Versteckenspiel

VERSTECKENSPIEL
Gedichte von Hedwig Katscher

„Ein Traumfragment
das Leben.
Der Tod
ein Bruchstück Wahrheit“

(Aus dem Gedicht ,,Der Befund“)

„Meer und Himmel
sind mir Heimat.

In mir sind sie zuhause.
So bin ich ihre.“

(Aus dem Gedicht ,,Die Landschaft“)

„Versteckenspiel“ heißt der Titel einer Gedichtsammlung von 57 Gedichten der österreichischen Dichterin Hedwig Katscher, die als Band 23 der Reihe ,,Lyrik aus Österreich“ im Verlag G. Grasl, Baden bei Wien, 1982 von den Exponenten des Literaturkreises Podium, Alois Vogel und Alfred Gesswein, herausgegeben worden ist.

Versteckenspiel – was hat dieses Wort, das gleichzeitig die Bezeichnung für ein Spiel aus unserer Kindheit ist, das wir alle gespielt haben – mit Spannung, Angst und Freude – als Titel eines Gedichtbandes zu bedeuten, was signalisiert es, wofür ist es als Chiffre gesetzt? Mit welcher Interpretation erfasse ich seinen Sinn, was ist damit gemeint? Etwas klingt da an, drängt sich als leicht verfügbare, weil gängige Assoziation auf: Rollenspiel, Rollenverhalten, Rollenzwang. Dies ist mit Sicherheit nicht gemeint, mit diesem Ansatz gehe ich fehl bei meiner Spurensuche, beim Versuch einer Interpretation dieses Wortes. Also hin zum Text und aus dem Text heraus zum einzelnen Wort (Zusammenhang) und von diesem zum Gemeinten und von da zum Sinn.

Einer Dichtung nachzuspüren, ihr auf die Spur zu kommen, bedeutet, den Weg des Denkens, den Weg des dichterischen Wortes einzuschlagen, den Weg zurückverfolgen, den Weg des Wortes zu seinem Ursprung. „Wohin?“ Dieses eine Fragewort steht als Motto auf einer leeren Seite allein dem Gedichtband voran. Also gleich am Anfang auch Fragestellung nach einem Weg, nach einer Zielrichtung, mit einer Zielgerichtetheit, nach einer (schicksalhaften) Bestimmung. In dieser einen Frage scheint sich die geeinte Bedeutung aller anderen möglichen Fragen als Einheit zu artikulieren. Sie eint in sich auch ein Gehvarianten eines Weges – des menschlichen Lebensweges – vom sich im Dunkel Vorwärtstasten bis hin zum zielgerichteten und zielbewußten Gehen.

Fragen werden gestellt, aus Situationen heraus, auch – ja vor allem – aus der eigenen Ich-Situation. Symptome werden hinterfragt, Zusammenhange werden abgefragt. Fragen, die nicht Ausdruck der eigenen Unsicherheit sind, sondern Orientierungshilfen sind, so wie ein Kompaß in einer unbekannten Landschaft. Anzeichen, Symptome, Zusammenhänge werden auf diese Weise sichtbar (gemacht). Schicksalsereignisse, Leidenswege und Leidenszustände werden aufgezeigt, Diagnosen werden gestellt. Und dann kommt (ähnlich wie bei der Diagnose: „Es ist Krebs!“) am Ende der Befund. Er ist nicht gleich das Todesurteil, sondern eine dem Leben entsprungene Erkenntnis, die einem nur nach langem Lebens- und Leidensprozeß, noch mitten im Leben, aber nahe am Tod, zuteil wird: die Erkenntnis als das gefundene Ziel eines Weges, den man gegangen ist.

Hier beginnt die tröstliche Gewißheit, der innere Friede. Man ist angelangt, am Ziel seiner Bestimmung. Alles, was zerrissen war, wird wieder ein Ganzes, man selbst wird wieder eingegliedert aus dem Chaos heraus in eine große, von uns unabhängig vorhandene, wirksame Ordnung der sich gegenseitig bedingenden Kräfte einer Einheit von Leben und Tod. Ein Zugehörigkeitsgefühl zum Ganzen der Schöpfung wird spürbar und einem bewußt. Die Splitter der Zeit werden zusammengefügt zu einer zeitlosen Gestalt, zu einer immer wiederkehrenden und einer immer wieder sich erweisenden Einheit alles Seienden. Die Ausweglosigkeit aus den Fragen wird zu einem tiefen inneren Frieden.

Die Frage nach dem Woher steht für Hedwig Katscher nicht am Anfang, sie wird von ihr erst am Ende des Weges in einer Art Rückschau gestellt; aus einer gewissen Verwunderung heraus darüber, daß diese Frage plötzlich am Ende auftaucht: die Frage nach der Herkunft. Diese Frage – eben nicht am Beginn stehend – hat den Weg nicht bestimmt, es erfolgte keine Einengung der Freiheit durch sie. Aber sie stellt sich nun – eben am Ende des Weges – in den Weg. Diese Frage will gestellt sein, auch wenn sie vielleicht nicht beantwortet werden kann, auch wenn keine weitere Frage auf diese Frage gegeben werden kann, vielleicht auch nicht gegeben werden muß, weil die Antwort auf das Woher unwichtiger ist als die Antwort auf die Frage nach dem Wohin.

,,Wie kam ich in dies Land?
Die Landschaft lächelt
im Traum von Kinderglück,
zärtlich singen die Vögel –
wie kam ich in dies Land
zum zweiten Mal,
wo Steine mir berichten
und die Menschen schweigen.“

(Aus dem Gedicht ,,Dies Land“)

Herkunft als etwas Vorbestimmtes, das sich unserer Verfügbarkeit entzieht, von der wir ein ganzes Leben lang ge(kenn)zeichnet sind, auch im Sinne einer Determination unseres Ichs, als Hemmnis und Verhaftetsein; und doch auch als Geborgenheit in ihr. Der Weg aufgrund der Fragestellung WOHIN?, diese Suche, ist ein Weg unter dem Zeichen der Freiheit, auch ein Weg unter der Bestimmung des Ausgesetztseins in Schutzlosigkeit; ein Weg, der als Irrweg in die Katastrophe, der aber auch ans Ziel fuhren kann. Auf jeden Fall ist er ein Weg der Freiheit, einer, auf dem wir nur auf uns selbst angewiesen sind. Ein Weg, den Menschen auch gemeinsam gehen können, ein Weg, der verbindet, der Gemeinsamkeit zeugt.

Lebensgefährte – Lebensweg. Wieder etwas Umspannendes, das mehr ist als bloß eine Station, als eine Zeiterscheinung. Wieder etwas Ganzes, etwas Gründliches, etwas Wesentliches, etwas Bestimmendes, etwas Wirkliches, etwas Wahres. Mit der Liebe als etwas Grundlegendem, als letztem (Beweg)grund des Seins. Und das ist mehr als ein soziologisches Phänomen. Die Liebe als Ausgangsbasis für eine mögliche gültige Antwort auf alle die Fragen nach dem Woher und Wohin, die Liebe als Wahrheitsereignis der Einheit von Leben und Tod, die Liebe, die, wie es im „Hohen Lied“ heißt, ,,stärker als der Tod“ ist.

Von dieser Liebe sprechen die Gedichte Hedwig Katschers. Von der personal erfahrenen, vom Verlust des Lebensgefährten; nicht vom Verlust der Liebe durch dessen Tod, im Gegenteil, aber doch vom Schmerz, der durch den Verlust seiner Gegenwart, seiner greifbaren Gestalt, ins Leben einschneidet. Dieser Schmerz ist die wahre Lebenswirklichkeit, die einen selbst im verborgensten Versteck aufspürt, der man sich durch kein Versteckenspiel entziehen kann. An ihm wird das volle Maß an erlebbarer Wirklichkeit als Grunderfahrung menschlichen Lebens überhaupt erfahren. Und die ,,Totenklage“ ist nicht nur ein Wehklagen als Ausdruck des Schmerzes über den Verlust des geliebten Menschen und der Ausdruck der Trauer über das Allein-Zurückbleiben, sondern sie wird auch zum Ausspruch der Erkenntnis von der Brüchigkeit der Zeit, von ihrer begrenzten Gültigkeit. Hier wird personale Leiderfahrung zur Erfahrung einer universalen Wahrheit des Seins.

„Gestern
vom Schlaf gepackt
und plötzlich wieder wach,
sprach ich zum Lehnstuhl hin:
,,Weißt Du, es ist schon spät!“
Da sah ich, daß er leer war.
Das war der tiefste Schrecken.
Das war die Wirklichkeit.
Dich gibt es nicht mehr.“

(Aus dem Gedicht ,,Totenklage“)

Eine solche Erkenntnis von Lebenswirklichkeit und Lebenswahrheit ist nicht das Ergebnis eines Erfahrungsprozesses und eines vollzogenen analytischen Denkprozesses in einem vollzogenen Bewußtseinsprozeß, sondern hier wird jemand schicksalhaft von der Wahrheit getroffen. Der ,,tiefe Schrecken“ ist wie eine Stigmatisierung. Aber auch er ist nichts Endgültiges, auch er ist nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Läuterung durch das Leid, auf dem Weg, den man gehen muß, bis man selber ,,reif wird“. Selbst der Tod, personal erfahren am Verlust der leiblichen Gestaltsgegenwart des geliebten Menschen, des Du, ist kein Ereignis absoluter Endgültigkeit, sondern bildet wiederum einen weiteren Ansatzpunkt im geistig-seelischen Wandlungsprozeß des von diesem Ereignis betroffenen Menschen, der nach dem Abbruch dieser Lebensgemeinschaft zurückbleibt. Die leibliche Gegenwartseinheit ist zerbrochen, nicht aber das Einssein in der Liebe.

,,Noch immer
nähr ich mich
von deinem Dasein …“

(Aus dem Gedicht ,,Noch immer“)

,,Ich muß Dich weitersuchen,
mit Dir sprechen.
Denk an die vielen Fragen,
die wir uns,
die wir einander stellten,
an Namenloses, Unbekanntes auch.
War ich ein Halm,
hast Du mir Halt gegeben.
Sah ich Dich schwanken,
hielt ich Dich umfangen.“

Die Erinnerung an den verstorbenen geliebten Menschen bahnt sich über das Wort, über das Gespräch, den Weg in die Gegenwart. Der Verstorbene ist nicht mehr leiblich anwesend, aber er ist gegenwärtig, ja er scheint immer mehr an bestimmender Gegenwart im Leben des ihn Betrauernden zu gewinnen. Aus der im früheren Zusammensein oft erlebten Sehnsucht nach der Gegenwart des anderen geliebten Du wird die immer stärker werdende Sehnsucht nach einer dauernden und endgültigen Vereinigung mit ihm, nach einer zeitlosen, ewigen Verbundenheit, die auf immer dem Zugriff der Zeit entzogen ist.

,,Und meine Asche
wird bei Deiner liegen.
Ohne Trennung
wird unser Beischlaf sein.“

(Aus dem Gedicht „Schneeflecken“)

Bis dahin aber gilt es auszuharren, die Fremdheit und die Heimatlosigkeit im weiteren eigenen Leben zu ertragen.

Aus dieser Erfahrungs- und Lebenswirklichkeit heraus entstehen Hedwig Katschers Gedichte: aus Schmerz und Trauer, aus dem Gefühl und Bewußtsein der Heimatlosigkeit, der eigenen und der des Menschen überhaupt. Vor allem aber entstehen sie aus einer Gewißheit heraus, daß die Liebe stärker ist als der Tod; daß sie alles überwindet. Und daß wir auf diesem Weg, der von der Frage nach dem WOHIN vorgezeichnet ist, unser Leben erleben, erleiden, erfahren, erdulden, am Ende doch die ,,1ebendige Wahrheit“ finden und erfahren.

„Versteckenspiel – Gedichte von Hedwig Katscher“, Band 23 der Reihe „Lyrik aus Österreich“, herausgegeben von Alois Vogel und Alfred Gesswein. Verlag G. Grasl, Baden bei Wien, 1982.

Peter Paul Wiplinger
Wien/Haslach, 25.-26. Dezember 1982


Genre: Lyrik
Illustrated by Unbekannter Verlag

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