nicht nur der dichtende Rockmusiker Bob Dylan, ein heimlicher Anwärter auf den Literaturnobelpreis, der sich der musikalischen Dichtung bislang verschlossen hat. Cohens elegante, originelle, psychologisch anspruchsvolle Liedtexte verraten bereits den Meister der Seelensprache.
Nun liegt der hierzulande nahezu unbekannte, autobiografisch geprägte Roman „Das Lieblingsspiel“ aus dem Jahre 1963 wieder vor. Er wurde im Auftrag des kleinen, aber feinen Blumenbar Verlages (vor kurzem aus München nach Berlin umgesiedelt) von Gregor Hens neu ins Deutsche übertragen.

Der poetische Roman mit den wunderbaren Metaphern erzählt die Geschichte eines Jungen, der hin- und hergerissen ist zwischen dem wohlhabenden jüdischen Elternhaus und dem Suchen nach einer eigenen Identität. Lawrence Breavman führt tagsüber philosophische Gespräche mit seinem Freund Krantz und pflegt des Nachts einsame Spaziergänge durch den menschenleeren Park zu unternehmen, wo er sich als Herr über die Stadt fühlen kann. Nach dem Tod des Vaters entflieht er der knebelnden Liebe seiner Mutter und geht zum Studium – zumindest bildet das College den lockeren Rahmen zu seinem anarchistisch anmutenden Leben. Er weiß nicht, was er mit seiner Zukunft anfangen soll. Er diskutiert und dichtet und verfällt einer eigentümlichen Hassliebe zu der schönen Kommunistin Tamara (die später länger währen soll als die große Liebe zu der gleichsam vollkommenen Shell). Allmählich gewinnt Breavman in der Stadt eine gewisse Popularität als Dichter, auch weil sich manche Leser seiner schonungslos offenen Texte Klatschgeschichten aus Westmount, dem vornehmen Vorort Montreals, erhoffen. Andere, vor allem Frauen, lieben die disziplinierte Melancholie, die Breavman zu Beginn seiner dichterischen Laufbahn der Welt vorgaukelt. Dabei hat seine Vorstellung vom Dichterdasein mit Demut und Opferbereitschaft zu tun. So tut er gleichsam Buße und wird Hilfsarbeiter, statt ein Dasein als Edeldichter zu genießen. Später entzieht er sich gar mit schmerzhafter Konsequenz der großen Liebe, um unabhängig und frei zu bleiben, um immer wieder die Möglichkeit eines neuen Anfangs zu haben, um weiter nur sich selbst zu gehören. Schließlich flüchtet er sich in ein jüdisches Sommerlager, das von seinem alten Freund Krantz geleitet wird, und scheitert auch dort dramatisch. Doch Breavman erinnert sich endlich an das Lieblingsspiel seiner Kindheit und nimmt dessen Unbeschwertheit mit in die Zukunft …
Selten sind das Wesen der Liebe und das Geheimnis des Lebens so originell und plastisch ergründet worden wie von dem eigenwilligen Kanadier Leonard Cohen. Seine Lieder entfalten ebenso wie der vor über vier Jahrzehnten entstandene lyrische Roman bis heute einen besonderen Zauber, sensibel, doch unsentimental und zuweilen auch verwirrend. Sie offenbaren so manches Rätsel menschlichen Miteinanders auf eigene, bedächtig-vitale und nachdrückliche Weise.


Genre: Romane
Illustrated by Blumenbar Verlag

Das verlorene Symbol

Schon im Prolog von »Symbol« baut Dan Brown enorme Spannung auf: ein mysteriöser Mann hat sich in einen geheimnisvollen Männerorden geschlichen und greift nach der Macht …

Browns neueste Story ist übersichtlich: Der schon aus seinen Bestsellern »Sakrileg« und »Illuminati« bekannte unverwüstliche Held Robert Langdon, Erfolgsautor von Büchern über Symbole und Religion, wird unter höchster Geheimhaltung von seinem Freund und Mentor Peter Solomon nach Washington gerufen, um einen Vortrag über freimaurerische Symbolistik zu halten. Vor Ort stellt er allerdings fest, einem Verbrecher aufgesessen zu sein, der ihn in seine Gewalt bringen will und offenbar auch schon Solomon gekidnappt hat. Statt eines erwartungsvoll gefüllten Auditoriums trifft er auf Solomons abgetrennte Hand mit dessen wuchtigem Freimaurerring. Diese »Mysterienhand« weist den Weg zu geheimem Wissen, das seit Jahrhunderten gehütet wird und nun offenbart werden soll. Ein Dämon der Finsternis will sich dieses Schatzes bemächtigen und schreckt vor keinem Verbrechen zurück, wobei er es besonders auf die Familie Solomon abgesehen hat (das Warum wird auf Romanseite 672 verraten) …

Spielhandlung ist Washington D. C., Hauptstadt und Regierungssitz der Vereinigten Staaten. Rund um die drei Gebäude, die das so genannte Federal Triangle in Washington bilden (Kapitol, Weißes Haus und Washingtondenkmal) findet eine atemlose Jagd zwischen Gut und Böse statt, und von Anfang an hat auch die CIA-Chefetage ihre Finger wieder ganz tief mit drin. Geheimlabore explodieren, Täter, Verräter und Attentäter hasten atemlos kilometerlange Gänge entlang, Hubschrauber knattern, und es geht dabei höchst zeitgemäß zu: der Protagonist darf sich im Waterboarding üben, Blackberrys und iPhones blinken in der Dunkelheit, E-Mails und SMS kommen zum Einsatz, und es wird sogar getwittert. Der Autor lässt keinen Trend und keine technische Neuerung aus, er steckt »ganz tief drin« und nutzt das natürlich auch für sein eigentliches Thema: Werbung für die geheimnisvolle Bruderschaft der Freimaurer zu machen.

Dan Brown bedient mit seinem neuesten Thriller wie schon in seinen früheren Büchern Gralsfanatiker, Verschwörungstheoretiker, Mystiker und Geheimbündler ebenso ausgezeichnet wie Interessenten an Astrologie, Tierkreiszeichen und Sterndeutung. Geschickt baut der Autor eine Fülle von Fakten, Halbwahrheiten und Spekulationen über Geheimnisse von Astrologie und Architektur ein, die dann zwar jeweils sachlich richtig gestellt werden, tatsächlich aber immer neue Fragen aufwerfen. Er erwähnt Gott und das Universum, vermengt geschickt Physik, Philosophie, Bibelsprüche, Bildmetaphern aus Dürer-Gemälden und ein gutes Pfund Zahlensymbolistik. Seine Themen sind das kosmische Bewusstsein sowie das Verschmelzen menschlichen Denkens, das in Wechselwirkung mit Materie tritt und die Frage, ob der konzentrierte menschliche Geist die stoffliche Welt verändern kann.

Brown serviert neben der abgetrennten Hand einen Todesschrein in einem Keller sowie bizarre Gravuren auf einer Sagen umwobenen Steinpyramide in Schnitttechnik: er schaltet die Handlungsstränge parallel, schneidet sie in kleine Häppchen, die stets mit einem Cliffhager ausgestattet sind und serviert sie wie Kaiten Sushi auf einem endlos scheinenden Laufband. Die insgesamt 133 auf 765 Seiten geschickt miteinander verwobenen Kapitelfetzen lesen sich flüssig und schnell, seine Ortsbeschreibungen zeugen von hoher Sachkenntnis und genauer Recherche. Der Autor versteht es, auch die absurdesten Situationen und Geschehnisse dramatisch aufzubreiten und plausibel klingen zu lassen. Dabei erzeugt er Hochspannung ohne sprachlichen oder gar literarischen Anspruch. (Stephen King nennt seine Erzeugnisse kritisch »Fast Food«, und damit ist einfach alles gesagt.)

Bereits im Vorfeld der Buchveröffentlichung, die es im Handumdrehen zum Bestseller des Jahres bringen und garantiert in eine paar Jahren mit Tom Hanks in der Titelrolle verfilmt wird, wurden Journalisten von Freimaurern mit Pressetexten bombardiert. Die Angst der international verzweigten geheimnisvollen Bruderschaft, als eine obskure Organisation mächtiger Männer mit mörderischen Motiven dazustehen, ist deutlich. Gleichzeitig nutzen die »Brüder« das Buch, um sich als einen Bund ehrenwerter Philantropen darzustellen, die nie auf die Idee kommen würden, ihre Macht zu missbrauchen. Dass diese in der Geschichte der Freimaurerei, erwähnt sei hier nur die italienische Mafia-Loge P2, oft egoistisch und politisch einseitig eingesetzt wurde, bleibt bei Brown unerwähnt.

»Mr. Secret«, wie ihn der STERN nennt, kokettiert lieber mit Geheimnissen, und entsprechend geheimnisvoll behandelte der Verlag auch sein Buch, das am gestrigen Eröffnungstag der Frankfurter Buchmesse In einer Art Showdown in einer Mitarbeiterkette von Hand zu Hand an den Stand gereicht wurde … Immerhin gilt es, die für den deutschsprachigen Markt schier unglaubliche Startauflage von 1,2 Millionen Exemplare möglichst schnell zu verkaufen. Der Erfolg scheint vorprogrammiert, weltweit wurden bislang 120 Millionen Dan-Browns verkauft, und es gibt keinen Zweifel, dass sein Erfolgsrezept auch bei Buch No. 5 funktioniert, zumal gemäß seiner Roman-Wahrheit die gesamte Welt von den freimaurerischen Geheimnissen bedroht ist …

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Thriller
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Frank Sinatra ist erkältet

Frank Sinatra hat einen Schnupfen, und der Himmel scheint einzustürzen. Das Debakel droht, weil den Meister eine Erkältung seines größten Schatzes, seiner Stimme, beraubt, und das wird besonders dann gefährlich, wenn es gerade um die Aufzeichnung einer wichtigen Fernseh-Show geht, bei der »Frankie Boy« brillieren muss. 75 persönliche Mitarbeiter beginnen zu zittern, wenn Sinatra ein Taschentuch hervorzieht und sich schnäuzt, seine Filmproduktion, seine Plattenfirma, seine Fluggesellschaft, seine Rüstungsfabrik, seine Immobiliengesellschaft und all die vielen Geschäfte, in die er investiert ist, geraten in Schieflage und fürchten um ihre wirtschaftliche Stabilität. Einen solch kritischen Moment im Leben des vielleicht einflussreichsten Sängers der amerikanischen Popmusik zu schildern, gelang Gay Talese. Der 1932 geborene Autor zählt zu den bekanntesten Vertreter des »New Journalism«, ein literarischer Reportagestil, der höchst subjektiv ist und Wert auf starke literarische Stilmittel setzt, ohne von den Fakten abzuweichen. Diese unverwechselbare Methode setzt der Autor bei seiner Beschreibung Sinatras ein.

Der eigentliche Clou der Geschichte ist, dass Talese versucht hatte, einen Interviewtermin mit Sinatra zu bekommen, jedoch von dem publicityscheuen Sänger eine Absage erhielt. Der Reporter verbiss sich darauf in das Thema und heftete sich monatelang an den Tross um den Superstar. Dutzende Interviews mit Mitarbeitern und Familienangehörigen flossen in den Tatsachenbericht ein, der von Taleses enormer Beobachtungsgabe lebt. Zur »besten Reportage des Jahrhunderts« kürte das amerikanische Magazin »Esquire« den Text, der den Autor weltberühmt machen sollte. In der Journalistenausbildung gilt die Schilderung heute als genialer Wurf, von der jeder Autor viel lernen kann. Taleses Meisterschaft erweist sich nämlich unter anderem darin, dem Sänger auf Schritt und Tritt zu folgen und mit seiner milieudichten, präzisen Schilderung feinste literarische Qualität zu liefern, ohne ein einziges Wort mit ihm gewechselt zu haben und es den Leser bemerken zu lassen.

Neben der Titelstory werden in dem neu aufgelegten Bandes neun spektakuläre Storys aus vier Jahrzehnten präsentiert, die pures Lesevergnügen bescheren. »New York: Stadt im Verborgenen« setzt den durch Gotham City streunenden, unabhängigen, für sich selbst sorgenden Straßenkatzen ein literarisches Denkmal. »Deines Nächsten Weib« beschreibt die Welt eines pubertierenden Amerikaners, der sich in einer klerikal-prüden Umgebung in eine Illustriertenschönheit verliebt und nächtens in seinem Bett besteigt. In »Vogueland« seziert der Autor die Innereien der exaltierten internationalen Modezeitschrift »Vogue«, deren RedakteurInnen »bezaubernd« statt »niedlich« sagen, ihre Leserinnen zu einem »Dinner« statt zu einer »Party« laden und einem Veloursledermantel attestieren, er sei »eine willkommene Ergänzung der Garderobe fürs Landhaus« statt »ideal für den Wochenendausflug ins Grüne«.

In »Die Brücke« verfolgt er eine Truppe aus Zirkusartisten und Nomaden, die von Ort zu Ort ziehen und gewaltige Brücken aus Stahl und glitzernde Hochhaustürme errichten. Städte, in denen ein Bauboom ausbricht, üben eine magische Anziehungskraft auf diese Typen aus, deswegen man die Männer auch »Boomer« nennt.

Besonders Boxer sind Talese ans Herz gewachsen.
In »Ali in Havanna« begleitet er anno 1996 den bereits von Parkinson gezeichneten Muhammad Ali zu einem Treffen mit Staatschef Fidel Castro nach Kuba. Das Schwergewicht bringt dem Revolutionsführer dabei einen Taschenspielertrick mit einem künstlichen Daumen bei, den Fidel spontan einstudiert. Wie Talese es dabei mit Worten schafft, ein Bild des Revolutionsführers im Kopf des Lesers zu erzeugen, das ist schon ganz großes Kino!

In »Der Verlierer« besucht Talese Floyd Patterson, den Ex-Weltmeister im Schwergewicht und öffnet dessen Seele. Er zeigt den einstmals stärksten Mann der Welt als einen sensiblen Fighter, der mit falschem Bart und Haarteilen zu seinen Kämpfen reiste, um im Fall einer Niederlage unerkannt aus der Umkleidekabine entkommen zu können. Er lässt ihn bekennen, ein echter Sieger und zugleich ein erbärmlicher Feigling zu sein und beleuchtet verborgene Kammern der Seele seines Gesprächspartners, der weiß, dass sich erst in der Niederlage das wahre Gesicht eines Menschen zeigt.

In einem dritten Porträt schließlich schildert der Reporter Joe Louis als einen Mann, der schlecht mit Geld, aber ausgezeichnet mit Frauen und dem Golf-Schläger umgehen kann. Für Amerikas schwarze Bevölkerung gab es »nichts Größeres als Gott und Joe Louis«, und Talese beleuchtet, warum das so war.

Mit seinem Buch »Ehre Deinen Vater« schuf Gay Talese übrigens die erste und bislang einzige Tatsachenschilderung aus dem Inneren der Mafia. Es ist die Geschichte der Familie Bonnano, die in den sechziger Jahren New Yorks Unterwelt dominierte. Die in dem Band enthaltene Story »Das Verschwinden« schildert die außergewöhnliche Fähigkeit zur selektiven Wahrnehmung, die New Yorks Pförtner auszeichnet: genau in dem Augenblick, als Mafia-Boss Joe Bonanno von rivalisierenden Mafioso vor seinem Wohnhaus entführt wird, ist der Pförtner in ein Gespräch mit dem Fahrstuhlführer vertieft und bemerkt nichts …

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Reportagen
Illustrated by Edition Freitag Berlin

Die Erzählungen

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Joseph Roth (1894-1939) gilt manchen als ein Wunderrabbi im Kleid des Gentlemans, der mit dem Alphabet heilen konnte, anderen als schiffbrüchiger österreichisch-ungarischer Monarchist, der seinen Kummer über den Niedergang der Habsburger in Hektolitern Alkohol ersäufte. Selbst charakterisierte sich der galizische Jude, österreichische Dichter und katholische Trinker Roth als »böse, besoffen, aber gescheit« und traf damit wohl ins Schwarze.

Roth, dessen Texte zum Feinsten zählen, was die deutsche Literaturgeschichte zu bieten hat, wurde durch seine Romane »Hiob«, »Radetzkymarsch« und »Kapuzinergruft« berühmt. In der Vor-Hitler-Zeit war er einer der bestbezahlten Zeitungsschreiber Deutschlands, im Exil galt er als einer der kompromisslosesten Gegner des Nazi-Terrors. Doch die politische Entwicklung gab ihm den Rest und machte aus einem fröhlichen Zecher einen zerrütteten Alkoholiker. Schluck für Schluck beging er Selbstmord und verbrannte wie ein bengalisches Feuerwerk. Ein jetzt vorliegender Band mit seinen gesammelten Erzählungen lädt ein, sich mit Joseph Roth zu beschäftigen.

Als »eine der schönsten Legenden, die im 20. Jahrhundert gedichtet wurde« (Marcel Reich-Ranicki) hinterließ Roth »Die Legende vom heiligen Trinker«, die kurz vor seinem Tod entstand. In dieser Erzählung wird der dem Alkohol verfallene Clochard Andreas von einem Unbekannten mit 200 Francs beschenkt. Die soll er, falls es ihm eines Tages möglich sei, in einer bestimmten Kapelle zugunsten der Heiligen Therese von Lisieux hinterlegen. Andreas geht von seinem unerwarteten Reichtum gut essen, wäscht sich, lässt sich rasieren und besucht ein Café. Dort spricht ihn ein Herr an, der seine schäbige Kleidung bemerkt und bietet ihm einen Job als Möbelpacker an. Als Lohn werden 200 Francs vereinbart.

Andreas führt die vereinbarte Arbeit gewissenhaft aus und erwirbt, weil er sich bereits einer neuen Klasse zugehörig fühlt, eine lederne Brieftasche. Am nächsten Sonntag geht er zu der Kapelle, um einen Teil seiner Schuld zu zahlen, versackt jedoch in einer Eckkneipe. Dort trifft er auf Karoline, eine verflossene Liebe. In einem Nebel von Hochprozentigem erinnert er sich, wie er vor vielen Jahren aus dem polnischen Schlesien nach Paris kam, da man in Frankreich Kohlenarbeiter suchte. Er hatte bei Landsleuten logiert. Dabei verliebte er sich in die damals verheiratete Karoline, und als ihr Mann sie eines Tages zu Tode schlagen will, schlägt er den Mann tot. Dafür saß er zwei Jahre im Gefängnis, dann folgte sein Absturz in den Alkohol, der ihn bis unter die Brücken von Paris führte. Als ihm in der Nacht die Heilige Therese im Traum erscheint und an seine Schuld erinnert, verlässt er Karoline.

In der Reihe der Wunder, die Andreas widerfährt, entdeckt er plötzlich einen Tausend-Francs-Schein in der frisch erworbenen Brieftasche. Er wechselt sie in einem Tabac und sieht dort das Foto eines ihm bekannten Landsmanns, der inzwischen zum Fußballstar avancierte. Er spürt diesen alten Kumpel auf, wird herzlich von ihm in die Arme geschlossen, mit frischer Kleidung beschenkt und zum Essen geladen.

Am Sonntag geht Andreas wieder Richtung Kirche, um der Heiligen Therese ihr Geld zu erstatten. Doch dort trifft er auf einen weiteren Freund aus der Vergangenheit, Woitech, dem er sein gesamtes Geld schenkt, um ihm aus einer angeblichen Not zu helfen. Und wieder fließt Alkohol in Strömen.

Nun kreuzt erneut jener Herr seinen Weg, der ihm die ersten 200 Francs geschenkt hat, und der Mann schenkt ihm erneut Geld. Das verzehrt Andreas in einer Bar. Am Sonntag geht er wieder voll guter Vorsätze zu der Kapelle. Ein Polizist spricht ihn unterwegs an und überreicht ihm eine fremde Brieftasche, die er angeblich verloren habe. Darin liegen 200 Francs. Ein Kumpel verleitet ihn jedoch erneut zum Saufen, bevor Andreas die Kirche betreten kann. An der Theke kippt er plötzlich um und wird in die gegenüber liegende Sakristei geschleppt, wo er mit einer Bewegung, als wollte er in die linke innere Rocktasche greifen und seine Schulden zahlen, einen letzten Seufzer tut und stirbt.

Mit dieser wunderschönen Novelle setzt sich Roth mit seiner eigenen Trunksucht auseinander und macht dabei immer wieder die Ehrenhaftigkeit deutlich, die ihn sein gesamtes Leben auszeichnete. Nach der »Legende vom heiligen Trinker« schrieb der Autor nur noch ein letzte Erzählung, »Der Leviathan«. Darin geht es wieder um einen im Grunde ehrenhaften Mann, den Korallenhändler Nissen Piczenik. Dieser Mann glaubte, dass die Korallen, mit denen er sein Leben lang handelte, lebendige Wesen seien, die Jehova dem Leviathan anvertraut habe, der sich auf dem Urgrund aller Wasser ringele, und die Verwaltung über alle Tiere und Gewächse des Ozeans, insbesondere über die Korallen, ausübe. Piczenik wird jedoch durch einen Konkurrenten, der künstliche Korallen aus Zelluloid zu einem Spottpreis verkauft, aus der Bahn geworfen und letztlich zum Trinker, bevor er auf dem Boden des Meeres mit seinen geliebten Korallen eins wird.

Traurige Figuren und unglückliche Schicksale sind es, die Roth in seinen Erzählungen beschreibt. »Jede Seite, jede Zeile, ist wie die Strophe eines Gedichts, gehämmert mit dem genauesten Bewusstsein für Rhythmus und Melodik«, schrieb sein Freund und Gönner Stefan Zweig über den Autor, der mit nur 44 Jahren verschied und uns ein fulminantes Werk hinterließ.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die souveräne Leserin

Zufällig besucht die Queen einen Bücherbus, der vor ihrer Palastküche parkt und lernt dort Norman Seakins kennen, einen lesehungrigen Küchenjungen. Angetan von seiner Begeisterung für Literatur befreit sie ihn vom Tellerwaschen und ernennt ihn zu ihrem persönlichen Amanuensis. Als literarischer Assistent bekommt der karottenköpfige Junge einen Stuhl nahe dem Büro der Queen und verbringt seine Zeit zwischen der Erledigung kleiner Aufträge mit Lesen.

Angeregt durch die Zufallsbekanntschaft liest die Queen immer mehr und verliert schnell ihr Interesse an höfischen Pflichten. Das stößt auf den Widerstand ihres Hofstaates, der meint, Lesen zähle nicht zu den Kernkompetenzen einer Monarchin und sei lediglich Zeitvertreib. Die Königin liest fortan, weil sie sich zu ergründen verpflichtet sieht, »wie die Menschen sind«. Im Umgang mit Büchern fühlt sie sich als Gleiche unter Gleichen, denn Bücher buckeln nicht und verhalten sich republikanisch gegenüber ihren Lesern.

Ihre Leselust wird zum Lesefrust ihrer Umgebung, die ungern mit Gewohnheiten bricht. Künftig fragt sie nämlich jeden, dem sie Audienz gewährt, was er denn gerade lese und will sich außerdem mit Staatsgästen über Literatur unterhalten. Ihre Begeisterung für ihr neues Hobby wird zur Besessenheit, und ihren offiziellen Verpflichtungen kommt die Monarchin nur noch mit sichtbarem Unwillen nach: »Grundsteine werden weniger schwungvoll gelegt; die wenigen Schiffe, die noch zu taufen waren, sandte sie mit kaum mehr Zeremoniell auf hohe See hinaus, als man ein Spielzeugboot auf den Teich setzt, denn immer wartete ein Buch auf sie.«

Schon bringen ihr Besucher Bücher statt Blumen mit, im schlimmsten Falle sogar selbst verfasste. Und die Queen liest weiter, sie hat den Eindruck, etwas versäumt zu haben, weil sie erst im Alter das Lesevergnügen entdeckte. Bald will sie die Verfasser der vielen interessanten Bücher persönlich kennen lernen und lädt sie in ihren Palast. Doch dabei stellt sie fest, dass Schriftsteller ebenso sehr Phantasiefiguren ihrer Leser sind wie ihre Romanhelden und belässt es darauf beim Lesen. Schließlich überlegt sie, statt der üblichen Weihnachtsansprache im Fernsehen an ihre Untertanen, ein Gedicht von Thomas Harding vorzulesen.

Um sie wieder auf den »richtigen« Weg zu bringen, wird Norman von den Hofschranzen an eine Universität versetzt, wo er ein Literaturstudium beginnt. Seine ehemalige Arbeitsgeberin vermisst ihn zwar, erfährt aber nichts von der plötzlichen Wende in seinem Leben. In Ermangelung ihres literarischen Gesprächspartners beginnt sie, ihre Gedanken zu Papier zu bringen und Notizbücher zu füllen. Nun denkt sie ernsthaft darüber nach, selbst zu schreiben … doch ob das einer Monarchin geziemt?

Alan Bennett schildert in seiner Novelle, wie Lesen Menschen beeinflussen und verändern kann. Er beweist diese These ironischerweise am – natürlich fiktiven – Beispiel der Queen, von der außer repräsentativem Winken kaum Neigungen bekannt sind. Mit seiner Erzählung, die in einer unerwartet konsequenten Wendung mündet, macht er die Monarchin menschlich und liebenswert. So leistet er neben der Aufgabe, schreibend für das Lesen zu werben, gleichzeitig seinen Beitrag als britischer Untertan, seine Königin liebenswert zu machen, indem sie sich vom Souverän zur souveränen Leserin entwickelt.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Ein wenig sterben

Flammer liegt nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus und kann sich an nichts mehr erinnern. Sein Gehirn ist mangels Sauerstoffzufuhr irreparabel geschädigt. Georg, ein Jugendfreund, wird von Flammers Vater alarmiert. Schritt für Schritt taucht er darauf in die Welt seines Kumpels ein, um dessen Handeln zu verstehen. Dabei prallen zwei gegensätzliche Lebensentwürfe aufeinander.

Georg ist als selbständiger Versicherungsmakler erfolgreich. Mühsam hat er sich sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg erkämpft und möchte niemandem Rechenschaft ablegen. Er pflegt einen gehobenen Lebensstil und nimmt gern mal eine Nase Koks. Studienabbrecher Flammer hingegen hielt sich derweil mit miesen Jobs über Wasser. »Alles ist eine große Gleichgültigkeit«, lautete sein Credo. »Aus dieser Kälte gibt es kein Entkommen«.

Der Freund besucht den Platz im Wald, wo Flammer versucht hatte, sich aufzuknüpfen. Er inspiziert Flammers muffige Wohnhöhle und fragt sich, warum er nicht einfach vom Balkon gesprungen sei oder sich in den eigenen vier Wänden seiner Zelle aufgehängt habe.

Georg spürt die Spuren seines Jugendfreundes auf und reflektiert dabei sein eigenes Leben, das von Flucht vor Einsamkeit und daraus resultierender Arbeitswut geprägt war. Er lebte stets so, als bestünde die einzig erträgliche Methode mit dem Leben fertig zu werden, es permanent abzuwehren und sich so gut wie möglich gegen alle Risiken abzusichern. Georg spürt aber auch, dass das Leben, das Flammer geführt hat, stets ein Teil von ihm selbst war, und zwar jener Teil, den er bewusst verdrängte. Stück für Stück beginnt er sich zu häuten und streift die Vergangenheit ab.

Stefan Kalbers entwickelt mit seiner Erzählung ums mehr oder weniger freiwillige Sterben einen spannenden Dialog zwischen einem, der sich nicht mehr erinnern kann und einem, der alles verdrängt hat und sich langsam wieder besinnt. Dabei versteht er es, den Leser in die Gedankenwelt seines Protagonisten zu führen und die dunklen Seiten der eigenen Existenz zu belichten. Nun ist der Text alles andere als eine trocken-philosophische Abhandlung. Im Gegenteil. Kalbers schafft es, dem Stoff eine unerwartet spannende Wendung zu geben, die schrittweise den Grund für Flammers Unglück erhellt.


Genre: Romane
Illustrated by Ubooks Diedorf

Der Bücherprinz

Geboren 1952 im beschaulichen Katholen-Ort Oelde in Westfalen fällt der frühe Freigeist schon in der Schule auf, da er heimlich unter der Bank Gedichte verfasst. So ist es wenig verwunderlich, dass er sich bald gegen die seit Jahrhunderten institutionalisierten Autoritäten auflehnt, zumal die Zeit dafür wie geschaffen ist: Rockmusik und lange Haare treten als Sendboten der Befreiung auch in der Provinz ihren Siegeszug an (der Autor trifft neben anderen Göttern der Szene Cream und Jimi Hendrix bei Konzerten) und sorgen für eine Revolution in den Köpfen der Jugendlichen, die immer noch unter dem Einfluss von Hitler und Adenauer leiden.

Nach einem dunkelschwarzen Kapitel hält Frieling nichts mehr in der wenig heimeligen Heimat und er flieht hinaus in die Welt. London, Jugoslawien und die Türkei sind nur einige der Stationen, bevor er sich 1969 in Westberlin niederlässt, natürlich standesgemäß in einer Kommune mit jeder Menge Sex and Drugs and Rock `n’ Roll. Es sind die Tage der Rebellion, des Kampfes gegen Vietnam-Krieg, Springer-Presse und faschistoide Herrschaftsstrukturen, und Frieling ist mittendrin. Der leidenschaftliche Leser und Schreiber erlernt das Handwerk der Fotografie und ist somit prädestiniert für eine Karriere als rasender Reporter.

Auftragsjobs jagen ihn nicht nur um die Welt, er sieht sich auch gründlich in der nahen und doch so fernen DDR um, ein Novum in der Zeit des kalten Krieges. Erfolgreiche Projekte glücken ihm zuhauf, zunehmend auch als Verfasser eigener Schriften. Nach dem Ratgeber „Autor sucht Verleger“ (eine Hilfestellung für unbekannte Nachwuchsschreiber) gründet er folgerichtig den Frieling-Verlag unter dem Motto „Verlag sucht Autoren“. Mit dieser erneuten Innovation, Interessenten gegen Bezahlung den Traum vom eigenen Buch zu ermöglichen, erweckt er weltweite Nachfrage; in 20 Jahren werden 3.000 Werke publiziert. 2003 verkauft er den Verlag und ist doch meilenweit vom Ruhestand entfernt…

„Der Bücherprinz“ ist ein einzigartiges Werk, in dem nicht nur ein entscheidender Abschnitt deutscher Nachkriegsgeschichte anschaulich dokumentiert ist, sondern auch ein wahrlich bewegtes Leben spannend wie ein Thriller erzählt wird. Dabei verklärt der Autor im Gegensatz zu anderen 68ern, die über diese wegweisende Epoche berichten, nie melancholisch; er ist sich nicht zu schade, Fehler und vermeintliche Irrwege einzugestehen. Ehrlich beleuchtet werden auch berufliche und private Schattenseiten, wobei letztere ironisch in kritischer Distanz geschildert, anstatt überhitzt aufgeregt in den Vordergrund gedrängt zu werden.

Frielings lebenslange Liebe zum geschriebenen Wort ist auf jeder Seite mit Händen zu greifen und auch mit interessanten Fotos wird der begeisterte Leser reichlich versorgt. Dazu gibt es viele kleinere Anekdoten mit berühmten Persönlichkeiten aus Presse, Funk und Fernsehen sowie pointierte Blicke hinter die Eitelkeiten des medialen Kulturbetriebs und deshalb ist diese Autobiographie für mich das Buch des Jahres.

Bei so viel Lob sei jedoch auch ein leiser Tadel erlaubt: Da der potenzielle Stoff derart umfangreich ist, hätte das Werk gut und gerne den doppelten Umfang erreichen können, ohne den Leser auch nur eine Sekunde zu langweilen. Lieber Prinz, ich fürchte, du musst wohl bald noch ´ne Schippe drauflegen …


Genre: Biographien, Briefe, Memoiren
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Am Beispiel des Hummers

Hummer wollte ich immer schon einmal essen, aber es ist nie dazu gekommen. Mal schien er mir unerschwinglich teuer, mal hielt ich es für dekadent und deshalb ablehnenswert. Dann wieder wusste ich nicht, wie die Scheren fachgerecht geknackt werden müssen, um ohne öffentliche Blamage an das eiweißreiche Fleisch zu kommen. Jetzt habe ich David Foster Wallaces kurze Reportage über das Maine Lobster Festival gelesen und dadurch miterlebt, wie 25.000 Pfund fangfrischer Hummer in die Mägen von mehr als 100.000 Besuchern wandern. Ja, und irgendwie ist mir dadurch der Appetit auf die mit Furcht erregenden Zangen bewaffneten Krebstiere gründlich vergangen.

Dabei kommt der Text, ursprünglich für ein Gourmet-Journal geschrieben, wie ein Appetithäppchen daher: Wallace, Großmeister der Reportage, besucht das traditionelle Hummerfestival und beschreibt, was dort geboten wird. Tonnenweise Hummer wird direkt vom Kutter in den größten Hummerkessel der Welt geworfen und in kochendem Wasser gesotten, um dann im großen Fest- und Fresszelt von entfesselten Schlemmern verzehrt zu werden. Kochwettbewerb, Rummelplatz, Schönheitswettbewerb und Souvenirparaden bilden das Rahmenprogramm, mit dem der US-Bundesstaat Maine als weltgrößter Hummerlandeplatz punktet.

Der Leser erfährt, dass Hummer noch im 19. Jahrhundert als Dreckfraß galt, der zur Gefangenensättigung genutzt wurde. Denn der Hummer als alles vertilgender Müllschlucker des Meeres genoss den Status der Ratte, und derartiges Zeug war für den verurteilten Abschaum der Gesellschaft gerade gut genug. Inzwischen hat sich das grundlegend gewandelt, das aromatische weiße Fleisch der Krebstiere gilt als Delikatesse, das in seinen Rang als Luxusgut allenfalls dem Kaviar den Vorrang lassen muss. Das hat vielleicht auch mit der Zubereitungsart zu tun, denn zu Vorväters Zeiten wurden die Tiere komplett zermahlen und an die Sträflinge verfüttert. Hier setzt das Lobster Festival an, mit dem der US-Bundesstaat Maine Werbung für ein Produkt macht, das ihm die Natur quasi direkt auf den Tisch spült. Denn an keinem anderen Ort der Erde tummeln sich derartig viele Hummer.

Und genau über dieses Festival schreibt Wallace, ohne die Massenfütterung zu loben. Im Gegenteil: er schafft es, den Leser sanft an sein Thema heran zu führen, er begleitet ihn durch die schmatzenden Massen des Mega-Events, und er prüft – durch und durch Journalist – auch die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft in Bezug auf Nerven und Schmerz der Hummer. Nach der Lektüre des zu einem schmalen Büchlein aufgeblasenen Textes bleibt dem Leser der Hummer dann aber im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken.

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Mehr über den Autor:
David Foster Wallace: Freitod mit 46


Genre: Reportagen
Illustrated by Arche Zürich

Bitterstoffe

Der schüchterne Hobbydichter Felix liebt die selbstbewusste, zwei Jahre ältere Julia. Doch Julia bevorzugt Georg. Georg ist der Freund von Felix und war mit der langen, dünnen Annemarie zusammen. Julia wiederum ist mit der von Lithium aufgedunsenen Susanne befreundet. Dann gibt es noch Daniel, Franz, Sonja, Jesse und Anja, deren Verhältnis derjenige kennt, der sich durch den Beziehungsgeflechtsroman »Bitterstoffe« gebissen hat.

Die Protagonisten treffen jedenfalls nach fünfzehnjähriger Abstinenz bei der Beerdigung von Annemarie zusammen und der Ich-Erzähler Felix erinnert sich an das erste Mädchen, mit der er geschlafen hat, an Julia. Auch Julia erinnert sich an den schalen Geschmack der ersten Liebe und schläft, ebenso freudlos wie in der Jugendzeit, erneut mit Felix und dann – etwas intensiver – mit Georg. Die Jugendfreunde trennen sich nach der Beerdigung wieder und gehen ihrer Wege. Felix treibt es jedoch bald darauf von Berlin nach Hamburg, und er besucht Julia. Doch die ist bereits wieder mit Georg beschäftigt, Felix kommt ungünstig und kehrt wieder heim. Seiner Affenliebe zu Julia tut dies keinen Abbruch.

Florian Voß erzählt die Geschichte seiner ersten Beziehungskiste mit verquaster Distanziertheit. Nach 27 Seiten wechselt er jäh die Perspektive und benennt einen Felix, der als sein Alter Ego neben Julia erwachen darf. Es braucht allerdings Zeit, bis sich der Leser sicher sein darf, dass dieser Felix auch der Ich-Erzähler ist. Diesen Wechsel der Erzählperspektive wiederholt er, um auch aus Julias Sicht das Verhältnis zu dem schüchternen jungen Mann zu schildern. Weiter aufgepeppt wird die an sich unscheinbare Geschichte einer sich wieder begegnenden Jugendliebe, indem der Autor häufig Zeitsprünge vornimmt und den Leser zum Zurückblättern zwingt. Klingelt auf Seite 58 das Telefon, wurde das entsprechende Gespräch bereits zehn Seiten zuvor geführt. Schleppt Julia Felix auf Seite 74 zum Erinnerungsfick ins das nächste Gebüsch, hat der Leser bereits Seiten zuvor den jungen Mann begleitet, der sich abschleppen lässt.

Diese an sich reizvolle Methode, beide Parteien zu Wort kommen zu lassen, wirkt in der leidenschaftslosen Erzählung angestrengt und artifiziell. Eingebettet ist sie zudem in eine Hommage an den Großvater des Autors, an dessen Einäscherung der Leser gleich im Einstieg des Werkes teilnehmen darf, die aber mit dem Handlungsstrang selbst wenig zu tun hat. Dem Roman-Debut des Herbstes aus dem Rotbuch-Verlag hätte ein klein wenig mehr Farbigkeit, ein wenig Empathie, und ein Hauch jenes Knisterns, der Beziehungen bisweilen eigen sein soll, gut getan.


Genre: Romane
Illustrated by Rotbuch

Weiberabend

Joanne Fedler
Weiberabend
Knaur Verlag, München 2008, ISBN 978-3-426-66311-0

Acht Frauen, zwischen 37 und 43 Jahre alt, treffen sich zu einem ihrer seltenen und kostbaren Weiberabende.
Dieser eine Weiberabend steht für all das, was diese Frauen bewegt: ihr Dasein an sich, ihre Mutterschaft, ihre Kinder, ihre Partner, ihre Spiritualität, ihre Weiblichkeit; aber auch ihre Schwächen, ihre Verzweiflungen, ihre scheinbaren Niederlagen… All dies wird umrahmt von lukullischen Gaumenfreuden, zungenlösenden Getränken und anderen Sinnesfreuden…
Die Leserin oder auch der Leser wird schnell in das Geschehen hineingezogen, vor allem wenn ihr bzw. ihm diese Themen nicht ganz fremd sind.
Beim Lesen merkt man schnell, dass es sich hier auch um typisch amerikanische Lebensweisen handelt. Aber so weit ist diese Lebensart gar nicht von der europäischen entfernt… Nicht erst seit heute werden Frauen in Europa das erste Mal Mütter mit Ende zwanzig/ Anfang
dreißig oder sogar erst vierzig. Und das Hinzuziehen eines Psychotherapeuten für privates Krisenmanagement wird auch immer mehr kultiviert.
Natürlich bleibt es bei der Anwesenheit von soviel weiblichen Hormonen auch nicht aus, dass kleine und große Konflikte ausbrechen, die die Freundschaft der acht Frauen teilweise auf eine recht harte Probe stellen…
Ob man von diesen Frauen noch etwas lernen kann?

Auf jeden Fall macht dieses Buch Mut, trotz aller klugen und gut gemeinten Ratschläge von der ach so kompetenten Außenwelt, sein Leben als Frau und Mutter selbstbewusst und einzigartig zu leben.
Und dieses Leben sollte die Anwesenheit männlicher Hormone nicht ausschließen… Deshalb ist „Weiberabend“ nicht nur für weibliche Leserinnen empfehlenswert, sondern auch für männliche Leser.

Bettina Gromm, 10.08.2009


Genre: Romane
Illustrated by Knaur München