Adieu Atlantis

Valentina Freimane führte ein Leben, in dem es keinen Mangel an historischen Katastrophen gab. Die Theater-,Film- und Kunstwissenschaftlerin wurde 1922 in Riga in eine lettisch-jüdische Familie hineingeboren und ist heute eine der letzten Überlebenden des Holocaust im Baltikum.
Adieu Atlantis  
 Ihre Familie war eine der Kunst und Kultur zugeneigte kosmopolitische, wie es sie heute kaum mehr gibt. In ihrer frühen Kindheit pendelte sie mit ihren Eltern zwischen Riga, Paris und Berlin, in der über ganz Europa verteilten Großfamilie werden die verschiedensten Sprachen gesprochen. In Berlin bekleidete ihr Vater die exponierte Stelle des Rechtsberaters der UFA, man residierte nahe des Kurfürstendamms, frühe Stars der erwachenden Leinwandkunst, Regisseure und Schriftsteller waren ständige Gäste der Familie. Das große Vorbild der damals kleinen Valentina war der Filmstar Anny Ondra.

Mit diesen unbeschwerten Erinnerungen beginnen ihre Memoiren. In Adieu Atlantis blickt Valentina Freimane zurück auf den ersten Teil ihres Lebens. Auf die unbeschwerten, von kultureller Großzügigkeit geprägten Jahre folgten Jugendjahre in Riga, in denen sie die dreifache Okkupation des Baltikums – zunächst durch die noch junge Sowjetunion, dann durch den Einzug der deutschen Wehrmacht und schließlich wieder durch die Rückkehr der Sowjets – durchlitt. Sie verlor ihre Eltern, ihren Ehemann und fast alle weiteren Verwandten. Valentina Freimane selbst fand an verschiedenen Orten Unterschlupf, unter anderem beim Minderheitenpolitiker und Journalisten Paul Schiemann, der im Gegensatz zu den meisten Deutschbalten nicht umgesiedelt war und der ihr während dieser Zeit seine Memoiren diktierte.

Zunächst aus der Perspektive des unbeschwerten, von allen Seiten geliebten Kindes, später dann aus der Sicht der jungen Frau läßt sie für den Leser in Adieu Atlantis ein spannendes Zeitgemälde entstehen. Ihre Erinnerungen sind ein Zeugnis einer untergegangen Welt, eines versunkenen Atlantis, das bisher in den Geschichtsbüchern wenig Würdigung erfuhr und gerade in unseren Breiten weitgehend unbekannt ist. Daneben sind es auch die Erinnerungen an die ihr Schutz gewährenden Menschen, die einen breiten Raum in ihren Erinnerungen einnehmen und denen sie damit eindrucksvoll Reminiszenz erweist.

Die Lebensgeschichte Valent?na Freimanes ist eng mit der Geschichte nicht nur Europas, sondern vor allem auch mit der Lettlands verknüpft und eröffnet einen vielschichtigen Blick auf diese Zeit. In der Tat ist es ja so, dass nicht nur immer weniger Zeitzeugen unter uns leben, die noch authentisch von dieser Zeit erzählen können, sondern gerade auch die damaligen Lebenswirklichkeiten im Baltikum und vor allem die der dort lebenden Juden hierzulande weitgehend unerzählt sind. Valentina Freimane schließt eine Lücke und macht nicht zuletzt dadurch Adieu Atlantis so lesenswert.

Zu Beginn ihrer Erzählungen meint man, ein osteuropäisches Pendant zu den Buddenbrooks vor Augen zu haben. Lebhaft und bildgewaltig erzählt sie vom Glanz vergangener Zeiten, von einem der klassischen Bildung verpflichteten Haushalt. Später dann ändert sich das Bild, wenn sie von der sich unerwartet schnell verändernden Lebenswelt der baltischen Juden, von ihrem lange gehegten Irrtum, durch die lettische Staatsbürgerschaft geschützt zu sein und schließlich vom Untergang einer Hochkultur erzählt. Darüber hinaus aber zeigt das Buch auch – losgelöst vom historischen Kontext – die Wichtigkeit einer Erziehung, in der Kindern Selbstvertrauen und Möglichkeiten zur freien Entfaltung gegeben wird.

Ihr Buch ist wie ein direktes Gespräch mit einem Zeitzeugen. Freimane ist nicht die größte Schriftstellerin, das gibt sie selbst unumwunden zu. Manchmal strengen ihre Erinnerungen arg an, es fehlt ein wenig an Stringenz und Struktur. Andererseits ist es gerade dies, was ihre Erzählungen so authentisch und wertvoll macht. Es ist, als höre man einer alten Dame zu, die in ihrem Sessel sitzend plaudernd vom Einen zum Nächsten kommt. Es ist wahrhaftig, auch charmant, aber es ist auch streckenweise schwer zu lesen.

Ihre Erinnerungen sind geprägt von Selbstvertrauen, dazu bemüht sie sich sichtlich, ohne Bitterkeit zurückzuschauen. Auch wenn sie aus der Perspektive des Kindes erzählt, Sachlichkeit, dem Leser die Möglichkeit eigener Urteilsfindung zu geben, ist ihr wichtig. Dabei ist ihr allerdings auch jederzeit bewußt, dass sie ihr Leben sehr privilegiert begonnen hat und ihr das auch so anerzogen wurde. Bei allem durchlebten Leid hat sie diese Attitude bis heute nicht abstreifen können. Sie weiß, dass sie kein Durchschnittsleben gelebt hat und ist stolz darauf. Ab und an kommt es dem Leser so vor, dass sie diese Besonderheit einmal zu oft und zu gerne herausstellt. Aber sei es drum. Es wurde Zeit, dass auch dieser Teil des Holocaust einmal erzählt wurde. Er ist es ebenso wie alle anderen, wesentlich besser dokumentierten Teilbereiche, wert erzählt zu werden. Freimanes Memoiren sind spät erschienen, aber sicher nicht zu spät.

Man kommt während der Lektüre nicht umhin zu denken, wie traurig es ist, dass diese Welt versunken ist. Was könnte Lettland heute für ein einzigartiges Land sein, wie sehr war es damals multikulturell geprägt! Auf ihre Art nimmt Valentina Freimanes Buch eine Art Vermittlerposition ein. Zu oft werden die Erinnungen an diese Zeit von strikter antifaschistischer Erinnungskultur auf der einen und antibolschewistischer auf der anderer Seite geprägt. Adieu Atlantis ist auch ein Aufruf für Toleranz und Demokratie auf allen Seiten. In der gegenwärtigen Zeit wiederaufkeimender Verfeindung der Ideologien, namentlich in der Debatte über die Ukraine-Krise, könnten ihre Erinnerungen, so sie denn gehört werden, eine Brücke zwischen gegensätzlichen Weltanschauungen bauen. Und schon alleine deshalb sei dem Buch seine kleinen Schwächen verziehen und das Fazit gezogen: lesenswert und aller Ehren wert.

Adieu Atlantis endet 1945. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Valentina Freimane es als überlebende Jüdin großbürgerlicher Herkunft nicht leicht in der Sowjetunion. Dennoch machte sie eine bemerkenswerte Karriere. Als promovierte Kunstgeschichtlerin arbeitete sie an der Lettischen Akadiemie der Wissenschaften. Ihre Verbindungen und Beziehungen ermöglichten es ihr, eine ihrer großen Leidenschaften, das Kino, mit ihren Studenten zu teilen und Filme aus den Teilen der Welt zu beschaffen, die sonst in der Sowjetunion nicht gezeigt wurden. Viele verehren sie bis heute für das von ihr so geschaffene Fenster zu einer ansonsten abgeschnittenen Welt. Bis heute lebt sie sowohl in Riga als auch immer wieder in Berlin.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.de 


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Wallstein Göttingen

Labyrinth Tokio

Wer Japans Hauptstadt Tokio bereits im Titel seines Führers ein »Labyrinth« nennt, weiß, wovon er spricht. Tatsächlich gilt es immer noch als Abenteuer, sich individuell und ohne Sprachkenntnisse in der 13-Millionen-Metropole zu bewegen. Häufig fehlen Straßennamen, das Hausnummern-System gleicht höherer Mathematik und ist oft in der Reihenfolge der Bauanträge geordnet. Taxifahrer kennen sich nur grob aus, und zu allem Überfluss ist Englisch für viele Japaner ein Buch mit sieben Siegeln.

Dennoch wagt es Axel Schwab, seinen Leser in das Tokio zwischen Mythos und Moderne zu locken. Er liefert dazu keinen Reiseführer im klassischen Gewand. Der Autor schlägt vielmehr 29 Touren im Zentrum und weitere neun in der näheren Umgebung vor, die auch die Sehenswürdigkeiten umfassen.

Besonderer Pfiff des Buches sind zweisprachig gehaltene Kartenausschnitte von den jeweiligen Routen. Einige davon sind mit QR-Codes ausgestattet. Mit einem Smartphone lassen sich diese Pixelkästchen entschlüsseln und führen zu detaillierten Online-Straßenkarten.

Axel Schwab hat jahrelang in Tokio gelebt und als Ingenieur für einen Automobilhersteller gearbeitet. Er arbeitet ständig an der Weiterentwicklung seines sorgfältig erstellten Vademecums, das mit 90 Fotos, 42 Karten, 260 Internet-Links und 20 Online-Karten lockt. Darüber hinaus ist der Verfasser für interessierte Leser per E-Mail erreichbar.

Derart gut ausgerüstet verfügt der Leser mit dem Buch über einen Ariadnefaden, mit der er das Layrinth Tokio betreten und sicher wieder herausfinden kann.


Genre: Reisen
Illustrated by BoD Norderstedt

Rotbartsaga. Die Abenteuer eines legendären Schiffskaters

Im Mittelpunkt des literarischen Schaffens von Journalist, Online-Redakteur, Buchautor und Blogger Wolfgang Schwerdt steht seine ausgeprägte Vorliebe für Samtpfoten. Gern gelesen habe ich Schwerdts Bücher »Die Schwarzbärflotte. Wahre Geschichten über seefahrende Katzen« und »Die Abenteuer des legendären Schiffskaters Rotbart«. Doch wer hätte geahnt, dass gerade aus letzterem Werk ein umfangreiches literarisches Projekt erwächst, das die Kraft des Autors inzwischen in vollem Umfang fordert?

Schwerdt arbeitet nämlich daran, sämtliche Reisen von Rotbart aufzuzeichnen und taucht dazu tief in die oft ereignisreiche Geschichte der Seefahrt ein. Die Abenteuer des legendären Schiffskaters spielen in einer Zeit, als die noch kaum richtig entdeckte »neue« Welt bereits zwischen den europäischen Handelsmächten hart umkämpft war.

Geplant sind fünf Bände über die Seereisen des Schnurrbärtigen, der vorliegende erste Band bezieht sich sowohl auf die Story, wie Rotbart zum Schiffskater wurde, als auch auf die Entdeckung der Rotbartgeschichte selbst. Dieser Einstieg in die Geschichte macht – in der klassischen Papierausgabe – zugleich deutlich, was der eigentliche Pfiff des Projekts ist: Der Autor baute zahlreiche QR-Codes in den laufenden Text ein, mit dem der Leser mit seinem Smartphone sofort auf verlinktes Hintergrundwissen im Internet zugreifen kann.

Diese zusätzlichen Möglichkeiten sind für den Lauf der Handlung keinesfalls zwingend. Sie erlauben aber, sich bei Interesse sehr viel tiefer in den Hintergrund und die Welt der Seefahrt einzuarbeiten. Hinter den Pixelkästchen verbergen sich Links zu sorgfältig ausgesuchten Sachartikeln, Museumsvideos oder unterhaltsamen und informativen Geschichtsmagazinen seriöser wissenschaftlicher Institutionen, die als eine Art hochwertiger Zusatznutzen abgerufen werden können.

Neben einer spannenden Geschichte, die in einem kleinen Gasthof in Hessen beginnt, wo eine geheimnisvolle Karte auftaucht, erhält der Leser damit Zugriff auf eine Datenbank des Wissens, die ihn umfassend in die Welt entführt, die Schiffskater Robert bereist. SmartConEnt-Konzept nennt Wolfgang Schwerdt diese Art des neuen Lesens, die das reine Lesevergnügen keinen Augenblick lang beschwert. Denn die Rotbartsaga ist in erster Linie ein historischer Katzenroman, der voller humoriger wie abenteuerlicher Ereignisse steckt, die das Lesen zum Vergnügen machen.


Genre: Historischer Roman
Illustrated by CreateSpace Independent Publishing Platform

Handbuch für Autorinnen und Autoren

Sandra Uschtrin ist ein Urgestein in der deutschen Verlagslandschaft. Seit 30 Jahren hat sie sich die Fort- und Weiterbildung von Autoren auf die Fahnen geschrieben. 1985 erschien – damals noch im Grafenstein-Verlag – ihr erstes Handbuch, das sich dem Berufsfeld des Autors widmete. Damals stand sie ganz allein auf weiter Flur. Von einigen Zuschussverlagen abgesehen gab es niemanden, der sich für den Nachwuchs interessierte und ihn als Zielgruppe erkannte.

Drei Jahrzehnte später legt die agile Publizistin, die außerdem noch das zweimonatliche, 1998 von Titus Müller gegründete Fachmagazin »Federwelt« herausgibt, die inzwischen achte Ausgabe ihres viel gerühmten Handbuchs vor. Inzwischen steht sie längst nicht mehr allein auf dem Markt der Ratgeber für Autoren. Es herrscht vielmehr ein reger Wettbewerb zwischen Verfassern mehr oder weniger nützlicher Nachschlagewerke und Ratgeber für jeden, der schreibt. Außerdem hat sich der Markt vollkommen geändert. Denn mit der Einführung der E-Book-Plattform Kindle Desktop Publishing (KDP) durch die Firma Amazon ist eine Heerschar Self-Publisher an den Start gegangen, die hungrig nach Hilfestellungen für die Vermarktung der eigenen Bücher sucht und jede greifbare Information aufsaugt.

Tief in das Dickicht der geheimnisvollen Verlagswelt schlägt die nunmehr achte völlig überarbeitete und erweiterte Auflage des »Handbuch für Autorinnen und Autoren« eine Schneise und bietet Orientierung. Dabei entspricht der Aufbau der 700 Seiten starken Bibel den Veränderungen des Marktes. Der Band startet mit dem Thema »Self-Publishing und Marketing« und kommt erst ganz zum Schluss zu dem Bereich, der früher den Einstieg ins Handbuch darstellte: den Verlagen. Das ist konsequent, schließlich lautet heute nicht mehr die entscheidende Frage, wie ein Neueinsteiger einen Verlag für sein Manuskript findet. Die Frage ist vielmehr, ob das Werk selbst herausgegeben oder in die Hände Dritter gelegt wird. Die Torhüterfunktion der Verlage alter Prägung ist Geschichte. Autoren entscheiden inzwischen selbst, wann, wo und in welcher Form sie ihre Werke publizieren.

Um diese Veröffentlichung möglichst professionell im Buchmarkt zu positionieren, spielt das Marketing eine entscheidende Rolle. Vom Lektorat über die Umschlaggestaltung, von der Bedeutung der eigenen Online-Aktivitäten über das Autorenporträt, von der Entscheidung, eine PR-Agentur zu beauftragen und dem richtigen Umgang mit Rezensenten, Bloggern und Literaturagenten – es gibt kein Thema, das in dem Handbuch nicht ausführlich behandelt wird. Aber auch Spezialgebiete wie das Verfassen von Heftromanen, das Schreiben fürs Theater, die Produktion von Hörspielen und das Drehbuchschreiben für TV-Serien werden in eigenen Kapiteln ausführlich dargestellt.

Herzstück der der neuen Ausgabe aber ist ein umfangreicher Kommentar zum neuen Normvertrag für den Abschluss von Verlagsverträgen. Ein Anwalt erklärt, worauf geachtet werden sollte, wenn ein Verlagsvertrag abgeschlossen wird und welche Verhandlungsspielräume es gibt. Allein diese Ausführungen lohnen die Anschaffung des Standardwerkes, gilt es doch, bereits im Vorfeld von Entscheidungen mögliche Fehler zu vermeiden.

Sandra Uschtrin weiß, dass es eine Gratwanderung ist, ein Handbuch für Autoren zu schreiben. Dabei ist sie zuversichtlich und erhöht, nachdem die letzte Ausgabe nahezu vergriffen ist, die Auflage für die vorliegende Ausgabe auf 8.000 Exemplare. Inhaltliche Qualität, sorgfältigste redaktionelle Aufbereitung und eine gediegene Aufmachung werden dafür sorgen, dass der Band geschwinde Verbreitung in den Kreisen der Wortschaffenden finden wird.


Genre: Ratgeber
Illustrated by Uschtrin München

ABC der Verlagssprache

Der Titel dieses großartigen Nachschlagewerks ist vornehmes Understatement pur, denn es wird weit mehr geboten als das mitunter etwas trockene Fachchinesisch der Verlagssprache und damit ist die Lektüre nicht nur lehrreich, sondern zudem durchaus unterhaltsam; dafür bürgt der Name des Autors.

Erklärt werden neben der Geheimsprache der Verlage Begriffe aus dem Handwerk des Buchdruckens und –bindens, unterschiedliche Papierarten, Feinheiten der Sprache und Grammatik, diverse Lyrik- und Prosaformen und natürlich alles aus den Bereichen Elektronik und E-Publishing, Frielings aktuell bevorzugte Tummelplätze. Wer also neugierig ist, was sich z.B. hinter »Drelfie«, »Ebarbieren« und »Elefantenrüssel« verbirgt, wird hier rasch fündig.

Das Werk ist als Taschenbuch und E-Book verfügbar, letzteres bietet neben dem geringeren Preis den weiteren Vorteil, dass man dank der komfortablen Verlinkung zielsicher zwischen den verschiedenen Begriffen hin- und herspringen kann; die Möglichkeiten moderner Technik sind hier voll ausgeschöpft.

Kaum jemand ist wohl kompetenter und prädestinierter für die Veröffentlichung eines solchen Lexikons als Rupi Frieling, der sämtliche Formen des Schreibens und Publizierens nicht nur von der Pike auf gelernt, sondern während seines gesamten Berufslebens auch praktiziert hat. Das Werk reiht sich nahtlos ein in die lange Linie seiner Bücher für Autoren und ist nicht nur für Self Publisher unverzichtbar.


Genre: Lexika und Nachschlagewerke
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Lady Cardington und ihr Gärtner

Der Titel »Lady Carington und ihr Gärtner« erinnerte mich anfangs an »Lady Chatterley’s Lover« aus dem Jahre 1928. Der Roman von D. H. Lawrence wurde vor allem wegen seiner erotischen Szenen berühmt, in den USA als »obszön« verboten und auch von Deutschlands Katholiken unterdrückt. Kolars Roman ist jedoch anders. Weiterlesen


Genre: Liebesroman, Romane
Illustrated by Kindle Edition

Nie ohne Geister

Die Kneipe, die Renate Hupfeld in der ersten Geschichte dieses Bandes schildert, kommt mir bekannt vor: In jungen Jahren besuchte ich gern den »Star-Club« in Bielefelds Jöllenbecker Straße. Dessen Eigenheit bestand daran, dass direkt neben dem Lokal ein Friedhof lag, auf den sich der eine oder andere Zecher verirrte, um alsbald schreckensbleich und ernüchtert wieder zurückzukehren. Nun weiß ich nicht, ob die Autorin eben diesen Ort vor Augen hatte, als sie ihre Erzählung zu Papier brachte, aber es wäre durchaus möglich. Denn auch Jimmys Kneipe mit dem eindrucksvollen Namen »Totenschlucht« ist ein Tanzschuppen, der am Ende eines Gottesackers liegt. Hier treffen sich die Herren der Umgebung, um die kleinen schnuckeligen Tanzgeister abzuschießen, die sich zum Schwofen einfinden.

Siggi ist einer von ihnen, der sich von einer Frau mit pechschwarzen Haaren magisch angezogen fühlt. Doch als sie dann zur Geisterstunde miteinander tanzen, möchte er am liebsten fliehen. Sie quatscht ihn voll, sei ihm angeblich schon in einem früheren Leben begegnet. Außerdem ist die grell geschminkte Dame recht dürr, Siggi hat gar den Eindruck, mit einem Gerippe zu tanzen. Er ist froh, sie endlich wieder an ihren Tisch bringen zu können und stürzt ins Freie, um frische Luft zu schnappen. Dabei landet er auf dem benachbarten Friedhof. Ein unheimlicher Gesang lockt ihn an, und plötzlich schwebt ihm auch schon seine kuriose Tanzpartnerin zwischen den Gräbern entgegen …

Die unheimliche Tänzerin und andere Gespenster geistern durch die Geschichten, die Renate Hupfeld erzählt. Da ist von Wiedergängern, Trollen und Feen die Rede, die ihr Unwesen treiben und die Lebenden irritieren.

In der Erzählung »Eispalast« geht es beispielsweise um die Nahtoderfahrung einer Abfahrtsläuferin, die mit ihrem Sohn in eine Nebelbank gerät und in das Reich der Eismonster eintritt. Mit letzter Willenskraft kann sie sich aus der Finsternis, die sie umfängt, losreißen und mit ihrem Jungen ins Leben zurückkehren.

Dass die Autorin ein Faible für Zwischenwesen hat, weiß ich bereits aus ihrer Story-Sammlung »Hammfiction«. Hier las ich erstmals vom »Hammamunga«, einem Geschöpf, das sich das westfälische Hamm als Lebensraum gewählt hat. Auch diese Geschichte ist in diesem Band zu finden, so dass »Nie ohne Geister« Lust macht, auch die anderen Bücher von Renate Hupfeld zu durchstöbern.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Kindle Edition

Und Johnny zog in den Krieg

Nach den ersten Seiten blättere ich irritiert zurück, das Lesen fällt mir aufgrund fehlender Satzzeichen im ersten Moment schwer. Ist dieses Buch vielleicht keinem Korrektor begegnet? Hasst der Verlag Kommata? Oder hat der Verzicht auf Interpunktion, von Satzschlußzeichen einmal abgesehen, Methode?

Eine Rückfrage beim Verlag klärt auf: Dalton Trumbo, der Verfasser des Werkes, setzte in seinem Original die fehlende Interpunktion als bewusstes Stilmittel ein, und die Herausgeber der deutschen Übersetzung wollen diesem entsprechen. Und tatsächlich geht es recht schnell, bis ich in einen permanenten Gedankenfluss eintauche, der von dem US-Autor ausgebreitet wird. Wie ein Mahlstrom zieht mich der ungewöhnliche Text tief in das unheimliche Grauen, das seinen Er-Erzähler umgibt.

Aus dieser ungewöhnlichen literarischen Erzählperspektive belichtet Trumbo nämlich einen grausigen Film: Johnny Bonham, ein blutjunger amerikanischer Soldat, der in den Krieg gelockt wurde, erwacht in einem Krankenhaus. Nach und nach realisiert er, dass ihm Arme und Beine amputiert wurde, dass er taub ist und sein halber Kopf weggesprengt wurde. Er vegitiert als Torso und fühlt sich bald wie ein Embryo im Mutterleib – Felix Gebhart hat es anschaulich in der Titelvignette gezeichnet. Der Mann, der bewegungsunfähig auf seinem Krankenbett liegt, kommt sich vor, als sei er als ausgewachsener Mensch wieder in den Mutterleib zurückgestopft worden. Doch anders als ein Kind, das ins Leben wächst und eines Tages den Kokon in die Freiheit verlassen darf, wird ihm diese Freiheit nie mehr vergönnt sein. Er ist für den Rest seines Lebens ans Bett gekettet!

Lediglich Erinnerungen sind ihm geblieben, und so blendet er in Analepsen nach und nach Szenen aus dem Leben eines glücklichen jungen Mannes ein, der in den Krieg zog, um zweifelhafte Werte und Freiheiten zu verteidigen, die nicht die eigenen waren. Als hätte er einen zweifelhaften Lotteriegewinn gezogen, zählt er jedoch nicht zu den Millionen Opfern, die auf dem Schlachtfeld blieben. Er hat überlebt, und doch ist sein Leben vorüber. Irgendwo in seinem Bauch steckt ein Schlauch, der ihn mit Nahrung versorgt. Lediglich sein Bewusstsein ist noch vorhanden und aktiv, obwohl das niemand registriert. Sein Körper ist unfähig, mit seiner Umwelt zu kommunizieren, und er spürt nur am Vibirieren des Bettes, wann sich eine Pflegerin nähert, um seinen jämmerlichen Rest zu waschen und seine Stümpfe zu versorgen.

Drei Jahre oder noch länger versucht er, anhand der wenigen Möglichkeiten, die ihm seine eingeschränkte Wahrnehmung erlaubt, die Nacht vom Tag zu unterscheiden, den Stand der Sonne zu erkunden, die unterschiedlichen Schwestern zu erkennen. Er spürt, dass ihm im Nebel seines Zustandes ein schwerer Orden an die Brust geheftet wird und möchte am liebsten laut herausschreien, dass ihm nicht einmal die Freiheit der Entscheidung zugebilligt wird, das Blech aus dem Fenster zu werfen.

Als er schließlich eine besonders feinfühlige Schwester erspürt, nimmt er mit ihr Kontakt auf, indem er mit seinem Hinterkopf Morsezeichen auf das Kopfkissen klopft. Tatsächlich versteht sie sein Bemühen und mit Hilfe eines Funkers kann er sich mühsam äussern. Johnny schlägt den Ärzten im Funkkontakt vor, seinen verstümmelten Körper als Mahnmal gegen den Krieg auszustellen. So gewänne sein Leben einen Sinn. Doch das verstößt gegen die »Vorschriften« und sicherlich auch gegen alles, was Kriegstreiber und Militärs für wertig halten. Sein Vorschlag wird abgelehnt.

Dalton Trumbos Anti-Kriegsroman ist neben seiner stilistischen Kunstfertigkeit schon aus dem Grund wichtig, weil die Generationen, die den letzten Krieg überleben durften, inzwischen nahezu ausgestorben sind. Dies mag auch einer der Gründe sein, warum in der jüngsten Geschichte wieder viel von Krieg und Völkerschlacht die Rede ist. Dass dabei die USA, die den bekennenden Kommunisten Trumbo wegen »unamerikanischer Umtriebe« ins Gefängnis warf und ihn als gefragten Hollywood-Regisseur mit Berufsverbot belegte, wieder einmal die führende Rolle spielt, wundert wenig.

Während also die Amis A-10-Thunderbolt-Kriegs»Warzenschweine« über meinem Kopf nach Deutschland einschweben lassen, lese ich diesen Roman und schaue betroffen in die Zukunft …


Genre: Romane
Illustrated by Onkel und Onkel

Krieg und Frieden

249.551 Wörter umfasst der Koloss, den uns Lew Tolstoi hinterlassen hat. Dividiert man diese Zahl durch 300 Wörter pro Minute, das ist die durchschnittliche Geschwindigkeit eines erfahrenen Lesers, dann ergeben sich insgesamt 831 Minuten, also 13,85 Stunden.

Lew (Leo) Nikolajewitsch Graf Tolstoi brauchte für den Schinken wesentlich länger. Er schrieb von 1863 bis 1869 an seinem durch seine erzählerische Weite und Tiefe beeindruckenden Panorama der Zeit zwischen 1805 und 1820 vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege.

Die Fertigstellung dieses monumentalen, über anderthalbtausendseitigen Romanepos ist undenkbar ohne die aufopferungsvolle Unterstützung durch seine kluge Frau Sophia Andrejewna, Tochter eines deutschstämmigen Arztes am Zarenhof. Sie übernimmt nicht nur die gesamte Organisation des Gutes, sondern findet ihre größte Freude darin, Tolstois unleserliche Manuskripte in Reinschrift zu bringen. In langen Nächten dechiffriert sie dessen Hieroglyphen, ergänzt unvollständige Sätze und Wörter und schreibt die von Tolstoi wieder und wieder überarbeiteten Fassungen insgesamt siebenmal ab.

Um sein Werk ungekürzt zu veröffentlichen, greift der Autor tief in die Tasche und zahlt dem Verleger P. I. Bartenjew einen Druckkostenvorschuß von 4.500 Rubel. Tolstoi ist damit einer der ersten Self-Publisher.

Sein Beispiel steht dafür, dass es sich lohnen kann, selbst aktiv zu werden und sein Werk mit eigener Kraft und auf eigene Kosten zu veröffentlichen. Die erste Auflage von »Krieg und Frieden« war jedenfalls binnen weniger Tage vergriffen, und noch heute lesen wir gern den Roman des Grafen, der die Moral und Lebensweise der Herrschenden seiner Zeit spiegelte und ihnen einen »christlichen Anarchismus« entgegensetzte.


Genre: Historischer Roman
Illustrated by Null Papier

Verhüllt um zu verführen – Die Welt auf der Orange

index Bereits vor Jahren hat die Stiftung Buchkunst den Titel »Verhüllt um zu verführen – Die Welt auf der Orange« als eines der schönsten Bücher des Landes ausgezeichnet. Ansonsten würde ich jetzt unverzüglich einen weiteren Pokal aus dem Ärmel zaubern und dem Potsdamer Vacat Verlag überreichen. Denn er hat mit der Veröffentlichung einen bibliophilen Sonnenschein vorgelegt, der in jeder Hinsicht ein leuchtender Stern am Bücherhimmel ist.

negrovitaminoDas federleichte 50-Gramm-Papier des Innenteils ist nur von einer Seite bedruckt und in der Mitte in der Tradition der Japanbindung gefaltet. So entsteht einerseits Volumen, andererseits wird das Durchscheinen der rund 500 farbigen Abbildungen verhindert. Der Buchblock wurde darauf in einen orangefarben-marmorierten festen Deckel gehängt und mit gelbem Kaptalband verziert. Ein hauchzarter Schutzumschlag nimmt die Marmorierung des harten Deckels auf und erweckt den Eindruck, als sei das Werk mit leicht angeknittertem Orangenpapier umhüllt. Kurz: Dieses Buch wirkt optisch wie haptisch bereits derart ansprechend, als sei sein Inhalt nur umhüllt, um zu verführen.

sirenaGeht der Rezensent eines Buches üblicherweise auf dessen Inhalt ein und befasst sich damit, ob und wie der jeweilige Autor sein Thema bezwungen hat, so sei dies ein Lobgesang auf den Geschmack und die Kunstsinnigkeit, mit der die Buchmacher dieses Kleinod ausstatteten und fertigten. Selten ist mir in der jüngeren Geschichte der Buchkunst ein Druckwerk in die Hände gefallen, bei dem Form und Inhalt derart punktgenau übereinstimmen. Denn auch inhaltlich geht es um etwas ausserordentlich Zartes, nämlich um die Vielfalt der bedruckten Papierchen, mit denen früher die Äpfel der Götter umhüllt wurden.

brigantinaApfelsinen, wörtlich »Äpfel aus China/Sina« sind jene oft zitierten »goldenen Äpfel«, die bereits im Altertum eine Hauptrolle spielten. Im Mythos wuchsen sie im Garten der Hesperiden, den Töchtern der Nacht. Bewacht wurden die Orangen von der drachenköpfigen Schlange Ladon. Der Olympier Herakles wurde von König Eurystheus von Mykene ausgesandt, um diese wertvollen Äpfel zu rauben. Der Held erschlug das Wächtertier, brachte die Früchte seinem Auftraggeber und bewältigte damit eine der zwölf »Herkulesaufgaben«. Und auch in dem vom mir verehrten »Ring des Nibelungen« spielt die Götterfrucht eine wichtige Rolle, da Wotan den Erbauern der Burg Walhall die den Obsthain hütende Göttin der Jugend als Lohn versprach und dafür künftig auf »das jüngende Obst« verzichten wollte …

majoliErst seit rund hundert Jahren ist es aufgrund schnellerer Verbindungen möglich, die Götterfrucht auch ohne Hilfe von Göttern und Helden in unsere Gefilde zu expedieren. Dazu wurden die am Baum ausgereiften empfindlichen Orangen manuell gepflückt und liebevoll in mit sonnigen Motiven farbenfroh bedruckte Papiere gehüllt. Diese Einwickelpapiere sind derart ansprechend, dass sie leicht zum Objekt der Begierde von Sammlern werden können.

sunnygirlDirik von Oettingen, Autor des Buches, hortet wohl eine der weltweit umfassendsten Sammlungen von Orangenpapier in Kisten und Kasten. Neben der permanenten Präsentation in seinem virtuellen Orangenpapiermuseum, breitet er rund 500 dieser farbenfrohen Verpackungspapiere vor dem Leser des vorliegenden Buches aus. Er zeigt dabei die Unterschiede hinsichtlich der Provenienzen und Motive, erstellt eine Systematik und gibt nüzliche Tipps zur Aufbereitung und Sammlung der dünnen Papiere.

Dirik von Oettingen

Verhüllt um zu verführen – Die Welt auf der Orange

Vacat Verlag 2007 ISBN 978-3-930752-47-8

€ 28,00 • Erhältlich bei Amazon


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Vacat Potsdam

Japan in Berlin

Einen nützlichen Reiseführer für Japan-Fans in Berlin liefert Axel Schwab mit diesem 88-seitigen Vademecum. Von den zahlreichen Japan-Restaurants an der Spree wählte er 36 Restaurants aus, die er zusammen mit Empfehlungen für 35 Geschäfte und anderen nützlichen Adressen kombinierte.

Mich freut, dass Schwab viele der Adressen, die ich selbst zu meinen Favoriten zähle, mit Bestnoten versieht. Dazu zählen das »Udagawa« mit feinsten Tempura-Spezialitäten (und einer leider schnell überforderten Bedienung, was Schwab indes gnädig verschweigt), das »Ishin« an der Steglitzer Schlossstraße mit einer sensationell günstigen Happy Hour und das »Daitokai« als wohl ältestes Japan-Lokal in Westberlin.

Toll ist auch, dass es in Berlin mittlerweile Zugang zum japanischen Tee und dem mit seiner Darreichung verbundenen Zen-buddhistischen Zeremoniell gibt. Auch hier weist Axel Schwab den Weg.

Neu entdeckt bei der Lektüre habe ich das »Sake Kontor«. in Berlin-Friedrichshain. Ich muss diese kurze Besprechung deshalb jetzt leider beenden, damit ich dort noch vor Ladenschluss eintreffe..


Genre: Reisen
Illustrated by BoD Norderstedt

Akte 12/12/08-AO1-16. Alles in Ordnung. Ein Poetry-Roman

Leider ist mir dieses Buch erst jetzt bei meiner letzten Poetry-Slam-Tour in Hannover in die Hände gefallen. Ich hab’s gleich mit großer Freude gelesen und möchte andere potentielle Leser an diesem Spaß teilhaben lassen …

Ja, es geht gleich ziemlich verrückt los: ein Typ, der aus dem Rahmen fällt, dieser Finanzcontroller einer Versicherung, der mir als Leser da begegnet, wie er, mit seiner Armbanduhr in der Hand, der Stadtbahn 5 Minuten Verspätung zum Vorwurf macht und ihr, als Fahrgast endlich ganz hinten eingestiegen, mit Blick auf seine Nettolebenszeit diese Rechnung aufmacht:

„Ich benutze immer den hinteren Waggon, da ich berechnet habe, dass dies die Wegstrecke von meiner Zielhaltestelle bis zu meiner Wohnungstür um bis zu 50 Meter verkürzt. Auf diese Weise kann man 30 Sekunden Netto-Lebenszeit einsparen. Das sind 2,5 Minuten pro Woche, 10 Minuten pro Monat, 2 Stunden pro Jahr. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 77 Jahren erhöht sich meine Netto-Lebenszeit um 154 Stunden. Bei meinem Brutto-Stundenlohn von 21 Euro 43 und dem zu erwartenden Anstieg des Renteneintrittsalters entspricht das einem Gegenwert von 3.300 Euro und 22 Cent.“

Da ein Roman von der Spannung lebt, trifft der Protagonist, der interessanterweise nie einen Namen abkriegt und die ganze Zeit über als namenloses Ich (als Ich-Erzähler) agiert, auf Sibido, einen nicht minder abgefahrenen Typen, sein Gegenbild, weniger vom Beruf her (Sibido ist Vertriebsmitarbeiter in einem Technologiekonzern) als dem Oufit, dem Lebensstil und Lebensentwurf nach: (nach-)lässiges Äußeres, (im Gegensatz zu ihm) ein „Frauenflüsterer“, (nach-)lässig im Umgang mit Geld, aber: „Ein eigenes Atelier für meine künstlerische Arbeit wäre noch toll. Weißt du, ich will irgendwann mal davon leben können.“

Gegensätzlicher geht’s eigentlich nicht: für den einen sind Zahlen „was Wunderbares“, sie „bringen Ordnung in die Welt“, der andere hat „Probleme mit dem Finanzamt“. Der Protagonist sagt sich: „Sibido ist schon sonderbar, aber in Ordnung … Ich beschließe, dass Sibido mein soziales Projekt wird.“ So kommen die beiden zusammen. Und Sibido hilft beim Frauenproblem etwas nach: Auch wenn es laut Ich-Aussage „für Frauen keine Bedienungsanleitung gibt … keinen funktionstüchtigen Gesprächsleitfaden zur Reproduktionsanbahnung“ sorgt der neue Kumpel dafür, dass er bereits am Ende des 1. Aktenvermerks („First Contact“) nach durchzechter Nacht an der Seite einer „feuerroten“ Schönheit aufwacht: „Ich hatte ungeplanten Geschlechtsverkehr, den ersten in meinem Leben.“

So bewegt und spannend geht’s dann weiter. „Um diese widernatürliche Symbiose zu dokumentieren, hat unser Protagonist seine Begegnungen mit Sibido …gewissenhaft mit dieser Akte archiviert“ (rückwärtiger Buchdeckel), ja, ein Roman, wie der Teil-Titel schon erahnen lässt, in Form von „Aktenvermerken“ 1-16, über 1 Jahr lang, von Januar des einen bis Mai des folgenden Jahres. Und was in dieser Zeit nicht alles passiert, oft unverhofft, kurios, grotesk – echt abgefahren! Eine Buchbesprechung darf nicht alles vorweg nehmen. Deshalb als Leseanreiz nur dies: da taucht im Leben des Protagonisten eine Tara auf, anfangs fast gerichtsvollziehermäßig als Mitarbeiterin der GEZ-Gebühreneinzugszentrale, später als erhoffte Lebenspartnerin umworben mit einer Folien-Präsentation zu „Strategischem Vermögensaufbau“, „Risikolebensversicherung“, „Altersvorsorge“ und dem schlagenden Argument „Wenn du alt bist, bist du nicht nur grau und faltig, sondern auch wohlhabend! Na, was sagst du dazu?“ Und Sibido zieht alle Register bei den Streifzügen der beiden Freunde (natürlich meist begleitet von den Frauen) durch die Stammkneipe, das Fitnessstudio, den Supermarkt, den Sommerschlussverkauf, das Schwimmbad usw. In „Vernissage“ und „Mein neuer Chef“ wird’s unverhohlen zeitkritisch. In „Six Feet Under“ geht’s grotesk zum Bestatter zur „Todesplanung“. Aktenvermerke wie „Sibidos Traumwandel“, „Der Kühlschrank“, „Mein Traumwandel“ verlassen die fiktive Realität des Hier und Jetzt des Romans; da wird’s surreal. Und was wird am Ende der Geschichte(n) aus den beiden Hauptdarstellern? Wird nicht verraten …

Der Untertitel „Ein Poetry-Roman“ deutet das Genre an, mit dem der Leser es zu tun hat. Gerrit Wilanek ist seit Jahren beim „Poetry Slam“ unterwegs, bei diesem modernen Dichterwettstreit, wo die Autoren auf der Bühne selbst verfasste Texte vortragen, sie mit Mimik, Gestik und Körperhaltung „performen“ (wie es Slammer-Szene-mäßig korrekt heißt) und sich dabei dem Urteil des Publikums als Jury stellen. Wilanek gehört zu den bekanntesten Slammern der Slamily-Familie in Deutschland. Seinen Roman präsentiert er in einzelnen Kapiteln („Aktenvermerken“) auf zahlreichen Lesebühnen. Und aus der Szenerie im Schwimmbad geht dann z.B. auch schon mal eine typische Poetry-Slam-Nummer über den Bademeister von früher hervor, ähnlich dem, was der Protagonist im Roman zu Tara sagt: „Schau mal da drüben! Siehst du ihn? Einst deutscher Bademeister, wurde er durch grausame Fort- und Weiterbildungen zum Wellness-Berater dequalifiziert … Aber kann er eigentlich noch eine anständige Arschbombe? … Die deutsche Arschbombe läuft Gefahr, in Vergessenheit zu geraten.“

Über weite Strecken also ein Lesevergnügen. Dieser „Poetry-Roman“ lebt wie alle Komik von der Übertreibung, der Karikatur, der Satire – und dies hier mal in wirklich differenzierter Art und Weise, völlig anders also, als man’s leider heute oft in der Comedy-Szene geboten bekommt. Aber es geht nicht nur ums Lachen, um das sich schnell verflüchtigende Spaß-Haben. Man wird beim Lesen schon bald auch nachdenklich. Dafür sorgt bereits der Titel „Alles in Ordnung“. Mehrdeutig ist er. Und man fragt sich irgendwann: Was ist denn hier eigentlich alles (womöglich nicht) in Ordnung? Der Lebensentwurf des Protagonisten? der seines Gegenspielers Sibido? Geht’s hier vielleicht um Aus- und Aufbruch? Sehnsüchte werden beim Lesen geweckt. Ja, wo soll’s eigentlich (noch) hin gehen? Was für eine „Endzeit“? Nun, lest ihn selbst, diesen (letzten) Aktenvermerk 16 vom Mai …

(Das Buch ist bestellbar über https://m.shop-asp.de/de/decius-hildesheim/, Preis: 10 €)

Eberhard Kleinschmidt


Genre: Romane
Illustrated by Unbekannter Verlag

Spannung – Der Unterleib der Literatur

Setzt ein gestandener Redakteur, Lektor, Kritiker, Literaturcoach ein Buch in die Welt, schauen Branchenkollegen gern genau hin: Begeht er hier oder dort einen unverzeihlichen Fehler? Sammelt er beim Spaziergang die berühmten drei Steine ein, um später fünf davon auf der heimischen Fensterbank zu drapieren? Rutscht er auf dem Parkett der Sprache, schlägt er rhetorische Purzelbäume? – Legen Sie sich beruhigt zurück, lieber Leser: Hans-Peter Roentgens Ratgeber kostet zwar als Elektrobuch nur ein paar Euro. Die Veröffentlichung ist jedoch bis zur letzten Zeile stimmig, informativ und spannend.

SPANNEND?

»Spannend soll ein Buch sein, das wünschen sich die Leser, und Autorinnen und Autoren möchten spannend schreiben«, schreibt der Verfasser gleich in der Einleitung. In erster Linie bezieht er diese Aussage auf das Schöngeistige. Doch ich behaupte, ein Sachbuch muss den Leser ebenfalls in Atem halten. Es muss Neues wie Altbekanntes auf eigene Art präsentieren, ihn packen, fesseln, in Bann schlagen. Auch ein Schreibratgeber sollte »spannend« sein, will er wirken und Spuren hinterlassen.

Spannung sei, so zitiert der Verfasser Erfolgsautor Andreas Eschbach, wenn der Leser einen Text nicht mehr weglegen kann. Weil er weiterlesen MUSS. Im Idealfall vergisst er, dass längst Schlafenszeit ist, kneift die Knie zusammen, weil er dringend auf die Toilette will. Aber er lässt es, denn dazu müsste er den Text weglegen …

Roentgen erzeugt Spannung, indem er weder erklärt noch doziert. Er baut geschickt Textproben, Fragestellungen und Übungen ein, bei denen der Leser viel erfährt und durch die eigene Brille prüfen kann. Er zeigt auf, wie wesentlich es für einen Autor ist, sein Thema sowie die handelnden Personen genau zu kennen. Denn nur so lässt sich einer Szene Tiefe schaffen, die den Stoff glaubwürdig macht. Kennt der Autor hingegen Sujet oder Akteure nur oberflächlich, dann wird seine Schilderung schwammig. Der Leser spürt das unbewusst, ohne es exakt formulieren zu können.

Wichtig dabei ist neben dem, was konkret im Text steht, all das, was nicht explizit ausgesprochen wird. Ich nenne diese unterschwelligen Botschaften »Subtext«. Roentgen spricht von »Lücken, die der Leser füllen muss«. »Erzählen«, so der Verfasser des Ratgebers, »ist immer eine Gratwanderung zwischen dem, was der Rezipient weiß, und dem, was er wissen möchte, was ihm der Autor aber nicht verrät.«

Letztlich geht es darum, über das zu schreiben, was der Verfasser selbst liebt oder hasst. Ein Text muss den Autor selbst berühren, nur dann bewegt sie auch den Leser. Hans-Peter Roentgen beherrscht und mag das Thema, das er sich mit diesem Ratgeber vorgenommen hat. Und er kann einiges dazu sagen, das vielleicht schon lange bekannt ist, aber hier in einem Zusammenhang vorgetragen wird, der plausibel ist. Im Ergebnis kann der Leser davon profitieren, indem er mit dem Roentgen-Blick sein Werk durchleuchtet.


Genre: Ratgeber
Illustrated by BoD Norderstedt

Cheng

Heinrich Steinfest, den ich über seinen Roman »Der Allesforscher« kennenlernte, blickt in »Cheng« durch eine sarkastisch-schwarz gefärbte Brille auf die Gesellschaft, auf die Wiener Schickeria insbesondere, und dort auf den Klüngel, der das gesellschaftliche Leben unserer Tage diktiert: Politfuzzis, Geldsäcke, Kunstbanausen, Professoren, Würdenträger, Pfaffen, Spitzensportler und deren gelangweilte Gattinnen.

Um diesen Abschaum zu schmähen, lässt er seinen Protagonisten, einen Chinesen, der das Land der Mitte nie gesehen hat, kein Wort Mandarin spricht und ansonsten gebürtiger Österreicher ist, wie eine Comic-Figur durch die österreichische Landschaft taumeln.

Der erfolglose Detektiv Cheng wird von einem Mann beauftragt, der leider kurz darauf erschossen wird und einen Zettel mit einer unverständlichen Botschaft im Einschussloch hinterlässt. Offenbar steckt eine Frau hinter dem Mord, denn bald meldet sich eine weibliche Stimme bei Cheng, schickt ihm eine geheimnisvolle Katze mit einer mysteriösen Botschaft und kidnappt den Ermittler kurz darauf zu allem Überfluss. Der ist jedoch ein im Grundsatz humoriger Typ, und so nimmt es ihn nicht sonderlich mit, dass er die Entführung nur knapp überlebt, dafür einen Arm opfern muss und künftig humpelt. Für seine künftigen Fälle, denn Cheng ist Steinfests Serienheld, bleibt ihm deshalb nur noch sein rechter Arm. Dumm gelaufen!

All das hat wenig mit einem klassischen Kriminalroman zu tun, obwohl es natürlich vordergründig um irgendwelche Verbrechen geht und auch die Wiener Mordkommission bald auftritt, um ihre Unfähigkeit zu beweisen. Nein, es geht dem Autor in erster Linie darum, den Leser in gesellschaftliche Räume zu locken, in denen er in wundervoll gebauten Schachtelsätzen subtile Botschaften übermitteln kann. Und dies ist das sprachlich Großartige an dem Werk des Autors, der seine Geschichte ruhig und unaufgeregt erzählt, dabei aber im Kokon des Nebensatzes herrliche süßsaure Schweinereien verwebt, die die Lektüre zum Genuss machen. Steinfest präsentiert sich damit als der Meister der Hypotaxe, und seine herrlichen Schachtelkonstruktionen sowie der geschickt darin versteckte Schmäh sind der eigentliche Clou des Buches.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Piper München, Zürich

Ebola

Zack_Crusius_EbolaSelf-Publisher genießen gegenüber klassischen Verlagen klare Vorteile. Aufgrund ihrer unkomplizierten Produktionstechnik und der äusserst flachen Entscheidungshierachie können sie sich locker ein Jahr Vorsprung verschaffen. Welche Bedeutung dies bei tagesaktuellen Themen hat, beweist Eddy Zack aka Detlef Crusius mit einem Roman, der ein hochbrisantes Thema in den Mittelpunkt stellt: Ebola.

Lars Petersen wird bei seiner Ankunft in Köln unter dem Vorwurf, einen dubiosen Geschäftspartner erschossen zu haben, verhaftet. Offenbar geht es um den illegalen Handel mit Blutdiamanten, die aus Krisengebieten in Schwarzafrika stammen. In einem Gespräch mit seinem Anwalt lässt er die Ereignisse der letzten Zeit Revue passieren.

Der Autor entführt den Leser daraufhin in die Tiefen des afrikanischen Kontinents und beweist dabei eine erstaunliche Orts- und Detailkenntnis. Ihm begegnen Mediziner, die ihren Patienten einen Ebola-Impfstoff verabreichen, die sie mit Diamanten von einem deutschen Pharmadealer beziehen. Schnell stellt sich heraus, dass die entsprechenden Dokumente gefälscht sind und der Bevölkerung ein wirkungsloses Präparat verabreicht wird …

»Ebola« ist ein ebenso kenntnisreicher wie spannend geschriebener Roman, der aber auch die Hilflosigkeit der Betroffenen deutlich macht. Denn die Pharmalobby scheint kein wirkliches Interesse daran zu haben, einen Wirkstoff zu entwickeln, der die neue Seuche in Griff bekommt. Letztlich interessiert die Reichen an Afrika nur das, was an Bodenschätzen ausgebeutet werden kann: Gold, Diamanten, Erdöl, seltene Erden. Dies funktioniert mit vollautomatischer Technik auch auf einem entvölkerten Kontinent. Bittere Erkenntnis des Autoren: »Wer nach Afrika reisen will, sollte sich beeilen. Er trifft sonst keine Menschen mehr an.«


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Kindle Edition