Was wir nicht wussten

WaswirnichtwusstenDa traut eine Autorin sich aber was. Mit “Was wir nicht wussten” legt die Amerikanerin TaraShea Nesbit ein ganz erstaunliches Debüt vor. Sie wagt sich an ein totgeschwiegenes Thema und nutzt dafür eine überaus seltene literarische Form.

Ihr Thema ist das Manhattan Project: Während des zweiten Weltkriegs schickten die Amerikaner Tausende Physiker und Techniker in die Wüste, nach Los Alamos. Ihr geheimer Auftrag: Der Bau der Atombombe. Mit den Wissenschaftlern kamen ihre Frauen und Kinder. Sie kamen von überall auf der Welt und ihre Gemeinsamkeit bestand in einem Geheimnis, welches sie selbst nicht kannten. Zwar brauchten sie nicht um an der Front stationierte Männer bangen, doch diese relative Sicherheit bezahlten sie mit einem improvisierten Leben hinter Stacheldraht. Die Geheimhaltung war absolut und durchdrang alle Aspekte ihres Lebens. Namen wurden geändert, Kontakte zu Familien und Freunden rigoros unterbrochen. Ihr Alltag definierte sich nur durch das , was sie nicht tun konnten. Briefe, die sie nicht schreiben durften, Freiheiten, die sie nicht mehr hatten, Dinge, über die sie nicht reden durften, Fragen, die nicht gestellt werden durften, nicht einmal Mutmaßungen waren gestattet.

Und doch oder gerade deshalb etablierte sich in der unwirtlichen Gegend, der im Nichts aus dem Boden gestampften Forschungsstadt eine Gemeinschaft. Man zog in identische olivgrüne Häuschen, kämpfte mit Wasserknappheit und um das Privileg einer Badewanne. Freundschaften entstanden, Kinder wurden geboren, der Alltag behauptete sich, man feierte Partys, lernte Klavierspielen und Reiten. Es waren vor allem die Frauen, die zusammenwuchsen, während ihre Männer an einer bis heute unvorstellbaren Zerstörungskraft arbeiteten. Erst als im Sommer 1945 Hiroshima und Nagasaki dieser Zerstörungskraft zum Opfer fielen, begriffen die Frauen, woran ihre Männer gearbeitet hatten. Und sie wussten, dass sie es aller Geheimhaltung, allem Bemühen um Normalität zum Trotz schon immer gewusst hatten.

An dieser Stelle endet die Erzählung. Was aus den Frauen, aus den Familien wurde, wie sie mit diesem Wissen weiterlebten, ist nur eine der vielen Fragen, die dieser erstaunliche Roman aufwirft. Man erfährt gerade so eben noch, dass bei aller Unfasslichkeit doch auch ein hoffnungsvoller Gedanke durch die Köpfe der Frauen ging, der fromme Wunsch, dass nun endlich alles vorbei sein könnte. Neben allem anderen Entsetzen entsetzt auch diese Erkenntnis: dass zu jeder schrecklichen, grausamen Tat eben auch die Menschen gehören, die diese umsetzen und am Randgeschehen ihre Familien.

TaraSheaNesbit erzählt von den drei Jahren in Los Alamos als einer unwirklichen Zeit . Was ihren Roman so berührend macht, ist die Tatsache, dass er auf historischen Ereignissen beruht. Sie erzählt von Geschehnissen, die bis heute von Mythen und Geheimhaltung umrankt und schwer zu begreifen sind. Wie sehr diese Zeit im Nebel des Mythos verschwunden ist, wieviel Recherchearbeit nötig war, um wahrhaftig zum Kern vorzustoßen, lässt die Danksagung am Ende des Romans erahnen. Wie sie diese Schicksale und die Ausnahmesituation schildert, ist dabei erstaunlich spröde und distanziert. Sie erzählt nur Bruchstücke, es gibt Dutzende Personen, deren Schicksal man nur streift. Doch Tara Shea Nesbit schafft es, in einem einzigen Satz eine ganze Geschichte zu erzählen. Ihr eigenwilliger Stil entfaltet einen sehr besonderen Sog, dem sich der Leser nur ganz schwer entziehen kann.

Ausgesprochen ungewöhnlich ist die Form des Erzählers. So wie es im gesamten Buch nicht DIE eine Hauptperson gibt, so gibt es auch nicht DIE eine Erzählerin. Erzählt wird durchgehend in der 1.Person Plural. Sehr ausgefallen, sicher auch nicht leicht zu erlesen. Und ganz sicher nicht jedermanns Fall. Lässt man sich aber darauf ein, ist es toll. Nicht nur, weil es anders ist. Wahrscheinlich ist es gerade die literarisch so ungewohnte Wir-Form, welche den Sog des Buches ausmacht. „Wir kamen als Jungvermählte oder im verflixten siebten Jahr“, heißt es, „manche von uns waren noch nicht US-Bürgerinnen; wir kamen aus Feindesland, aus Deutschland, aber wir waren nicht der Feind“. “Unsere Kinder logen wir an; wir packten, behaupteten wir, um den August bei den Großeltern zu verbringen oder wir sagten, wir wüssten nicht, wo es hinging, was ja auch stimmte oder wir sagten, es handle sich um ein Abenteuer” oder oder oder. Oder ist das meistgebrauchte Wort in diesem Roman, das Wort, welches den Leser immer wieder an die Hand nimmt und ihn gleichzeitig bei der Stange hält, weil er erfahren will, wo der nächste Weg hinführt.

Man kommt keiner einzelnen Frau, keiner einzigen Familie wirklich näher, ist aber tief berührt von den Geschehnissen. Das “oder” und die “Wir-Form” arbeitet die Unterschiede zwischen all den Frauen genau heraus, zeigt aber so die Wichtigkeit und Bedeutsamkeit der Gemeinsamkeiten. Glasklar erkennt der Leser, dass es Situationen gibt, die man nur gemeinsam bestehen kann, auch wenn man dennoch alleine bleibt im tiefsten Inneren. An keiner Stelle wertet die Autorin die Geschehnisse oder die Gefühle der Frauen. Das überlässt sie dem Leser. Gerade dadurch aber wirkt das Buch lange nach.

Ich fand das Buch ohne Wenn und Aber großartig und habe es relativ gierig gelesen. Dennoch ist der Stil der Autorin ausgesprochen gewöhnungsbedürftig und ganz sicher nicht jedermanns Fall. Meine Empfehlung: Leseprobe runterladen und wenn man mit dem Stil klar kommt, unbedingt weiterlesen. Dann gehört dieser Debütroman zu den Büchern, die man nie mehr vergisst. Man muss sich aber darauf einlassen.

TaraShea Nesbit ist Dozentin für Creative Writing an der University of Denver und der University of Washington. Texte von ihr erschienen bisher lediglich in zahlreichen Literaturzeitschriften. Die Geschichte der Frauen von Los Alamos ist ihr erster Roman.Die Handlung beruht auf historischen Ereignissen.


Genre: Historischer Roman, Romane
Illustrated by dumont Köln

Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten

av_friedman_alte_rz.inddEin Männerkrimi vom feinsten: rasant, sarkastisch, prollig.

Baruch „Buck“ Schatz, der Kriegsveteran mit angehender Demenz war US-amerikanischer Kriminalbeamter mit rüden Methoden in den Achtzigern, raucht, egal wo, eine Lucky Strike nach der anderen. Er raucht quasi auch zwischen zwei Zigaretten.

Das Einzige, wovor Buck Angst hat, ist Demenz, alles andere klappt noch, sein grimmiger Humor, seine Schlagfertigkeit.

Er, der „zu Reagans Zeiten seinen letzten Steifen hatte“ würde es gut finden, dass der „alte Hund mal wieder bellen kann“. Er verkennt die Wechselwirkungen von Viagra und seinen täglichen „Arztgaben“, nimmt aber Rücksicht auf die alten Knochen seiner Frau Rose, die ihn mit sanfter, aber sicherer Hand lenkt.

Gegen seinen Willen verlangt Rose, daß er einen alten Kriegskameraden im Krankenhaus besucht, bevor der stirbt. Dieser Mann lebt wirklich gerade noch so lange bis er seine Geschichte erzählt hat. Er erzählt ihm, er weiß, daß der SS-Mann, der Schatz seinerzeit im KZ gefoltert hat, den Krieg überlebt hat und mehr noch, er hat sich das Auto mit dem Nazigold geschnappt und geklaut.

Die großen Fragen brennen nun auf den Nägeln. Lebt der SS-Mann noch? Und wo ist das Gold?

Buck Schatz macht sich widerwillig mit seinem Enkel Tequila auf die Suche nach Nazi und Goldschatz. Es wird kompliziert, denn zu gleicher Zeit begleitet ein Serienmörder ihre Spur mit Blut und Eingeweiden. Und der ermittelnde Kriminale – merkt Buck im Urin – ist auch kein Ehrenbürger. Und so ist nach dem Fund des Nazigoldes (das sei hier verraten) noch längst nicht alles in Ordnung. Ein bißchen guckt der alte Columbo um die Ecke.

Wer hier nicht mitfiebert – dem ist nicht zu helfen.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Rütten und Loening

Alibi für ein Todesspiel

Wenn jemand neue Münster-Krimis ersinnen kann, dann ist es Bela Bolten. Der gebürtige Westfale fuhr jahrelang Taxi in der Metropole und kennt jeden Winkel rund um den Prinzipalmarkt. Entsprechend authentisch sind seine Tatorte, sei es das »Hotel Krautkrämer« oder das »Café Klatsch«.

Bolten erschafft in dem Piloten seiner Münster-Reihe ein Ermittlerpärchen aus einem vorbestraften und leicht verkommenen Jungunternehmer und einer brillant aussehenden Schauspielerin, die nach einem Motorradunfall querschnittsgelähmt ist. Die beiden betreiben eine Alibi-Agentur, deren Sinn und Zweck darin besteht, Fremdgängern ein hieb- und stichfestes Alibi für ihre Auszeit zu beschaffen. Dummerweise wird gleich der erste Doppelgänger erstochen, und da stellt sich die Frage, ob es sich um eine Verwechselung oder um Absicht handelte.

Der Autor erzählt flüssig und schafft es, den Leser in seinen Erzählstrang einzubinden. Hinsichtlich der Personenentwicklung überzeugt er mich – ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Krimis – nicht vollends. Auf der einen Seite kommt anfangs ein Herr Tom ins Spiel, der sich regelmäßig um das Liebesleben der behinderten Schauspielerin kümmert, dann aber bald vergessen wird und keine Rolle im Geschehen spielt.

Auf der anderen Seite entwickelt die arbeitssuchende Dame schon beim Vorstellungsgespräch eine derartige Dominanz, dass man sich sofort fragt, welcher Unternehmer sich das wohl bieten lässt. Und warum spricht die engagierte Arbeitssuchende nicht mit der gleichen Frechheit im Theater vor, denn auch dort gibt es viele Rollen, die Rollstuhlfahrern auf den Leib geschnitten sind, oder wendet sich gleich an eines der blühenden Inklusionstheater?

In der Diktion erzählt Bolten nüchtern und sachlich. Leidiglich bei Position 1075 wird er direkt leidenschaftlich, als er sich zur »Diktatur der Gourmets« äussert und gegen die »Schreckensherrschaft der Caffé-Latte-Despoten« wettert. Da spürt der Leser, dass der Autor sehr viel mehr kann.

Insgesamt ist »Alibi für ein Todesspiel« ein gut lesbarer Kriminalroman, der unbedingt in den Münsteraner Buchhandel gehört.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Kindle Edition

Magical Mystery oder die Rückkehr des Karl Schmidt

Magical Mystery Die Magical Mystery Tour! In der Rockmusiker-Szene so etwas wie eine globalgalaktische Sehnsuchtsbestimmung. Bei den Beatles 1967 ging es mehr oder weniger schief, der Funke sprang nicht so recht über. Besser läuft es damit hingegen bei einer bekannten PunkrockCombo aus dem Dorf an der Düssel, die mit ihren Magical-Mystery-Wohnzimmer-Konzerten dem beschworenen Ideal von love and peace noch am nächsten kommen. Der Musiker und Schriftsteller Sven Regener nun verlegt dieses Sehnsuchtsding kurzerhand in die Elektromusik/ Raverszene, denn “Raver machen dies, Rocker machen das, das ist doch alles nur vorgeschobener Scheiss!” Und zur Freude seiner Fans hat Regener Karl Schmidt an’s Steuer des Tourbus gesetzt.

Karl Schmidt? Wer war das noch gleich? Karl Schmidt mit dt, genannt Charlie. Richtig. Der Charlie! Der nicht zu Ruhm und Ehre gekommene Installationskünstler, bester Freund von Herrn Lehmann, DEM Regener-Helden. Charlie, der eifrige Konsument diversester bewusstseinsverändernder Drogen, der großherzige Charlie, der es fertig brachte, just am Tag der Maueröffnung mit einer Psychose in der Klapse zu landen, dieser Charlie sitzt nun am Steuer eines Sprinters auf Magical Mystery Tour oder wie die eigentlich geschäftstüchtigen Raver sagen: “Dieses Ding mit der Liebe“. Denn “das ist das, was die Sachen sexy macht, dass man zugleich jung ist und doof und trotzdem schlauer als alles anderen

Doch bevor die Tour losgeht, erfährt der geneigte Leser zunächst, was dem guten Charlie nach seiner Einlieferung in die Klapse geschah. Wir treffen Charlie wieder in einer wolkigen Parallelwelt namens “Clean Cut”, einer drogentherapeutischen Einrichtung in Hamburg. wo er sich in alter Gutmütigkeit und bewusster Unauffälligkeit übt. Sogar in das ganz normale Berufsleben hat er sich integriert und gibt als Hilfshausmeister und Streichelzoowärter eines Kinderkurheimes alles. Bis er eines Tages zum einen erfährt, dass er einen neuen Haupt-Hausmeister vor die Nase gesetzt bekommt und zum anderen in einer Altonaer Eisdiele eine Begegnung mit seiner Vergangenheit hat. Er trifft Raimund. einen der alten Raver-Kumpels, der es doch erstaunlicherweise in der Zwischenzeit als Mitinhaber des Labels “BummBumm” zu etwas gebracht hat, vor allem zu Geld.

Dieser Raimund plant gemeinsam mit seinem Partner Ferdi just jene Magical-Mystery-Tour, die den Gummistiefel Techno und den Rave der 90er mit der Love-and-Peace Sehnsucht vereinen soll. Charlie, der sich nur noch einen kleinen Schritt entfernt von einem selbstbestimmten Leben fühlt, kommt ihm gerade recht. Denn sie brauchen noch einen Steuermann, der nicht nur den Bus, sondern auch die Geschicke der Tour lenken soll. Dave, der es eigentlich machen sollte, hat für den Geschmack der idealistisch Beseelten zu sehr das Gemüt eines Erbsenzählers. Man braucht einen, der nüchtern bleiben muss und im Gegensatz zu den Mitreisenden halbwegs klar denken kann, zugleich aber auch an die von “BummBumm” ausgerufenen Ideale glaubt. Kurz, Charlie soll es machen. Und Charlie macht. Wenn man ihn schon nicht zum “richtigen” Hausmeister befördert.

Denn dadurch, dass man ihn bei der längst fälligen Beförderung in der kleinen Spießerwelt übergeht, mit der er sich gerade so mühsam versucht zu arrangieren, bekommt der nach Zugehörigkeit und Anerkennung suchende Charlie einmal mehr die Bestätigung, dass er in dieser Welt wohl auf immer der “Psycho-Dödel” bleiben wird. Genau in diesem Moment tritt die Magical-Mystery-Nummer in sein Leben. Das muss doch ein Zeichen sein. (Dass er auch diesen Job nur angeboten bekommt, weil einigen die Nase des eigentlich vorgesehen Dave nicht passt, blendet er dabei geschickt aus) Er sieht es als Chance, in die von ihm nie vergessene und immer geliebte Welt durchgeknallter Künstler zurückzukehren.

Eine Welt, in der man sich Hosti Bros nennt, Saxophon-Stücke als Lied mit der Flöte hypet und in der manchmal auch nur ein Arschwackeln reicht, um zu reüssieren. Eine Welt, die alles nicht ganz so ernst nimmt, aber mittlerweile auch zu Charlies großem Erstaunen eine Welt geworden ist, die Riesendinger a la Mayday Dortmund (im Buch Springtime in Essen) mit Erfolg auf die Beine zu stellen vermag. Wenn auch noch nicht mit dem mega Erfolg, den ElektroMusic, Djs und Rave heutzutage haben. Regeners Buch spielt eher in der Zeit, als German dance noch so etwas wie der ganz heisse Scheiss war und Ideale noch salonfähig. Wenn man auch mitunter den Eindruck hat, dass Charlie der letzte echte Idealist in der Bummbummtruppe ist.

Glücklicherweise hilft diesem seine pragmatische Art, mit der er den Aushilfs-Hausmeister im Kinderkurheim gegeben hat, nun auch prima das Magical-Mystery-Getingel einigermaßen zu wuppen. Und wer weiß, vielleicht findet er ja einen Weg, nach der Tour ein neues Leben in einer alten Welt gut auf die Reihe zu kriegen. Denn seine Künstlervergangenheit ist ihm lange noch nicht egal, wie sich zeigt, als er in einem Antiquariat zum ersten Mal den Katalog für seine eigene, dareinst in den 80ern geplante und dann geplatzte Ausstellung findet.

Charlie ist ein großartiger Held, ein sympathischer noch dazu. Letzten Endes sogar einer, mit dem man schneller warm wird, als mit Herrn Lehmann. Von dem im übrigen im Buch auch immer mal wieder mehr oder weniger wehmütig die Rede ist. “Frankie, die alte Socke… wir hätten ihn nicht dauernd Herrn Lehmann nennen dürfen” Soviel sei gespoilert: Ja, der Leser wird erfahren, was aus Herrn Lehmann geworden ist. Aber – nein, es wird kein Wiedersehen mit Herrn Lehmann geben. So billig macht es ein Sven Regener glücklicherweise nicht. Hat auch eine gewisse Logik: Die Geschichte von Herrn Lehmann war weitestgehend auserzählt, er war ja auch nicht wirklich ein Typ, um den man sich hätte Sorgen machen müssen. Das war einer, der immer wieder auf seine Füße fallen würde. Es waren ganz andere Typen, die in den vorangegangenen Büchern hinten rüber gefallen sind und deren Geschichte noch zu Ende erzählt werden kann. Wie die von Charlie eben.

Seinem Helden zur Seite gestellt hat Regener mit den Ravern Figuren, die von Apfelwein und anderen Drogen beseelt ununterbrochen die Dinge des Lebens bequasseln und den Begriff Laberflash aufs beste illustrieren, gelegentlich aber auch mal was Erhellendes sagen. So atemlos wie die Raverszene in der äußeren Wahrnehmung daherkommt, so atemlos liest sich das Buch streckenweise auch. Gequirltes Gesabbel de luxe. Manchmal witzig, manchmal nervtötend, aber immer authentisch, Grammatikfehler in wörtlicher Rede absichtlich inbegriffen. Milieugenauigkeit war schließlich schon immer eine der großen Stärken Sven Regeners. Das kann er wie kein Zweiter. Hier eine Szene, dort ein Dialog und schon hat man die jeweilige Welt in ihrer ganzen Surrealität vor Augen. Egal, ob es die zwischen Nostalgie, Geschäftstüchtigkeit und Idealismus sich nicht entscheiden könnende großmäulige Techno Szene ist oder die zwischen Bevormundung und Weltverbesserer-Gehabe schwankende Clean-Cut-Welt.

Regeners Figuren haben alle eine Macke, aber man muss sie mögen. Er hat ganz einfach ein Herz für die Bekloppten dieser Welt. Doch so entlarvend manche Szenen sind, so wenig schaut Regener und mit ihm der Leser auf sie runter. Eine ganz große Stärke entwickelt das Buch in den Momenten, wo es Karl Schmidt über seine paronaiden Schübe, “das Dunkel, das ihn bedroht” und wie er damit umgeht, erzählen lässt. Im Buch ist es die DJane Rosa, in die Charlie sich so ein bißchen verliebt, die stellvertretend für den Leser wissen will, wie es so ist, wenn man verrückt wird. Das erzählt einem ja sonst keiner. Aber Charlie erzählt es jetzt. Ganz nüchtern, nicht wehleidig, nicht pathetisch und genau darum so berührend erzählt er es Rosa und mit ihr dem Leser in bester Hausmeister-Manier, wie es ist mit “der Schraube, die einmal überdreht wurde und nie wieder richtig fest sitzt

Was bleibt nach der Lektüre? Ein Einblick in die goldene Aufbruchzeit der Raver, Freude, Hoffnung und trotz gelegentlicher Längen und Überdruss ob des allzu breitgetretenen Gelabers die wiederholte Erkenntnis, dass es wenige gibt, die wie Regener mit der deutschen Sprache umgehen können. Texte von ihm machen einfach immer wieder Freude, egal ob es Liedtexte oder Prosa sind. Weit und breit ist wohl keiner zu finden, der Wörter derart kunstvoll zu gebrauchen weiß und damit entzückt, egal ob es der gesungene “Schwachstromsignalübertragungsweg” oder die “Verlaufskontrollpreußen” in der “Bummbummigkeit” der Magical Mystery Tour sind. Und alte abgenudelte Sponti-Sprüche à la “Profile sind nur was für Reifen” in Literatur umzuwandeln, das muss man auch erstmal fertig bringen. Darüberhinaus möchte man ihm schon ziemlich gerne den Titel “Meister der ersten und letzten Sätze in einem Roman”verleihen. Auch wenn diese hier absichtlich nicht zitiert werden, da man sie sich ruhig selbst erlesen sollte, sie sind extremst gelungen – Chapeau.

Sven Regener lebt in Berlin. Bekannt und beliebt wurde er einem eingeschworenen Fankreis als Frontmann der Band Element of Crime. Mit seiner Trilogie über Herrn Lehmann machte er sich auch als Schriftsteller einen Namen und brachte das Kunststück fertig, seitdem mit diversen Projekten gleichermaßen als Lieblings des Feuilletons und der Indie-Szene die deutsche Kulturszene aufzumischen. Dass einem während der Lektüre der Magical Mystery ständig EoC Liedtexte in den Sinn kommen, gehört wohl ebenso zu den Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen des Regener-Universums wie die Tatsache, dass man während des Lesens immer Detlef Buck als Karl Schmidt vor Augen hat.

Nachsatz zur Rezension am 03.12.2015:

Der Kollege Kretzler hat dieses Buch in der Kindle-E-Book-Version gelesen. Neben der Begeisterung für das Werk hat er aber eine kritische Anmerkung, die durchaus in eine Buchbesprechung gehört. Ich zitiere deshalb auch an dieser Stelle aus untenstehendem Kommentar des geschätzten Kollegen:

Was mir bei der Kindle-Version negativ auffiel waren wiederholt unmotivierte Zahlen in eckigen Klammern mitten im Text, da wurde geschlampt.”


Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Wilder Fluss

515It+rl-dL._SX330_BO1,204,203,200_Der South Nahanni River in den kanadischen Northwest Territories ist bekannt für seine Geschichten um mysteriöse Todesfälle, kopflose Leichen und Entführungen, aber er kann auch der Schlüssel zum Überleben der Menschheit sein oder ihrer Zerstörung. Del dachte, dass ihr Vater schon lange tot war. Doch jemand aus ihrer Vergangenheit behauptet etwas anderes. Jetzt ist sie mit einer Gruppe ihr nahezu fremder Menschen auf einer lebensgefährlichen Mission. Vor sieben Jahren verschwanden Del Hawthornes Vater und drei seiner Freunde in der Nähe des Nahanni River und wurden für tot erklärt. Del ist schockiert, als ihr einer der vermissten Männer an der Universität begegnet; gealtert zwar und kaum wiederzuerkennen, aber äußerst lebendig. Was der Mann ihr sagt, scheint undenkbar: Auch ihr Vater ist noch am Leben! Mit einer Gruppe von Freiwilligen fährt Del zum Nahanni River, um ihren Vater zu retten. Was sie vorfindet, ist ein geheimnisvoller Fluss, der sie in eine technologisch fortgeschrittene Welt voller Nanobots und schmerzhafter Seren führt. Del deckt eine Verschwörung unvorstellbaren Grauens auf, die uns alle zu vernichten droht. Wird die Menschheit für die Suche nach dem ewigen Leben geopfert werden? Ab welchem Punkt werden wir zu… Gott?

Delila ist Mitte 30 und hat den (angeblichen) Tod Ihres geliebten Vaters, eines angesehenen Genetikers, nie überwunden. Jetzt taucht einer seiner Kollegen plötzlich auf und behauptet, dass Ihr Vater noch am Leben sei. Er liegt im Sterben, kämpft gegen eine unbekannte Variante von Progeria, die den Körper im Zeitraffer altern lässt, kann Del aber noch sein Notizbuch mit rätselhaften Codes übergeben, bevor er das Bewusstsein verliert! Für Del steht nun fest dass Sie Ihren Vater finden und nach Hause bringen muss. Gemeinsam mit Ihrem Exfreund stellt sie ein Expeditionsteam zusammen, um am Nahanni River mitten in der kanadischen Einöde nach Ihrem Vater zu suchen, denn dorthin brach er vor 7 Jahren zu Forschungszwecken auf.

Das Buch beginnt als spannender Abenteuerroman, mit dem Überleben in der Wildnis, Spurensuche in den Wäldern, Kanufahrten auf dem reißenden Fluss und hat mir bis dahin äußerst gut gefallen, was auch an den verschiedenen Persönlichkeiten liegt, die miteinander auf die Suche gehen und dort aufeinanderprallen.

Nach der Hälfte kippt die Geschichte aber (leider) und driftet mir zu sehr in ScienceFiction ab und das hat mir gar nicht gefallen. Damit hätte ich ja noch leben können, denn jetzt wollte ich auch wissen, wie die Geschichte endet. Ich hatte mich mit ScienceFiction abgefunden, aber auch die Handlungen und die Gespräche der Figuren ändern sich stark. Die Geschichte wird sehr unglaubwürdig, ich habe an manchen Stellen mit dem Kopf geschüttelt, weil sich kein normaler Mensch so verhalten würde. Vieles ist meiner Meinung nach einfach unlogisch und unglaubwürdig (und ich rede nur vom Verhalten der Figuren, nicht von ScienceFiction Aspekten)! Die Geschichte wird nach und nach leider immer blöder, obwohl sie mir zu Anfang so gut gefallen hat und das Ende fand ich auch sehr enttäuschend…! Na ja, zumindest war es kein „Friede-Freude-Bratkartoffel-Ende“ das ich schon befürchtet hatte.

Eine Geschichte aus deren Grundidee (illegale Stammzellenforschung, der Besessenheit von ewiger Jugend und Macht) man wirklich viel hätte machen können, aber irgendwie hat das nicht so ganz geklappt! Die ScienceFiction Elemente waren auch einfach zu viel des Guten und hätten nicht sein müssen. Oft ist weniger halt einfach mehr.

Cheryl Kaye Tardif ist eine preisgekrönte, kanadische Bestsellerautorin. Ihr bekanntestes Werk ist der übernatürliche Thriller „Des Nebels Kinder“, der sich über 60.000 Mal verkaufte. Sie wird mit Michael Crichton, James Patterson und J.D. Robb verglichen.

 


Genre: Romane, Thriller
Illustrated by Luzifer Verlag

Die Erbseninseln

41T-cl2H6hL._SX307_BO1,204,203,200_Ich muss gestehen, dass mir die Erbseninseln (eine Gruppe von winzigen Eilanden bei Dänemark) bisher kein Begriff waren, aber das hat sich nach der Lektüre dieses wunderbaren Werkes gründlich geändert. In zehn Geschichten (»Passagen«) erzählt die Autorin vom Leben auf den Inseln und ihren Bewohnern; dabei fehlt weder Historisches noch Sportliches und am Ende wird der Leser sogar mit dem Rezept für eine leckere Erbsensuppe beschenkt.

Man sollte sich Zeit nehmen beim Lesen, zu groß ist sonst die Gefahr, etwas zu übersehen und somit passt die Geschichtensammlung perfekt zu den beschriebenen Eilanden, wo Stress und Hektik ebenfalls keinen Platz finden. Der Autorin gelingt es ausgezeichnet, uns Lesern Land und Leute nahe zu bringen, sie vermittelt kongenial ihre eigene Sympathie für diese Region, am liebsten möchte man sofort den nächsten Flug dorthin buchen. Das Buch ist nicht nur mit viel Liebe geschrieben, sondern auch gestaltet und produziert; Papier und Einband sind von hervorragender Qualität.

Doris Brockmann kannte ich bisher von ihrem exquisiten Werk »Das Schreiben dieses Romans war insofern ein Glücksfall« und »Die Erbseninseln« stehen dem in keiner Weise nach; auch hier machen Sprachwitz und (trockener) Humor das Buch zu einem ungetrübten Lesevergnügen, zu einem echten Kleinod im oft doch recht tristen Literaturbetrieb.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Reiseführer
Illustrated by Edition Krill Wien

Himmelreich mit kleinen Fehlern

Emma_Wagner_HimmelreichDurchaus unterhaltsam liest sich Emma Wagners spritziger Roman um die Großstadttussi Valentina Leumund, ein verwöhntes Kind stinkreicher Eltern.

Mit einem feuerroten Mercedes SL, Gucci-Sonnenbrille, Hermès-Vintagebag, sauteuren Louboutins (laut Google sind das luxuriöse französische Schuhe) und einer Auswahl sexy Sommerkleider fährt sie in das Dorf ihrer Kindheit, um eine überraschend verstorbene Jugendfreundin auf dem letzten Weg zu begleiten und gleichzeitig einen Job zu erledigen.

Gleich zu Beginn des Romans legt sich die junge Dame mit einem Bäuerlein an, der ihr mit seinem schwerfälligen Traktor den Weg versperrt. Als sich dieser jedoch als jung und muskulös darstellt und ihr am nächsten Morgen im Bad nackt mit ansehnlicher Morgenlatte begegnet, beginnt ihr bislang unterfordertes Becken zu kreisen. Dabei ist der Typ in der Region, in der Kühe definitiv die intelligenteste Lebensform sind, natürlich völlig daneben.

Selbst der in diesem Genre weitgehend unerfahrene Leser ahnt nun, wie die Story weitergeht, und darf lediglich spekulieren, ob sie konventionell auf weißem Linnen, im duftenden Heu oder auf einem Acker im Mondlicht endet. Für den männlichen Leser interessant ist die weibliche Betrachtungsweise, wonach offenbar doch die körperliche Ausstattung sowie die ausgefahrene Männlichkeit Schwerpunkte des Interesses der Damenwelt sind. Wobei sich die Weiblichkeit offenbar nie die Frage stellt, ob denn ein Mann Interesse an ihnen hat. Im Gegenteil: Die Typen nehmen eo ispe alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist und dürfen sich freuen, an derart tollen Tussen zu knabbern.

Die Autorin versteht es allerdings, ihre Story geschickt zu verpacken und allerlei andere Herren, die ebenfalls gut gebaut und zudem nett sind, auftreten zu lassen. Der Einbau einer kleinen Kriminalhandlung um den Bruder des störrischen Bauern, der in den Unfalltod der Freundin verwickelt ist, macht die Sache durchaus spannend. Und schließlich geht es auch um das Gutshaus ihrer Eltern, das Valentina gewinnbringend vermarkten will. Das wiederum wird von Mister Morgenlatte und seinem Clan bewirtschaftet und nun sei nicht zu viel verraten, was aus dieser Konstellation erwächst …

Rasant geschrieben schafft Emma Wagner es mit ihrem Werk, den Leser durchaus gefangen zu nehmen. Sie umschifft durchaus gekonnt die allerschlimmsten Fettnäpfchen des Genres und tupft die Klischees sanft. In erster Linie leichte Kost von Frauen für Frauen, aber (sic!) auch Männer können der Lektüre durchaus Erkenntnisse abgewinnen.

Nachtrag

Ob der sächsische Genitiv in einem deutschen Buchtitel (»Amor´s Five«) akzeptabel ist, bestreite ich mit Nachdruck. Es handelt sich um ein deutschsprachiges Buch, wir reden nicht über die englische Übersetzung. »Amor« ist  auch kein englischer Begriff, man würde »Amors Five« mit »Cupid´s Five« übersetzen. Lektorin Susanne Pavlovic, die ich auf der BuchBerlin auf den Schnitzer persönlich ansprach, reagierte aggressiv und erklärte mir, sie diskutiere nicht »mit jedem« über ihre Arbeit. – Na denn …


Genre: ChicLit, Frauenliteratur, Liebesroman
Illustrated by Kindle Edition

Männer, die in Schränken sitzen

christoph_kesslerBei Titel und Genre des Buches musste ich spontan an Oliver Sacks wundervolles Buch »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« denken. Und tatsächlich ist Sacks Werk über die dunklen Seiten der menschlichen Seele durchaus vergleichbar mit den Geschichten, die Christof Kessler erzählt.

Kessler, ein Neurologe, schildert mehrheitlich Fälle aus dem angrenzenden Fachgebiet, der Psychiatrie. Als Chef einer Greifswalder Klinik begegnete er beispielsweise einem Lokomotivführer, den seine Kollegen anfangs für einen Schlaganfallpatienten hielten, der jedoch durch einen blutigen Unfall traumatisiert und daraufhin eines Teils seiner Erinnerung beraubt wurde.

In einem weiteren Fallbeispiel präsentiert er den zwangsgestörten Nachbarn, der seine Frau verliert, weil er sich gegen die Behndlung seines Ordnungswahns wehrt. Einem vermögenden Ossi, dessen raffgieriger Sohn den Vater lieber tot als lebendig sähe, konnte er indes nicht helfen; der Filius verhinderte dies und bedrohte den Kliniker.

In der titelgebenden Story beschreibt Kessler einen Patienten, der Erstickungsanfälle in Aufzügen, Flugzeugen, Restaurants und Sälen bekommt und nach langem Widerstand durch eine Therapie geheilt wird, bei der der Patient kontrolliert in einen Schrank gesperrt wird.

Überhaupt scheinen die psychisch Erkrankten eine panische Angst davor zu haben, für »verrückt« erklärt zu werdenu und hoffen geradezu auf eine organische Erklärung ihrer Leiden. Nach der Devise, lieber ein Schlaganfall als ein »Dachschaden«, geben sie sich größte Mühe, eine »richtige« Krankheit diagnostiziert zu bekommen. Und Patienten mit einer ernsthaften neurologischen Erkrankung wie Hirntumor oder Multiple Sklerose würden am liebsten hören, es liege eine psychische Störung vor.

Immer wieder erinnert die Lektüre der Kesslerschen Erinnerungen daran, wie gut es Patienten hatten, die in seine Klinik kamen. Ganz offensichtlich arbeitete der Neurologe mit einem Team hochqualifizierter, motivierter Kollegen. Typisch ist das eher nicht, das Elend von Neurologie und Psychiatrie in deutschen Praxen und Krankenhäuser ist weithin bekannt. Monatelange Wartezeiten auf einen Gesprächstermin bei vielfach überforderten Therapeuten wetteifern mit einem Streit der Schulen und Lehrmeinungen von der klassischen Psychoanalyse über die Verhaltens-, Gestalt- bis hin zur Schematherapie. Bevorzugt wird derjenige, der sich hilfesuchend an einen Seelenklempner wendet, mit Psychopharmaka vollgestopft, deren Nebenwirkungen die Persönlichkeit teilweis bizarr verändert, ihm aber scheinbar »hilft«. Diese Aspekte spart Christof Kessler aus, obwohl sie ihm zweifellos bekannt sein dürften.

Bei einigen Geschichten drängt sich das literarische Bestreben des Autors in den Vordergrund. In »MRSA« beispielsweise baut er eine mehr oder weniger wilde Kriminalgeschichte um eine Hähnchenmastanlage auf, die er laut polizeilichen Ermittlungen angeblich in Brand gesteckt haben soll, weil seine Visitienkarte am Tatort gefunden wurde. Kesslers Versuche, Kurzgeschichten zu schreiben, treten hinter den spannend geschriebenen Fallschilderungen zurück.

Christof Kesslers Buch bietet jedem, der an den Grenzbereichen zwischen Neurologie und Psychiatrie interessiert ist, vielfältige Ansätze, seine Umwelt wie auch das eigene Sein zu betrachten und verfügt dabei über einen hohen Unterhaltungswert.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Neurologie, Psychologie
Illustrated by Eichborn Verlag

Sag nicht, dass du Angst hast

»Samia Yusu91MRpPsRdgL._SL1500_f Omar, Leichtathletin.
Geboren am 25. März 1991, Mogadischu, Somalia; gestorben am 19. August 2012, im Mittelmeer
Größe 1,63 m, Gewicht 54 kg«

Hinter diesen kurzen Anmerkungen bei Wikipedia verbirgt sich ein Drama, das wie ein Spiegelbild zur aktuellen Diskussion um die Flüchtlinge passt. Aber ich will nicht politisch werden, mir geht es um das Buch.
Der Titel des Buches ‘Sag nicht, dass du Angst hast’ drückt eindrucksvoll aus, was für ein Mensch Samia war, von welch unglaublichem Durchhaltewillen geprägt.

Samia wollte ihre Heimat bei den Olympischen Spielen vertreten und das erreichte sie auch. Bei der Olympiade 2008 in Peking trug sie die Flagge Somalias beim Einmarsch der Teilnehmer. Beim 200-Meter Lauf ging sie weit abgeschlagen als letzte Läuferin durch das Ziel. Trotzdem: Wenn jemals der Spruch “dabei sein ist alles” eine Berechtigung hatte, dann war es Samias Lauf.

Dafür muss man wissen, wie sie trainierte, wie sie sich auf Wettkämpfe vorbereitete. Nachts am Strand, trotz Ausgangssperre und der permanenten Gefahr, marodierenden Soldaten in die Hände zu fallen, denn Somalia ist seit Jahrzehnten von Bürgerkriegen geschüttelt. In einem islamisch geprägten Land treibt eine Frau Sport? Das geht nur im Verborgenen, höchstens bei Mondlicht.

Die Mutter ist Gemüsehändlerin, Straßenverkäuferin, womit hinreichend beschrieben ist, wie die Familie lebt – von Gemüse und der Hand im Mund. Der Vater ist tot, umgekommen bei einem der vielen Straßenkämpfe.

Die Behörden stellen ihr keine korrekten Reisepapiere aus, sie wollen ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen 2012 in London verhindern. Samia fasst einen folgenschweren Entschluss. Sie will illegal nach Europa, wenn es anders nicht möglich ist. Sie macht sich auf den Weg – wie viele Afrikaner heute.

Der Autor Guiseppe Catozzella schafft es meisterhaft, das Leben der notleidenden Bevölkerung Somalias zu beschreiben. Wobei er – vielleicht unabsichtlich – die aktuelle Not vieler Afrikaner beschreibt. Er erzählt, wie man in einem über Jahrzehnte von Bürgerkriegen geschüttelten Land lebt, wie man zusammengepfercht wie auf einem Viehtransport auf der Ladefläche eines Lkws durch die Sahelzone und dann durch die Libysche Wüste an die Mittelmeerküste gelangt. Menschen fallen entkräftet von der Ladefläche, bleiben dem Tod überlassen am Wegrand liegen. Auf dem langen Weg sind Zwischenstationen eingerichtet, Mautstellen, wo die Schlepper zusätzliches Reisegeld kassieren, dass von den Angehörigen auf verschlungenen Wegen geschickt wird. Erst wenn gezahlt wird, geht die Reise weiter. Kommt kein Geld, ist der Hungertod gewiss.

An der libyschen Küste warten ausrangierte Fischerkähne und löchrige Schlauchboote, die ruhige See, keinesfalls Wind und höheren Wellengang überstehen. Gezahlt wird vorher und schaffen es die Boote wegen schlechter Wetterbedingungen gerade aus der Drei-Meilen-Zone und müssen umkehren, muss für den nächsten Versuch neue Passage bezahlt werden.

Das Buch geht wahrlich unter die Haut. Ich habe es an einem langen Abend gelesen, konnte es nicht aus der Hand legen. Es ist wohltuend unpolitisch, keine Anklage, die eindrucksvolle Beschreibung des kurzen Lebens einer tapferen jungen Frau.

Wer verstehen will – und jetzt werde ich doch etwas politisch – was die Afrikaner auf die lange Reise nach Europa treibt, wer erleben will, wie sich Flucht durch die Wüste anfühlt, der sollte dieses Buch lesen. Man begreift auch, dass wir nur einen verschwindend geringen Teil der Toten sehen, wenn in den Zeitungen steht, man habe gerade wieder fünfzig oder mehr Ertrunkene aus dem Mittelmeer gefischt. Das sind nur die Leichen, die bei uns angeschwemmt werden. Die vielen Toten über tausende Kilometer in den Wüsten und Halbwüsten Afrikas sehen wir nicht.

Samia Yusuf Omar hat es durch die Wüste geschafft, sie hat das Mittelmeer überquert, um dann eine Rettungsleine um eine Handbreit zu verpassen und im Mittelmeer zu ertrinken. Sie wurde 21 Jahre alt.


Genre: Biographien, Tatsachenroman, Thriller
Illustrated by Albrecht Knaus Verlag

Die Schnitzlers: Eine Familiengeschichte

cover_1721_lJutta Jacobi beschreibt mit diesem Buch die Geschichte der Familie um den Schriftsteller Arthur Schnitzler, und zwar nicht nur sein Leben, sondern auch das seiner Vor- und Nachfahren. Der gesamte Zeitraum der Darstellung erstreckt sich über mehr als 150 Jahre, mehrere Länder und beschreibt neben der eigentlichen Familiengeschichte auch sehr schön den Wandel der Gesellschaft von 1850 bis heute.
Alles beginnt mit dem Vater Arthurs, der Mitte des 19. Jahrhunderts von Ungarn nach Wien auswandert. Hier trifft er auf eine Zeit des Umbruchs, die jüdische Bevölkerung bekommt endlich mehr Rechte als zuvor. Er lernt seine Frau Louise kennen und steigt mit der Heirat in der Gesellschaft auf, wird ein angesehener Arzt und Anhänger der Wiener Schule, die mit einem besonderen Augenmerk auf den Empirismus große Erfolge feiert. Außerdem schreibt er erfolgreich für ein medizinisches Fachblatt.
Arthur Schnitzler wird als ältester Sohn geboren, beginnt mit 11 Jahren erste lyrische Werke zu schreiben, mit 13 hat er schon einige Dramen verfasst.
Ab 1875 flammt der Antisemitismus wieder auf, worunter auch die Poliklinik seines Vaters leidet.
Arthur beginnt ein Medizinstudium, es fällt ihm leicht und er schließt es erfolgreich ab. Seine wahre Leidenschaft gilt jedoch der Literatur, nicht der Medizin. Nach einigen Rückschlägen kann er hier endlich Erfolge verzeichnen.
Privat führt er ein sehr unstetes leben, geprägt von vielen sexuellen Abenteuern und Hypochondrie. Erst als er mit 40 Jahren Olga Gussmann heiratet, erhält die Familie für ihn einen höheren Stellenwert.
Während Arthur beruflich immer bekannter und geschätzter wird, kriselt seine Ehe deutlich, weil Olga sich ständig in seinem Schatten sieht und selbst als Sängerin kaum Anklang findet.
1921 wird die Ehe geschieden und Arthur bekommt immer mehr den Antisemitismus jener Zeit zu spüren. Seine Tochter stirbt im Alter von 19 Jahren nach Selbstmord, Arthur selbst am 21.3.1931.
Sein Sohn, dessen Frau und seine Mutter Olga flüchten vor dem Naziregime in die USA und gründen dort neue Familien, die sich zum Teil später wieder in Deutschland ansiedeln.

Dies ist eine extreme Kurzfassung des Inhalts, die in keiner Weise dem gerecht wird, was die Autorin an Recherchearbeit geleistet hat.
Sämtliche Stationen der Familie Schnitzler hat sie persönlich bereist, Briefe und Tagebücher gelesen und alles bis ins kleinste Detail rekonstruiert.
Das ganze Sachbuch ist geschrieben wie ein Roman, durchaus anspruchsvoll zu lesen, aber mit einem sehr angenehmen Schreibstil. Dieser lässt trotz der manchmal tragischen Geschichte immer wieder ein bisschen Humor durchblicken.Die Familie Schnitzler wird sehr menschlich beschrieben, man erlebt als Leser ihr Schicksal regelrecht mit.
Sehr interessant war für mich nicht nur die Familiengeschichte, sondern auch die Entwicklung der Gesellschaft im Verlauf der letzten 150 Jahre. Mir ist wieder mal sehr bewusst geworden, wie anders das Leben doch vor nicht allzu langer Zeit war, insbesondere für Frauen.
Aufgelockert wird der Text durch einige Schwarzweiß- Fotografien der Familie.
Insgesamt ein Buch, das sich nicht nicht einfach überfliegen lässt, aber absolut empfehlenswert für historisch Interessierte oder Arthur-Schnitzler-Begeisterte.


Illustrated by Residenz

Grosse Liebe

Kermani grosse Liebe Was löst Liebe aus bei einem Menschen und wie verändert er sich dadurch? Dieser Frage geht Navid Kermani in seinem Roman „Grosse Liebe“ in Gedanken nach. Die Liebe – so das Fazit des Romans – ist, muss es sein, was Menschen über alle Kulturen, Religionen und Jahrhunderte hinweg verbindet.

Navid Kermani erinnert sich an seine Schulhofliebe in den 80er Jahren. Fünfzehn Jahre war er alt und es waren nur wenige Tage, in denen er alle Phasen der Liebe durchlebte. Von der alle Sinne verwirrenden Schwärmerei für die Allerschönste aus der Raucherecke im gymnasialen Pausenhof über den ersten Kuss, die erste Aufopferungsbereitschaft bis schließlich hin zum radikalen Bruch, der schroffen Zurückweisung durch die Geliebte. Kermani erzählt von dieser Liebe vor dem Hintergrund der friedensbewegten 80er Jahre und verknüpft seine Erinnerungen mit Erzählungen islamischer Liebesmystiker aus dem 12. und 13. Jahrhundert.

Der zwischen Unschuld und Verzweiflung schwankenden Liebe des 15jährigen stellt er die Erzählung Ibn Arabis über die sagenhaft schöne Leila und den ihr verfallenen Madschnun gegenüber. Die Erkenntnis hier wie dort: Würdevoll und töricht zugleich ist die Liebe, sie adelt den Menschen und gibt ihn gleichzeitig der Lächerlichkeit preis. Nicht ohne Erleichterung kommt der erwachsene Erzähler dennoch zu der Erkenntnis, dass bei aller Narrheit des 15jährigen die hemmungslose Demut des Madschnun seiner Lebenswirklichkeit nicht entspricht und entsprach. „Ich glaube allerdings, der Junge hätte Ibn Arabi den Vogel gezeigt“.

„Grosse Liebe“ ist ein Roman, der von Erinnerungen eines ungestümen Jugendlichen lebt, doch das Buch ist weder als klassischer Liebesroman noch als Coming-of-Age-Geschichte angelegt. Auch die schwärmerische Huldigung an die Schönste ist nur mehr ein Mosaikstein zur Lösung des Rätsels der Liebe. Die Erzählungen der arabisch-persischen Liebesmystik sind das ureigene Metier des habilitierten Orientalisten Kermani. Es sind diese alten, aber zeitlosen Geschichten, mit denen er zeigt, dass sich Liebe nie ändert und mit denen er einen ganz eigenen, sehr behutsamen beschriebenen Beitrag zum Verständnis untereinander über alle Kulturen hinweg leistet.

Doch es ist nicht nur das Wesen der Liebe, das er mit der Erzählung dieser (von ihm als rein und wahrhaftig empfundenen) ersten Liebe erinnern will. Gleichzeitig reflektiert er auch die Angst vor dem Verlust, es ist ein Versuch, diese Angst in ihre Schranken zu verweisen. Er will nicht nur seinem eigenen 15jährigen Ich nachspüren, es ist auch sein Weg, seinen nunmehr 15jährigen Sohn zu verstehen.

Der Sohn entgleitet ihm jäh und unvermutet, er verschmäht den häuslichen Geburtstags-Frühstückstisch mit dem liebevoll gebackenen Schokoladenkuchen zugunsten eines Treffens mit Freunden in einer neumodischen Kaffeehaus-Kette. Kermani erinnert sich an den Kummer, den sein durch die Liebe verursachtes irrationales Handeln seinen Eltern bereitet hat. Nicht nur, dass er ohne Meldung über Nacht wegblieb, einmal musste der Vater ihn sogar aus einer Arrestzelle holen. Da ist die Kaffeehaus-Kette ja noch das kleinere Übel.

Kermani erzählt diese Geschichte auf allen Ebenen in einer sehr melodiösen, wohlgesetzten, gleichwohl leicht zu lesenden Sprache, die den Leser angenehm durch die Geschichte gleiten lässt. Wenn überhaupt etwas den Lesefluss unterbricht, dann seine gelegentlichen, bemüht wirkenden Abstecher in die Meta-Ebene. Einhundert Schreibtage habe er sich gegeben, einhundert kurze Abschnitte sollten es werden und sind es geworden. Doch nicht immer passt es so, wie es der um stete Perfektion bemühte Erzähler wünscht. Da wird der Plan mal nach vorne, mal nach hinten geschoben, solange bis die Schönste aus der Raucherecke auch genau in der Mitte der Erzählung ihre Schenkel öffnet. Die Geschichte wirkt dadurch gewollt harsch unterbrochen, warum der Erzähler das allerdings möchte, bleibt im Verborgenen. Vielleicht will er seine gelegentlich ins Schwärmerische abgleitenden Beschreibungen dadurch relativieren, doch das hätte es nicht gebraucht.

Navid Kermani gilt in der deutschen Kulturszene als bedeutender Intellektueller, nicht zuletzt auch durch die Gründung der Kölner Akademie der Künste der Welt. Er ist vielfach preisgekrönt, nicht immer unumstritten und hat sich sowohl als Wissenschaftler wie auch als Autor einen Namen gemacht. Er selbst sagt, seine Aufgabe als Autor sei die (Selbst-)Kritik und Versöhnung der europäischen und der islamischen Kultur. Im deutschen Bundestag hielt er eine vielbeachtete Laudatio zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes. Getreu seiner selbstgestellten Aufgabe konfrontierte er die Abgeordneten und mit ihnen das ganze Land mit Lob und Kritik gleichermaßen. Die Wichtigkeit solch besonnener Worte kann jederzeit kaum hoch genug geschätzt werden.

„Grosse Liebe“ ist kein politisch motivierter Roman, aber die Handlung ist eingebettet in die Zeit der Friedensbewegung, der Demos im Bonner Hofgarten, der Hausbesetzerkommunen. Bis ins kleinste Detail, vom Räucherstäbchenduft über selbstgetöpferte Teetassen bis hin zu den unvergessenen Latzhosen jener Tage lässt Kermani die Atmosphäre wieder auferstehen und rahmt seine Erinnerungen darin ein. Es sind Erinnerungen, die ein Teil seiner Generation kennt und die heute phantastisch naiv anmuten. Leider. Wie auch Kermani bedauernd anmerkt. Denn so unpolitisch sein Roman auf den ersten Blick daherkommt, ist er denn doch nicht.

Es ist eine der ganz großen Stärken des Erzählers, dass immer wieder ein Nebensatz, eine beiläufig gezogene Schlußfolgerung kommt, von der man erst Tage später merkt, dass man dauernd darüber nachdenkt. So zum Beispiel, wenn er aufrichtig bedauert, dass von der Zeit der 80er nichts im kollektiven Gedächtnis der heutigen Bundesrepublik blieb, so dramatisch und umstürzlerisch sie den Beteiligten auch damals vorgekommen sein mag. Er schätze diese Zeit, „weil sie eines nicht war, nämlich cool und ironisch„. Es sei „das bisher letzte Mal in der westlichen Welt gewesen, dass das Gutmeinen, Altruismus, Sanftmut als Tugend galt“ – genau wie in den traditionellen arabischen Geschichten.

Diejenigen aus Kermanis Generation, die seine Erinnerungen an etliche im Buch beschriebene Ereignisse teilen, werden – wenn sie ehrlich zu sich selber sind – zu der Schlußfolgerung kommen: Er hat recht. So idealistisch, so begeisterungsfähig, so vom Glauben an den Frieden beseelt war keine Generation mehr danach und auch diese Generation hat sich längst in den Zynismus geflüchtet. Was daraus resultierte und noch resultieren mag – diese Frage sollte man sich in der Tat stellen, diesen Gedanken in der Tat zu Ende denken.

Und so ist dieses Buch über die Liebe vielleicht auch grundsätzlich zu verstehen. Als Buch nicht nur über die Liebe zwischen zwei Menschen, sondern auch zu den Menschen.

(Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de 2014)


Genre: Erinnerungen, Romane
Illustrated by Hanser Verlag München

Juliana Cass – Der Killer in mir

51v-AtSwHnL._BO2,204,203,200_PIsitb-sticker-v3-big,TopRight,0,-55_SX324_SY324_PIkin4,BottomRight,1,22_AA346_SH20_OU03_Juliana Cass, eine total kaputte Scharfschützin, Alkoholikerin, schizophren und mit  Wahnvorstellungen kämpfend, wird in die  Abteilung “Verhaltensanalyse” versetzt, weil ein grausamer Psychopath Morde begeht, die an sie adressiert sind. Mit ihrer Hilfe erhofft sich ihr neues Team die Klärung des Falls.
Sie ist zum ersten Mal, seit sie beim FBI arbeitet, mit echten Opfern konfrontiert. Der Mörder begeht diese Morde auf so grausame Weise, dass mit jeder Tat ein Stück ihrer Psyche zerfällt. Selbst vor Kindern schreckt er nicht zurück und lässt sie tagelang sterbend an einer Wand zurück. Schritt für Schritt nähert sich Cass der Psyche des Killers, doch jedes Mal, wenn die Ermittler glauben, einen Schritt weiter zu sein, ereignet sich ein neuer brutaler Mord.
Als auch Cass’ Familie ins Visier dieses abnormen Psychopathen gerät, bricht ihre Psyche komplett zusammen und sie kann Halluzinationen und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten. Sie wird suspendiert und erkennt mit dem letzten Zipfel ihres Verstandes, das nur sie den Mörder entlarven kann.
Dass ihr dabei ihre Schizophrenie zu Hilfe kommen könnte, überzeugt nach langen Diskussionen auch ihr Team und sie darf unter verschärften Bedingungen weiter ermitteln.
Als sie und ihre Kollegin in die Gewalt des Killers geraten, scheint es keinen Ausweg mehr zu geben.

Boris Maggioni versteht es meisterhaft, ab der ersten Seite eine Spannung aufzubauen, die den Leser sofort ins Geschehen stürzt und gleichzeitig ungeduldig und neugierig macht. Er zwingt den Leser, weiterzulesen, damit dieser erfährt, was denn nun in der Vergangenheit von Agent Cass passiert ist. Erstaunlicherweise erzählt der Autor die Geschichte aus der Sicht einer Frau in der Ich-Form. Man mag kaum glauben, dass diese präzise Schilderung der Emotionen und Psyche dieser Frau von einem Mann gestaltet wurde. Hervorragend. So hat der Leser die Möglichkeit, mehr zu wissen, als ihre Kollegen und mitzuerleben, wie sie den Alkoholismus verneint, mit ihren aus den Wahnvorstellungen hervorgegangenen Begleitern redet und sich diese letztendlich zu Verbündeten macht, um nicht komplett den Verstand zu verlieren. Boris Maggioni hat präzise recherchiert. Die Schilderungen der Waffen, die Erläuterungen, was ein Scharfschütze zu berücksichtigen hat und die Vorgehensweise der FBI-Ermittler kommen sehr genau und korrekt beim Leser an. Man hat den Eindruck, nicht nur einen spannenden Thriller zu lesen, sondern nebenbei auch noch etwas zu lernen. Die grausam zugerichteten Opfer werden allerdings genauso präzise dargestellt und der Leser hat kaum die Chance, Luft zu holen. An diesen Stellen musste ich eine Lesepause machen, weil es in meinen Kopf zu viele Bilder gab. Trotzdem genial gemacht. Dass ich fast am Ende glaubte, den Täter zu kennen und enttäuscht darüber war, nichts über dessen Beweggründe zu erfahren, hat der Autor bewusst für alle Leser eingeplant. Nur, um dann ein Ende zu erschaffen, mit dem niemand gerechnet hat. Wer brutale Morde und detailreiche Schilderungen derselben verkraften kann, wer keine Angst hat vor weiblichen Scharfschützen und wer sachlich genug ist, zu erkennen, dass Schizophrenie und Alkoholismus keine Hinderungsgründe sind, einen wirklich psychopathischen Killer zu stellen, dem sei dieser hervorragend konstruierte Thriller von Boris Maggioni unbedingt empfohlen.

Fesselnd.


Genre: Thriller
Illustrated by Kindle Edition

A Head Full Of Ghosts

51ddxgGqRDL._BO2,204,203,200_PIsitb-sticker-v3-big,TopRight,0,-55_SX324_SY324_PIkin4,BottomRight,1,22_AA346_SH20_OU03_

Die Barretts sind eine amerikanische Vorzeigefamilie: Mom, Dad und zwei Töchter, Marjorie (14) und Merry (8). Doch die Idylle ist trügerisch, denn Marjorie beginnt, sich merkwürdig zu benehmen; ihr Verhalten ist trotz Teenager-Bonus nicht mehr erklärbar. Spontanes Erbrechen, Sprechen mit verschiedenen Stimmen und allgemeine Bösartigkeit, das ganze Programm halt. Ärztliche Behandlung zeitigt keine Erfolge, die Kosten wachsen den Barretts über den Kopf (Dad hat seinen Job verloren, dafür aber die katholische Kirche gefunden; Mom sucht derweil Trost im Wein) und so trifft es sich gut, dass sich ein TV-Sender für die Geschichte interessiert, eine Reality-Show wird aus dem Boden gestampft, mit einem leibhaftigen Exorzismus als Höhepunkt.

15 Jahre später erzählt die kleine Schwester Merry einer Autorin die damaligen Geschehnisse aus ihrer Sicht, ein Buch soll verfasst werden. Schnell wird deutlich, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen, ständig tauchen neue Aspekte auf, die ein anderes Licht auf die Ereignisse werfen und über allem schwebt die Frage: War Marjorie krank, von einem Dämon besessen oder einfach nur eine verdammt gute Schauspielerin?

»A Head Full of Ghosts« wurde mir von keinem Geringeren als Stephen King (via Twitter) empfohlen und auf den Meister ist Verlass. Der Roman ist beileibe kein konventioneller 0815-Horrorschocker, sondern ein Thriller durchaus abseits des Mainstreams. Paul Tremblay zeichnet darin das Psychogramm des Zerfalls einer Familie und das tut er äußerst gekonnt. Die dichte Atmosphäre fesselt den Leser, der stringente Plot sorgt für atemberaubende Spannung; es fällt schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Auch die kritische Betrachtung des Religions- und Medienbetriebs überzeugt, die Protagonisten handeln nachvollziehbar und sind vielschichtig angelegt, ein ungetrübtes Lesevergnügen!

P.S.: Eine deutsche Ausgabe ist (noch) nicht erhältlich, vielleicht ändert sich das ja bald, wünschenswert ist es allemal.


Genre: Horror, Thriller
Illustrated by William Morrow

Die Frau auf der Treppe

SchlinkFrauaufTreppe Drei völlig unterschiedliche Männer, vordergründig geeint durch eine unerfüllte Liebe: der narzisstische Künstler, der schwerreiche Unternehmer, der Anwalt, der nur solange vermitteln will, wie er Recht behält. Eine Frau, die sich allen drei Männern gleichermaßen entzogen hat.

Die Frau, Irene, stand einst Modell für ein Frühwerk des heute bedeutenden Künstlers Karl Schwind. Seit Jahrzehnten hat niemand mehr „die Frau auf der Treppe“ gesehen, der Verbleib des Gemäldes ist unklar, von Geheimnissen umwittert. Irenes erster Mann, der Unternehmer Gundlach hat es 1968 bei dem damals noch unbekannten Schwind in Auftrag gegeben, „um den Lauf der Zeit anzuhalten“. Zwischen Künstler und Modell entbrennt eine stürmische Liebschaft, woraufhin Gundlach das Werk systematisch beschädigt. Der Künstler erkennt, dass er nur weitermalen kann, wenn er selbst entscheiden kann, was mit seinen Bildern geschieht.

Es folgt ein erbitterter Streit um die Eigentumsrechte an dem Bild, um das Recht des Künstlers an seinem Werk. In dieser Phase betritt ein junger, aufstrebender Anwalt, Schlinks-Ich-Erzähler die Szene. Von ihm verlangen die Rivalen einen Vertrag, der den Tausch Frau gegen Bild vorsieht, ohne dass die Frau davon weiß. Denn für den einen ist sie doch nur die Muse, für den anderen die Vorzeigegattin, für beide eine Verschiebemasse. Der junge Anwalt verbündet sich mit Irene. Der Vertrag wird nur zum Schein geschlossen, er hilft Irene bei einem gewagten Vorhaben. Irene flieht, mit ihr das Bild. Der Anwalt, der zum ersten Male in seinem Leben die Liebe erahnte, bleibt zurück. Soweit die im Roman in Rückblenden erzählte Vorgeschichte.

In der Gegenwart begleiten wir den Anwalt auf einer Geschäftsreise nach Australien. In seiner Freizeit besucht er eine Kunstausstellung und findet sich plötzlich völlig unvermutet vor der „Frau auf der Treppe“ wieder. In diesem Moment sieht er ganz klar, dass seine Geschichte mit Irene noch nicht auserzählt ist. Er lässt seine Kontakte spielen, recherchiert und findet sie nach einer für seine Verhältnisse abenteuerlichen Reise schließlich wieder. Sie lebt – oder besser gesagt – stirbt auf einer einsamen Insel. Er ändert seine Pläne und bleibt bei ihr.

Ganz so einfach gestaltet es sich auch diesmal nicht, das Wiederauftauchen des Bildes hat sowohl den Maler als auch den Unternehmer auf den Plan gerufen. Auch sie finden Irenes Aufenthaltsort heraus und sich auf der Insel ein. Man reflektiert, streitet, spreizt sich und resigniert schließlich. Der Verbleib des Bildes wird geklärt, Irene hat ihren letzten großen Auftritt. Zum Schluß bleibt nur der Anwalt zurück und begleitet Irenes Sterben. Sie ziehen Bilanz, erträumen sich aber auch einen ganz anderen Lebens-Verlauf. Schlussendlich ist es ausgerechnet der Tod seiner ersten unerfüllten Liebe, der dem Anwalt zu einem neuen Leben verhelfen wird.

Hintergründig eint die drei Männer weniger ihre unerfüllte Liebe als ihr egozentrisches Wesen und ihr unbedingter Wille, ein Lebenswerk vorweisen zu können, dem sie alles opfern. Vor allem ihr eigenes Glück. Irene hingegen will – den nahenden Tod vor Augen – einmal noch die längst vergessen geglaubte Bewunderung „ihrer“ Männer spüren. Schade, dass ihre Figur derart reduziert wird, denn eigentlich hat gerade sie mit einer nicht näher beschriebenen RAF-Vergangenheit den spannendsten Lebenslauf.

Es ist ein ganzes Füllhorn voller Themen, welches Schlink über den Leser ausgießt. Feminismus, Kapitalismuskritik, Terrorismus, die Bedeutung der Kunst, Liebe und Tod, das Alter, Spießertum, Drogensucht – man kann dem Autor nicht vorwerfen, er hätte etwas ausgelassen. Leider wird vieles nur angerissen, weniges vertieft. Den Leser beschleicht das Gefühl, dass man es hier mit einem typischen Problem der Alt-68er-Generation zu tun hat: Sucht der Autor zwanghaft etwas, was geblieben ist und bleiben wird? Gerade diese Generation bedauert ja sehr, dass vieles von dem wegbricht, was sie einst erfolgreich machte und bewegte. Dazu passt auch die resignierte Erkenntnis des Anwalts, dass es doch meist die kleinen Niederlagen im Leben sind, die nachwirken. „Die kleinen Splitter sind schwerer zu entfernen als die großen… “

Seit dem „Vorleser“ scheint Schlink es keinem mehr recht machen zu können. Vielleicht sind die Erwartungen auch deshalb so hochgeschraubt, weil „der Vorleser“ es in den Lektüreschlüssel der gymnasialen Oberstufe geschafft hat, in dem z.B. Bertolt Brecht selten zu finden ist. Diesbezüglich kann man Schlink natürlich überbewertet finden, allerdings kann der Autor selbst wohl am allerwenigsten dafür. Mit der Frau auf der Treppe erzählt Bernhard Schlink einfach eine Geschichte, zwar etwas überfrachtet, aber nicht langweilend. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein leiser Hauch von Melancholie ist spürbar, eine leise Trauer über verpasste Chancen nachvollziehbar. Manchmal ist die Atmosphäre erstaunlich dicht, dann wiederum wird es doch arg schwülstig: „An der Kathedrale der Gerechtigkeit arbeiten viele Steinmetze!“ Ein Sympathieträger fehlt völlig.

Müßig sind Spekulationen, ob Schlink sich bei der Figur des Malers Schwind an Gerhard Richter orientiert hat. Schlink selbst verweist in einem Nachsatz darauf, dass ihn Richters Werk „Ema. Akt auf einer Treppe“ inspiriert habe, der Künstler Schwind jedoch frei erfunden sei.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de


Genre: Romane
Illustrated by Diogenes Zürich

Tessa

Larlsson TessaIn Nicola Karlssons Debütroman „Tessa“ erleidet der Leser die Schussfahrt der Protagonistin durch die Berliner Tankstellen ihrer Sucht.

Tessa ist jung, begehrenswert und schön, sie könnte  theoretisch glücklich sein. Früher hat sie mal als Model gearbeitet, doch da sie inzwischen keinen Erfolg mehr in der Branche hat und sich mit McJobs finanziell über Wasser halten muss, hat sie anscheinend beschlossen, ihren Körper dafür zu bestrafen, indem sie ihn konsequent ruiniert. Dass sie seit längerem psychiatrischer Behandlung ist, die mit der regelmäßigen Einnahme von Lithium, Antidepressiva und Barbituraten verbunden ist, hält sie jedenfalls nicht davon ab, sich selbst zusätzlich mit Wodka, Wein und Koks zu medikamentieren. Bereits im ersten Kapitel führt ihre manische Beziehungssucht zu heftigem Beziehungsstress mit ihrem Freund Nick. Als sie abends ohne Nick mit ihrer Freundin Charlotte in einer Bar ist, flirtet sie derart heftig mit dem Barmann, dass der später gegen ihren Willen über die wehrlose weil total betrunkene Tessa herfällt. Irgendwie kommt sie wieder nach Hause, ihre Blessuren erklärt sie Nick mit einem Fahrradunfall. Ein paart Tage später legt sie Nick nach Charlottes Geburtstagsfeier die nächste Eifersuchtsszene hin und als er sie auf ihren Konsum anspricht rechtfertigt sie sich:

„Aber ich fühle mich unsicher, und deswegen betrinke ich mich, und dann passieren mir solche Sachen.“
Nick entgegnet kühl: „Halt mich daraus. Ich habe keine Lust auf diese Art von Beziehung. Das ist doch krank.“
Aber ich bin krank.“ – „Dann tu was dagegen, aber hör auf, alle anderen damit zu terrorisieren.“

Das ist das Grundthema des Romans: Tessa ist Opfer ihrer Erkrankung, die in Richtung Bipolar oder Borderline geht. In ihren manischen Schüben macht sie die Drama-Queen und ist andererseits nicht zu wirklicher Nähe fähig, die sie sich zwar einerseits sehnlichst wünscht, vor der sie jedoch gleichzeitig flieht. In ihren depressiven Phasen versinkt sie in Einsamkeit, Selbstmitleid und Weltschmerz. Sie hat zwar eine Krankheitseinsicht, verweigert sich aber ärztlicher Hilfe, zu ihrer Ärztin geht sie nur, wenn sie mal wieder dringend ein neues Rezept für die Pillenbude braucht. Der nächste Club ist ja nicht weit und dort gibt es immer einen Mann, der Stoff hat oder einen Wodka ausgibt, wenn sie ihn dafür mal rüber lässt. Nachdem sie sich von Nick getrennt hat ist sie frei und lernt Jochen kennen, der ist zwar verheiratet, aber egal, ein anderes Mal macht sie ihren Bekannten Jens klar, obwohl sie weiß, dass ihre Freundin Charlotte ernsthaft an ihm interessiert ist  und zwischendurch wacht sie auch mal morgens nackt neben ihrem Dealer Uwe und ihr unbekannten Männern oder Frauen auf. Bis sie in einer Bar auf zwei üble Freaks trifft und nicht rechtzeitig den Absprung kriegt …

Der Roman ist eine Zumutung. Mehrere Mal gelobt Tessa Besserung und ein drogenfreies Leben, ebenso oft wird sie routiniert rückfällig. Ihr Trugschluss, dass sie ihren Konsum im Griff hat, wird spätestens deutlich, als sie nachts beim Spätkauf die zweite Flasche Wein holt und zuhause öffnen will:

„Der Korkenzieher liegt nicht griffbereit, und sie kann ihn auch sonst nirgends sehen. Sie öffnet die Küchenschubladen. Nein. Sie geht zwei Schritte zur Spüle. Sieht hinein. Kann ihn zwischen dem dreckigen Geschirr nicht entdecken. Nein. Sie geht wieder zur Flasche, entfernt das Plastik vom Flaschenhals und starrt auf den Korken. Sie nimmt die Flasche in die Hand und setzt sich erst einmal auf den Küchenstuhl. Nachdenken. Ruhig bleiben. Wo hat sie die andere Flasche aufgemacht? Leere in ihrem Kopf. Wie steht wieder auf und schiebt das dreckige Geschirr zur anderen Seite. Irgendwo muss dieser scheiß Korkenzieher ja sein. Vielleicht kann sie den Flaschenhals sauber abschlagen. Nein. Sie wandert in ihrer Wohnung umher. Sie sucht unter dem Kleiderhaufen. Geht von Zimmer zu Zimmer. Sieht sich immer wieder die Flasche an. Vielleicht kann sie den Korken mit einem Besteckgriff reindrücken. Nein. Der Wein schmeckt dann scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße. Wenn sie nur einen Schluck trinken könnte. Im Wohnzimmer bricht sie zusammen, knickt in die Knie, hält die Flasche fest umklammert. Sie beugt sich nach vorne und schlägt ihren Kopf auf den Boden. Warum nur kann sie sich nicht erinnern, wo sie den scheiß Öffner gelassen hat? Sie muss sich zusammenreißen, ruhig bleiben. Sie zwingt sich aufzustehen. Geht wieder in die Küche, stellt sich an die Spüle. Sie versucht sich zu erinnern, aber je mehr sie sich anstrengt, umso weniger Gedanken hat sie in ihrem Kopf. Sie imitiert das Öffnen der Flasche und versucht dabei, ihre Panik und aufsteigende Tränen zu unterdrücken. Sie dreht sich zum Mülleimer, öffnet ihn und entdeckt den Korkenzieher im stinkenden Müll. Den alten Korken muss sie erst einmal abdrehen.“

Nicola Karlsson liefert hier nicht weniger als die detaillierte Momentaufnahme eines Suchtmenschen in der Situation chronischer Entzügigkeit, den Stoff vor Augen jedoch  unerreichbar entfernt und entsprechend kurz vor der Panikattacke. Wäre „Tessa“ das Psychogramm einer Generation, dann wäre diese durch das Hauptmerkmal der Betäubung und Ziellosigkeit gekennzeichnet. Ist es aber nicht, es ist eine Fallstudie im wahrsten Sinne des Wortes, dass Tessa im Laufe ihrer Drogenkarriere immer weiter wie die Stufen einer Treppe hinunterfällt, das Ende nicht erkennbar, nur zu ahnen, dass es ganz weit unten ist. Dafür stehen auch die hervorragend eingefügten Szenen, in denen Tessa in den Straßen Pennern und Pfandflaschensammlern begegnet, Menschen, vor denen sie sich ekelt und von deren Situation sie nur eine Schicht Makeup und die drohende Mietkündigung entfernt ist.

„Tessa“ spielt zwar in Berlin, doch es ist auch kein Berlin-Roman, dafür sind die Verweise auf die Stadt zu dürftig, auch wenn die Stadt bereits in zahllosen Romanen als die  Partymetropole der Republik besungen wurde. Eine Koksparty und der Spätkauf  machen noch keinen Bären. Wenn Karlsson mit „Tessa“ eine Aussage über Berlin macht, dann höchstens diese, dass das Märchen vom chilligen und kommunikativen  Leben dort ein Märchen ist. Berlin ist hart, asozial und verdammt einsam, von Hilfsbereitschaft keine Spur. In diesem Sinne funktioniert auch eine der wenigen Szenen, in der wir die Stadt wiedererkennen, als Tessa nachts über den Alex zu ihrem Dealer Uwe läuft. Das Bild vom Platz mit Punks und Pennern beschwört noch die nächtliche Großstadtdschungelromantik. Als Tessa in Nebenstraßen jemanden hinter sich Laufen zu hören glaubt, kippt die Stimmung ins Bedrohliche, man fühlt sich an den Film Noir mit seinen düsteren  Licht-Schatten-Effekten erinnert. Leider bleibt es eine der wenigen Szenen, in denen die Stadt Berlin durchschimmert; bei den zahllosen Wegen, die Tessa auf ihrer Odyssee zwischen Koksparty, dem nächsten Weinkühlschrank, Bett und Pillenbude zurücklegen muss, wäre da wesentlich mehr drin gewesen. So bleibt Tessa in erster Linie die Geschichte der Drogenkarriere einer jungen Frau. Das ist nicht neu, denn dass der Abstieg in die Sucht nicht an ein Mindestalter jenseits der 30 gekoppelt ist, haben bereits in den 80ern des vergangenen Jahrhunderts im Westsektor der damals noch geteilten Stadt die wesentlich jüngeren „Kinder vom Bahnhof Zoo“ eindrucksvoll auf nonfiktionaler (!) Ebene verdeutlicht.

Nicola Karlsson hat mit „Tessa“ ein sperriges Romandebüt vorgelegt, dass dem Leser fast kein Detail der Selbstentwürdigung eines Menschen im Teufelskreis der Sucht erspart. Die literarische Umsetzung des inneren Gedankenrasens der Protagonistin Tessa ist bemerkenswert, ihr Portrait als einer zutiefst zerrissenen Persönlichkeit interessant. Der Teufelskreislauf der Sucht ist ein in seiner Banalität bekannter Allgemeinplatz, insbesondere die Art und Weise, wie Nicola Karlsson dieses Schicksal gnadenlos seziert, hat einen ganz eigenen, düsteren Klang, der in der Masse der literarischen Debüts hervorsticht.


Genre: Romane
Illustrated by List München