Mein Nachbar und ich

Mein Nachbar und ichMit Schemaliteratur tue ich mich schwer, und Liebesromane überlasse ich normalerweise denjenigen, die damit etwas anfangen können. Da ich aber Einzeltitel von Kirsten Wendt und Markus Hünnebeck mit Gewinn gelesen habe und immer noch auf der Suche nach der Formel bin, wie Titel es schaffen, über Nacht die Gunst des Publikums zu erobern, habe ich diesen Wechselgesang der beiden Autoren gelesen und es keine Minute bereut.

Der Plot der Geschichte ist überschaubar: Zwei allein erziehende Elternteile lernen sich über ihre Kinder kennen, unterstützen sich bei deren Beaufsichtigung und Betreuung, finden sich anfangs unsympathisch und verlieben sich nach einer Phase behutsamer Annäherung ineinander. Unrealistisch ist das nicht, ich kenne ähnliche Szenarien als langjähriger Hundehalter, bei denen mir mein vierbeiniger Begleiter manche Begegnung mit attraktiven Hundedamen verschaffte …

Wendt und Hünnebeck beschreiben das Miteinander ihrer beiden Protagonisten sprachgewandt und mit großer Leichtigkeit. Er ist 37 Jahre alt und als freischaffender Architekt im Home-Office tätig, sie verkauft Werbeartikel für Mittelstands- und Großunternehmen, verbringt den halben Tag im Auto und saust von einem Termin zum nächsten. Sie ist die ungekrönte Königin der Selbstzerfleischung und entspricht dem allgemeinen Beuteschema mit guter Figur, sexy Ausstrahlung und selbstbewusstem Verhalten. Er sieht gut aus, erweist sich als fürsorglicher Vater, kann kochen und strahlt eine gewisse Dominanz aus. Bei beiden geht die Liebe über den Magen.

Was nun im richtigen Leben oft recht schnell in der Horizontalen mündet, dauert im Buch wesentlich länger und erstreckt sich mit vorsichtigem Tasten, Zögern und Annähern über das gesamte Buch. Erst bei 58 Prozent drückt er sein linkes Bein gegen ihr rechtes, bei 59 Prozent legt er eine Hand sanft auf ihren Oberschenkel, bei 61 Prozent legt er seine Hand auf ihre, und bei 70 Prozent gibt es einen fünfminütigen Kuss, als hätten die beiden fünf Stunden heißen Sex gehabt. – Wie es danach weitergeht? Das sei hier nicht verraten…

Die Zielgruppe für dieses Buch dürfte überwiegend weiblich sein. Das Zusammenspiel der beiden Autoren ist stimmig, das Experiment ist insofern gut gelungen. Es macht Freude, den Irrungen und Wirrungen der beiden Protagonisten zu folgen, und selbst ein eingefleischter Liebesroman–Abstinenzler kann Spaß bei der Lektüre haben.


Genre: Liebesroman
Illustrated by Kindle Edition

Otis

Es gibt Bücher, die einen ratlos zurücklassen, bei deren Lektüre man sich ernsthaft fragt, was in aller Welt der Autor hat mitteilen wollen.

Schlimmer noch: Wollte er dem Leser überhaupt etwas mitteilen oder wollte er einfach nur mal all seine Gedanken aufschreiben und loswerden? Am allerschlimmsten: Wenn man am Ende des Romans angelangt ist, es nicht ungern gelesen und sich nicht gelangweilt hat, aber trotzdem nicht weiß, ob einem das Buch gefallen hat, ob man aus der Lektüre jetzt etwas für sich mitnimmt. So ein Buch ist für mich „Otis“, der erste Roman von Jochen Distelmeyer, dem hochgelobten Sänger und Texter der ehemaligen? wiedervereinigten? (man weiß es derzeit nicht so genau) Hamburger Band Blumfeld.

Distelmeyer erzählt vom Leben, Wirken, und Denken seines Helden Tristan Funke, von seinen wolkigen Träumen und seinen gelegentlichen Stippvisiten auf dem Boden der Realität. Tristan ist erst vor kurzem von Hamburg nach Berlin gezogen, um über die Trennung von seiner langjährigen Liebe hinwegzukommen. Einen gutbezahlten Job hat er deswegen geschmissen, nun ist er unter die Schriftsteller gegangen. Sein Thema ist die Odyssee, darunter macht er es nicht. Natürlich übertragen in die Neuzeit. Sozusagen Metaebene auf der Metaebene in der Metaebene.

Der Held in Tristans Buch ist Otis, ein moderner Anti-Held auf der Flucht, angelehnt an die Figur des berühmt berüchtigten Kim Dotcom. Während Tristan – meist erfolglos – an seinem Buch rumdoktert, erlebt er in der Hauptstadt so etwas wie seine persönliche Odyssee.

In Tristans Lebens gibt es genug, wovor er nur zu gerne flüchten mag. Vor gleich zwei Frauen, mit denen er zeitgleich Liebschaften unterhält, während er sich eigentlich eher für eine Dritte interessiert. Vor dem Intellektuellen-Gehabe der neugewonnenen flüchtigen Hauptstadt-Bekanntschaften, mit denen er doch eigentlich so gerne konkurrieren möchte. Vor dem ganzen Elend bundesrepublikanischer Wirklichkeit in den Zehner-Jahren des noch jungen Jahrtausends. Tristan – so scheint es – ist geradewegs von der Pubertät in die Midlife-Crisis gerutscht.

Jochen Distelmeyer ist ein belesener, ein gebildeter, sehr kluger Mensch, der kluge Gedanken noch klüger zu formulieren weiß. Er kann wunderbar mit Worten umgehen, sie zu melodischen, lange nachklingenden Sätzen zusammensetzen. Es ist eine Freude, diese Sätze zu lesen, einfach um der Sätze willen. Formulieren also kann er, eine Handlung stringent erzählen hingegen eher nicht.

Wikipedia merkt zur Band Blumfeld an, dass deren Texte „eigene Gefühlswelten mit Gesellschaftskritik“ verbinden. Sehr gelungene Formulierung, die sich eins zu eins auf „Otis“ übertragen lässt. Denn genau das ist es, was in diesem Buch passiert. Nicht weniger, aber leider auch nicht mehr. Das, was in Songtexten so ganz wunderbar funktioniert, lässt sich eben nicht so einfach in Romanform übertragen. Zumal die Gesellschaftskritik an jeder Stelle so wirkt, als habe Distelmeyer sie einfach unbedingt unterbringen wollen, um jeden Preis. Auch um den Preis, dass die behandelten Themen selten etwas mit der ohnehin schon recht dürftigen Romanhandlung zu tun haben. Schlussendlich hat man das Gefühl, einfach nur aneinander montierte Szenen gelesen zu haben, die sich bei allem spürbaren Bemühen einfach nicht verdichten wollen.

Distelmeyer scheint wie sein Protagonist Tristan der Meinung zu sein, dass die Bevolkerung quasi in der „Sicherheit ausländischer Krisensituationen gewiegt wird“, während „allen im Innersten längst klar ist, dass das Spiel an sich längst gelaufen ist.“ So. Das muss mitgeteilt werden, das muss endlich mal allen klar werden. Und wenn man es in einen Roman presst, damit es nicht nur eingefleischte Blumfeld Anhänger zu hören/lesen kriegen.

Das liest sich streckenweise spannend, zum Beispiel wenn Distelmeyer sein schwelendes Unbehagen am Umgang mit jüngerer deutscher Geschichte am Beispiel des Berliner Holocaust-Mahnmals erzählt. Da ist es eigenartig berührend, wenn man selbst miterlebte Geschichte in Romanform erzählt bekommt und gleichzeitig bestürzend offenlegend, wie absurd doch so vieles ist.

Aber kein Thema ist abseitig genug, um nicht irgendwie noch in den Roman hineingequetscht zu werden. Wozu geht Tristan auf schicke Partys, wenn nicht, um die dort entstehenden Dialoge für Gesellschaftskritik zu nutzen? Da kann man gerne schon mal über Cern in Genf als das „Ground Zero für Urknall-Traumatisierte“ philosophieren. Schön formuliert, griffig, wohlklingend, aber was genau soll das dem Leser jetzt sagen?

Überdruss macht sich da schnell breit, vor allem auch, wenn kaum einmal etwas auch von einem zweiten Standpunkt aus betrachtet und so ungewollt das Vorurteil vom weltfremden Kulturschaffenden genährt wird. Sehr schön zu sehen am Exkurs über den Verlag Behrmann, wohl angelehnt an die jüngere Geschichte des Suhrkamp-Verlags. Alles richtig, alles wahr, aber alles auch nur aus der Sicht des Literaten betrachtet. Dass es auch noch andere Dinge gibt, die das Zusammenleben regeln, Gesetze beispielsweise – das schenkt Tristan/Distelmeyer sich durch elegantes Weglassen. Dadurch reduziert er seine ihm doch so am Herzen liegende Gesellschaftskritik auf eine trotzige Pippi-Langstrumpf-Ich-mach-mir-die-Welt-wie-sie-mir-gefällt-Attitude.

Dazu kommt, dass vieles im Buch sehr Berlin-spezifisch ist und für den, der nicht so mit der Welt der Promis und Hipster in der Hauptstadt vertraut ist, schwer zu enträtseln. Kann man sich immerhin gut in Tristan hereindenken, dessen nordisch-grüblerisches Wesen in der Hauptstadt auch weit weniger gefragt ist als das im Buch nicht ungeschickt gezeichnete intellektuell verbrämte, überhebliche Weltenerklärer-Gehabe. Tristan befindet sich da in einem Zwiespalt und Distelmeyer mit ihm. Nie weiß man genau, was ihn eigentlich treibt und schon gar nicht warum. Wut? Überhöhtes Selbstverständnis? Resignierte Melancholie der intellektuellen Boheme?

Viel authentischer, viel empathischer und glaubwürdiger wirkt Distelmeyers Roman dafür an den Stellen, an denen er die Gesellschaftskritik einfach beiseite lässt und von den Leuten erzählt, mit denen Tristan sein Leben verbringt. Cousine Juli und Freund Ole beispielsweise sind so fein entworfen, so lebensnah, darüber hätte man gerne mehr gelesen. Genauso wie über das Romangeschehen auf der Meta-Ebene. Die Geschichte von Otis als modernem Odysseus ist eine großartige Idee, liest sich auch in Ansätzen so schön, dass man sich bei dem Gedanken ertappt, lieber als Tristans Irrwege durch Berlin hätte man diese Geschichte gelesen. Doch auch Distelmeyers Auslassungen zu Odyssee und Orestie sind weit hergeholt und verschwurbelt. Es ist eine Odyssee der Ziellosigkeit.

Erstveröffentlichung in den Revierpassagen am 20.04.2015 


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Weltberühmt durch Self-Publishing

weltberuehmt_cover_400pxDas Buch beginnt mit einer Kulturgeschichte von Sprache und Schrift und beschreibt eindrucksvoll, wie gerade das geschriebene Wort von den Herrschenden systematisch als Machtinstrument missbraucht wurde; ein Umstand, der erst mit der Erfindung des Buchdrucks korrigiert wurde.

Aber auch danach war das Leben der Literaten kein Ponyhof, nur die wenigsten konnten sich mit ihrer Kunst auch versorgen, damals wie heute. Um überhaupt einen Fuß in die Tür des Literaturbetriebs zu bekommen, investierten etliche Autoren der Geschichte in die Publikation der eigenen Werke. Und das waren nicht die Unbegabtesten, zum Beweis ruft der Verfasser nicht weniger als elf Nobelpreisträger in den Zeugenstand.

Ruprecht Frieling verfügt selbst über jahrzehntelange Erfahrung im Verlagswesen und Self-Publishing und ist natürlich prädestiniert, dieses lehrreiche und auch stets unterhaltsame Werk vorzulegen. Er macht darin all den Schreibenden Mut, die bisher noch nicht »entdeckt« sind, nicht aufzugeben, getreu dem Motto »Folge Deinem Stern!«


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Wald

Ein Haus in den Voralpen. Tief im Wald, in der Nähe ein Fluss, Idylle pur. Marian lebt allein in diesem Haus. Im Garten baut sie Gemüse an. Davon und von dem, was sie sonst noch so findet, ernährt sie sich.

Ab und an angelt sie ein Festmahl, dazu gibt es selbstgebackenes Brot, zum Dessert einen selbstgebackenen Apfelkuchen. Wärme spendet ein Holzofen, befeuert aus dem sorgsam gestapelten Holz hinter dem Haus. Ihr Tagesablauf wird nur durch die Grundbedürfnisse vorgegeben: Essen, schlafen, es warm haben. Keine Termine drängen sie, Telefonate führt sie nur äußerst selten, einen Email-Account besitzt sie nicht mehr. Ihre Kleidung näht sie aus alten Stoffresten, das kann sie besonders gut, das hat sie gelernt.

Denn – das ist die Kehrseite der Medaille: Kleider entwerfen, das war ihr Beruf, ihre Berufung. Marian ist nicht freiwillig dort in diesem Haus im Wald. Ihre primitive Autarkie ist unfreiwillig, sie hat alles verloren. Noch vor wenigen Monaten lebte sie als gefeierte Designerin in der Großstadt und schneiderte den Damen der Gesellschaft edle Roben auf den Leib. Sie residierte in einer hochherrschaftlichen Wohnung, ernährte sich biologisch wertvoll und hätte niemals diesen schnöden Filterkaffee getrunken, der sie heute so beglückt.

Doch dann kam die Finanzkrise und fatalerweise ignorierte sie die ersten warnenden Anzeichen. Die Vorstellung, irgendwelche Lehman-Brüder, von denen sie nie gehört hatte, könnten sie und ihr Geschäft bedrohen, empfand sie einfach nur als absurd. In einer fatalen Mischung aus Größenwahn und hormonvernebeltem Tun ob des neuen attraktiven Lovers eröffnete sie einen Flagship-Store, dessen Miete sie bald nicht mehr bezahlen konnte und segelte unaufhaltsam in einen spektakulären Bankrott.

Ihre Schulden sind so hoch, dass ein Leben alleine niemals reichen würde, um sie abzuzahlen, auch wenn sie sich zunächst als Näherin am Stadtrand die Finger blutig näht. Dann lieber der totale Rückzug in den Wald, in ein Haus, das ihr niemand nehmen kann, weil es ihr gar nicht mehr gehört. Es ist das Erbe einer Tante und in einem Moment der Klarsicht hat sie es auf ihre Tochter überschrieben. Die Tochter, die sie kaum kennt, weil sie das Kind der Karriere wegen beim Vater gelassen hat.

Geschickt spielt die österreichische Autorin Doris Knecht in ihrem neuen Roman „Wald“ mit zwei großen Themen, die derzeit die Mittelschicht umtreiben: die Sehnsucht nach dem sogenannten einfachen, selbstbestimmten Leben auf dem Lande und die Angst vor dem Absturz aus der bürgerlichen Welt, der angesichts immer neuer Unsicherheiten stets nur einen Schritt entfernt zu sein scheint.

Man nähert sich dieser Erzählung mit schon fast voyeuristischer Neugier. Nicht, dass man sich am Unglück von Marian (die eigentlich Marianne heisst, die vermeintlich schicke Abkürzung bewahrt sie als letzte Reminiszenz an ihr altes Leben) weidet. Nein, es ist jedem klar, dass es passieren kann, jederzeit und überall. Auch Marian hat keine gravierenden Fehler gemacht, „manchmal übernehmen eben die Umstände das Leben“. Als Leser will man wissen, wie es sein wird, wie es sein kann, wenn die Existenz zerbricht und man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Gibt es dann wirklich eine Chance für das Aussteigerleben, von dem so mancher heimlich träumt?

Doris Knecht, deren erster hochgelobter Roman „Gruber geht“ bereits verfilmt wurde, ist für ihre messerscharfen Analysen von Lebenssituationen bekannt. Eindeutige Antworten gibt sie hingegen nie, auch in „Wald“ nicht, Schlußfolgerungen überläßt sie dem Leser. Bei ihr gibt es kein „richtig“ oder “ falsch“, weder verherrlicht sie das Aussteigerleben, noch verdammt sie das snobistische Dasein in der Stadt. Auch ihre Figuren haben Brüche und Widersprüche. Ihre Marian zeichnet sie distanziert, geradezu kühl. Dass man sich ihr als Leser trotzdem nahe fühlt, liegt an der Projektion, die man unwillkürlich vornimmt. Ein Stückchen Marian steckt in jedem von uns und wenn nicht, kennt doch jeder eine Marian in seinem Umfeld.

Doris Knechts Marian bleibt allen Widrigkeiten und gelegentlichen Anfällen von Resignation zum Trotz eine Kämpferin. Sie entdeckt unbekannte Fertigkeiten und Talente an sich. Dinge, die sie früher unbekümmert „outsourcte“, gehen ihr nun leicht von der Hand. Ein Opfer ist sie nicht, war sie nicht und will sie auch jetzt nicht sein, wo sie zu allem Überfluss auch noch von der alteingessenen eingeschworenen Dorfgemeinschaft angefeindet wird.

Allerdings gibt es da noch Franz, den heimlichen Herrscher über das Land, auf dem sie lebt. Franz, der Großgrundbesitzer, der sich um sie und ihre Holzvorräte kümmert, ihr kleine dringend benötigte Geschenke macht und sich seine vorgeblich nächstenliebende christliche Fürsorge in der einzigen Währung bezahlen lässt, die Marian noch geblieben ist. Diese Beziehung läßt sich nicht so einfach in ihr neugezimmertes Weltbild einordnen. Wird sie dadurch wirklich zur „Hur“, wie ihr ein Unbekannter auf die Haustür geschmiert hat? Oder hat nicht jede Beziehung letzten Endes ihre eigene Ökonomie?

Doris Knecht erzählt klar, uneitel und ohne jede Sentimentalität. Obwohl man der Autorin eine gewisse Affinität zu Schachtelsätzen nicht absprechen kann, erzählt sie den Roman in hohem, forderndem Tempo, die Härte vieler Sätze lediglich durch österreichische Klangfärbung abgemildert. Und ihr Roman endet mit einem Lichtblick.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen am 13.07.2015 


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Die Abtaucher

Als ausgewiesener Schalke-Fan in der „verbotenen Stadt“ Dortmund arbeiten zu müssen, dann noch ein wandelndes Beispiel für die alte Fußballer-Weisheit „Knie heilt nie“ zu sein und als krönende Dreingabe einen Assistenten, der sich trotz oder wegen seines Atze-Schröder-Stylings als unermüdlicher Playboy gefällt – Kriminalkommissar Georg Schüppe hat mehr als ein Problem. Da fällt sein ungeliebter Spitzname „Der Spaten“ schon kaum mehr ins Gewicht.

Derart vom Leben gebeutelt, macht er sich eher widerwillig auf zu seiner neuesten Ermittlung. Ein toter Einbrecher in einem Dortmunder Zechenhaus verspricht nun auch nicht gerade die dollste Ablenkung. Weder für ihn noch für Polizeireporter Tom Balzack, der sich mehr schlecht als recht mit seiner kleinen TV-Firma als Sensations-Zulieferer für den Boulevard durchschlägt. Doch nicht lange und der kleine Routinefall wird undurchsichtig. Drei weitere Morde folgen und an den weit voneinander entfernten Tatorten finden sich DNA-Spuren des Einbrechers aus dem Zechenhaus. Der jedoch befand sich zum Zeitpunkt der drei Morde schon in fortgeschrittener Totenstarre.

Wer legt da eine falsche Fährte und vor allem warum? „Der Spaten“ sieht die Zusammenhänge nicht, vielleicht will er sie auch gar nicht sehen. Die vage Ahnung, dass dieser Fall etwas mit ihm und seiner traurigen Vergangenheit zu tun haben könnte, lässt er zunächst nicht zu. Somit schlägt die Stunde des Reporters. Balzack ist chronisch pleite, der Konkurrenzdruck groß, ihn kann nur noch die eine, die ganz große Geschichte retten. Er erkennt den Zusammenhang zwischen den Morden, er kennt „Die Abtaucher“ aus der sogenannten guten Gesellschaft, die nun in der verqueren Logik eines Killers für einen Augenblick der Unachtsamkeit bezahlen müssen.

„Die Abtaucher“ ist das gelungene Krimi-Debüt des Journalisten Thomas Schweres und weit mehr als nur ein weiterer halbwegs gelungener Regional-Krimi. Der gebürtige Essener Schweres lebt als Schalke-Fan „undercover“ in Dortmund und treibt sich mit seiner TV-Firma vorzugsweise auf dem Boulevard herum. Ähnlichkeiten zum Protagonisten Balzack dürften also nicht rein zufällig sein.

Thomas Schweres ist ein genauer Beobachter, den versierten Rechercheur merkt man durchgängig. Er weiß genau, worüber er schreibt, in seinen langen Reporterjahren ist er zum genauen Kenner der Ruhrgebiets-Szene geworden. Die Liebe zum Pott schimmert durch, aber auf nett gemaltes Lokalkolorit beschränkt er sich dabei dankenswerterweise nicht. Schweres scheut sich nicht, auch die unangenehmen, schwierigen Seiten des Ruhrgebiets aufzuzeigen. Ob es um Schutzgelderpressungen, den Tagelöhner-Strich, die vergifteten Monte Schlackos geht – Schweres redet Tacheles. Wer jemals länger in einem Stadtteil gearbeitet oder gelebt hat, in dem ganz eigene Gesetze herrschen und der von der Obrigkeit als aufgegeben bezeichnet werden darf, weiß, wovon Schweres redet und liest die entsprechenden Seiten mit einem sonderbares Gefühl der Dankbarkeit dafür, dass es endlich einer ungeschönt ausspricht. Dazu gönnt der Kenner des Boulevards dem Leser amüsante Einblicke in das umkämpfte Geschäft mit dem Sensations-Journalismus.

Thomas Schweres schreibt kurz, knackig und durchgehend flüssig. Wie man einen Plot aufbereitet und den Leser häppchenweise bei der Stange hält, weiß er aus seinem Tagesgeschäft und übertragt das gekonnt und mit gelegentlichem Augenzwinkern in die Romanform. Der Plot an sich ist stimmig, auch wenn man heutzutage anscheinend in keinem einzigen Krimi mehr auf persönliche Involvierung der ermittelnden Kommissare verzichten kann. Alles in allem spannende Lektüre, mit der nicht nur Ruhrgebiets-Liebhaber richtig aus dem Alltag abtauchen können.

Interessanterweise ist unter den Protagonisten kein einziger richtiger Sympathieträger, aber der Autor schafft das Kunststück, dass man dem Kommissar, dem Reporter und seinen Mitstreitern ein gutes Ende wünscht. Den meisten jedenfalls. Wahrscheinlich, weil man sie alle irgendwoher kennt. Im Zweifelsfall aus der Nachbarschaft.

Erstveröffentlichung in den Revierpassagen am 02.12.2014


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Grafit Dortmund

Gemeinwohlökonomie

Das Werk stellt im essentiellen Sinn gesellschaftliche Verhältnisse „vom Kopf auf die Füße“. Nicht weiter soll die pure Zunahme von finanziellen Mitteln den Reichtum einer Gesellschaft anzeigen, sondern Geld wird zum Mittel, ein Mehr an Freiheit, Lebensglück, Sinnhaftigkeit und Solidarität zu erlangen. Der Unfug, dass im wirtschaftlichen Bereich entgegengesetzte Werte herrschen als wir uns in privaten Beziehungen wünschen – nämlich Konkurrenz und Übervorteilung statt Zusammenhalten, Teilen und Vertrauen – soll menschlichkeitsstiftend beendet werden.
Gefordert wird demgemäß das Umstellen der Finanzbilanz von Unternehmen auf eine Gemeinwohl-Bilanz. Je sozialer, demokratischer, ökologischer, solidarischer Unternehmen handeln, desto mehr Punkte in der Gemeinwohlbilanz erlangen sie. (Und kommen damit in den Genuss von Förderungen und Krediten sowie das Vertrauen der KundInnen). Auf der volkswirtschaftlichen Ebene wird das BIP durch das Gemeinwohl-Produkt abgelöst.

Felber verortet dieses System in die Marktwirtschaft (aber keine kapitalistische), da ja private Unternehmen nicht durch staatliche ersetzt werden sollen, sondern deren Zielsetzung durch Interventionen wie Förderungen zu solidarischem, nachhaltigem, natur- und menschenfreundlichem Verhalten umgepolt wird.
Die Mehrzahl der (gerade heimischen Unternehmen) stelle ohnehin keine gr
oße Bedrohung für Demokratie und Menschlichkeit dar, die augenfällige Machtkonzentration der Multis und Großbanken würde aber gerecht beschnitten.
Die Börsen bzw. das Finanzkasino zu schließen beendet ebenso wie Abschaffung von Zins und Aktionärs-Dividende die alleinige Fokussierung aufs Geldmachen. Betriebe können beim Format ihrer optimalen Größe verbleiben, statt unbedingt wachsen zu müssen, um Kreditschuld und Konkurrenzdruck standzuhalten. Die horrenden Einkommensunterschiede sollen gerechteren Verhältnissen weichen, in dem kein Manager beispielsweise mehr als das Zehnfache des gesetzlichen Mindestlohns verdient. Das Erbrecht wird dahingehend reformiert, dass eine „demokratische Mitgift“ gleiche Chancen für alle ins Erwerbsleben Einsteigenden schafft. Das verhindert die Zuspitzung feudaler Verhältnisse, wo die 3 % der Reichsten, die 8o % des Vermögens besitzen, vermittels ihrer Kinder Geldkonzentrationen in undemokratischen Ausmaßen produzieren. Ab einer gewissen Betriebsgröße gehen zudem Firmenanteile an Mitarbeiter über und ebenso Mitspracherechte. Es ist nicht einzusehen, warum das gerade heute so eifrig beschworene Prinzip der Demokratie nicht innerhalb des Alltags im täglichen Arbeitsprozess gilt, wo wir grad alle 5 Jahre einmal eine Regierung wählen dürfen. Felber schlägt dementsprechend umfangreiche Reformen hin zu einer direkten Demokratie vor.

Eine demokratische Bank gewährleistet zinsenfreie Kredite an Gemeinwohlunternehmen, die ökologische, nachhaltige und soziale Projekte initiieren; auf internationaler Ebene ist der Globo oder Terra Garant für ein funktionierendes, den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr regelndes Zahlungsmittel, das durch Regionalwährungen zur Ankurbelung lokaler Projekte ergänzt wird. Spareinlagen werden garantiert, nicht nur weil es krisenanfällige und Dilemmata auslösende Finanzmärkte in der heutigen Form nicht mehr gibt.

Ich finde, dass Felber zum revolutionären, visionären Entwurf einer gerechteren Zukunft unverhohlen konkret auch die Schwierigkeiten bei der Umsetzung benennt.

Die meisten von uns sind extrinsisch motiviert: d.h. sie besitzen wenig Selbstwertgefühl, sind kaum durch innere Sinnhaftigkeit und Freude angespornt sondern bloß durch von der Gesellschaft oktroyierte (Un-)Werte. Bessersein, erfolgreich, einzigartig, besonders sein heißen die „Werte“ einer Kultur, die auf geringem Selbstwahrnehmungsgefühl, auf keinerlei Urvertrauen basiert. Ich schrieb an anderer Stelle, dass eine Gesellschaft, die selbstbestimmte Menschen verhindert, uns leicht allerlei Unsinn einreden kann, der fürs angebliche Glück benötigt wird. Zur Selbstbestimmung zählen meiner Ansicht nach neben dem Vorhandensein des Urvertrauens, eine hohe inter- und intrapersonale Intelligenz und Empathie. Felber wiederrum fordert eine Bildungserweiterung, bei der Kinder den Wert von Emotionen lernen, solidarisches Handeln, Kooperation, das Annehmen des eigenen Körpers und die Liebe zur Natur. Gerade die am gierigsten sich an äußern Werten wie materiellen Reichtum und Ansehen klammernden sind oft die unglücklichsten Menschen. Ihr Weltbild sich diktieren zu lassen stürzt die Mehrheit ins Unglück und zerstört Natur und Planeten. Warum sollen wir ihnen in den Abgrund folgen?

Die Stärke der Gemeinwohlökonomie liegt darin, dass sie keine realitätsfremde Utopie darstellt, sondern jeder einzelne zu ihrer Umsetzung beitragen kann, sei es als verantwortungsvoller Konsument, der fair gehandelte ökologische Produkte kauft und frägt, ob der Betrieb eine Gemeinwohlbilanz erstellt oder als Initiator von Gemeinwohlunternehmen, wie sie bereits in beachtenswerter Menge existieren. Wir brauchen nicht auf das Subjekt der Geschichte warten, wie es Marx in der Arbeiterklasse vermutete – quer durch alle Gesellschaftsschichten finden sich Unterstützer und Akteure der Gemeinwohlökonomie. Die Schwierigkeit wird wohl dennoch darin liegen, die narzisstische Psyche, die in unseren Breiten herrscht, soweit mit Mitgefühl und Leben zu erfüllen, dass Gerechtigkeit, Einfühlungsvermögen und Solidarität, nach dem Werteverlust durch die Postmoderne, wieder zu anstrebenswerten Inhalten erhoben werden. Nur so können Ich-Sucht, Gier und Neid von uns abgeschüttelt werden – möglicherweise erst nach einer – alle betreffenden – absehbaren Krise (der Wirtschaft wie der Umwelt).


Genre: Sachbuch
Illustrated by Deuticke Wien

Schweres Gift

Der zweite Krimi des Autors weist eine ähnlich hohe Qualität wie der vielbeachtete Debütroman (Kreuzigers Tod) auf.
Ein Mord in der Wiener Musikszene verschafft dem Leser einen schimmernden Eindruck des Wiener Lokalkolorits. Dabei gelingen Oberdorfer bei Gesprächen der Figuren über Musik (von klassischer bis in die Gegenwart) spektakuläre Sequenzen. Die anspruchsvolle Charakterisierung der unterschiedlichen Personen der Handlung gewährt tiefe Einblicke in die menschliche Psyche. Speziell beim „Schlussmonolog“ des/der trickreich überführten Mörders/Mörderin (genaues soll ja nicht verraten werden) leuchtet Oberdorfer stimmig düstere Winkel der menschlichen Seele aus. Zudem erhellt kritisches Licht die abgründigen Seiten einer städtischen Oberschicht. Pervertierungen, Komplotte innerhalb des Beamtenapparats, Korruption und Manipulationen der Öffentlichkeit werden höchst glaubwürdig zum spannenden Teil der facettenreichen Handlung.

Mit „Schweres Gift“ legt Oberdorfer ein hochwertig geschriebenes Stück Literatur vor, die durchs Korsett des Krimis fast zu eng geschnürt scheint. Oder positiv formuliert: die literarische Sprache des Autors sprengt den engen Rahmen eines Krimis, was bei dem einen oder anderen Leser vielleicht zu Irritationen führen mag.
Einer Leserschaft, die qualitätsvolle Krimis schätzt, ist der Roman aber ausdrücklich zu empfehlen.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

New Cage

Ein in jeder Hinsicht wichtiges Buch! Ich möchte diese Rezension nicht weniger derb beginnen, weil „New Cage“ sowohl zur Lektüre jedes spirituell Interessierten als auch des chronischen Kritikers jeglicher Esoterik zählen sollte.

Die Krux am gesellschaftlichen Diskurs ist doch, dass es über „Esoterik“ keinen gibt. Die Linke hat mit diesem garstigen Thema gar nichts am brennenden Hut – ist einfach außer jeder Kritik; die Konservativen wollen keine Konkurrenz durch Diskussion salonfähig machen; eingefleischte Atheisten scheinen sich wie der Teufel vorm Weihwasser zu fürchten.
Daher ist die Unternehmung Johannes Fischlers aufs äußerste zu begrüßen. Er schafft eine wertvolle Basis für einen fundierten Diskurs, der unerlässlich sein sollte, vor allem wenn man davon ausgeht, dass eine Grundannahme des Autors stimmt. Nämlich, dass die Esoterik bereits mitten in der Gesellschaft angekommen sei. Mit zahlreichen Beispielen belegt er diese These – etwa würden Schulklassen auf Esoterikfachmessen gekarrt, um Kinderenergiearbeit (und Kinderschutzengelkommunikation) kennenzulernen. Das WiFi fördert Kurse, in denen man/frau sich nach „Kryon“-Ausbildungskonzepten zum Energie-, schlimmer noch: Lichtarbeiter umschulen lassen kann. Und Geistheiler kann man durch staatliche Legitimation werden, wenn man den entsprechenden Gewerbeschein der österreichischen Wirtschaft ersteht.

Kein esoterisch denkender/glaubender Mensch kommt ohne Engelsprays oder Engelkarten (die oftmals im Set feilgeboten werden) oder allerlei anderen Tand aus, was zu einer zweiten Hypothese des Autors führt: dass die esoterische Spiritualität 2.0 vor allem eine riesige Geschäftemacherei im Sinne gewiefter Werbe-Strategen sei.
Den Kunden – die heute nicht in Sekten organisiert sind, sondern in Onlineforen bzw. -gruppen Lehr-CDs und Engelsprays bestellen können – werden von ihren Geschäftsmeistern Aufträge mitgegeben, die Welt ins Licht zu führen, Planentenarbeiter zu werden, die Energie der Erde anzuheben etc. – so kaufen sie gern im Bewusstsein ihrer Wichtigkeit: missionieren sowie verkaufen in einem Atemzug. Fischler stellt recht klare Bezüge zur Konsumwelt her, in der der Trend zur Super-Marke, zum Mega-Brand unübersehbar ist, der zugleich den Konsumenten zum Spezialisten und Kenner (etwa der feinsten neuen Kaffeekapseldüfte) erhöht. Ähnlich funktioniert das Geschäft mit der Esoterik: jeder Lichtarbeiter kann sich eingeweiht schätzen und damit auch noch Geld verdienen (versuchen). Ich verstehe diesen Drang aus einer entfremdeten Arbeitswelt aussteigen zu wollen und auf einer Ebene zu arbeiten, in der das eigene Heil, Gesundheit, Glück erreichbar scheinen und gleichzeitig der Lebensunterhalt zu bestreiten ist. Leider aber werden damit zahlreiche ehrlich Sich-Bemühende zu Opfern, die gleichzeitig als Täter fungieren. Sie führen nicht ins, sondern hinters Licht. Fischler unterscheidet in seinem Werk zwischen spirituellen Methoden wie Meditation, Yoga, Chi Gong und Konsumesoterik. Er bestätigt das Bedürfnis in einer entindividualisierenden und entseelenden Zeit nach Identität und Erfüllung zu suchen: Sehr deutlich lässt er uns wissen, wie dieses Bedürfnis gerade in der Esoterik 2.0 korrumpiert, manipuliert und ins Gegenteil verkehrt wird.

Fischler spricht von der Re-sakralisierung der Welt in Folge der eher agnostischen Jahrzehnte der Vergangenheit. Doch Spiritualität, die zu Luxusartikeln verkam, die der auf Markenprodukte geeichte Konsument noch zu seinem Image hinzufügt, um ein bezauberndes Ich in die Welt zu stellen – damit hat Spiritualität, die nicht auf Schein und Selbstinszenierung abzielt, sondern auf psychisches/seelisches Wachstum nichts gemein. Fischler arbeitet einen Effekt heraus, der tiefer ins Elend, statt zur Befreiung führt: je massiver sich der Eso-Suchende mit scheinspirituellem Tand umgibt, desto schneller muss er sich nach weiteren Dingen umsehen, damit die scheinbare Wirkung nicht verfliegt, der Engelsduft sich nicht verflüchtigt. Damit gerät der Eso-Konsument (der aber als Lichtarbeiter ja gleichzeitig heilige Tupperware verhökert) in eine Teufelsspirale. Einerseits mag diese ihn in den Abgrund der materiellen Verelendung reißen (wenn alles Geld für diverse unmöglichen Quacksalber-Produkte und Kurse verpulvert wurde), anderseits kommt`s möglicherweise bald auch psychisch zum Burnout. Um nichts von der wirklichen Welt in sein Denken einzulassen, muss der Engel-, Planeten- und Allarbeiter ständig nach neuen Angeboten der sakralen Konsumwelt suchen, um seine Scheinidentität aufrechtzuerhalten. Er benötigt zunehmend schneller frische „Systeme“, um Praktisches, Lebenswichtiges und Notwendiges sowie seine eigenen Zweifel und Ängste zu verdrängen. Das schafft eine weit abgehobene Persönlichkeit (die im Zeitalter des Narzissmus noch nicht sonderlich auffallen würde), vor allem aber eine Psyche, die vermittels sämtlicher aus der Psychoanalyse bekannten Abwehrmechanismen Realität derart verleugnet, dass letztlich der Feind im Außen gleichermaßen an Gewaltigkeit zunimmt, wie eigene unerwünschte Impulse verdrängt werden müssen. Anzunehmen ist auch, dass nicht alles so läuft, wie es der Glücksarbeiter gern hätte und dem (teuflischen/dämonischen) Außen dafür Schuld gegeben werden muss. Hier zeichnet sich eine politisch äußerst gefährliche Entwicklung ab, die nur im ernsthaften und bemühten Diskurs aller mit Vernunft Ausgezeichneten und mit einem liebevollen Herz Begnadeten abgewendet werden kann.

Nicht zustimmen vermag ich des Autors Rekurs auf überholte Entwicklungsmodelle des Ich-Konzepts, wie sie uns reduktionistische Wissenschaft einreden will. Eine spirituelle Psyche ist keineswegs eine regredierte, Fischler (ver)mag nicht im Sinne Ken Wilbers zwischen prä- und transpersonalen Entwicklungen zu unterscheiden. Für den Eso-Narzissten gilt jedoch leider sehr wohl, dass nicht reifere Ich-Strukturen aufgebaut werden, sondern eine Schein-Identität von Besonderheit, Spiritualität, Einzigartigkeit die innere Leere übertüncht. (Was für den Narzissten, der wissenschaftlich tätig ist, ebenso gilt; Spiritualität ist halt dann durch den Allmachtglauben der Wissenschaft ersetzt). Der Mystiker weiß aber, dass jenseits des abgeschotteten, isolierten Modernen-Ich eine Dimension der Erfahrung existiert, die sein Dasein unendlich bereichert. Der Mystiker weiß allerdings auch, dass Engel selten zum Menschen sprechen – und wenn, dass ihn diese Erfahrung bis ins Mark erschüttert, und die infantilisierten Engel des Eso-Betriebs, die eher wie Heinzelmännchen wirken, die man auf astraler Ebene für sich schuften lassen will, schon gar nichts damit gemein haben. Den Irrglauben beständig Botschaften aus dem Himmelreich, anderen Planeten, anderen Dimensionen channeln zu können/müssen, sollte wirklich schleunigst ein heiliger Riegel vorgeschoben werden. In Engelsprays sind keine Engel zerstampft oder destilliert, Engelsalben aus Energie gibt’s nicht, und allerlei anderer Unsinn wäre einfach mit dem Begriff der Quacksalberei aus den Verkaufsregalen der Drogeriemärkte zu verbannen.

Traurig ebenfalls, dass heute Kinder als Partnerersatz missbraucht werden (lt. Winterhoff u.a.). Furchtbar, wenn sie zu Indigo- oder Kristallkindern stilisiert werden, womit man ihnen eine normale Kindheit raubt, weil man sie auf ihre besondere Rolle vorbereitet (die auch auf die Eltern zumindest violett abfärbt), sie damit jedoch hundertprozentig ins narzisstische Größenselbst und in egomanische Allmachtphantasien treibt. Natürlich passiert das jenseits esoterischer Familien (Mütter) ebenfalls – dies vergisst Fischler nicht zu erwähnen.

Kontraproduktiv scheint mir einzig die Einleitung des Buchs, die von einem der Science Busters verfasst wurde: Er versucht Spiritualität insgesamt zu diskreditieren. Diese sei eingebildet und überheblich, während Wissenschaft Segnungen wie das Fernsehen und Handys hervorgebracht habe. Als Beweis für die Richtigkeit und Allgültigkeit der Wissenschaften nennt er die Lebenserwartung eines heute Geborenen von 100 Jahren im Vergleich zu jener vor 15o Jahren, die bei 35 gelegen habe. Ich denk, dieser aus dem Hut gezauberte Zahlentrick belegt zur Genüge, wie arrogant und kreativ Wissenschaft mit der Wahrheit umgeht: In den USA nimmt die Lebenserwartung aufgrund der ungesunden Lebensweise und der zerstörten Umwelt bereits wieder ab; in Europa wird sie hauptsächlich deshalb höher, weil die Kindersterblichkeit abnahm (wäre eine eigene Diskussion, ob wegen Impfungen oder sonstigen Gründen), außerdem starb wohl die Generation schon fast aus, die zahlreiche Vertreter im 1. oder 2. Weltkrieg verlor. Zudem liegt die Lebenserwartung in manchen afrikanischen Ländern nun bei unter 35 Jahren, da die Ausbeutung durch Fischereikonzerne der langlebenden Welt und Landgrabbing und diverse andere Ungerechtigkeiten das eben bewirken.

Man könnte auch sagen: Wir fressen denen dort drunten das Fleisch von den Knochen – aber verfettet lebt man auch nicht lange – siehe oben: USA… Und wer heute als 8o-Jähriger stirbt, verbrachte wahrscheinlich die letzten zehn Jahre sediert im Altersheim: welch Sinnbild für unsere moderne wissenschaftlich so fortschrittliche Welt.


Genre: Sachbuch
Illustrated by Molden

Paradiesvögel

Herr Huse, auch bekannt als Björn Ciesinski, ist ein Cartoonist mit wundervoll doppelbödigem Humor, der gern mit Wörtern und Wendungen spielt. Seine »Heilige Dreifaltigkeit« ziert beispielsweise ein dreifach gefaltetes Doppelkinn; und bei »Haltet den Dieb« versuchen drei Polizisten, verzweifelt einen Bankräuber festzuhalten, der gerade über eine Klippe gestürzt ist.

Ein Gekreuzigter denkt kurz vor dem Verdursten daran, ob er daheim den Herd ausgemacht hat. Zwei Schnecken fragen »Zu mir oder zu dir?«, und ein Wandersmann sieht auf einer Orientierungstafel im einsamen Tann, dass der »Standort des unsichtbaren Touristen-Axtmörders« ganz in seiner Nähe ist.

Am besten gefällt mir von den 55 wundervollen Zeichnungen, die der 1976 in Bremen geborene Karikaturist in seinem Debutband »Paradiesvögel« präsentiert, die Darstellung einer Sanduhr, in deren oberem Teil ein Urlauber in der Sonne brät, während der Sand langsam aber stetig in sein Arbeitskabinett rieselt.

Huses Cartoons finden sich in der »Titanic«; er bloggt unter www.flachwissen.blogspot.de.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Holzbaum Wien

Der virtuose Kanzler

In fünf kurzen Akten schildert Erik Werk das Kommen und Gehen der Kanzler von Domanien. Nachdem der konservative Kanzler Karlos (Kohl) nahezu drei Dekaden über Nation und Volk geherrscht hat, wird er von dem Sozialisten Yannis Paterakis (Schröder) abgelöst. Dieser versucht sich durch allerlei Finten – stets um seine gute Frisur bemüht – im Amt zu halten, wird aber am Ende samt seiner unfähigen Mannschaft (die rot-grüne Koalition) durch den »Großen Kanzler« Lucius Quinctius abgelöst.

Der Autor behandelt das laut Verlagsangaben »hochbrisante politische Thema« kühl und schreibt in einem von trockenen Dialogen bestimmten erweiterten Exposé-Stil. Es gelingt ihm leider nicht, seine dürre Geschichte packend zu erzählen oder daraus eine von Sarkasmus triefende Parabel zu schmieden. Angesichts der versumpften poltischen Landschaft und der daraus resultierenden Politikverdrossenheit vieler Menschen schreit das gewählte Thema jedoch geradezu nach frechen, witzigen und gewagten Überzeichnungen.

Nach der Lektüre bleibt die Frage im Raum, ob der Verlag hier nicht besser einen Lektor beauftragt hätte, um mehr aus dem staubtrockenen Thema herauszuholen.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by e-enterprise Lemgo

Konzert ohne Dichter

Konzert ohne DichterAusgehend von einem berühmten Gruppenbild des Jugendstil-Stars Heinrich Vogeler schildert »Konzert ohne Dichter« Szenen aus der legendären Künstler-Kolonie Worpswede. Der Präraffaelit Vogeler hatte in seinem 310 x 175 cm großen Gemälde »Das Konzert« seine Frau Martha porträtiert, die an einem Sommerabend der Jahrhundertwende auf der Eingangstreppe vor ihrem gemeinsamen Wohnsitz Barkenhoff steht. Zu den Füßen der Frau, die in die Ferne blickt, liegt ein russischer Windhund. Auf der rechten Seite sitzen drei Musiker, darunter der Maler selbst am Cello, halb verdeckt durch seinen Bruder Franz an der Violine. Sein Schwager spielt Flöte. Zur Linken sind prominente Künstler aus dem Künstlerdorf abgebildet. Die »Malweiber« Paula Modersohn, Agnes Wulff und Clara Rilke-Westhoff sind zu sehen. Im Hintergrund steht der bärtige Otto Modersohn. Nur ein Mitglied der damaligen Barkenhoff-»Familie« fehlt: Das ist der Dichter Rainer Maria Rilke, dessen Bildnis Vogeler, der fünf Jahre lang an dem Bild arbeitete, wieder löschte.

In seinem höchst feinfühligen Künstlerroman schildert Klaus Modick, wie es zu dem Zerwürfnis zwischen dem berühmten Maler und dem nicht minder bekannten Dichter kam. Der Autor beschreibt drei Tage im Leben Heinrich Vogelers und nimmt dies immer wieder zum Anlass, die Gedanken seines Protagonisten in die Vergangenheit wandern zu lassen. Das biographisch angelegte Werk klingt am Freitag, den 9. Juni 1905 in Oldenburg aus. An jenem Tag wurde »Das Konzert« auf der Nordwestdeutschen Kunstausstellung gezeigt und Vogeler mit der Goldmedaille für Kunst und Wissenschaft geehrt.

Angeregt durch Tizians Gemälde »Das ländliche Konzert« hatte der Kunstgewerbler, der Möbel, Gebrauchsgegenstände, Kleidung und Schmuck entwarf, ein monumentales Gruppenbild geschaffen, das auf den ersten Blick wie ein Idyll wirkt. Dem Blick des aufmerksamen Betrachters entgeht jedoch nicht die Konstellation, in der die Figuren stehen, und so hatte Vogeler auch allen Grund, seinen »Seelenverwandten« Rilke auszusparen. Der stets recht blasiert auftretende Dichter hatte trotz geringer körperlichen Größe oder Schönheit einen Schlag bei Frauen, die er mit seinen weltentrückten Versen in Bann schlug. Vogeler rückte ihn in seinem Bild anfangs aufgrund einer Ménage-à-trois, in die sich Rilke verwickelt, mal näher an Paula Modersohn-Becker heran, mal näher an seine spätere Ehefrau Clara Westhoff. Als er erfährt, dass der krankhaft narzisstische Rilke sein eigenes Kind zu Pflegeeltern gibt, um seine Ruhe zu haben, streicht er ihn vollends aus dem Bild.

Während sein Gemälde in der Öffentlichkeit als Meisterwerk gefeiert wird, will der 33-jährige Vogeler nur noch dem goldenen Käfig Worpswede entfliehen. Sein Bild ist insofern Resultat eines dreifachen Scheiterns: Seine Ehe mit Martha kriselt, sein künstlerisches Selbstverständnis wankt, und die vermeintliche Freundschaft zu Rilke zerbricht. Tatsächlich bricht Vogeler bald zu neuen Ufern auf. Er reist durch die Welt und erlebt mit eigenen Augen die sozialen Widersprüche. Erfahrungen im Ersten Weltkrieg machen ihn zum radikalen Pazifisten, der sich während der Novemberrevolution 1918/19 auf die Seite der aufständischen Arbeiter und Soldaten schlägt. Nach Reisen in die Sowjetunion wird der Barkenhoff zu einer sozialistischen Künstlerkommune und dann zu einem Kinderheim der »Roten Hilfe« umgestaltet. Die Nazis zerschlagen schließlich den Barkenhoff, Vogeler geht ins sowjetische Exil, wo er am 14. Juni 1942 stirbt.

Autor Klaus Modick verwebt höchst kunstsinnig historische Fakten mit Rilke-Zitaten, Vogeler-Äußerungen und narrativen Mutmaßungen. Er bedient sich dabei einer blumenreichen, bisweilen kitschig-ornamentalen Sprache, um seinem Gegenstand wie dem Zeitgeist jener Epoche nahe zu kommen. Dies führt zu einem ebenso lyrisch einfühlsamen wie spannenden Gesellschaftsroman, der in seiner Kunstfertigkeit einzigartig ist. Im Ergebnis ist »Konzert ohne Dichter« ein Leseerlebnis der ganz besonderen Art.


Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Zeiten ändern Dich

81Qu-QYh3YL._SL1500_Alexander sitzt im Knast. »Betrug zum Nachteil einer Bank« lautet sein Vergehen. Der Betrüger war als eine Art externer Kreditsachbearbeiter für eine Schweizer Bank tätig, beriet Kunden, Kreditanträge auszufüllen, damit sie an Geld kamen und fälschte dabei gekonnt die Zahlen. Fünfundzwanzig Jahre gab er sich dieser Tätigkeit hin, bis er auf die Idee kam, nicht immer nur die Kunden, sondern zur Abwechslung auch mal die Bank selbst zu bescheißen. Dabei wurde er jedoch von einem Neidhammel aus dem Rechenzentrum des Geldinstituts anonym angezeigt.

Im Knast lernt er einen Mithäftling kennen, der ihn vor einem Schläger in Schutz nimmt und dem er daraufhin blauäugig vertraut. Nach zweieinhalb Jahren wird der inzwischen 52-jährige entlassen und begegnet Lena, einer Prostituierte, die ihn aufnimmt. Er landet in einem Bordell und erfährt die Lebensgeschichte der Frau, die sich am Mörder ihrer Tochter rächen wollte, dabei aber den Falschen erledigte und dafür acht Jahre absitzen musste.

Alexander will nach Zürich an sein Geld, das auf einem Nummernkonto liegen müsste. Die dreiviertel Million wurde jedoch während seines Zwangsurlaubs von dem Herrn, dem er im Knast vertraute, abgeräumt. Der heißt in Wirklichkeit, wie er bald erfährt, Pavel Kirillov und ist angeblich ein gefährlicher Neonazi.

Der Verfassungsschutz, der ebenfalls an Kirillov interessiert ist, zwingt ihn dazu, Pavel zu kontaktieren und finanziert ihn. Der bietet ihm einen Job in einem illegalen Bordell an, in dem Safari-Simulationen mit blutjungen Mädchen gespielt werden. Pavel vertraut im und setzt ihn als Geldkurier ein. Nun hält Alexander seine Stunde für gekommen, sich sein gestohlenes Vermögen zurückzuholen. Dabei gerät er zwischen die Mühlsteine von organisiertem Verbrechen, Verfassungsschutz und Kreisen, die unter dem Deckmantel der angeblichen Jagd auf Neonazis ihre eigene Politik betreiben.

Bordelle und Gefängnisse sind die Universitäten des Lebens, schreibt Autor Detlev Crusius, der sich hinter dem Pseudonym Eddy Zack verbirgt. Crusius hat dort mehrere akademische Grade erworben und mit diesem Buch in gewisser Weise ein Stück eigenes Erleben zu Papier gebracht. So zählen die Schilderungen der Abläufe im Gefängnis, das Verhalten der Häftlinge untereinander und die Risiken und Nebenwirkungen, die ein Aufenthalt hinter schwedischen Gardinen mit sich bringt, zu den emotional stärksten Szenen dieses ansonsten in lakonischem Stil geschriebenen Roman.

Der Leser spürt Authentizität, wenn Zack/Crusius schreibt: »Wer es nicht erlebt hat, kann nicht verstehen, was man mit Schweigen und Dunkelheit alles erreichen kann. Körperliche Schmerzen sind überflüssig. Dunkelheit und Nichts, das reicht.« Ebenso dicht sind auch die Beschreibungen der Welt der Bordelle wie die Szene vom Heiligabend im Puff, der ganz großes Kino ist.


Genre: Romane
Illustrated by Kindle Edition

Der Glückliche schlägt keine Hunde

Eine ebenso kenntnisreiche wie persönliche Biographie Loriots liefert Stefan Lukschy, der den Mann mit dem feinsinnigen Humor Jahrzehnte persönlich begleiten durfte und sich dabei zu einem engen Weggefährten enwickelte. Er schenkt dem Leser eine vergnügliche Begegnung mit Loriot und seiner Welt.

Eher zufällig bekommt der damals an der Westberliner Film- und Fernsehakademie studierende Autor die Chance, 1975 als Assistent bei Vicco von Bülow alias Loriot anzufangen. Das Paar konnte unterschiedlicher kaum sein: auf der einen Seite ein junger vom Freigeist der 68-er Studentenrevolution inspirierter langhaariger junger Mann mit speckiger Lederjacke, auf der anderen Seite ein konservativ gekleideter preußischer Edelmann, der bereits damals ein Star war.

Lukschy begleitet Loriot von nun an durch die meisten seiner Produktionen und findet in ihm einen väterlichen Freund, dem er bis zu dessen Tod im Jahr 2011 treu bleibt. Er schildert en detail den Perfektionismus, der dem Künstler eigen war und die technischen wie materiellen Bedingungen, unter denen gearbeitet wurde. Dadurch, dass Lukschy sich selbst stark zurücknimmt und stets als treuer Helfer und Freund, aber nie als der heimliche Genius hinter dem Meister auftritt, atmet sein Buch eine Herzlichkeit und Wärme, die in Künstlerbiographien selten zu spüren ist.

Die Lektüre verschafft selbst dem Fan, der viele der Werke des Meisters auf DVD oder Video-Tape gesammelt hat, zusätzlichen Einblick. Das Buch schenkt Freude, weil es Informationen und Facetten rund um die Kunstfigur Loriot zeigt, die ohne Lukschys intimen Zugang kaum zugänglich wären.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Der letzte Schrei

Das wunderschöne hellblaue Leinencover mit zwei sich drehenden Karpfen verleitet direkt dazu, den Band in die Hand zu nehmen. Dass, was die britische Autorin dann in ihren 13 kurzen Episoden liefert, ist durchaus virtuos und zeugt von genauer Beobachtungsgabe. Es geht um Menschen, die sich nicht mehr viel zu sagen haben und dennoch umeinander kreisen.

Stilistisch häufig im Selbstgespräch verstrickt und dabei mit unterschiedlichen Bewusstseins- und Erzählebenen arbeitend, wirken die psychologisierenden Geschichten seltsam kalt, bisweilen sogar verzweifelt. Einige der Texte sind durchaus komisch, bisweilen sogar gnadenlos sarkastisch. Insgesamt aber verschließt sich die Autorin dem Leser eher als sich ihm zu öffnen.

Die Begegnung mit A. L. Kennedy empfand ich insofern als enttäuschend.

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Carl Hanser München

Der Schatz des Herrn Isakowitz

Der Schatz des Herrn isakowitz, Danny Wattin Jede Familie hat ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Geheimnisse, so sagt man. Der schwedische Autor Danny Wattin kannte die seiner Familie lange nicht. Kam das Thema zur Sprache, hieß es immer “Das willst Du nicht wissen” oder auch “wir hatten keine Kindheit”. Seine Verwandten waren ihm immer ein Rätsel, waren sie doch so ganz anders als die pragmatischen Schweden und im Vergleich zu diesen geradezu übergeschnappt.

Lange wusste er nicht einmal, dass all die Leute, die zu den Familientreffen kamen, gar keine Verwandten, sondern Leidensgenossen aus dem Konzentrationslager Dachau waren und wie seine Großeltern jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland mit an Dramatik kaum zu überbietenden Lebensgeschichten. Die Familie war ihm ein Rätsel, das er unbedingt ergründen wollte. Die Einzige über die Jahre eifrig weitergestrickte Familienlegende kündete von einem Schatz, den Ururgroßvater Hermann Isakowitz dareinst vergrub, bevor er im besetzten Polen von den Nazis ermordet wurde.

Es war Danny Wattins Sohn Leo, der den Stein schließlich ins Rollen brachte. Mit der Selbstverständlichkeit eines Siebenjährigen erkannte er das Offensichtliche: “Wenn man von einem Schatz weiß, muss man ihn ausgraben”. Logisch. Und damit beginnt eine abenteuerliche Unternehmung und eine unvergeßliche Reise. Danny Wattin macht sich mit seinem Sohn und seinem Vater auf. Bewaffnet mit einer Unmenge Butterstullen, einem uralten Straßenatlas und Opas hochmodernem Navi reisen sie nach Polen, in die Stadt Kwidzyn, der einstigen Heimat der Familie, wo der Schatz vergraben sein soll. Es wird ein Roadmovie der Generationen, in dessen Verlauf sich nicht nur die Bilder der Famkiliengeschichte klären.

Der Schatz des Herrn Isakowitz ist ein Dokumentar-Roman mit stark autobiographischen Zügen. Die Reise hat es wirklich gegeben sowie die Menschen, deren Geschichten Danny Wattin in Rückblenden erzählt. Es sind Geschichten, die sowohl in Schweden als auch in Deutschlang selten erzählt wurden. Von Schweden weiß man eigentlich nur, dass es im Krieg Neutralität bewahrt hat. Eine Neutralität, die Vielen auch zum Verhängnis wurde. Andererseits – so konstatiert Sohn Leo trocken – “sei es ja auch ganz gut gewesen, dass die Schweden so feige waren”. Somit mussten zumindest sie nicht kämpfen und eben auch nciht sterben. Eine Erkenntnis, der viele ähnliche folgen in diesem Buch. Denn je näher man sich etwas anschaut, desto weniger offensichtlich wird das, was es erzählt.

Danny Wattins Buch setzt historische Kenntnis voraus, allerdings nur in einem Rahmen, der den Meisten geläufig sein dürfte. Er berichtet weniger explizit von den Gräueltaten, die seine Familie und ihre Freunde durchlebten als davon, was diese Taten aus den Menschen gemacht haben. Was die Gräuel umso wahrhaftiger und schrecklicher erscheinen und den Leser schnell Empathie und Mitgefühl entwickeln lässt. Empfindet man die Verwandschaft zunächst als versponnen und zumindest im Ansatz nervtötend, findet man sie und ihre Schrullen auf einmal nur noch liebenswert.

Danny Wattin vermittelt aber auch, was viele aus der Enkelgeneration immer noch spüren: Wie sehr das, was unsere Vorfahren durchlebten, uns prägt. Die Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration und wie die Geschehnisse des zweiten Weltkriegs und des Holocaust bis heute in den Familien nachwirken – es ist dies ein Thema, von dem in der letzten Zeit öfter zu hören und zu lesen ist. Danny Wattin findet im “Schatz des Herrn Isakowitz” die warmherzigsten Zeilen, die ich dazu bisher gelesen. habe. Traurig, ergreifend und zwischendurch auch immer wieder liebenswert, charmant und lustig ist dieses Buch gleichermaßen demütig wie stolz. Es ist ein Buch, das Ehre versteht und Ehre erweist. Ein Buch, das man mit Tränen in den Augen und einem Schmunzeln auf den Lippen liest.

“Der Schatz des Herrn Isakowitz”, ist das vierte Buch des in Uppsala lebenden, 1973 geborenen Schriftstellers und das Erste, welches auch in Deutschland erschienen ist. Seit mehr als zwanzig Jahren befragte und interviewte er seine Verwandten und ihre Freunde zu ihren Geschichten. Genauso lange hegte er auch den Wunsch, diese zu erzählen. Doch er musste erst älter werden und vor allem auf diesen MehrGenerationen-Roadtrip gehen, um wirklich verstehen zu können. Er führte während der Reise ein Tagebuch, welches ihm nun einen würdigen Rahmen gab, um die anvertrauten Geschichten schlüssig und stimmig zu erzählen..

Was auch immer die Drei auf dieser Reise gefunden und welchen Schatz auch immer sie nun gehoben haben, es sei hier nicht verraten. Nur soviel: Seit dieser Reise wissen Leo, sein Vater und sein Großvater genau, was ein Schatz ist und wie man ihn behüten muss. Und ganz sicher ist dieses Buch, dass er allen Überlebenden gewidmet hat, ein echter Schatz, den man nur wünschen kann, dass möglichst viele ihn aus dem Dickicht der Bücher zu diesem Thema zu heben vermögen.

Kommentare zu dieser Rezension gerne im Blog der Literaturzeitschrift 


Genre: Historischer Roman