Heleneland

Elsa Rieger hat ihr Meisterwerk geschrieben. »Helene« beschwört wie schon in früheren Büchern der Autorin den Geist der Flower-Power-Ära und wird durchweht von der Musik jener farbenfroh-freigeistigen Zeit.

In diesem Fall ist es der geheimnisvolle Lennon/McCartney-Song vom »Nowhere Man« aus dem Jahre 1965, der den Leser in Form einer Marionette durch das Leben einer jungen Frau begleitet.

Ganz im Sinn des Songtitels ist Riegers Protagonistin Helene Meyerling eine »Frau nach Nirgendwohin«. Das Fräulein sitzt tagaus tagein in Vaters Wäschefabrik und schneidert Dessous, die der geschäftstüchtige Herr Papa zuvor auf Modemessen fotografiert hat. Das Wäscheland ist der Weißnäherin ein Niemandsland, sie kann selbst ihrem langsamen Aufstieg in die Geschäftsleitung wenig Freude abgewinnen. Statt dessen phantasiert sie gern viel und ausufernd. Das Fernweh hat sie fest im Griff; den Rest ihres Lebens will sie keinesfalls im langweiligen Wien in der Gesellschaft öder Unterhosen verbringen. Sie träumt, von einem Ritter entführt zu werden. Doch der lässt auf sich warten.

Denn leider ist Helene ein hässliches Entlein und wird von der Männerwelt ignoriert. Sie empfindet sich als wenig liebenswert. Als ein begehrenswerter junger Mann sie verschmäht, weil ihre Brüste für seinen Geschmack zu klein sind, stopft sie sich mit Tollkirschen voll und wird nur dank ärztlicher Kunst ins Leben zurückgeholt. Künftig weicht sie jenen, die ihr gefallen, aus. Sie will keine Fehler machen und bedient sich deshalb bevorzugt in der Welt der Exoten. Mit dreißig hat sie immer noch keinen Schimmer, wie Liebe sich anfühlt. Helene ist in die Liebe an sich verliebt, sie sucht einen Spiegel, doch das misslingt immer wieder.

Nun teilt sie mit Messerwerfern, Kleindarstellern der Passionsspiele, erfolglosen Komponisten, einem französischen Studenten, den sie für eine große Ratte hält, und Liliputanern mehr oder weniger freudvoll das Bett. Immer wieder fragt sie sich, warum sie nicht so geliebt werden kann, wie sie ist. Was ist nur eklatant falsch an ihr? Als sie schließlich zufällig erfährt, dass sie das Ergebnis eines Seitensprungs ihres Vaters mit einer feurigen Spanierin ist, stürzt sie noch weiter ab.

Sie reist nach Spanien, wo sie auf ihre Großmutter trifft, zu der sie ein inniges Verhältnis aufbaut. Ihre Mutter ist als Flamenco-Tänzerin ständig on the road. Nach der spanischen Oma nennt sie ihr Kind, das sie von Moritz, dem Komponisten, empfängt, Desideria. Doch die Hoffnungen und Wünsche, die der Kindesname ausdrückt, gehen nicht auf. Die Beziehung zum Kindesvater zerbricht und auch das Verhältnis zur Tochter ist alles andere als unbeschwert. Selbst den Phantasien, die wie ein hungriges Krokodil unter ihrem Bett lauern und immer wieder ihren Wachzustand dominieren, kann sie nicht mehr vertrauen. Denn seit sie das Geheimnis um die Zehe ihrer Mutter gelüftet hat, kennt sie den Unterschied zwischen Wahrheit, Realität und der eigenen Wirklichkeit.

Hier soll nicht der Ausgang der Geschichte verraten werden, die den Leser trotz deutlicher Längen zu fesseln versteht, so er sich denn auf ein Leben, das zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt, einlassen mag. Elsa Rieger versteht es jedenfalls, durch Vor- und Rückblenden sowie das ständige Verweben realer und surrealer Ebenen Spannung zu erzeugen und vom Kurs einer linear erzählten Lebensgeschichte abzulenken. Der Roman, aus dem Temperament, Einfühlungsvermögen und Erfahrungsschatz der Autorin schimmern, ist in erster Linie ein Frauenroman. Aber auch der männliche Leser profitiert, weil der Text den Nimbus der starken Frau verdichtet auf den Kern einer sensiblen Persönlichkeit, die verzweifelt ihren eigenen Weg sucht und findet.

WERBUNG[amazon_link asins=’3740744723′ template=’ProductCarousel’ store=’literaturzeit-21′ marketplace=’DE’ link_id=’693b7ec9-5164-4127-870e-27451eca618e’]


Genre: Romane
Illustrated by Twentysix

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert