Matthias Zipfel würde ich gern mal zum Sushi einladen, denn das wird preiswert. Den fetten Goldfisch, der das Cover seines Buches ziert und der mich lockte, das Buch zu erwerben, hat er jedenfalls nicht verschlungen: Der Mann mag keinen Fisch. Weiterlesen
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Das fliegende Sushi und andere Katastrophen
Gonzo
Hunter S. Thompson, der erklärte Anarchist des »New Journalism«, nannte seine Form des Schreibens »Gonzo-Journalismus«, wobei das Adjektiv »gonzo« für bizarr, verrückt, hemmungslos und schräg steht. Er wurde zur Ikone der Beat-Generation und gilt als einer der durchgeknalltesten Autoren, die Amerika hervorgebracht hat.
In dieser Grahic Novel schildern die Comic-Zeichner Will Bingley und Anthony Hope-Smith HSTs Lebenslauf anhand seiner bekanntesten Werke. Nachvollziehbar gelingt ihnen dabei der Balanceakt zwischen Schreib- und Drogenexzessen, Erfindung und Wahrheit, Genie und Wahnsinn.
Monatelang lebte HST unter »Hells Angels«, um ein Buch über sie zu schreiben. Er ging stets voll in seinem Thema auf, er nahm Recherche wichtig und versuchte, mit dem jeweiligen Milieu eins zu werden. In seiner vielleicht bekanntesten Geschichte »Das Kentucky-Derby ist dekadent und degeneriert« besucht er mit einem britischen Zeichner das berühmte amerikanische Derby, um das feiste und verlogene Amerika zu beschreiben. Die Story verläuft turbulent, die Pferde sieht der Berichterstatter überhaupt nicht, da er meistens die VIP-Bar plündert. Er beschreibt, wie einige tausend volltrunkene Trottel »schreien, heulen, kopulieren, sich gegenseitig niedertrampeln und sich mit zerbrochenen Whiskeyflaschen angreifen«. Schließlich versprüht er eine Dose Kampfgas, was zu einem infernalischen Tohuwabohu führt. Dabei ist die vermeintliche Leichtigkeit, mit der die Geschichte daherkommt, Teil der Kunstfertigkeit des Autors und seiner Fähigkeit, sich selbst in seinen Texten zu inszenieren.
Thompson wurde zum Outlaw, weil er die klassischen Werte des »good old America« verhöhnt und zu einem der letzten Freiheitshelden, der sich mit Mitteln von Sprache und Stil gegen Vermassung und Verblödung wehrt und als kreativer Unruhestifter stets im Mittelpunkt seiner eigenen Geschichten steht. Dies wird in der vorliegenden »grafischen Biografie« gut herausgearbeitet.
Besonders aufschlussreich finde ich das Vorwort seines langjährigen Lektor Alan Rinzler, der über die Mühen schreibt, die er mit dem Zusammensetzen der oft nur auf Papierfetzen verteilten Werke HSTs hatte. »Hunter hasste Lektoren«, schreibt Rinzler »und war der schwierigste Autor, mit dem ich je zusammengearbeitet habe.« Dennoch konnte auch er sich dem Sog des Genies nicht entziehen.
Mein Buch!
Dieses Buch hat mich durch sein Cover gewonnen. Erwartet hatte ich aufgrund der optischen Anmutung im Nierentisch-Plauderton geschriebene unterhaltsame Anekdoten und Berichte einer Autorin, die sich in die Welt des Self-Publishing begeben hat.
Tatsächlich geliefert wird ein Sachbuch, das sich mosaikartig aus Interviews zusammensetzt. Dabei kommen neben Autoren auch Literaturagenten, Marketing-Leute, Verleger, Lektoren und Gestalter zu Wort. Beispielsweise spricht Andreas Eschbach über die Gefahr des verkrampften Schreibens und erläutert seine Arbeitsweise des raschen, linearen Schreibens.
Ihre Arbeitsweise nennt die Autorin hingegen »Sushi-Methode«. Damit will sie zum Ausdruck bringen, nicht linear zu schreiben. Ob das beim Sachbuch der richtige Weg ist, sei dahingestellt. So springt den Leser nach einem interessanten Interview eine Anweisung, wie am besten Word-Vorlagen zu formatieren seien, recht unvermittelt an und macht es schwer, den roten Faden wieder aufzunehmen. Das irritiert.
Da ich selbst diverse Autoren-Ratgeber verfasst habe, gehe ich vermutlich besonders kritisch an eine thematisch verwandte Veröffentlichung heran. Persönlich bin ich auch nicht davon überzeugt, dass Isaac Asimovs These »Wer Science-Fiction schreiben kann, kann alles andere auch schreiben« locker erweitert werden kann zu «Wer schreiben kann, kann alles schreiben«. Aber das sind Diskussionen unter Profiautoren, die hier keinen Platz haben.
Im Ergebnis habe ich Myra Çakans Buch mit Freude und Gewinn gelesen. Vor allem die Informationen über E-Book-Shops und Vertriebsplattformen sind wertvoll, wenn es darum geht, eigene Werke zu verbreiten. Außerdem schimmert zwischen den Ausführungen immer wieder das Nonplusultra des Schreibens durch: Es handelt sich um ein Handwerk, das erlernt werden kann und immer wieder trainiert werden muss. Wer glaubt, auf seine spontanen Ergüsse warte die Buchwelt, wird auch in dieser Veröffentlichung kaum den Stein der Weisen entdecken, um sein E-Book an den Leser zu bringen.
Stationen
Wer von Sonetten spricht, der denkt an Shakespeare. Seine Klanggedichte mit jeweils 14 Zeilen in fester Metrik erschienen erstmals 1609, also vor mehr als 400 Jahren.
William Shakespeare, über dessen wahre Identität sich die Forschung leidenschaftlich streitet, gilt als der König des Sonetts »in jambischen Pentameter mit weiblicher oder männlicher Kadenz«, um es literaturwissenschaftlich exakt auszudrücken. Der Dichter des elisabethanischen Zeitalters hat 154 dieser fragilen Blüten erschaffen und damit einen Höhepunkt der englischen Renaissance und ihrer Widerspiegelung in Literatur und Dramatik inszeniert.
Shakespeare wendet sich an einen »fair boy« und eine »dark lady« als scheinbar homoerotische Geliebte. Er appelliert an den jungen Mann, einen schönen Nachkommen zu erzeugen, um damit unsterblich zu werden. (»Im Vers zwingst du die Sterblichkeit. / Solang ein Mensch noch atmet, Augen sehn, / Solang dies steht, solang wirst du bestehn.«) Er spricht über das Altern, die Eifersucht, das Alleinsein, die Furcht vor Liebesverlust, aber auch über Tod, Tugend, Redlichkeit und die Dummheit der Welt.
Mit Shakespeares Sonetten verbindet mich eine persönliche Leidenschaft. Die Texte wurden nämlich unter anderem von Martin Flörchinger ins Deutsche übertragen. DDR-Nationalpreisträger Flörchinger spielte unter Langhoff ab 1953 im »Deutschen Theater« und ab 1956 im BE. Seine Übertragung der als unübersetzbar geltenden Sonette Shakespeares durfte ich betreuen und herausgeben. Sein Buch unter dem Titel »Und Narren urteil\’n über echtes Können« ist leider nur noch antiquarisch erhältlich.
Umso erfreulicher ist es, dass sich der promovierte Germanist Eberhard Kleinschmidt dem Gedicht nach klassischem Vorbild angenommen hat. Seine »Stationen« genannten 154 Sonette behandeln ebenso wie bei Altmeister Shakespeare den Themenkomplex Freundschaft und Liebe.
Der Autor versucht, die bei Shakespeare abgebildete Geschichte »neu-gewandet« als neues »Beispiel für des Lebens Spiel« (Prolog) »dem Vorbild nah, bald fern, bald von ihm abgekehrt« (Epilog) nachzuzeichnen. In Form einer Art Visionssuche (Aufstieg auf den Berg, Verweilen, Abstieg) ist das lyrische Ich der Dichter-Figur auf der Suche nach sich selbst und seiner Freundschafts- und Liebesbeziehung.
Kleinschmidt reflektiert in seiner Lyrik das eigene Sein und sein fortwährendes Tasten, Suchen, Spüren und Finden. Seine Verse sprechen vom Wandel der Gestalten, vom immerwährenden Kampf um das Entfachen von Liebe, Zuneigung und Nähe. Der Dichter begreift das Leben als wechselhaftes Spiel, das ihn mit seinen sowohl ernsten wie heiteren Seiten immer wieder neu gefangen nimmt. So nähert er sich gedanklich dem Vorbild Shakespeare und schließt den Bogen.
»Stationen« ist ein filigran gewirktes Werk, das gefangen nehmen kann, so man sich darauf einlässt.
Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters
Wär schon schön, wenn man jemanden in seinem Leben hätte, der einen aus der Bredouille holt und rettet. Der ehemalige Bankberater von Tilman Rammstedt ist dieser Jemand anscheinend nicht. Dieser wäre am liebsten eine Salzstange und würde sich zu den anderen Salzstangen in den Einkaufswagen legen. Man kennt das.
Das Leben ist kompliziert geworden und keiner mehr da, der es einem erklären kann. Geschweige denn, dass Tilman Rammstedt wüsste, wie der Abgabetermin seines neuen Buches einzuhalten sei. Die Idee hat er: Er dichtet dem melancholischen Bankberater einen Überfall auf seine eigene Bank an. Dieser geht natürlich grandios schief, aber wie jetzt weiter? Das hypochondrische, an der Welt leidende Alter Ego Tilman Rammstedts kommt auf die nahe liegende Lösung: Hollywood. Dort sind sie doch zu finden, die Weltenretter – und wer könnte besser geeignet sein als der Experte für sechste Sinne und langsames Sterben, Bruce Willis, um in die Rolle des Bankberaters zu schlüpfen und dessen Schieflage zu begradigen? Beflügelt von seinem Lösungsansatz, setzt Herr Rammstedt sich an die Tasten und hackt ellenlange Mails an Herrn Willis hinein. Er bedrängt den Filmstar, umschmeichelt ihn, fleht und bettelt, wird zeitweilig beleidigend und nötigend. Bruce Willis jedoch antwortet nicht und Rammstedt beginnt zu fürchten, dass er sein Buch umbenennen müsse in “Die Abenteuer des Bruce Willis, die abrupt endeten, als er von einer Harpune durchbohrt wurde, weil er sich zu fein war, auch nur eine einzige Mail zu beantworten”
Tilman Rammstedts neues Werk Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters besteht aus diesen Emails, die sich mit Erinnerungen an seinen mittlerweile ehemaligen Bankberater abwechseln. Dieser Bankberater kennt zumindest die halbe Wahrheit und langsam beginnt Rammstedt einzusehen, dass dies doch so wenig gar nicht ist. Denn “das meiste war schließlich einfach und der Rest nicht so schwer”: Ein Baum ist wie ein Festgeld. Es muss fest stehen und langsam wachsen. Nicht mehr und nicht weniger. Der Bankberater steht dabei symbolisch für jeden, der beratend tätig ist und von dem die Leute erwarten, dass sie ihnen die Welt erklären, auch wenn das längst niemand mehr kann. Es hätte auch ein Steuerberater sein können, aber bei diesen lohnt es sich vielleicht nicht so sehr, wenn sie die eigene Kanzlei überfallen. Wer sich beim Titel des Romans Insiderwissen zur Finanzkrise erwartet hat, liegt völlig falsch. Dieses Thema kann man sich allenfalls dazu denken, man kann es aber auch lassen. Denn das ist nicht das Thema des Tilman Rammstedt. Genauso wie das Buch nichts mit Katzen zu tun hat, auch wenn eine auf dem Cover thront. Die Katze steht allenfalls für den toten Hund, der im Zweifel eine größere Hilfe ist als der Actionstar. Wen das irritiert, dem sei gesagt, das lernt man direkt als Anfänger bei jedweden sozialen Medien. Ohne sogenannten “Cat-Content” und Banken-Bashing geht heutzutage fast nichts mehr.
In diesem Buch findet sich ein ganzes Konglomerat derzeit erfolgreicher Literaturprinzipien. (Briefroman, die direkte Ansprache von Ikonen der Popkultur und Metafiktion – die Thematisierung von Fiktion der Geschichten und Charaktere). Vor allem das Prinzip der Metafiktion reizt Rammstedt bis zum Äußersten aus. Er schaltet sich nicht nur gelegentlich ein, sondern ist klar erkennbar der Ich-Erzähler, welcher von der Schwierigkeit berichtet, aus einer guten Idee einen Roman zu machen. Gerade, wenn der Abgabetermin näher rückt und Bruce Willis immer noch nicht geantwortet hat. Er tut dies nicht mitleidheischend, sondern durchaus gewitzt. Es ist ein großer Lesespaß, wenn er dem stummen Willis damit droht, jederzeit Hubschrauber auffliegen lassen zu können oder wenn er seinen eigenen Verlag inständig bittet, ihm aus dem gut bestückten Verlags-Fundus doch bitte ein Buch zukommen zu lassen, in dem ein Gefängnisausbruch erklärt wird. Die Emails haben deutliche Längen, da gerät der Autor gelegentlich ins Schwafeln. Doch die Einschübe mit den Erinnerungen an den Bankberater und dessen traurige Parabeln sind bei aller Lakonie sprachlich ungeheuer dicht und ausgefeilt. Bei aller Überspitzung ist Rammstedt da sehr nahe dran an der Realität.
Der Ausgang der Abenteuer bleibt ungewiss. Auf Seite 155 weiß Tilman Rammstedt noch nicht, an welcher Stelle der Geschichte er sich befindet. Auf Seite 999 verabschiedet er sich und wünscht Bruce Willis viel Glück. Leider haben es die Seiten 156-998 nicht mehr ins Buch geschafft und es bleibt somit der Phantasie des Lesers überlassen, ob Rammstedt sein so sehnlich erwünschtes glückliches Ende bekommt. Vielleicht hat er ja sogar statt Hollywood das Ruhrgebiet um Hilfe gebeten und Helge Schneider gefragt. Diesen hatte nämlich ich dauernd vor Augen, wenn es um den Bankberater ging. Warum auch immer. Sicher hätte Helge sich gemeldet und sehr wahrscheinlich wäre ihm auch etwas eingefallen. Auf jeden Fall hätte er verstanden, dass man “manchmal ein Ziel erst hinter sich lassen muss, um es zu verstehen.” So bleibt neben diesen Ungewissheiten noch die Frage offen: Werden wir je wieder einen Bruce-Willis-Film sehen können, ohne daran denken zu müssen, dass dieser Tilman Rammstedt im Stich gelassen hat?
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift
Die Tore der Welt
Erstveröffentlichung dieser Rezension am 09.April 2008 im Blog der Literaturzeitschrift.de. Mittlerweile hat sich der Kurs nicht nur der Telekom-Aktie dramatisch geändert, Schweinefleisch kostet so ungefähr noch dasselbe, die Tore sind als Taschenbuch erschienen und ganz neu auch als Filmbuchausgabe.(s. verwendeter Cover-Download) Die Säulen der Erde wurden mit großem Erfolg verfilmt und in der Adventszeit 2012 geht auch die Verfilmung der Tore als Vierteiler an den Start. Zur Einstimmung auf dieses Ereignis hat sich die Rezensentin für einer erneuten Veröffentlichung der Buchbesprechung entschieden.
Die Tore der Welt.Die mit grossen Getöse angekündigte Fortsetzung von “Die Säulen der Erde”, dem grossen Historienroman des letzten Jahrhunderts. Fortsetzung der Säulen? Geht das überhaupt? Waren nicht fast alle gestorben in den Säulen? Ich lerne schnell: Nein, geht eigentlich nicht.
Der Kunstgriff: Der selbe Ort, andere Zeit. Kingsbridge, England im Jahre 1327. Wir begleiten vier junge Menschen. Den Baumeister Merthin, einen Nachfahren des unvergessenen Jack, schwankend zwischen Genie und Rebellion. Seinen in den Ritterstand aufstrebenden Bruder Ralph. Das Mädchen Caris, die dem Traum folgt, Ärztin zu werden. Und die jüngste, Gwenda. Kind eines Tagelöhners, die den Traum der Freiheit und der Liebe träumt. Zu Beginn des Romans werden die Vier Zeugen eines Kampfes – und eines tödlichen Geheimnisses.
Ist das jetzt eine Fortsetzung? In meinen Augen ein klares Nein. Es sei denn, man definiert eine Fortsetzung dadurch, dass sie am selben Ort spielt , einer der Helden den gleichen Beruf hat und gelegentlich pflichtschuldigst erwähnt wird, das in den ein oder anderen Adern das gleiche Blut fliesst wie in den Adern von Jack und Aliena selig.Die Tore der Welt handeln vom Leben der Nachfahren der SäulenHauptcharaktere. Punkt. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich vermisse den roten Faden. In den Säulen geht es vom ersten bis zum letzten Satz um den Bau einer Kathedrale. Eine klare Linie. Die Tore erzählen Lebensgeschichten. Ein durchgehender Handlungfaden, ein Ziel fehlt. Es werden Brücken, Krankenhäuser, Paläste gebaut, die Pest bricht mehrfach aus – gesichts- und leidenschaftslos geschildert wie selten. Die nächste Katastrophe wartet bereits an der nächsten Ecke. 1300 Seiten sind da noch knapp bemessen. Lange Reflexionen über das, was die Menschen so vor sich hindenken, im Wechsel mit bautechnischen Details brauchen schliesslich viel Platz. Die Charaktere wirken wie mit der Schablone des Baumeisters gezeichnet. Gut und Böse allzeit definiert, die Schicksale so vorhersehbar wie der Lauf des Flusses um Kingsbridge.
Im Grunde werden die immer gleichen Intrigen immer wieder durchgespielt. Ralph arbeitet sich gefühlte hundert Mal an seinem Rivalen Wulfric ab, der unwürdige Prior Godwyn kann keinen strategischen Schritt ohne seine Mama machen. Caris wäre es ohnehin lieber gewesen, in einem Roman des 21. Jahrhunderts beschrieben zu werden . Merthin baut mal hier, mal da, macht gefühlte 200 Heiratsanträge und hat immer eine tolle Idee. (Ich hörte schon von Lesern, die sich unwillkürlich an “Wickie” erinnert fühlten)
All die Geschichten wirken wie bereits erzählt. Die nur durch einen Eintritt ins Kloster auflösbare Abhängigkeit der Frauen, die Unbarmherzigkeit des Adels und der Kirche, die Knechtschaft der Lehrlinge unter den Gildemeistern, der Leibeigenen unter den Grundherren. Die Geschichten von Hexen- und Dämonenglauben, die von den Auswirkungen der Pest – alle schon mehrmals gelesen. Oft besser, spannender, authentischer, glaubwürdiger als hier. Auch die Idee, den Roman mit einem Geheimniss zu beginnen, welches sich erst am Ende löst- nicht wirklich neu. Zumal das im Klappentext groß angekündigte Geheimnis die Geschichten an sich nicht tangiert und im Rest des Romans kaum mehr zum Tragen kommt. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, der Autor greift es nur aus Pflichtbewusstsein wieder auf.
Die Ankündigung der Buchclubs Sex, Sex und noch mehr Sex in den Toren? Echte Sex-Szenen, noch dazu gute, muss man mit der Lupe suchen. Es sei den Verantwortlichen ins Stammbuch geschrieben, dass Vergewaltigungsszenen auch dann keine Sex-Szenen sind, wenn Ken Follett sie verfasst. Im Original titelt der Roman im Übrigen World without an end. (Ich hoffe ja mal nicht).Woher dann der deutsche Titel? Um Tore an sich geht es eher selten bis gar nicht.
Und noch was. Mir persönlich wichtig. Für 25 Euro krieg ich 2 kg gutes Schweinefilet, von mir aus auch 3 1/4 Telekom Aktien oder eben einen Ken Follett im Hardcover. Der geneigte Leser, soviel Geld anlegend, erwartet nicht nur einen Roman – der ihm gefallen mag oder eben auch nicht, das Risiko geht er ein – er erwartet zum Mindesten ein korrekt gesetztes Buch. Was er nicht erwartet, sind Druck-und Grammatikfehler, auch nicht des öfteren verwechselte Eigennamen. Und schon gar nicht eine nicht ganz korrekte Inhaltsangabe im Klappentext. Zur Übersetzung: Selten ist mir so deutlich wie hier aufgefallen, dass zwei Übersetzer am Werk waren. Miteinander haben die nicht gearbeitet, zu deutlich sind die “Schichtwechsel” zu merken.
Die Tore der Welt sind wieder ein Bestseller. War klar. Die Fortsetzung der Säulen? Einfach zu verlockend. Nur – mit den Säulen machte Follet damals den historischen Roman erst richtig bekannt. Dass er nicht der größte aller Autoren ist, fiel deshalb weiter nicht auf. Inzwischen hat er Hunderte von Nachahmern gefunden, und unter denen sind – sein Pech -, eben auch Spitzenkönner , deren Bücher zwar auch keine Literatur bieten, aber zumindest bessere Unterhaltung. Ich weiss,es gehört mit zum Schlimmsten, was man über ein Buch sagen kann, dennoch: Ich fand es langweilig, schlicht und ergreifend langweilig. Meine Meinung , mein Fazit : Wer es lesen will, übe sich in Geduld , warte auf das Paper-Back und investiere die Differenz in Schokolade oder eine Telekom Aktie. Vielleicht dämpft sich bis dahin ja auch die eigene Erwartungshaltung und man ist begeistert. Möglich. Warum auch nicht? Wer ein Werk von fast 1300 Seiten konstruiert und schreibt, hat gerne Anerkennung und ein Fleißkärtchen verdient.
In One Person
Bill Abbot ist fast 70 und blickt zurück auf ein bewegtes Leben. Aufgewachsen in einem Provinzkaff in Vermont stellt er früh fest, dass er sich zu Frauen und Männern gleichermaßen hingezogen fühlt; wahrlich keine einfache Prüfung in den prüden und bigotten 50er Jahren. Seine Familie steigert die Verwirrung noch: Da gibt es den Großvater, der im ortsansässigen Theater vorzugsweise Frauenrollen spielt, den Vater, der unter mysteriösen Umständen verschwand und die Mutter, die unter der zerbrechlichen Schale harte Geheimnisse bewahrt.
Dennoch verleugnet er seine Vorlieben nicht und geht seinen Weg, kämpfend dabei nicht nur gegen die Vorurteile und Anfeindungen der Heteros, sondern ebenso mit dem Misstrauen der Homos. Hilfe und Unterstützung findet Bill dabei in der Literatur und so verwundert es nicht, dass er (wie so viele Irving-Helden) schließlich selbst Autor wird. Er findet viele Liebschaften (beiderlei Geschlechts) und einige Freunde, von denen allerdings etliche das AIDS-Zeitalter nicht überstehen. Bill bewahrt sich trotzdem seine Empathie und Menschlichkeit; er bleibt ein suchender Erkunder.
Es fällt nicht leicht, zu diesem Roman eine klare und stringente Inhaltsangabe zu liefern; zu umfangreich ist der Plot und zu ausschweifend Irvings Erzählstil. Geboten wird definitiv keine leicht verdauliche Kost, auch wenn des Autors feinsinniger Humor und seine Vorliebe für skurrile Charaktere (Bären gibt es diesmal keine, dafür wieder mal Ringer) durchaus ihren Platz finden. Andererseits gehen die minutiös geschilderten Leiden sterbender AIDS-Patienten tief unter die Haut, ebenso wie die Nöte der Homo-, Bi- und Transsexuellen in der freien Welt der USA.
Ich habe den Eindruck, John Irving schreibt seine Bücher mit zunehmendem Alter immer kompromissloser: Wenn in früheren Werken sexuelle Inhalte eher zurückhaltend angedeutet wurden, ist die Sprache jetzt explizit und lässt an Offenheit nichts zu wünschen übrig. Auch bei politischen Themen positioniert er sich inzwischen so eindeutig, wie er das kürzlich in Interviews vor der US-Präsidentenwahl getan hat.
Irving ist einer der Großen der Weltliteratur, das bestätigt er wieder einmal mit seinem neuen Roman. “In One Person” ist ein kraftvolles Buch mit vielen Facetten, mal heiter, mal tragisch, aber stets zutiefst anrührend. Der Autor überzeugt wie immer mit seinen Ideen und Anliegen, das wichtigste davon ist diesmal das überaus eindringliche Plädoyer für die Toleranz der Vielfalt.
Kayla and the Devil
Kayla ist 19, gut betucht, sieht umwerfend aus und hat dennoch ein Problem: Seit einiger Zeit wird sie von ihren Mitmenschen wie eine Aussätzige behandelt, auch Freunde und verflossene Liebhaber wollen partout nichts mit ihr zu tun haben. Des Rätsels Lösung erfährt sie bei einem Treffen mit dem Teufel, der höchstpersönlich verantwortlich ist für den Fluch, aber natürlich auch gerne bereit ist, ihr altes Leben wieder herzustellen. Allerdings gibt es bekanntlich nichts umsonst und der Preis in diesem Fall ist nicht nur Kaylas Seele, sondern auch ein Menschenopfer, das binnen einer Woche zu erbringen ist…
Bryan Smith schreibt erfrischend flott und lässt zu keiner Zeit Langeweile aufkommen, sein Stil erinnert an Edward Lee und Richard Laymon. Witzige Ideen (in diesem Roman wird Jack the Ripper wieder lebendig und sorgt für allerlei Aufregung) und viel schwarzer Humor bescheren ein höchst unterhaltsames Lesevergnügen; für Horrorfans lohnt es sich definitiv, diesen Autor zu entdecken, zumal etliche seiner Werke mittlerweile auch auf Deutsch vorliegen. Bryan Smith veröffentlicht seine E-Books inzwischen im Selbstverlag, es handelt sich also um echte Schnäppchen!
Er ist wieder da
Hätte mein Sohn dieses Buch schon gelesen, sein Kommentar wäre: “Was für eine kranke Scheisse!”. Nicht falsch verstehen, das ist in Jugendsprech derzeit ein Maximalkompliment. Die kranke Scheisse scheint auch anderen zu gefallen, seit Wochen ist Er ist wieder da -der Roman von Timur Vermes ganz oben in sämtlichen verfügbaren Bestsellerlisten.
Ein Mann erwacht orientierungslos auf einem Berliner Trümmergrundstück. Er braucht nicht lange, dann fällt es ihm wieder ein: Er ist Adolf Hitler, der selbsternannte GröFaz. Daran erinnert im Jahre 2011 allerdings lediglich seine Uniform. Keine Eva ist in Sicht, kein Reichsmarschall, kein Führerbunker und warum steht auf dem Rückenteil des unweit seines Erwachungsortes kickenden Hitlerjungen bloß Ronaldo? Es muss allerhand passiert sein, während er geschlafen hat – sogar die Achse Berlin-Ankara scheint endlich zu einem erfolgreichen Bündnis gekommen zu sein, stellt er schnell fest bei einem ersten Spaziergang durch die Reichshauptstadt. Das hätte er Goebbels gar nicht zugetraut. Derart ermutigt stellt er sich tapfer den Herausforderungen der neuen Zeit, begeistert sich schnell für die neuen Medien, gerät zufällig in ein Casting und reüssiert höchst erfolgreich als Fernsehstar mit einer eigenen Show. Nur dass er öfter mit diesem Stromberg verwechselt wird, das stört ihn schon noch etwas.
So geht es munter weiter im Überraschungserfolg des Herbstes. Vernes lässt Hitler als Ich – Erzähler agieren und nutzt diese Konstellation zu einem verbalen Rundumschlag gegen bundesdeutliche Wirklichkeiten. Wenn ein Autor als Adolf Hitler spricht, lädt das ja nun nachgerade dazu ein, ohne Rücksicht auf irgendwen oder irgendwas hemmungslos an nichts ein gutes Haar zu lassen. Ob es der feine Herr Rossmann ist, der zu fein ist, sich selbst hinter seine Ladentheke zu stellen oder dieser dilettierende schlitzäugige Gesundheitslehrling aus dem sogenannten Kabinett. Selbst die heiligsten Kühe unserer Republik werden so gnadenlos geschlachtet. Kleine Kostprobe? Vermes aka A.H. über Helmut Schmidt: “dieser Mann etwa hat absolute Narrenfreiheit und kann Blödsinn reden noch und noch. Man setzt ihn in einen Rollstuhl, wo er in ununterbrochener Reihenfolge Zigaretten abbrennt und …. die schlimmsten Allgemeinplätze verkündet…… dann stellt sich heraus, dass sich sein Ruhm lediglich auf zwei läppische Taten gründet, nämlich dass er im Fall einer Hamburger Sturmflut die Armee zu Hilfe rief, wozu man kein Genie sein muss, und dass er den entführten Schleyer kommunistischen Verbrechern überlassen hat, was ihm sogar gesinnungsmäßig entgegen gekommen sein dürfte.” Noch Fragen? So geht es das ganze Buch. Es gibt keine Klarstellung, nichts, es gibt nur die Sicht Adolf Hitlers. Die NPD kriegt ihr Fett übrigens auch ab, das sind für ihn nur halbgare verpickelte Jüngelchen, derer man sich schämen muss.
Natürlich ist es allerdünnstes Glatteis, auf das sich Vermes da begibt. Aber es hält. Er beherrscht die Gratwanderung, einerseits alles aus der Perspektive Hitlers zu schreiben, andererseits keinen Moment vergessen zu lassen, dass man hier Satire in den Händen hält. Natürlich ist es eigenartig, mit Hitler zu lachen und nicht über ihn, natürlich bleibt einem das Lachen ständig im Halse stecken, weil man sich so oft bei zustimmendem Nicken ertappt. Und natürlich ist es bei allem Witz, aller Schlagfertigkeit auch verstörend und erschreckend, wie plausibel der Roman rüberkommt.
Allerdings: Es ist aus berufenen Mündern zu hören, dass Timur Vermes den Duktus des A.H. sehr gut getroffen habe. Das ist sicher eine der Stärken des Romans, zugleich aber auch seine größte Schwäche. Denn mal Hand aufs Herz – alle political correctness, die ganze Thematik ruhig mal außer Acht gelassen, wenn A.H. ins Schwafeln geriet, war es definitiv ermüdend. Und genauso geht es einem im Buch immer wieder, dass man denkt: mach hinne, komm zum Punkt. Ich will wieder was Witziges lesen.
Fazit: lesenswert. Schon alleine, weil sich mit Timur Vermes endlich mal jemand traut, Adolf Hitler als das darzustellen, was er neben allem anderen wohl auch war: Ein attraktives, verführerisches Massenphänomen und dadurch zu zeigen, wie groß die Gefahr wirklich ist, dass ein Land so einem Wahnsinnigen jederzeit wieder erliegen könnte.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift
Verteidigung der Missionarsstellung
Benjamin Lee Baumgartner ist ein netter Kerl. Dennoch –er hat es nicht leicht in diesem Leben: “Als ich mich das erste Mal verliebte, war ich in England. und da ist die Rinderseuche ausgebrochen. Als ich mich dsa zweite Mal verliebte, war ich in China, und da ist die Vogelgrippe ausgebrochen. Und drei Jahre später war ich das erste registrierte Opfer der Schweinegrippe. Sollte ich je wieder Symptome von Verliebtheit zeigen, musst Du sofort die Gesundheitspolizei verständigen. Versprich mir das.”
Der solchermaßen innig gebetene Freund verspricht es ihm, alleine es hilft nichts. Baumgartner wird nicht klug, er verliebt sich immer wieder. Er leidet daran, aber irgendwie liebt er das Leiden auch. Mindestens so sehr wie sein Leben. Ein Leben voller unerwarteter Wendungen, die ihn selbst am meisten überraschen und ihm am Schluss des Romans eine nicht vorhergesehene Pointe bescheren. Aber es ist nicht die Geschichte über das Leben des Benjamin Lee Baumgartner, Sohn einer der letzten Hippiemädchen des Landes und eines geheimnisvollen Indianers oder auch nicht, welche diesen Roman so besonders macht. Sondern der Wortwitz des Autors, das Spiel mit der Sprache und die Liebe zu dieser.
Der Freund, den Baumgartner so innig bittet, ist wohl auch nur bedingt geeignet, den Mann vor den Fallstricken der Liebe zu bewahren. War schon dessen Streitschrift zur “Verteidigung der Missionarsstellung” kein Erfolg beschieden. Dieser Freund, er ist kein Geringerer als der Ich-Erzähler, der Autor, Wolf Haas selbst Er erzählt die Buch-im-Buch- Geschichte, die Geschichte von der Entstehung des Romans, eine zweite Leidensgeschichte gewissermaßen. Schliesslich wäre es ja viel einfacher, sich in Fiktion zu retten, als so eine unglaubwürdige Geschichte aus der Realität zu romantisieren.
Entstanden ist so das wohl mit Abstand coolste und unbekümmerteste Buch des Jahres, unglaublicherweise zugleich das am sorgfältigsten konstruierte Buch des Jahres. Ein Hinweis vorab, so leid es mir tut. Wer sich dieses Buch vornimmt, er sei gewarnt: Es hilft alles nichts, durch das erste Kapitel muss man durch. Das erste Kapitel – ich fand es grottenschlecht. Zäh, langweilig, es weckte nicht für 10 Cent mein Interesse. Es passiert mir wirklich selten, dass ich ernsthaft überlege, ein Buch schon nach wenigen Seiten auf Nimmerwiederlesen zuzuklappen. Doch für die zweite Chance, die ich dem Buch gab, wurde ich belohnt. Schon beim zweiten Kapitel zog ich zum ersten Mal meinen Hut, musste grinsen, danach war ich verloren. Chapeau, was für ein Parforceritt.
Benjamin Lees Flower Power Mutter gab ihrem Kind den ungewöhnlichen Namen zu Ehren des Sprachforschers Benjamin Lee Whorf. Dieser Whorf vertrat die These, dass Sprache das Bewusstsein formt. Haas spielt mit dieser These, benutzt und verwirft sie. Auf der einen Seite verblüfft er mit Sätzen zum Niederknien, auf der anderen ist er kein Autor, der Lust hat, sich lange mit Beschreibungen aufzuhalten. Will er eine bestimmte Atmosphäre erzeugen, gibt es eine in eckige Klammern gesetzte Notiz an sich selbst , so etwa “London-Atmosphäre, Blick from the bridge” Fertig. Weiß jeder, was gemeint ist. Wolf Haas geht aber noch weiter und entwickelt diese These dahingehend, dass es nicht nur die Sprache, sondern auch das Schriftbild ist, welches das Bewusstsein und das Verständnis seiner Leser formt. Sagt ein Protagonist einmal “nichts“,dann steht da eben auch nur “Nichts” und koste es eine ganze Buchseite. Berichtet eine Romanfigur, er habe etwas quergelesen, dann wird es eben quergeschrieben. Konsequenterweise ist die dichteste Stelle im Buch so verdichtet, dass man sie nur mit der Lupe lesen kann. Und so weiter und so fort. Ich werde hier nicht jeden skurrilen Einfall verraten, ist ja schließlich der halbe Spaß.
Neulich sah ich den Autor im Fernsehen. Auf dem blauen Sofa von Wolfgang Herles. Sinngemäß sagte er in diesem Interview, dass er es als Lob empfinden würde, wenn seine Leser während der Lektüre gelacht hätten. Ja, Herr Haas, ich kann Sie beruhigen. Ich habe gelacht. Vor Freude, über gelungene Pointen, anerkennend für Ihre Chuzpe.
In diesem Zusammenhang: Herr Herles, reizenden Dank für Ihre Bemerkung, dass man mit diesem Buch nicht unter Niveau lacht. Da bin ich ja beruhigt.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.
Sydney Bridge Upside Down
Es ist Sommer in Neuseeland. Der 13jährige Harry und seine Freunde im kleinen Dorfe Calliope Bay am Rande der Welt vertreiben sich die Zeit mit vielerlei Unsinnigkeiten. Sie rauchen heimlich in einer Höhle, treiben sich in der Ruine einer Fleischfabrik herum und warten in der Hauptsache darauf, dass etwas passiert. Egal was. Die erhoffte Zerstreuung naht in Person von Harrys Cousine Caroline, die schnell die Aufmerksamkeit und Begehrlichkeit aller männlicher Personen in dem isolierten Dorf auf sich zieht.
Was sich wie eine leichte Erzählung über unschuldige Sommertage anlässt, wie eine der üblichen Coming-of-Age Geschichten, schlägt schon bald um in eine schauerliche, Grauen erregende Geschichte und wird dabei zu einem Märchen ohne Erlösung und Vergebung. Es passieren schreckliche Dinge in Calliope Bay. Die Ruine der Fleischfabrik bleibt nicht länger nur ein Denkmal längst vergangener, glorreicher Zeiten. Sie wird zu einem Ort, an dem Unfälle passieren. Einem Ort, an dem Menschen sterben.
Sydney Bridge Upside Down ist der sperrige Name eines sperrigen Pferdes. Ein alter Klepper, der einem ebenso sperrigen alten Mann gehört. Beide – das Pferd und der alte Mann stehen für den Niedergang des Ortes, aber auch für eine ganz besondere Aufmerksamkeit und Beharrlichkeit. Am Ende werden es wohl diese beiden sein, die wissen, was in jenem Sommer passiert ist. So es denn überhaupt jemand jemals wissen wird.
Sydney Bridge Upside Down ist ein ebenso faszinierendes wie grauenerregendes Buch. Es begeistert an keiner Stelle, dafür ist der Stoff einfach zu hart. Dafür entwickelt der Kontrast zwischen der Beschwörung eines einsamen, auf sich selbst zurückgeworfenen Ortes an der Küste und dem allmählich zum Vorschein tretenden Grauen einen Sog, dem man sich als Leser nur schwer entziehen kann. Dabei ist in der Erzählung weniger das vordergründige Geschehen maßgeblich, sondern kleine eingestreute Hinweise hier und da. Die Grausamkeit liegt unter der Oberfläche, sie enthüllt sich erst nach und nach.
Holden Caulfield war ein Musterknabe gegen Harry Baird. Glaube ich. Denn der Kunstgriff Ballantynes ist so schlicht wie genial: Er erzählt die Geschichte aus der Sicht des 13-jährigen. Harry erzählt detailliert, aber bewusst saumselig und schleppend. Er lässt große Lücken, die er – vielleicht – später füllt, er verweigert sich jeder Norm einer realistischen Erzählung. Schnell ist klar, Harrys Blick auf die Welt ist zwar der eines Kindes, aber er blickt verheerend und destruktiv. Harry selbst kann man getrost als dysfunktional und auf eine beklemmende Art gefühllos bezeichnen. Ihm, dem die Küste und das Meer soviel bedeuten, fehlt jeder moralische Kompass.
Zum beklemmenden Ende wird zwar klar, es wird für keinen der Protagonisten eine Erlösung geben, aber es gibt auch keine Auflösung für den Zwiespalt, in den der Roman den Leser stürzt. Der atmosphärisch dichte Roman erzeugt beim Leser schleichend ein ungutes, beklemmdes Gefühl. Konsequent bis zum Schluss verweigert er sich dem Mainstreaum und lässt Interpretationen weiten Raum.
Sydney Bridge Upside Down erschien 1968. Der Roman lässt nur in Ansätzen die malerischen Qualitäten Neuseelands erahnen und zeigt eine düstere, dunkle Seite der Insel. Mit seiner Entzauberung der vielbeschworenen Siedlerromantik brachte David Ballantyne die Neuseeländer gegen sich auf, ein Erfolg wurde der Roman erst später. Mittlerweile zählt er zu den Klassikern der neuseeländischen Literatur und man darf vermuten, dass sich wohl ganze Generationen an Interpretationsversuchen abgearbeitet haben. Neuseeland war in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Zu diesem Anlass wurde der Roman erstmals in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.
Abaton
Mit Spannung war sie erwartet worden: die Verlockung des Bösen. So der Untertitel der als Trilogie angelegten Jugendbuchreihe Abaton. Das Autorenduo Christian Jeltsch und Olaf Kraemer bleibt seiner Linie treu und hat seine Science Faction – so nennen sie selbst ihren Genre Mix aus Mystery und realen jugendlichen Lebenswelten – wieder im Stil eines Drehbuchs geschrieben, angereichert durch zusätzliche Seiten mit Plänen und Symbolen. An Rasanz und Geschwindigkeit legt Teil zwei noch einmal zu, dafür aber nicht unbedingt an Klarheit.
Simon und Edda haben sich gegen die Verheißungen der Gene-Sys-Gruppe und für die Freundschaft mit Linus entschieden. Gene-Sys verfolgt jedoch weiter ihre Wege und zwingt die drei, in den Untergrund des Berliner Großstadtdschungels abzutauchen. Die drei Jugendlichen werden sehr bald mit der dunklen Seite der großen Stadt konfrontiert und sind mehr als einmal gezwungen, um des reinen Überlebens willen ihr Ziel zu vernachlässigen. Ihre Freundschaft ist ihre einzige Konstante in dieser für sie fremden und feindlichen Welt. Dass Linus und Simon beide mit aufkeimenden romantischen Gefühlen für Edda zu kämpfen haben, macht es ihnen nicht gerade einfacher, diese Konstante auch zu wahren. Dennoch verfolgen sie hartnäckig und nur selten beirrt ihr Ziel, Eddas geliebte Oma Marie aus den Fängen der undurchsichtigen Gesellschaft zu befreien. Gene-Sys vermutet, dass Marie bis heute Geheimnisse und Informationen aus den Gründungsjahren der Organisation bewahrt, die ihr von ihrem Vater, dem Wissenschaftler Bernikoff – einer schillernden Figur aus der Zeit des dritten Reiches – anvertraut wurden. Nicht nur Gene-Sys sucht Antworten, auch Edda, Linus und Simon werden rastlos von ihren Fragen umgetrieben. Abaton schlägt in beiden Teilen den ganz großen Bogen zu den Themen, die Jugendliche zu allen Zeiten am meisten umgetrieben haben: Die Frage nach dem Existenziellen, die Frage danach, ob und wie die Welt überhaupt noch zu retten ist.
Ratlos sind leider sind nicht nur die Protagonisten des Romans, auch der Leser sucht immer noch nach Antworten. Auch nach Teil zwei ist er so schlau wie zuvor. Kritische Masse? Die Welt verändern? Ja, da war was. Fragt sich nur immer noch was. Zum Schluß wird auch noch Kurs auf ein unbekanntes fernes Land genommen. Lost lässt grüßen? Egal, wie rasant so ein Plot daherkommt, ich finde insgesamt 844 Seiten schon arg lang, um nicht wenigstens einen Erklärungsansatz zu bekommen, wohin das Ganze steuert. Der Spannung an sich tut das nicht gut. Erst recht nicht, wenn der Unterton des Buches diesmal durchgängig düster und beklemmend bleibt, mir schon fast zu düster. Da helfen auch die gut gemachten Zitate und Verknüpfungen mit alter und neuer Popkultur nur bedingt. Was mir ebenfalls nicht gefiel und ein ungutes Gefühl hinterließ, waren die aus dem geschichtlichen Kontext gerissenen Anleihen und Assoziationen aus der Zeit des dritten Reiches. Ich erlaube mir zumindest den Hinweis, dass ein Fakten aufgreifendes Gespräch mit jugendlichen Lesern eine wertvolle Ergänzung sein dürfte.
Aber – dieser Abschnitt stand unter dem Motto “kleinliche-Kritteleien-einer-Mittvierzigerin-für-die-das-Buch-gar-nicht-geschrieben-wurde.” Ganz anders nämlich die Zielgruppe, die wie im Vorjahr aufrichtig begeistert war und Band drei entgegenfiebert. Erteilen wir also -wie im Vorjahr- der Jugend das Wort:
Malte, 15 Jahre:
Abaton- die Verlockung des Bösen – ein verheißungsvoller Titel für den 2ten Band der Abaton Trilogie. Nachdem der erste Teil überraschend sehr beeindruckt hat, wurde der zweite mit Hochspannung erwartet. Doch der Einstieg in das Buch gestaltete sich ungewöhnlich zäh, man musste sich durch die ersten 40-50 Seiten förmlich schlagen/beissen/kämpfen. Was einerseits daran lag, dass der erste Band sehr viele Informationen darbot, die nötig sind, um das Buch zu verstehen und welche man allerdings erst wieder aufgreifen und erinnern muss, bevor man Spaß an dem Buch findet. Andererseits setzt das Buch nicht sofort nach dem ersten Band ein, sondern um es zeitlich einzuordnen, ein paar Wochen/Monate danach. In meinem eigenen Fall wurde es damit sehr schwer, sich einzulesen. Doch nach und nach wird man, wie schon aus dem ersten Band bekannt, in den Bann des Buches gezogen. Dieses Mal allerdings aus drei Erzählperspektiven, die sich immer wieder abwechseln, was das Ganze noch abwechslungsreicher macht. Zahlreiche Nebencharaktere aus dem ersten Band tauchen wieder auf, wie zB “Bobo”, Simons Bekanntschaft aus der JVA Charlottenburg. Eine etwas wichtigere Rolle nimmt der – Lesern des ersten Bandes wird er bekannt sein – um eine gewisse “Coolheit” bemühte, darin aber nicht wirklich erfolgreiche Thorben ein. Seinen Charakter z.B. bringen die Autoren auch sprachlich sehr gut rüber, er wirkt unbeholfen und zwanghaft in seiner Lässigkeit. Was mir im Gegensatz zum ersten Band aufgefallen ist, ist dass diesmal die Gefühle von allen Beteiligten sehr gut eingefangen werden und man sich noch besser in sie rein versetzen kann. Auch die Motive von den Hauptcharakteren werden gut eingefangen.
Bevor ich vor lauter Schwärmerei noch einen Roman über den Roman verfasse, komme ich zu meinem persönlichen Fazit, welches, nach dem ersten Band kaum noch überraschend, sehr positiv ausfällt. Eine grandios inszenierte Geschichte, die ihren Platz in den dunkelsten Ecken von Berlin findet, wird fortgeführt und wird jeden Fan des ersten Bandes wieder in seinen Bann ziehen.
Abaton funktioniert nur als Trilogie, soviel kann man jetzt schon sagen. Teil zwei zu lesen, ohne Teil eins zu kennen, macht unserer Meinung nach keinen Sinn. Beide freuen wir uns auf Teil drei, zumal Teil zwei uns mit einem Cliffhanger, der es in sich hatte, zurückließ. Ein Cliffhanger im übrigen, der weiten Interpretationen Raum lässt und hier im Hause zu einigen Deutungsversuchen geführt hat. Ich fürchte ja einen Bobby-Ewing Effekt, Malte hingegen ist sich sicher in seiner bedrückenden Interpretation. Verraten werden wir hier allerdings nichts, es bilde sich jeder schön seine eigene Meinung.
Geeinigt haben wir uns auf folgendes Fazit: trotz Längen und Schwächen außergewöhnlich, spannend und klar empfehlenswert.
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Unsere Rezension des ersten Teils: Abaton -Vom Ende der Angst
Interaktive Homepage der Trilogie : Abaton-Trilogie
Als Das Leben überraschend zu Besuch kam
Jacqueline ist 73. Eines Morgens weiß sie es einfach beim Aufwachen: so kann es mit ihr und ihrem Leben nicht mehr weitergehen. Sie packt ihre Koffer, verläßt ohne ein Wort des Abschieds ihren Mann Marcel und steht nur wenige Stunden später vor einem bezaubernden kleinen Haus mit blauen Fensterläden auf der Ile d’Yeu. Dort in der Bretagne lebt ihre geliebte Cousine Nane, zu der sie an diesem Punkt ihres Lebens flüchtet. Über 50 Jahre hat sie Nane nicht gesehen, auch dies ein Teil ihres nicht beglückenden Lebenslaufs, dem sie nun zum Ende eine positive Wendung geben möchte, geben muss.
Mit als das Leben überraschend zu Besuch kam hat die französische Autorin Caroline Vermalle eine unaufgeregte Geschichte über das Leben geschrieben. Über das Leben und darum, dass man irgendwann Frieden mit seinem Schicksal schliessen sollte. Zu akzeptieren, was war und zuzulassen, was noch sein könnte. Ganz leicht kommt dieses Buch daher, wie getragen vom Wind, berührt von den leichten Schlägen eines Schmetterlings.
Dieser Eindruck kommt nicht von ungefähr, läßt Caroline Vermalle nicht ihre Romanfiguren Jacqueline und Marcel von ihrer Suche und ihren Aufbrüchen berichten, sondern Apeliotes, Zephyr und Skiron, die Winde der Bretagne sowie das große Ochsenauge, ein gewöhnlicher Schmetterling auf der Suche nach dem Liebestanz. Diese ungewöhnliche Perspektive entführt den Leser direkt an die bretonische Küste. Man meint, die Winde schmecken zu können, das Meer zu riechen und das Gras zu spüren. Es ist eine märchenhafte, ruhig erzählte Geschichte, die man mit einem Lächeln auf den Lippen liest und aus der man gerne die Erkenntnis mitnimmt, nicht immer auf den idealen Zeitpunkt zu warten, um sich seine Wünsche zu erfüllen.
Auch wenn zugegebenermaßen der Kunstgriff nicht durchgehend funktioniert und der poetische Ton der Geschichte bisweilen droht, ins Kitschige abzugleiten – ein lesenswerter Roman, der einem gerade im Winter etwas von der Leichtigkeit des Sommers zurückzugeben vermag.
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Das Beste von allem
Von wegen Fernsehen hält vom Lesen ab. Von wegen Fernsehen stumpft ab und trägt nicht zur Bildung bei. Hätte ich nicht die grandiose Fernsehserie Mad Men gesehen, hätte ich dieses Buch nicht gelesen. Denn natürlich will man wissen, womit der gefährlich attraktive, geheimnisvolle Don Draper sich eine einsame Nacht verkürzt. So er denn mal ausnahmsweise eine hat. Natürlich will man mitreden können. Könnte ja sein, dass man den gefährlich attraktiven, geheimnisvollen Don Draper plötzlich im Aufzug trifft und er auf einen Whiskey Sour auf seine Bürocouch bittet.
Wer also aufmerksam den Mad Men zuschaut, sieht das Beste von allem. Sowieso, aber so lautet eben auch der Titel von Don Drapers Bettlektüre. Das Beste von allem ist ein amerikanischer Bestseller aus dem Jahre 1958, geschrieben von der 2005 verstorbenen Schriftstellerin Rona Jaffe. Anläßlich des überraschenden Erfolgs der Mad Men entstaubt, neu aufgelegt und für die deutsche Ausgabe auch neu übersetzt. Liebevoll verpackt in ein schickes Buchdesign, wahrscheinlich entworfen von Sterling, Cooper, Draper, Price.
Sie verdienen das Beste von allem. Den besten Job, die beste Umgebung, die beste Bezahlung, die besten Kontakte. Inspiriert von dieser Stellenanzeige in der New York Times schrieb Rona Jaffe ihren Roman, der über einen Zeitraum von 3 Jahren 5 junge Frauen begleitet, die ihren Weg im New York der fünfziger Jahre suchen. Draper wollte wohl herausfinden, welche Wünsche junge,amerikanische Frauen in ihren Herzen tragen. Denn genau darum dreht sich letztendlich alles in diesem geschickt aufgebautem Roman. Der Leser lernt zunächst Caroline Bender kennen. Eine junge Frau, von der Liebe enttäuscht, klug, smart und natürlich hübsch. Sie beginnt als Schreibkraft in einem Verlag, arbeitet sich sehr schnell hoch und wird so eine der ersten Karrierefrauen ihrer Zeit. In ihrem Herzen sehnt sie sich aber immer noch nach der allumfassenden, allerfüllenden Liebe. Den anderen Frauen begegnet sie an ihrem Arbeitsplatz. Mary Agnes, die nur arbeitet, um ihre Aussteuer zu finanzieren. Barbara, eine junge, alleinerziehende, geschiedene Mutter – ein Skandal zu jener Zeit. Die flatterhafte April, die sich ins Showbusiness träumt und schließlich Gregg, eine junge Schauspielerin, die ein tragisches Ende finden wird.
5 junge Frauen auf der Jagd nach dem Glück und dem richtigen Leben in der großen Stadt. 5 junge Frauen, mit denen der Leser tief in die Moralvorstellungen und Werte jener Zeit eintaucht. Aber auch 5 junge Frauen, die der Leser durch das aufregende, pulsierende, alles möglich und machbar erscheinende New York der Nachkriegszeit begleitet. In den fünfziger Jahren war das Buch bestimmt ein Tabubruch und auch als solches konzipiert. Die Stadt und ihre Gesellschaft vibriert zwar vor Aufbruchsstimmung, aber das Frauenbild und die Geschlechterrollen sind noch klar determiniert. Wer außerehelichen Sex hat, gilt schon als Schlampe. Für die damalige Zeit war es eigentlich undenkbar, dass die fünf Frauen in dem Buch ihre Sexualität lebten und – noch schlimmer – darüber sprachen. Die Moralvorstellung heute ist sicher eine andere, aber das Buch funktioniert auch heute. Es überrascht, in wie vielen Aspekten das Buch heute genauso relevant ist wie damals.
In ihrem Geleitwort zur Neuauflage 2005 schrieb Rona Jaffe selbst: Das Buch handelt von Veränderung, wie sich die Träume verändern, wie sich das Leben verändert, wie alles, was einem zustößt, etwas anderes verändert Und das bleibt immer gleich. Genau so ist das. Das Buch berührt Frauen und Männer heute genauso wie in den 50er jahren. Es macht nachdenklich, es wühlt auf, aber es macht auch Spaß, die Frauen auf ihrem Weg zu begleiten. Ein bißchen ist es wie Sex and the City. Nur geschrieben und in den 50er Jahren angesiedelt. Aber genauso prickelnd. Womit sich der Kreis zum Fernsehen wieder geschlossen hätte.
Der Hypnotiseur
In einer Sportanlage am Stadtrand Stockholms wird die übel zugerichtete Leiche eines Familienvaters gefunden. Als die alarmierten Polizisten zum Haus des ermordeten Familienvaters fahren, finden sie dessen Ehefrau und Tochter ebenfalls brutal ermordet. Nur der 15jährige Sohn hat das Massaker schwer verletzt überlebt. Es scheint, als ob der Täter, von dem jede Spur fehlt, die ganze Familie auslöschen wollte. Der zuständige Kommissar Joona Linna erfährt, dass es noch ein Familienmitglied gibt, eine Tochter. Diese hat wohl nur eine einzige Chance zu überleben: Linna muss sie vor dem Mörder finden. Der einzige Zeuge, der schwer verletzte Sohn, ist jedoch nicht vernehmungsfähig.
Linna greift nach einem kurzen Strohhalm und möchte den Jungen hypnotisieren lassen. Er setzt seine Hoffnungen in den Arzt und Hypnotiseur Erik Maria Bark und überredet ihn zu dem Versuch, dem Jungen unter Hypnose eine Täterbeschreibung zu entlocken. Bark allerdings hatte sich geschworen, nie mehr zu hypnotisieren, da seine letzten 10 Jahre zurückliegenden Versuche desaströs endeten. Linna wendet seine ganze Überredungskunst auf und das Experiment gelingt. Der hypnotisierte Junge spricht und der ganze Tathergang bricht aus ihm heraus. Der Fall ist somit nach nur wenigen Kapiteln gelöst. Grauenhafter jedoch, als es sich Bark und Linna in ihren schlimmsten Träumen hätten vorstellen können. Was sie sich wohl ebenfalls nicht hätten vorstellen können, ist die fatale Verkettung mehrerer Ereignissen, die ihren Anfang in diesser Hypnose nahm. Nach und nach entwickelt sich an mehreren Fronten ein komplett anderer, ebenso gauenerregender Fall, für dessen Entwirrung vor allem Erik Maria Bark weit in seine Vergangenheit hineingehen muss, will er das Leben seiner Familie retten.
Der Hypnotiseur ist das gewagte Krimi-Debut des schwedischen Ehepaares Alexandra Coelho und Alexander Ahndoril, die gemeinsam unter dem Künstlernamen Lars Kepler publizieren. Gewagt, weil das Buch mit einigen ungeschriebenen Gesetzen des Genres bricht. Am auffälligsten dabei die Lösung des eigentliche Falles nach nur wenigen Kapiteln. Zwar spart auch die sich entwickelnde Handlung nicht mit Horror-Effekten und kriminalistischen Verwicklungen, aber im Vordergrund steht die Story, ihre Protagonisten und nie die Suche nach einem Täter. Nächster Regelbruch: Die ganze Story ist im Präsens geschrieben, auch in den Rückblenden auf längst vergangene Tage. Sehr gewöhnungsbedürftig, hilft dem Leser aber ungemein, nahe am Geschehen zu bleiben. Des weiteren steht nicht der Kommissar im Mittelpunkt der Geschichte, obwohl der Hypnotiseur der Auftakt zu einer ganzen Reihe mit Joona Linna bilden soll. Stört aber auch nicht, so bleibt der Leser nicht nur gespannt auf weitere Fälle, sondern auch auf die Geschichte des für skandinvische Krimi-Verhältnisse ungewohnt menschenfreundlichen Kommissars. Ungewöhnlich auch, dass alle Figuren, egal ob sie der Irrsinn oder die Ratio treibt, weitestgehend nachvollziehbar agieren, wobei so manche Handlung der auftretenden Psychotiker weniger befremdlich erscheinen als die der Gegenseite.
Darüberhinaus trauen die Autoren sich, das ein oder andere unschuldige Opfer der Geschehnisse unsympathisch anzulegen. Allen voran die einfach nur nervige Ehefrau des Hypnotiseurs. Wahrscheinlich hat der gute Mann sich in Eigenhypnose geübt, um diese Zicke höchsten Grades ertragen zu können. Mit wissenschaftlichen Grundsätzen nahm und nimmt er es eh nicht so genau, aber das nur am Rande. Verbucht unter Dramaturgie schlägt Realität. Geschenkt, weil es zum Gelingen des Buches beiträgt. Das Buch schlägt einen zwar nicht gerade hypnotisch in seinen Bann,. aber es ist packend zu lesen, wie die Autoren es schaffen, ihre verworrene Ereigniskette schlüssig, wenn auch leicht pathetisch zu schliessen. Es ist mutig, dass sie auf einen eindeutigen Sympathieträger verzichten und dabei nie der Gefahr erliegen, ihre Figuren in die Nähe einer freakigen Horrorshow zu rücken, obwohl so einige dafür optimal gemacht wären.
Der bekannte Regisseur Lasse Hallström hat sich an die Verfilmung des Hypnotiseurs gewagt, der Film steht in Schweden kurz vor der Uraufführung und wird wohl in das Rennen um die Auslands-Oscars gehen. Noch stehen die ausländischen Verleiher nicht Schlange, aber das kann ja noch werden. ich jedenfalls fand das Buch spannend und unterhaltsam genug, um mir den Film anschauen zu wollen.