Krieg und Frieden

249.551 Wörter umfasst der Koloss, den uns Lew Tolstoi hinterlassen hat. Dividiert man diese Zahl durch 300 Wörter pro Minute, das ist die durchschnittliche Geschwindigkeit eines erfahrenen Lesers, dann ergeben sich insgesamt 831 Minuten, also 13,85 Stunden.

Lew (Leo) Nikolajewitsch Graf Tolstoi brauchte für den Schinken wesentlich länger. Er schrieb von 1863 bis 1869 an seinem durch seine erzählerische Weite und Tiefe beeindruckenden Panorama der Zeit zwischen 1805 und 1820 vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege.

Die Fertigstellung dieses monumentalen, über anderthalbtausendseitigen Romanepos ist undenkbar ohne die aufopferungsvolle Unterstützung durch seine kluge Frau Sophia Andrejewna, Tochter eines deutschstämmigen Arztes am Zarenhof. Sie übernimmt nicht nur die gesamte Organisation des Gutes, sondern findet ihre größte Freude darin, Tolstois unleserliche Manuskripte in Reinschrift zu bringen. In langen Nächten dechiffriert sie dessen Hieroglyphen, ergänzt unvollständige Sätze und Wörter und schreibt die von Tolstoi wieder und wieder überarbeiteten Fassungen insgesamt siebenmal ab.

Um sein Werk ungekürzt zu veröffentlichen, greift der Autor tief in die Tasche und zahlt dem Verleger P. I. Bartenjew einen Druckkostenvorschuß von 4.500 Rubel. Tolstoi ist damit einer der ersten Self-Publisher.

Sein Beispiel steht dafür, dass es sich lohnen kann, selbst aktiv zu werden und sein Werk mit eigener Kraft und auf eigene Kosten zu veröffentlichen. Die erste Auflage von »Krieg und Frieden« war jedenfalls binnen weniger Tage vergriffen, und noch heute lesen wir gern den Roman des Grafen, der die Moral und Lebensweise der Herrschenden seiner Zeit spiegelte und ihnen einen »christlichen Anarchismus« entgegensetzte.


Genre: Historischer Roman
Illustrated by Null Papier

Verhüllt um zu verführen – Die Welt auf der Orange

index Bereits vor Jahren hat die Stiftung Buchkunst den Titel »Verhüllt um zu verführen – Die Welt auf der Orange« als eines der schönsten Bücher des Landes ausgezeichnet. Ansonsten würde ich jetzt unverzüglich einen weiteren Pokal aus dem Ärmel zaubern und dem Potsdamer Vacat Verlag überreichen. Denn er hat mit der Veröffentlichung einen bibliophilen Sonnenschein vorgelegt, der in jeder Hinsicht ein leuchtender Stern am Bücherhimmel ist.

negrovitaminoDas federleichte 50-Gramm-Papier des Innenteils ist nur von einer Seite bedruckt und in der Mitte in der Tradition der Japanbindung gefaltet. So entsteht einerseits Volumen, andererseits wird das Durchscheinen der rund 500 farbigen Abbildungen verhindert. Der Buchblock wurde darauf in einen orangefarben-marmorierten festen Deckel gehängt und mit gelbem Kaptalband verziert. Ein hauchzarter Schutzumschlag nimmt die Marmorierung des harten Deckels auf und erweckt den Eindruck, als sei das Werk mit leicht angeknittertem Orangenpapier umhüllt. Kurz: Dieses Buch wirkt optisch wie haptisch bereits derart ansprechend, als sei sein Inhalt nur umhüllt, um zu verführen.

sirenaGeht der Rezensent eines Buches üblicherweise auf dessen Inhalt ein und befasst sich damit, ob und wie der jeweilige Autor sein Thema bezwungen hat, so sei dies ein Lobgesang auf den Geschmack und die Kunstsinnigkeit, mit der die Buchmacher dieses Kleinod ausstatteten und fertigten. Selten ist mir in der jüngeren Geschichte der Buchkunst ein Druckwerk in die Hände gefallen, bei dem Form und Inhalt derart punktgenau übereinstimmen. Denn auch inhaltlich geht es um etwas ausserordentlich Zartes, nämlich um die Vielfalt der bedruckten Papierchen, mit denen früher die Äpfel der Götter umhüllt wurden.

brigantinaApfelsinen, wörtlich »Äpfel aus China/Sina« sind jene oft zitierten »goldenen Äpfel«, die bereits im Altertum eine Hauptrolle spielten. Im Mythos wuchsen sie im Garten der Hesperiden, den Töchtern der Nacht. Bewacht wurden die Orangen von der drachenköpfigen Schlange Ladon. Der Olympier Herakles wurde von König Eurystheus von Mykene ausgesandt, um diese wertvollen Äpfel zu rauben. Der Held erschlug das Wächtertier, brachte die Früchte seinem Auftraggeber und bewältigte damit eine der zwölf »Herkulesaufgaben«. Und auch in dem vom mir verehrten »Ring des Nibelungen« spielt die Götterfrucht eine wichtige Rolle, da Wotan den Erbauern der Burg Walhall die den Obsthain hütende Göttin der Jugend als Lohn versprach und dafür künftig auf »das jüngende Obst« verzichten wollte …

majoliErst seit rund hundert Jahren ist es aufgrund schnellerer Verbindungen möglich, die Götterfrucht auch ohne Hilfe von Göttern und Helden in unsere Gefilde zu expedieren. Dazu wurden die am Baum ausgereiften empfindlichen Orangen manuell gepflückt und liebevoll in mit sonnigen Motiven farbenfroh bedruckte Papiere gehüllt. Diese Einwickelpapiere sind derart ansprechend, dass sie leicht zum Objekt der Begierde von Sammlern werden können.

sunnygirlDirik von Oettingen, Autor des Buches, hortet wohl eine der weltweit umfassendsten Sammlungen von Orangenpapier in Kisten und Kasten. Neben der permanenten Präsentation in seinem virtuellen Orangenpapiermuseum, breitet er rund 500 dieser farbenfrohen Verpackungspapiere vor dem Leser des vorliegenden Buches aus. Er zeigt dabei die Unterschiede hinsichtlich der Provenienzen und Motive, erstellt eine Systematik und gibt nüzliche Tipps zur Aufbereitung und Sammlung der dünnen Papiere.

Dirik von Oettingen

Verhüllt um zu verführen – Die Welt auf der Orange

Vacat Verlag 2007 ISBN 978-3-930752-47-8

€ 28,00 • Erhältlich bei Amazon


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Vacat Potsdam

Japan in Berlin

Einen nützlichen Reiseführer für Japan-Fans in Berlin liefert Axel Schwab mit diesem 88-seitigen Vademecum. Von den zahlreichen Japan-Restaurants an der Spree wählte er 36 Restaurants aus, die er zusammen mit Empfehlungen für 35 Geschäfte und anderen nützlichen Adressen kombinierte.

Mich freut, dass Schwab viele der Adressen, die ich selbst zu meinen Favoriten zähle, mit Bestnoten versieht. Dazu zählen das »Udagawa« mit feinsten Tempura-Spezialitäten (und einer leider schnell überforderten Bedienung, was Schwab indes gnädig verschweigt), das »Ishin« an der Steglitzer Schlossstraße mit einer sensationell günstigen Happy Hour und das »Daitokai« als wohl ältestes Japan-Lokal in Westberlin.

Toll ist auch, dass es in Berlin mittlerweile Zugang zum japanischen Tee und dem mit seiner Darreichung verbundenen Zen-buddhistischen Zeremoniell gibt. Auch hier weist Axel Schwab den Weg.

Neu entdeckt bei der Lektüre habe ich das »Sake Kontor«. in Berlin-Friedrichshain. Ich muss diese kurze Besprechung deshalb jetzt leider beenden, damit ich dort noch vor Ladenschluss eintreffe..


Genre: Reisen
Illustrated by BoD Norderstedt

Akte 12/12/08-AO1-16. Alles in Ordnung. Ein Poetry-Roman

Leider ist mir dieses Buch erst jetzt bei meiner letzten Poetry-Slam-Tour in Hannover in die Hände gefallen. Ich hab’s gleich mit großer Freude gelesen und möchte andere potentielle Leser an diesem Spaß teilhaben lassen …

Ja, es geht gleich ziemlich verrückt los: ein Typ, der aus dem Rahmen fällt, dieser Finanzcontroller einer Versicherung, der mir als Leser da begegnet, wie er, mit seiner Armbanduhr in der Hand, der Stadtbahn 5 Minuten Verspätung zum Vorwurf macht und ihr, als Fahrgast endlich ganz hinten eingestiegen, mit Blick auf seine Nettolebenszeit diese Rechnung aufmacht:

„Ich benutze immer den hinteren Waggon, da ich berechnet habe, dass dies die Wegstrecke von meiner Zielhaltestelle bis zu meiner Wohnungstür um bis zu 50 Meter verkürzt. Auf diese Weise kann man 30 Sekunden Netto-Lebenszeit einsparen. Das sind 2,5 Minuten pro Woche, 10 Minuten pro Monat, 2 Stunden pro Jahr. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 77 Jahren erhöht sich meine Netto-Lebenszeit um 154 Stunden. Bei meinem Brutto-Stundenlohn von 21 Euro 43 und dem zu erwartenden Anstieg des Renteneintrittsalters entspricht das einem Gegenwert von 3.300 Euro und 22 Cent.“

Da ein Roman von der Spannung lebt, trifft der Protagonist, der interessanterweise nie einen Namen abkriegt und die ganze Zeit über als namenloses Ich (als Ich-Erzähler) agiert, auf Sibido, einen nicht minder abgefahrenen Typen, sein Gegenbild, weniger vom Beruf her (Sibido ist Vertriebsmitarbeiter in einem Technologiekonzern) als dem Oufit, dem Lebensstil und Lebensentwurf nach: (nach-)lässiges Äußeres, (im Gegensatz zu ihm) ein „Frauenflüsterer“, (nach-)lässig im Umgang mit Geld, aber: „Ein eigenes Atelier für meine künstlerische Arbeit wäre noch toll. Weißt du, ich will irgendwann mal davon leben können.“

Gegensätzlicher geht’s eigentlich nicht: für den einen sind Zahlen „was Wunderbares“, sie „bringen Ordnung in die Welt“, der andere hat „Probleme mit dem Finanzamt“. Der Protagonist sagt sich: „Sibido ist schon sonderbar, aber in Ordnung … Ich beschließe, dass Sibido mein soziales Projekt wird.“ So kommen die beiden zusammen. Und Sibido hilft beim Frauenproblem etwas nach: Auch wenn es laut Ich-Aussage „für Frauen keine Bedienungsanleitung gibt … keinen funktionstüchtigen Gesprächsleitfaden zur Reproduktionsanbahnung“ sorgt der neue Kumpel dafür, dass er bereits am Ende des 1. Aktenvermerks („First Contact“) nach durchzechter Nacht an der Seite einer „feuerroten“ Schönheit aufwacht: „Ich hatte ungeplanten Geschlechtsverkehr, den ersten in meinem Leben.“

So bewegt und spannend geht’s dann weiter. „Um diese widernatürliche Symbiose zu dokumentieren, hat unser Protagonist seine Begegnungen mit Sibido …gewissenhaft mit dieser Akte archiviert“ (rückwärtiger Buchdeckel), ja, ein Roman, wie der Teil-Titel schon erahnen lässt, in Form von „Aktenvermerken“ 1-16, über 1 Jahr lang, von Januar des einen bis Mai des folgenden Jahres. Und was in dieser Zeit nicht alles passiert, oft unverhofft, kurios, grotesk – echt abgefahren! Eine Buchbesprechung darf nicht alles vorweg nehmen. Deshalb als Leseanreiz nur dies: da taucht im Leben des Protagonisten eine Tara auf, anfangs fast gerichtsvollziehermäßig als Mitarbeiterin der GEZ-Gebühreneinzugszentrale, später als erhoffte Lebenspartnerin umworben mit einer Folien-Präsentation zu „Strategischem Vermögensaufbau“, „Risikolebensversicherung“, „Altersvorsorge“ und dem schlagenden Argument „Wenn du alt bist, bist du nicht nur grau und faltig, sondern auch wohlhabend! Na, was sagst du dazu?“ Und Sibido zieht alle Register bei den Streifzügen der beiden Freunde (natürlich meist begleitet von den Frauen) durch die Stammkneipe, das Fitnessstudio, den Supermarkt, den Sommerschlussverkauf, das Schwimmbad usw. In „Vernissage“ und „Mein neuer Chef“ wird’s unverhohlen zeitkritisch. In „Six Feet Under“ geht’s grotesk zum Bestatter zur „Todesplanung“. Aktenvermerke wie „Sibidos Traumwandel“, „Der Kühlschrank“, „Mein Traumwandel“ verlassen die fiktive Realität des Hier und Jetzt des Romans; da wird’s surreal. Und was wird am Ende der Geschichte(n) aus den beiden Hauptdarstellern? Wird nicht verraten …

Der Untertitel „Ein Poetry-Roman“ deutet das Genre an, mit dem der Leser es zu tun hat. Gerrit Wilanek ist seit Jahren beim „Poetry Slam“ unterwegs, bei diesem modernen Dichterwettstreit, wo die Autoren auf der Bühne selbst verfasste Texte vortragen, sie mit Mimik, Gestik und Körperhaltung „performen“ (wie es Slammer-Szene-mäßig korrekt heißt) und sich dabei dem Urteil des Publikums als Jury stellen. Wilanek gehört zu den bekanntesten Slammern der Slamily-Familie in Deutschland. Seinen Roman präsentiert er in einzelnen Kapiteln („Aktenvermerken“) auf zahlreichen Lesebühnen. Und aus der Szenerie im Schwimmbad geht dann z.B. auch schon mal eine typische Poetry-Slam-Nummer über den Bademeister von früher hervor, ähnlich dem, was der Protagonist im Roman zu Tara sagt: „Schau mal da drüben! Siehst du ihn? Einst deutscher Bademeister, wurde er durch grausame Fort- und Weiterbildungen zum Wellness-Berater dequalifiziert … Aber kann er eigentlich noch eine anständige Arschbombe? … Die deutsche Arschbombe läuft Gefahr, in Vergessenheit zu geraten.“

Über weite Strecken also ein Lesevergnügen. Dieser „Poetry-Roman“ lebt wie alle Komik von der Übertreibung, der Karikatur, der Satire – und dies hier mal in wirklich differenzierter Art und Weise, völlig anders also, als man’s leider heute oft in der Comedy-Szene geboten bekommt. Aber es geht nicht nur ums Lachen, um das sich schnell verflüchtigende Spaß-Haben. Man wird beim Lesen schon bald auch nachdenklich. Dafür sorgt bereits der Titel „Alles in Ordnung“. Mehrdeutig ist er. Und man fragt sich irgendwann: Was ist denn hier eigentlich alles (womöglich nicht) in Ordnung? Der Lebensentwurf des Protagonisten? der seines Gegenspielers Sibido? Geht’s hier vielleicht um Aus- und Aufbruch? Sehnsüchte werden beim Lesen geweckt. Ja, wo soll’s eigentlich (noch) hin gehen? Was für eine „Endzeit“? Nun, lest ihn selbst, diesen (letzten) Aktenvermerk 16 vom Mai …

(Das Buch ist bestellbar über https://m.shop-asp.de/de/decius-hildesheim/, Preis: 10 €)

Eberhard Kleinschmidt


Genre: Romane
Illustrated by Unbekannter Verlag

Spannung – Der Unterleib der Literatur

Setzt ein gestandener Redakteur, Lektor, Kritiker, Literaturcoach ein Buch in die Welt, schauen Branchenkollegen gern genau hin: Begeht er hier oder dort einen unverzeihlichen Fehler? Sammelt er beim Spaziergang die berühmten drei Steine ein, um später fünf davon auf der heimischen Fensterbank zu drapieren? Rutscht er auf dem Parkett der Sprache, schlägt er rhetorische Purzelbäume? – Legen Sie sich beruhigt zurück, lieber Leser: Hans-Peter Roentgens Ratgeber kostet zwar als Elektrobuch nur ein paar Euro. Die Veröffentlichung ist jedoch bis zur letzten Zeile stimmig, informativ und spannend.

SPANNEND?

»Spannend soll ein Buch sein, das wünschen sich die Leser, und Autorinnen und Autoren möchten spannend schreiben«, schreibt der Verfasser gleich in der Einleitung. In erster Linie bezieht er diese Aussage auf das Schöngeistige. Doch ich behaupte, ein Sachbuch muss den Leser ebenfalls in Atem halten. Es muss Neues wie Altbekanntes auf eigene Art präsentieren, ihn packen, fesseln, in Bann schlagen. Auch ein Schreibratgeber sollte »spannend« sein, will er wirken und Spuren hinterlassen.

Spannung sei, so zitiert der Verfasser Erfolgsautor Andreas Eschbach, wenn der Leser einen Text nicht mehr weglegen kann. Weil er weiterlesen MUSS. Im Idealfall vergisst er, dass längst Schlafenszeit ist, kneift die Knie zusammen, weil er dringend auf die Toilette will. Aber er lässt es, denn dazu müsste er den Text weglegen …

Roentgen erzeugt Spannung, indem er weder erklärt noch doziert. Er baut geschickt Textproben, Fragestellungen und Übungen ein, bei denen der Leser viel erfährt und durch die eigene Brille prüfen kann. Er zeigt auf, wie wesentlich es für einen Autor ist, sein Thema sowie die handelnden Personen genau zu kennen. Denn nur so lässt sich einer Szene Tiefe schaffen, die den Stoff glaubwürdig macht. Kennt der Autor hingegen Sujet oder Akteure nur oberflächlich, dann wird seine Schilderung schwammig. Der Leser spürt das unbewusst, ohne es exakt formulieren zu können.

Wichtig dabei ist neben dem, was konkret im Text steht, all das, was nicht explizit ausgesprochen wird. Ich nenne diese unterschwelligen Botschaften »Subtext«. Roentgen spricht von »Lücken, die der Leser füllen muss«. »Erzählen«, so der Verfasser des Ratgebers, »ist immer eine Gratwanderung zwischen dem, was der Rezipient weiß, und dem, was er wissen möchte, was ihm der Autor aber nicht verrät.«

Letztlich geht es darum, über das zu schreiben, was der Verfasser selbst liebt oder hasst. Ein Text muss den Autor selbst berühren, nur dann bewegt sie auch den Leser. Hans-Peter Roentgen beherrscht und mag das Thema, das er sich mit diesem Ratgeber vorgenommen hat. Und er kann einiges dazu sagen, das vielleicht schon lange bekannt ist, aber hier in einem Zusammenhang vorgetragen wird, der plausibel ist. Im Ergebnis kann der Leser davon profitieren, indem er mit dem Roentgen-Blick sein Werk durchleuchtet.


Genre: Ratgeber
Illustrated by BoD Norderstedt

Cheng

Heinrich Steinfest, den ich über seinen Roman »Der Allesforscher« kennenlernte, blickt in »Cheng« durch eine sarkastisch-schwarz gefärbte Brille auf die Gesellschaft, auf die Wiener Schickeria insbesondere, und dort auf den Klüngel, der das gesellschaftliche Leben unserer Tage diktiert: Politfuzzis, Geldsäcke, Kunstbanausen, Professoren, Würdenträger, Pfaffen, Spitzensportler und deren gelangweilte Gattinnen.

Um diesen Abschaum zu schmähen, lässt er seinen Protagonisten, einen Chinesen, der das Land der Mitte nie gesehen hat, kein Wort Mandarin spricht und ansonsten gebürtiger Österreicher ist, wie eine Comic-Figur durch die österreichische Landschaft taumeln.

Der erfolglose Detektiv Cheng wird von einem Mann beauftragt, der leider kurz darauf erschossen wird und einen Zettel mit einer unverständlichen Botschaft im Einschussloch hinterlässt. Offenbar steckt eine Frau hinter dem Mord, denn bald meldet sich eine weibliche Stimme bei Cheng, schickt ihm eine geheimnisvolle Katze mit einer mysteriösen Botschaft und kidnappt den Ermittler kurz darauf zu allem Überfluss. Der ist jedoch ein im Grundsatz humoriger Typ, und so nimmt es ihn nicht sonderlich mit, dass er die Entführung nur knapp überlebt, dafür einen Arm opfern muss und künftig humpelt. Für seine künftigen Fälle, denn Cheng ist Steinfests Serienheld, bleibt ihm deshalb nur noch sein rechter Arm. Dumm gelaufen!

All das hat wenig mit einem klassischen Kriminalroman zu tun, obwohl es natürlich vordergründig um irgendwelche Verbrechen geht und auch die Wiener Mordkommission bald auftritt, um ihre Unfähigkeit zu beweisen. Nein, es geht dem Autor in erster Linie darum, den Leser in gesellschaftliche Räume zu locken, in denen er in wundervoll gebauten Schachtelsätzen subtile Botschaften übermitteln kann. Und dies ist das sprachlich Großartige an dem Werk des Autors, der seine Geschichte ruhig und unaufgeregt erzählt, dabei aber im Kokon des Nebensatzes herrliche süßsaure Schweinereien verwebt, die die Lektüre zum Genuss machen. Steinfest präsentiert sich damit als der Meister der Hypotaxe, und seine herrlichen Schachtelkonstruktionen sowie der geschickt darin versteckte Schmäh sind der eigentliche Clou des Buches.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Piper München, Zürich

Ebola

Zack_Crusius_EbolaSelf-Publisher genießen gegenüber klassischen Verlagen klare Vorteile. Aufgrund ihrer unkomplizierten Produktionstechnik und der äusserst flachen Entscheidungshierachie können sie sich locker ein Jahr Vorsprung verschaffen. Welche Bedeutung dies bei tagesaktuellen Themen hat, beweist Eddy Zack aka Detlef Crusius mit einem Roman, der ein hochbrisantes Thema in den Mittelpunkt stellt: Ebola.

Lars Petersen wird bei seiner Ankunft in Köln unter dem Vorwurf, einen dubiosen Geschäftspartner erschossen zu haben, verhaftet. Offenbar geht es um den illegalen Handel mit Blutdiamanten, die aus Krisengebieten in Schwarzafrika stammen. In einem Gespräch mit seinem Anwalt lässt er die Ereignisse der letzten Zeit Revue passieren.

Der Autor entführt den Leser daraufhin in die Tiefen des afrikanischen Kontinents und beweist dabei eine erstaunliche Orts- und Detailkenntnis. Ihm begegnen Mediziner, die ihren Patienten einen Ebola-Impfstoff verabreichen, die sie mit Diamanten von einem deutschen Pharmadealer beziehen. Schnell stellt sich heraus, dass die entsprechenden Dokumente gefälscht sind und der Bevölkerung ein wirkungsloses Präparat verabreicht wird …

»Ebola« ist ein ebenso kenntnisreicher wie spannend geschriebener Roman, der aber auch die Hilflosigkeit der Betroffenen deutlich macht. Denn die Pharmalobby scheint kein wirkliches Interesse daran zu haben, einen Wirkstoff zu entwickeln, der die neue Seuche in Griff bekommt. Letztlich interessiert die Reichen an Afrika nur das, was an Bodenschätzen ausgebeutet werden kann: Gold, Diamanten, Erdöl, seltene Erden. Dies funktioniert mit vollautomatischer Technik auch auf einem entvölkerten Kontinent. Bittere Erkenntnis des Autoren: »Wer nach Afrika reisen will, sollte sich beeilen. Er trifft sonst keine Menschen mehr an.«


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Kindle Edition

Think like a freak

freak

 “Le Freak – C’est chic”.  Das immerhin wissen wir seit den späten Siebzigern. Aber dass Freaks uns auch den Ausweg aus Alltagsproblemen weisen können – diese Theorie ist verhältnismäßig neu.

“Alltagsprobleme haben oft ganz andere Ursachen als vermutet” so die Ausgangsthese der amerikanischen Wissenschaftler Steven D. Levitt und Stephan J. Dubner. Ihre Schlussfolgerung: Um Probleme wirklich zu lösen, muss man ganz andere, überraschende Wege einschlagen. Soweit grob zusammengefasst der Inhalt des ersten Bestsellers “Freakonomics” des Autoren-Duos. Seit diesem Überraschungserfolg stehen die Beiden dafür, konventionelle Denkweisen in Fragen zu stellen.

Aus dem Buch wurde mehr, eine ganz eigene Methode der Problemlösung. Levitt/Dubner gründeten eine Beratungsfirma, die es bis in die in der Fortune 500 gelisteten Unternehmen brachte, sie bekamen ein wöchentliches Radio-Projekt und sogar eine eigene “Football- Freakonomics-“Sparte im amerikanischen National Football League Network. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass Levitt/ Dubner mit “Freakonomics” ihre eigene Marke erschaffen haben. Eine Marke, die die Sicht auf die Welt und ihre Dinge ändern kann. Eine Marke, die lehrt, hinter die Dinge zu schauen und die verborgene Seite ans Licht zu zerren. Denn hat man erstmal den wahren Kern eines Problems, einer Diskussion, einer Streitigkeit erkannt, ist der wahre, der richtige, wirklich zielführende Lösungsansatz nicht mehr fern.

Nun ist die “Handlungsanweisung” auf dem Markt. Mit “Think like a Freak” nehmen Levitt und Dubner den Leser mit in ihren Denkprozeß und zeigen, wie “Anders Denken” geht und zu mehr Kreativität und Produktivität führt. In neun unterhaltsamen Kapiteln bieten die Autoren eine Blaupause für eine völlig neue Art und Weise, Lösungsansätze zu finden und Probleme elegant nicht nur aus der Welt zu schaffen, sondern sogar zu nutzen. Dabei ist kein Thema zu tabu, um nicht als Beispiel zu dienen, wie man sein Gehirn möglichst effektiv umschult. Ihre Anregungen reichen vom Business über Sport bis zu Politik und Philantropie.

Der althergebrachte moralische Kompaß ist dabei eher Hindernis denn förderlich. Das versteht man spätestens, wenn klar wird, warum nigerianische E-Mail-Betrüger so agieren, wie sie agieren und warum sie dermaßen viel Wert darauf legen, zu sagen, dass sie aus Nigeria stammen. Die Lösung ist so einfach wie verblüffend – und dazu angetan, sie in ein ganz normales Alltagsproblem zu übersetzen. In diesem Sinne leistet “Think like a freak” durchaus gute Dienste, wenn man Lösungsansätze jenseits abgedroschener Wege sucht. Nicht umsonst ist “ergebnisoffen” das neueste Zauberwort, wenn es um Problemlösungen geht.

Levitt und Dubner sehen die Welt anders. Ihr aufschlussreicher Ratgeber ist flott geschrieben und macht Spaß. Allerdings ist es kein Buch, welches man in einem Rutsch runterlesen kann. Eine Denkpause nach jedem Kapitel schadet nicht. Aber wenn man erstmal akzeptiert hat, dass “Normalos” häufiger falsch als richtig liegen, lässt man sich gerne von den “Freaks” mitnehmen auf einen anderen Weg zur Wahrheit. Le Freak – C’est chic. Stimmt immer noch.

Auch als Hörbuch und E-Book verfügbar und für diese “Darreichungsformen” sicher besonders gut geeignet

Kommentare gerne im Blog der Literaturzeitschrift 


Genre: Ratgeber
Illustrated by Riemann Verlag München

Das verschwundene Haus Oder: Der Maharadscha von Breckendorf

Eduard Bohnkraut macht im fernen Amerika sein Glück und kehrt nach Hause zurück, um das väterliche Erbe anzutreten. Doch als der ehemalige Bürger von Breckendorf, einer lieblichen Novelle im großen Buch der Natur, das seine Unschuld verlor, als es wegen seiner guten Luft Mode wurde, das Haus seiner Kindheit aufsuchen will, ist dieses bis auf die Grundfesten abgerissen. Und auch der geheimnisvolle Rechtsanwalt Meyer III, mit dem er in angeregter Korrespondenz stand, entpuppt sich als nicht mehr vorhanden.

Gleichzeitig mit dem Amerikaner trifft der höchste Stolz des Kurorts ein. Das ist der Maharadscha von Bungesi, der mit seinem zahlreichen Gefolge auf Promenade und Kursaal höchstes Aufsehen erregt. Das honorige Breckendorf liegt dem Fürsten aus dem Orient zu Füßen und fühlt besonders mit, als der unermesslich reichen Hoheit eine wertvolle Perlenkette gestohlen wird.

Geraubt und gestohlen werden in dem lauschigen Ort aber nicht nur Häuser und Perlenketten. Bald wird das gesamte Opernhaus während einer Aufführung von Wagners »Lohengrin« geplündert, kein Mantel, kein Pelz, kein Regenschirm ist vor der unheimlichen Räuberbande sicher. Selbst Gummischuhe und Schals verschwinden in den Taschen der Diebe.

Bohnkraut, der von dem mit den Ermittlungen beauftragten Polizeiassessor Funke wenig überzeugt ist, macht sich selbst auf die Suche nach der Usache der mysteriösen Ereignisse. Bald überschlagen sich die Ereignisse, in die auch ein Foxterrier und eine Soubrette verwickelt sind.

Karl Ettlinger (1881-1939), der Autor der launigen Kriminalerzählung, war in den Zwanziger Jahren als Kriegsberichterstatter, Journalist und Verfasser von mehr als vierzig meist humorigen Büchern erfolgreich. Mit der Neu-Veröffentlichung von »Das verschwundene Haus« im Rahmen seiner Reihe »vergessene Bestseller« erinnert der Null-Papier-Verlag an ihn. Positiv an der Publikation wie an der gesamten Reihe ist, dass es eine Kurzbiografie des Autors gibt und Fußnoten helfen, unbekannte Begriffe zu erläutern.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Null Papier

Revival

Wir schreiben das Jahr 1962, als der junge Pfarrer Charles Jacobs mit Frau und Sohn nach Harlow, Maine (natürlich in der Nähe von Castle Rock) kommt und sofort die Herzen der ländlichen Bevölkerung gewinnt, besonders das des kleinen Jamie Morton. Drei Jahre später jedoch schwört Jacobs nach einer Familientragödie seinem Gott öffentlich ab und die bigotten Dörfler verjagen ihn. Jamie wächst auf und widmet sich der Musik, seinen alten Freund vergisst er nicht.

Bis 1992 dauert es, bis die beiden sich wieder sehen. Jamie – auch er musste einige Schicksalsschläge hinnehmen – ist dem Heroin verfallen und auf dem Tiefpunkt angelangt, als er Jacobs auf einem Jahrmarkt trifft, wo der ehemalige Gottesmann mit mysteriösen Elektrizitätsshows auftritt. Dieser nimmt sich des Junkies an und heilt ihn tatsächlich von seiner Sucht, wenn auch nicht ohne Nebenwirkungen. Abrupt trennen sich ihre Wege wieder, aber die gemeinsame Geschichte ist noch lange nicht zu Ende, im Gegenteil…

Der erfolgreichste Autor der Welt hat mit »Revival« erneut ein Meisterwerk abgeliefert, Chapeau Mr. King! Es gelingt ihm immer wieder scheinbar mühelos, den Leser mit seinen Geschichten und Protagonisten zu fesseln und ihn erst freizugeben, wenn mit Bedauern das Ende erreicht ist. Der neue Roman erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte; nicht nur deswegen erinnert er ein wenig an »Dr. Sleep«. Auch Autobiografisches ist mit eingeflossen, Stichworte: Sucht, Musik und Verkehrsunfall.

»Revival« ist eines der härtesten King-Bücher seit langer Zeit und definitiv nichts für Zartbesaitete; auch die Schockmomente hat der Meister immer noch drauf. Allerdings sind diese nicht – wie bei vielen anderen Horror-Schreibern – Selbstzweck, sondern fügen sich logisch in den Plot ein. Die Handlung wird nicht mit der Peitsche vorangetrieben, sondern entwickelt sich zu Beginn eher langsam; King schreibt bisweilen gewohnt ausschweifend, aber nie langweilig. Als Leser seiner Bücher der ersten Stunde (damals waren die Bücher in Deutschland noch gar nicht erhältlich), kann ich »Revival« jedenfalls besten Gewissens weiter empfehlen.


Genre: Horror
Illustrated by Scribner

Identität

Katharina Clausen kommt im Auftrag einer deutschen Firma nach Bogotá und trifft auf Señor Nicoljaro, der ein Unternehmen betreibt, das eine Alternative zur Verarbeitung tropischer Hölzer entwickelt hat. Der geheimnisvolle Unternehmer im Rollstuhl entfacht bald Gelüste der attraktiven Frau und lockt sie an seinen Kamin.

Doch da wird die Deutsche entführt und gelangt in die Hände eines Herrn, der ihrem kolumbianischen Vertragspartner »Menschenhandel« vorwirft. Als sie nach einigen Tagen wieder erwacht, hat sie nicht nur Handtasche und Handy, sondern auch ihr Kurzzeitgedächtnis verloren. Aber galt der Überfall vielleicht weniger ihr als den Telefonnummern, die ihr Smartphone gespeichert hatte?

Bald beginnt eine spannende Serie von Attentaten, Verfolgungsjagden und Schiessereien, in der immer wieder Akteure auftauchen, die Nicoljaros Geheimnis, das mit seiner Familiengeschichte zu tun hat, bröckchenweise enthüllen. Da Kolumbien ein Land zu sein scheint, in dem alles käuflich ist, sind auch bestechliche Ärzte und Polizisten mit im Spiel

Angela Planert versteht es, ihren komplexen Roman als Liebesgeschichte beginnen und als spannenden Krimi enden zu lassen. Sie schlägt in ihrem Werk einen grandiosen Spannungsbogen und verrät dabei nicht ein Gramm zu viel von dem, was der Leser unbedingt erfahren will und ihn bis zum Ende der Geschichte festhält.

Es ist eine Freude, zu lesen, wie die Autorin sich von Roman zu Roman sprachlich und stilistisch weiter entwickelt. Anteil daran haben sicherlich auch Korrektorat und Lektorat, die dem Werk gut getan haben. Des Guten zu viel finde ich lediglich, dass die im Spanischen üblichen umgedrehten Frage- und Rufzeichen vor der entsprechenden wörtlichen Rede gesetzt worden sind.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Kindle Edition

Sturz der Titanen, Winter der Welt, Kinder der Freiheit

Wenn man eins Ken Follett nicht vorwerden kann, sind es mangelnde Ambitionen. Immer schön, wenn auch vom Erfolg Verwöhnte noch Ziele haben. Nicht mehr und nicht weniger als die Chronik des letzten Jahrhunderts wollte er schreiben. Im September erschien nun weltweit mit “Kinder der Freiheit” Teil drei seiner großangelegten Familiensaga. Zeit, das Gesamtkunstwerk zu beleuchten und die Frage zu stellen , ob dies ambitionierte Unterfangen gelungen ist. Die Antwort vorweg: Mit Abstrichen ja, im Großen und Ganzen kann sich das über 3000 Seiten starke Werk sehen lassen.

Ken Follett, Sturz der Titanen Ken Follett, Winter der Welt Ken Follett, Kinder der Freiheit

Fünf Familien aus Amerika, Deutschland, Russland, England und Wales geleitet der Schriftsteller durch die weltbewegenden politischen Wirrnisse des letzten Jahrhunderts. Fünf Familien, die sich im Laufe der Saga auf die ein oder andere Weise miteinander verbinden oder zumindest begegnen. Teil eins, “Sturz der Titanen” beginnt 1914 mit dem Aufstand der Bergarbeiter in Wales und führt den Leser bis kurz vor den Ausbruch des zweiten Weltkriegs. Teil zwei “Winter der Welt” beginnt mit Hitlers Machtergreifung und thematisiert hauptsächlich die dunklen Jahre des zweiten Weltkriegs. Teil drei “Kinder der Freiheit” schließlich beginnt mit dem Bau der Berliner Mauer und endet mit ihrem Fall.

Aufstieg und Fall des Kommunismus, Bürgerkriege allerorten, Spionage, Diktaturen, Freiheitskämpfe, Bürgerrechtsbewegungen – alles ist eingewoben in diese Trilogie, kein Kampf wird vergessen, kein Aufstand bleibt ungewürdigt. Dazwischen wird geliebt, gelitten, gefreut, geboren, gestorben in bekannter Folletscher Manier. Damit man als Autor wirklich die ganze Geschichte des letzten Jahrhunderts in Romanform unterkriegt, ist der Griff zum bewährten Forrest-Gump-Kniff das Mittel der Wahl und so bleibt es nicht aus, dass mancher Handlungsstrang sehr weit hergeholt und bemüht wirkt. Aber dessen ungeachtet bieten das epische Werk eine historische Grundlagen-Aufarbeitung und geschmeidige Lektüre.

Sorgfältig recherchiert, aber auch von Neugier getrieben, verbindet Ken Follett belegte Historie mit fiktionalen Geschichten. Seine strikte Regel “Immer herausfinden, was passiert sein könnte, aber niemals etwas Unmögliches geschehen zu lassen” befolgt er dabei akribisch genau, hinterfragt auch kleinste Kleinigkeiten. Das führt einerseits zu unterhaltsamen Handlungssträngen, etwa bei Jack Kennedys amourösen Betätigungen, andererseits gehen etliche Details viel zu sehr in die Breite. Braucht es wirklich diverse Seiten, um die Kleidungsgewohnheiten der Upper class zu beschreiben oder hätten es nicht ein paar Nebensätze auch getan?

Gleiches gilt für die von Ken Follett anscheinend sehr geliebten Sex-Szenen, denen er nicht widerstehen kann. Gerade in Teil zwei finden sich eklatant viele, mancherorts wurden seine Romane gar schon augenzwinkernd als Männerromane bezeichnet. Dazu sei einmal mehr gesagt: Ja, natürlich, man kann auch über Vergewaltigungen schreiben, gerade im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg geht es wohl auch nicht ohne. Aber – muss es wirklich so offensichtlich als gewollt antörnende Vorlage dienen? Was sämtliche Sexszenen nebenbei bemerkt, auch nicht tun. So hölzern und technisch, wie es letzten Endes rüberkommt, ist vielleicht doch sogar die Lektüre einer Gebauchsanweisung für Waschmaschinen erotischer.

Ganz grundsätzlich ist auch die große Literatur Ken Folletts Sache nicht, da mag man es noch so gerne als “Literarisches Denkmal des Jahrhunderts” bewerben. Oft ist seine Sprache holprig, in der Übersetzung finden sich zudem immer wieder kleinere Logikfehler, so etwa, wenn die Namen der Protagonisten durcheinandergewürfelt werden. Das ändert aber nichts daran, dass dem Leser durch die Romanhandlung die Möglichkeit gegeben wird, diese erst so kurz hinter uns liegende Epoche noch einmal mit anderen Augen zu sehen, sie dadurch greifbar und von der Abstraktheit des Geschichtsunterrichts befreit vor sich zu sehen. Dass man sich jederzeit denken kann, wie die jeweilige Storyline ausgeht, wenn man die Historie so halbwegs kennt, stört dabei eher weniger und nimmt der Spannung erstaunlich wenig.

Eher irritiert da schon die sehr unterschiedliche Gewichtung der politischen Ereignisse. Wenn in Teil drei beispielsweise gut fünf Jahrzehnte abgehandelt werden sollen, wundert man sich nach der Hälfte des Buches schon, warum Martin Luther King immer noch für seine Bürgerrechtsbewegung kämpft. Entsprechend wird manch anderes Nachfolgende hektisch abgehandelt und auch nicht jede handelnde Person bekommt ein auserzähltes Ende. Was aber auch nicht allzu schlimm ist, denn die Charaktere sind zwar alle nachvollziehbar, oft genug aber auch sehr eindimensional. Aber wenn jede Figur immer dem Zwang des Übergeordneten folgend in eine bestimmte Ideologie eingebunden werden muss, bleibt das wohl nicht aus. Dennoch verliert Follett nie den Faden, der Leser seinerseits greift zwischendurch sicher dankbar zu den sorgfältig gezeichneten Stammbäumen der einzelnen Familien.

Ungeachtet der Mängel sind die drei Romane (auch einzeln) gut lesbar und den beseelten Geschichtenerzähler nimmt man dem Autor jederzeit unberufen ab. Grundsätzlich muss man natürlich auch berücksichtigen, dass bei weitem nicht jeder Leser über ein ausreichendes geschichtliches Grundverständnis verfügt und es sicher dringend not tut, auch weniger versierten Lesern Zusammenhänge, die bis heute nachwirken, nahe zu bringen. Alleine diese Ambition ist zweifelsohne aller Ehren wert. Irgendwer muss es ja machen und wenn es Ken Follett ist. Wenn man sein Wissen aus Unterhaltungsromanen bezieht – auch gut. Hauptsache, man bezieht es überhaupt irgendwoher. Darüberhinaus macht es auch einfach Spaß, nachzulesen, wie komplett anders der Alltag der Menschen im Laufe der Jahrzehnte war, wie sich alles entwickelt hat – von den Anfängen der Motorisierung bis zu unserer heutigen nahezu unbegrenzten Reisefreiheit oder die Kommunikation von der ersten Depesche bis zu den Anfängen des Computerzeitalters.

Alles in allem ist diese Trilogie eine angemessene Würdigung des Wirkens der Menschen des letzten Jahrhunderts. Follett selbst sagt, dass ihm erst während des Schreibens klar wurde, dass der Leitgedanke des letzten Jahrhunderts der Kampf für die Freiheit war. Es war die gewalttätigste Epoche in dre Geschichte der Menschheit und erst durch die Rückschau erschließt sich, wieviel erreicht wurde von dem, was heutzutage für uns selbstverständlich ist. Die Trilogie zeigt unterm Strich eindringlich, wie schwer der Kampf für die Freiheit war, wie schwer erreichbar sie war und ist von daher sicher auch ein Mahnmal dafür, Errungenschaften wie Demokratie und Freiheit nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

Interessanterweise ist der Epilog des dritten Teils genau dafür ein beredtes Beispiel. In diesem Epilog springt Follett in unsere Gegenwart und thematisiert die Vereidigung Barack Obamas zum ersten schwarzen Präsidenten der USA. Zeigen wollte Follett damit wohl eher den erfolgreichen Schlusspunkt der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, der er ja in der Gesamtgewichtung extrem viel Raum gegeben hat. Der europäische Leser hingegen wird wohl eher nicht umhin können, daran zu denken, dass gerdae dieser Präsident, in den so viele Menschen soviele Hoffnungen gesetzt haben, in mehr als einer Hinsicht enttäuscht hat, auch und gerade, was die Verteidigung der Freiheitsrechte angeht.

Ken Follett
Sturz der Titanen, 1038 Seiten, ISBN 978-3-404-16660-2
Winter der Welt, 1024 Seiten, ISBN: 978-3-8387-0907-9
Kinder der Freiheit, 1036 Seiten, ISBN: 978-3-8387-5778-0
Verlag Bastei Lübbe
Band 1 und 2 bereits als Taschenbuch verfügbar,
alle 3 Teile als E-Books und Hörbücher verfügbar.

Diskussion dieser Rezension gerne im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Historischer Roman
Illustrated by Bastei Lübbe

Bleeding Edge

Maxine Tarnow ist eine private Ermittlerin in Betrugsfällen und sie hat gut zu tun in diesem New Yorker Frühsommer 2001. Die erste Dotcom-Blase ist geplatzt; die Überlebenden versuchen zu retten, was zu retten ist, egal mit welchen Mitteln. Maxine beschäftigt sich mit einem Unternehmen, das Sicherheitssoftware herstellt und dessen zwielichtigem Chef, einem milliardenschweren Computer-Nerd. Dazu ihr Nebenjob als Mutter und Beinahe-Ehefrau; das Schicksal hat ihr kein leichtes Päckchen geschnürt.

Sie taucht ein in die verstörenden Tiefen des Internets und findet dort Bedrohliches, das sie nicht immer versteht, ihr aber trotzdem Angst macht. Auch im real life häufen sich merkwürdige Begebenheiten, sie trifft auf die russische Mafia und bald gibt es den ersten Toten. Und dann sind da noch die seltsamen Videos, die man ihr zuspielt, in diesen ersten Tagen des Septembers 2001…

Ich bin eigentlich eher skeptisch mit Begriffen wie »Kultautor«, und ein solcher ist Thomas Pynchon ohne Zweifel, nicht nur, weil er die Öffentlichkeit konsequent scheut. Also war »Bleeding Edge« meine erste Begegnung mit ihm, aber es wird nicht die letzte gewesen sein, so viel ist sicher. Faszinierend sind seine geschliffene Sprachgewalt und der spielerische Umgang mit Worten, ebenso die Vielzahl der Charaktere, deren bisweilen skurrile Geschichten genüsslich ausgebreitet werden. Trotzdem behält der Plot eine gewisse Stringenz bei, die Geschehnisse werden zügig vorangetrieben, und das gelingt bei einem Werk dieses Umfangs nicht vielen Schriftstellern.

Und so ist »Bleeding Edge« viel mehr als ein weiterer 9/11-Roman, obwohl das natürlich ein zentrales Thema des Buches ist und auch die entsprechenden Verschwörungstheorien nicht fehlen dürfen in einer zutiefst neurotischen Gesellschaft, die detailliert beschrieben und seziert wird. Die ungeheure Dichte von Sprache und Handlung verlangt dem Leser einiges ab, aber wenn er sich darauf einlässt, wird er reichlich belohnt, von mir eine klare Empfehlung!


Genre: Belletristik
Illustrated by Rowohlt

Die Erbseninseln

Erbseninseln, Doris Brockmann Da sind wir. Plötzlich und unerwartet mitten im Herbst. Grau ist es, trübe. Ewig scheint es her, dass wir das Licht des Nordens sahen. Da liegt doch nichts näher, als eine Passage oder zehn zu buchen, die uns zurück entführen in den nordischen Sommer. Genauer gesagt zu den Erbseninseln, gelegen mittenmang in der dänischen Ostsee. 9 Erbsen blieben einst bei einem göttlichen Mahl über und wurden vom gut gesättigten Schöpfer ins Meer geschüttet. Glücklicherweise sind sie nicht untergegangen und sind bis heute nicht nur ein beliebtes Ausflugsziel für glückliche Dänemark-Urlauber, sondern auch phantasieanregende Kost für Autoren und ihre Leser.

Die Autorin Doris Brockmann nimmt uns mit auf diese Reise. Raus aus dem grauen Alltag, glücklicherweise auch raus aus dem grauen Reiseführer-Einheitsbrei. Qua Ferndiagnose, gewickelt mit einer guten Portion Seemannsgarn, aber mit gesundem Respekt vor den Fakten gestaltet sie zehn Passagen. Mal als Münchhausiade, mal als Reportage, auch vor Kriminalgeschichten und exclusiver Hofberichterstattung (Höhö, Frau Königin) schreckt sie nicht zurück.

Das dänische Archipel Ertholmene liegt weit im Osten, näher an Stettin als an Kopenhagen. Die Inseln verfügen nicht nur über ein mediterranes Klima, welches Feigen, Weintrauben und sehr entspannte Insulaner hervorbringt, sondern auch über Geschichte, Kultur, Flora und Fauna satt, das spektakuläre Dreiseiten-Fußballspiel nicht zu vergessen. Die beiden größten Inseln Christiansø und Frederiksø sind durch eine äußerst fragile Brücke verbunden, die maximal 10 Leute gleichzeitig betreten dürfen. Stabiler sind da schon die Strecken, die Doris Brockmann ihren Passagieren bietet. Charmant, mit einem kleinen, feinen Lächeln im Augenwinkel, dabei der feinen Ironie nicht abgeneigt, meistert Doris Brockmann die Passagen über die Erbseninseln.

Sorgfältig recherchiert, sich nicht in den Fallstricken gelegentlichen Seemannsgarns verheddernd, verleiht sie dem Inselalltag einen poetischen Zauber und nimmt uns mit auf den Weg von den Festungsmauern bis zum Ende der Welt, welches auf den Ertholmene zum Glück nur ein kleiner begehbarer Aussichtspunkt ist. Wenn man nicht wüsste, dass es die Erbseninseln tatsächlich gibt, könnte man sich in einem modernen Märchen wähnen.

Dieses Buch ist eine kleine Kostbarkeit, nicht nur wegen der zauberhaften Texte, sondern auch wegen seiner kunstvollen Gestaltung. Kostbar gewandet und banderoliert, wunderbar illustriert durch Wolfgang Gosch präsentiert die kleine Wiener Edition Krill die Passagen, denen jeweils eine Einleitung in Form eines erklärenden Dialogs zwischen einem (fiktiven) Redakteur und einer (weniger fiktiven) Kolumnistin vorangestellt ist. Und nach den Anstrengungen absolvierter Passagen mag sich der ein oder andere geneigte Leser sicher gerne mit einer kräftigen Portion Ærtesuppe, rezeptiert im Buch, stärken.

Fazit: Sehr geehrte Frau Brockmann, Sie haben mir auf’s Feinste über erste trübe Herbsttage hinweg geholfen. Ich verleihe Ihnen hiermit den Titel einer Prinzessin auf der Erbse(ninsel) und widerspreche vehement all jenen, die je gewagt haben sollten, Sie als Erbsenzählerin zu bezeichnen.

Die studierte Germanistin Doris Brockmann lebt in Dorsten, eine kleinen Stadt an der Grenze zwischen Ruhrgebiet und Westfalen, der nicht nur für ihre Sterneköche, sondern auch für ihre phantasiebegabten Schriftstellerinnen weltweit Aufmerksamkeit zuteil wurde. Doris Brockmann schreibt vorzugsweise in Form angewandter Schriftstellerei im Dienste der Alltagsbeobachtung, wovon man sich auf Ihrer Homepage walk-the-lines auf’s Trefflichste überzeugen kann. Ihr Debüt “Das Schreiben dieses Romans war insofern ein Glücksfall” ist als Kindle-E-Book verfügbar, wurde von der Literaturkritik gewürdigt und hat leider (noch) nicht die Aufmerksamkeit, die auch dieses Werk zweifelsohne verdient.

Diskussion dieser Rezension gerne im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Reisen
Illustrated by Edition Krill Wien

Istanbul, mit scharfe Soße?

Rezensenten haben mitunter ein entbehrungsreiches Leben. Zur sachgerechten Beurteilung des vorliegenden Buches von Alexandra Klobouk bin ich eigens in die Türkei gereist und hoffe nun, dass der Spesenetat des Verlags Onkel & Onkel dies verträgt. Schließlich ist es für alle Beteiligten von Vorteil, ein Buch, das dem Leser die Türkei und ihre Menschen näher bringen will, vor Ort zu lesen und anzuwenden.

Anzuwenden gibt es mittels dieses Buches einiges. Es handelt sich um einen Reise-, Kultur- und Menschenführer der besonderen Art. Mit wenigen Federstrichen, es handelt sich nämlich eher um einen Comic als um ein Lesebuch, schafft es die Autorin, mit gängigen Vorurteilen aufzuräumen. So sind Türken eben nicht nur laut schreiende Gemüsehändler, pubertierende Halbwüchsige mit Goldkettchen und verhüllte Frauen. Es sind in erster Linie ungemein liebenswerte Zeitgenossen mit großem Herzen und ausgeprägter Gastfreundschaft.

Um die Türkei besser kennen zu lernen, schrieb sich die Autorin für ein Semester in einer Istanbuler Universität ein und blieb sieben Monate in der Stadt, von der keiner so genau weiß, ob sie 18 oder 20 Millionen Einwohner hat. In ihrem Buch teilt sie ihre Erfahrungen: Sie erläutert die fast rituelle Bedeutung des Tee- und Kaffeetrinkens. Sie schildert die Bedeutung des Essens und die Fähigkeit der Bevölkerung, sich stundenlang darüber zu unterhalten. Sie führt mit einem winzig kleinen Türkischkurs in die Sprache ein und zeigt, dass Kommunikation zwischen Menschen wichtig ist, um ein Ziel zu erreichen.

Klobouk gibt schließlich Beispiele für die Schönheit und Bildhaftigkeit der türkischen Sprache. »Hosgeldin« (Willkommen!) heißt wörtlich »Du bist zur rechten Zeit gekommen« und »Geçmis olsun« (Gute Besserung!) bedeutet »Möge es Vergangenheit sein«.

Im Ergebnis handet es sich um ein zauberhaftes Buch, das nicht nur in künstlerischer Hinsicht interessant, sondern auch inhaltlich viel bietet. Es ist ein sympathischer Reisebegleiter oder auch ein Geschenk für jeden, der sich für Land und Leute interessiert und – wie der Untertitel andeutet – »auch keine Ahnung hat«.


Genre: Reisen
Illustrated by Onkel und Onkel