Männer, die in Schränken sitzen

christoph_kesslerBei Titel und Genre des Buches musste ich spontan an Oliver Sacks wundervolles Buch »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« denken. Und tatsächlich ist Sacks Werk über die dunklen Seiten der menschlichen Seele durchaus vergleichbar mit den Geschichten, die Christof Kessler erzählt.

Kessler, ein Neurologe, schildert mehrheitlich Fälle aus dem angrenzenden Fachgebiet, der Psychiatrie. Als Chef einer Greifswalder Klinik begegnete er beispielsweise einem Lokomotivführer, den seine Kollegen anfangs für einen Schlaganfallpatienten hielten, der jedoch durch einen blutigen Unfall traumatisiert und daraufhin eines Teils seiner Erinnerung beraubt wurde.

In einem weiteren Fallbeispiel präsentiert er den zwangsgestörten Nachbarn, der seine Frau verliert, weil er sich gegen die Behndlung seines Ordnungswahns wehrt. Einem vermögenden Ossi, dessen raffgieriger Sohn den Vater lieber tot als lebendig sähe, konnte er indes nicht helfen; der Filius verhinderte dies und bedrohte den Kliniker.

In der titelgebenden Story beschreibt Kessler einen Patienten, der Erstickungsanfälle in Aufzügen, Flugzeugen, Restaurants und Sälen bekommt und nach langem Widerstand durch eine Therapie geheilt wird, bei der der Patient kontrolliert in einen Schrank gesperrt wird.

Überhaupt scheinen die psychisch Erkrankten eine panische Angst davor zu haben, für »verrückt« erklärt zu werdenu und hoffen geradezu auf eine organische Erklärung ihrer Leiden. Nach der Devise, lieber ein Schlaganfall als ein »Dachschaden«, geben sie sich größte Mühe, eine »richtige« Krankheit diagnostiziert zu bekommen. Und Patienten mit einer ernsthaften neurologischen Erkrankung wie Hirntumor oder Multiple Sklerose würden am liebsten hören, es liege eine psychische Störung vor.

Immer wieder erinnert die Lektüre der Kesslerschen Erinnerungen daran, wie gut es Patienten hatten, die in seine Klinik kamen. Ganz offensichtlich arbeitete der Neurologe mit einem Team hochqualifizierter, motivierter Kollegen. Typisch ist das eher nicht, das Elend von Neurologie und Psychiatrie in deutschen Praxen und Krankenhäuser ist weithin bekannt. Monatelange Wartezeiten auf einen Gesprächstermin bei vielfach überforderten Therapeuten wetteifern mit einem Streit der Schulen und Lehrmeinungen von der klassischen Psychoanalyse über die Verhaltens-, Gestalt- bis hin zur Schematherapie. Bevorzugt wird derjenige, der sich hilfesuchend an einen Seelenklempner wendet, mit Psychopharmaka vollgestopft, deren Nebenwirkungen die Persönlichkeit teilweis bizarr verändert, ihm aber scheinbar »hilft«. Diese Aspekte spart Christof Kessler aus, obwohl sie ihm zweifellos bekannt sein dürften.

Bei einigen Geschichten drängt sich das literarische Bestreben des Autors in den Vordergrund. In »MRSA« beispielsweise baut er eine mehr oder weniger wilde Kriminalgeschichte um eine Hähnchenmastanlage auf, die er laut polizeilichen Ermittlungen angeblich in Brand gesteckt haben soll, weil seine Visitienkarte am Tatort gefunden wurde. Kesslers Versuche, Kurzgeschichten zu schreiben, treten hinter den spannend geschriebenen Fallschilderungen zurück.

Christof Kesslers Buch bietet jedem, der an den Grenzbereichen zwischen Neurologie und Psychiatrie interessiert ist, vielfältige Ansätze, seine Umwelt wie auch das eigene Sein zu betrachten und verfügt dabei über einen hohen Unterhaltungswert.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Neurologie, Psychologie
Illustrated by Eichborn Verlag